Zum Inhalt springen

Unter den Wellen des Niagarafalles

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: C. Löwenherz
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Unter den Wellen des Niagarafalles
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 42, S. 705–707
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[705]
Unter den Wellen des Niagarafalles.


Wir hatten in Buffalo, dieser hellen, freundlichen Stadt am Erie, nach anstrengender Eisenbahnfahrt gerastet und nun durchschnitt unser Dampfer die silberhelle Welle des Sees. Im prachtvollen Panorama versank die lachende Stadt mit ihrem regen Hafenverkehr allmählich den Blicken, nur reizende Villen umsäumen noch hie und da das diesseitige Ufer, das jenseitige ist nach einer genußreichen etwa einstündigen Seefahrt erreicht und wieder nimmt uns der Eisenbahnwaggon am Lande in sich auf und trägt uns zwischen blühenden Gefilden weiter und weiter, bis uns die räthselhafte Donnerstimme gemahnt, daß wir uns dem Niagarafall nahen, nach dem es uns in brennender Ungeduld und Sehnsucht hinzieht. Aber wir haben immer noch eine Strecke von vier deutschen Meilen zurückzulegen. Plötzlich eine Biegung des Wegs, da wo die Waldumsäumung sich leicht herabsenkt, und das Weltwunder zeigt sich blitzartig momentenlang, um ebenso schnell wieder in aufsteigendem Grün zu versinken. Wir standen Alle aufrecht, zu Stein gewandelt, starr und stumm und die Alltagsphrase verbarg sich unter dem Ueberwältigenden des ersten Eindrucks.

Das Endziel ist am Bahnhofe auf der canadischen Seite für heute gefunden. Wir fliegen, ja rasen den Abhang hinunter, der uns den Anblick der Fälle noch immer verdeckt hält, und stehen in der Entfernung einer halben englischen Meile vom Fall am canadischen Uferrande, der viele hundert Fuß über dem Niagarastrom ragt. Uns gegenüber, am jenseitigen Ufer, der amerikanische Fall. Die volle Breite der Bucht umspannend, in angegebener Ferne rechts, der sogenannte Hufeisenfall, auf dessen nähere Beschreibung ich später eingehender zurückkomme. Beide umrahmend und wie mit einer magischen Brücke verbindend, ein unbeschreiblich farbenreicher Bogen, der durch den Reflex des warmen Nachmittagssonnenscheins auf die bewegliche Wasserwüste erzeugt wird.

Links ein neues Wunder! Hoch zwischen Himmel und Fluth schwebt – weiter hinab, wo der Fluß sich ebnet – über dem Abgrunde, in der Leichtigkeit seines Stils einem graciösen Balcon vergleichbar, jene berühmte, eintausendzweihundertvierzig Fuß lange Hängebrücke, deren Anblick allein die mühselige Reise lohnen dürfte. Worauf nur stützt sich der kolossale Bau? – kein Pfeiler, kein Stein, der ihm zur Befestigung dienen könnte. Welcher Pfeiler auch hätte zweihundertdreißig Fuß in der Höhe vom Niveau des Flußbeckens ab dem wuchtigen Anprall des wildesten Stromes der Welt in ausreichender Widerstandskraft Stand halten können? Das Räthsel löst sich uns, da wir die Brücke betreten und am Thurme das Brückengeld für die Passage entrichten. An senkrecht hängenden und in ihrer Länge sich gegen die Brückenmitte verringernden Stricken aus starkem gewundenem Gußeisen wird sie sicher in den Lüften von Fels zu Fels getragen. Der weiße Anstrich aber läßt diese Stütze in einiger Entfernung unsichtbar.

Wir betraten nun amerikanischen Boden, nachdem wir vor Kurzem noch auf dem Gebiete des grünen Albions gestanden. – Durch köstliche Waldungen wand sich der Pfad bergauf zur Dorfstraße; noch eine Viertelstunde länger und wir hatten endlich das Endziel unserer ersten Wanderung erreicht, den deutschen Gasthof, ein liebliches zweistöckiges Häuschen, das seine Front dem Dorfe zukehrt und gar so einladend aus rosenrothem Hain von blühendem Oleander uns entgegenlacht, in seltsamen Gegensatz zu dem Tosen des flüssigen Elementes ringsum!

Wir hatten diesem Bastardkinde des aristokratisch-geräuschvollen Katarakthauses vor letzterem selbst den Vorzug gegeben, weil hier das deutsche Element in seiner freundlich feinen Wirtin und ihrem Töchterlein seine Vertretung fand, weil Alles anheimelnd in prunkender Sauberkeit den süßesten Frieden athmete in ausgesprochenem Gegensatze zur amerikanischen Rastlosigkeit und ihrem Sensationsfieber. Durch den Eßsaal schreitend traten wir hinaus auf die luftigen weingekränzten Galerien, welche um beide Etagen die ganze Breite des Hôtels auf der den Katarakten zugewandten Seite umgaben. Sie hingen buchstäblich über den Schlünden, die ihren Gischt feuchtend bis zu uns hinauf sandten. Die Katarakte bilden auf diesem Punkte die Rapids und diese gewissermaßen die Höllenküche für die weiter liegenden Fälle. Sie stürzen in weitem Bogen aus unermeßlicher Höhe über ragende Felsplateaus hinab in die gähnende Tiefe und spiegeln dort wunderbare Farben. Um das ganze Landschaftsbild spannt sich ein ewiggrüner Rahmen saftiger Matten und uralter Waldungen. Es brauste und gährte rings um uns in markerschütterndem Donnergebrüll; in schneeweißen Schaumwogen stürzten die Katarakte, sich wild um sich selbst wie im Trichter drehend, unaufhörlich herab. Die hemmenden Steinblöcke überschütteten sie dabei mit ihren Schaumkronen.

Welch eine Wunderwelt! Ich wollte, die Naturkraft, die diese in’s Dasein rief, liehe meiner Feder momentelang nur Zauberfarben, um im schwachen Abglanz das Bild annähernd malen zu können, das die trunkenen Blicke dort eingesogen. Wie arm aber wird die Sprache, wenn man solche Natur in ihren gigantischen Ausbrüchen zu schildern versucht!

Der Abend war hereingebrochen, nachdem wir uns ein wenig restaurirt; es war zu spät, um heute noch die Gemseninsel, auf der der Hufeisenfallthurm sich befindet, zu besuchen, da die Sorglosigkeit der Bewohner, die Jeden für sein Leben selbst verantwortlich und sich zu keinen Vorsichtsmaßregeln verpflichtet hält, diese Tour zu einer nicht ungefährlichen in der Nacht macht. Wir kehrten also zu dem amerikanischen Fall zurück, von dem aus wir – vom Schicksal durch Vollmond begünstigt – ein Schauspiel genießen sollten, wie es dort einzig in der Welt. Langsam stieg der Mond; zuerst berührten seine Strahlen durchleuchtend ganz schüchtern die anschwellenden, noch völlig durchsichtigen Wassermassen der Rapids, die sich bis zu dem ragenden Felsplateau der amerikanischen Seite in anwachsender Gewalt vorwälzen und von dort in die gähnende Tiefe brüllend herabstürzen, aus dem es wie der Dampf eines Vulcans zum Himmel emporqualmt. Höher steigend tanzten sie feenhaft jetzt bis zu dem Punkt, mit dem wir am Plateau des Fahrhauses ziemlich auf gleicher Höhe standen. Keine Balustrade, keine Warnungstafel, nichts als die eigene Vorsicht trennte uns von dem lockenden Element, in das die Trauereschen am Ufer ihre graziösen Hängezweige tauchten, über die es silberhell dann und wann hinfluthete. [706] Das Mondlicht lag endlich in breitem, hellem Streifen auf den herabgießenden Strudeln und glitzerte spukhaft in phantastischem Spiel darüber hin. Plötzlich erhob sich das Wunder der Wunder: in zarteren, schattenhafteren, aber nicht minder schönen Farbentönen erglänzte jener Doppelbogen, den wir am Tage schon im Sonnenlicht bewundert und der von seinem Ursprung, dem keuschen Kuß der Luna, seinen Namen trägt. Wo reichte die Sprache aber zu würdigen Schilderung dieses zauberischen und erhabenen Anblicks aus, der einmal nur im Monat bei Vollmond und ganz klarem Himmel – auf diesem Punkt der Erde allein – dem verstummten Beschauer entgegentritt!

Lange noch kniete ich in jener Nacht auf meinem Lager und starrte hinaus auf die kochenden Wasserschlünde, die an meinem Fenster herabgossen, bis ihr grausig schönes Wiegenlied mich in den Schlaf gesungen.

Den nächsten Morgen sollten wir unserer Sehnsucht nach dem Anblick des Hufeisenfalls Genüge thun. Durch einen prachtvollen Laubhain, an Abgründen vorbei, führte der Weg immer bergauf über Goat-Island (Gemseninsel) fort, bis ihm durch die Fälle die Grenze gesteckt wurde. – Ueberall tritt Einem der Mangel der Culturpflege an diesem vielbesuchten Platz auffällig entgegen; nirgends ein geebneter Pfad; höchstens ein schlaff gespannter Strick, der an eine besonders gefährliche Stelle mahnen soll. Ueber Felsgeröll und durch dichtverschlungene Rankengewächse hatte der Fuß sich den Weg zu bahnen, bis er die Brücke endlich erreichte, von der ein Steg zum Thurm führt. Aus den gurgelnden Wassern und zwischen Felsriffe eingekeilt taucht in gleicher Linie mit dem Gipfel des Hufeisenfalls, wie eine Oase, das rundliche Gebäude fünfundvierzig Fuß hoch empor. Seine Spitze umgiebt eine Galerie mit eisernem Gitter. Der Schwindel, der Furchtsame und Nervöse hier auf der Piazza oft ergreift und zu dem Glauben veranlaßt, der Thurm erbebe unter dem Anprall der Fluthen, blieb uns glücklich fern und wir konnten uns ungehindert dem Vollgenuß des Anschauens hingeben, dem nirgends und auf keinem Punkt solche Genüge geschieht als hier, wo man in gleicher Höhe mit dem Anfang des imposantesten Falles steht und gleichzeitig im Rundblick die schöne Scenerie der beiderseitigen Ufer und die Tiefe zu Füßen des Thurmes beherrschen konnte. Seine Breitenausdehnung beträgt, in der Form eines Hufeisens, wie schon erwähnt, hundertvierundvierzig Ruthen; was diesem Fall aber gerade einen so bizarren Reiz leiht, ist, daß er, in der Mitte in ruhigerer Schönheit, ein glasheller breiter Strom, smaragdgrün über die Felsblöcke fluthet, während er wieder zu beiden Seiten im kochenden Schneeschaum unter wüthendem Getöse, in die wie mit Rauch und Dampf gefüllten Schlünde herabstürzt. Auf diesem schwebend breitete sich unter uns ein magischer Bogen, der dieses gesegnete Thal wie im ewigen Friedenszeichen umspannt halten will.

Nachdem wir uns satt, oder eigentlich nicht satt gesehen, kehrten wir heim zum Diner und schlugen nach Tische, trotz heftigem Protestiren meines Begleiters den Weg zu dem gefährlichen Durchpaß, d. h. zu der Stelle am Fuße der Katarakte ein, wo man etwa dreißig Yards hinter die riesenhafte Wasserschicht der in gerader Linie herabstürzenden Fluthen vordringen kann und wo sich eine Höhle von etwa dreihundert Fuß Länge gebildet hat. Auf der Höhe, auf halbem Wege zu den Hufeisenfällen, zwischen diesen und dem amerikanischen Falle, liegt das sogenannte Costümhaus, das die Pforte eben zu der „Höhle der Winde“ und zu der gefahrvollen Reise unterhalb dieses Falles bildet.

Ein menschliches Ungeheuer in einer – mir schien es – maskeradenartigen Vermummung maß meine kleine zarte Gestalt mit prüfendem Blick, als ich dort eintretend ihm meinen Wunsch hinsichtlich dieser Tour zu erkennen gab.

„Es ist sehr beschwerlich – Damen unternehmen es selten,“ remonstrirte er zögernd in englischer Sprache, und mein Begleiter fiel ihm mit einem freudig zustimmenden „Nicht wahr, auch gefahrvoll?“ in die Rede.

„Hm, es ist überall gefährlich, wo man sich nicht in Acht nimmt,“ murmelte er unentschieden und schwankend zwischen dem lockenden Tone meiner raschelnden vier Papierdollars und der Stimme des Gewissens. „Sichere Führer – ich bin auch einer – bekommen Sie mit und Gesellschaft finden Sie auch, aber wenn Sie nicht vielen Muth haben, lassen Sie’s lieber bleiben, es ist heute gerade sehr stürmisch!“

Mein Entschluß stand fest, ich wollte den Becher, selbst auf die Gefahr des Lebens, bis auf die Neige leeren. Man wies mir ein Zimmerchen an, in dem ich „Toilette“ machen sollte, und bei der drolligen Metamorphose diente mir ein allerliebstes gazellenäugiges Indianermädchen zur dienstwilligen Zofe. Sie brachte mir ein Eisenkästchen, in dem ich meine Börse und Werthsachen deponirte, legte ein Vorhängeschloß davor und frug mich schüchtern, ob ich Adressen oder irgend ein Vermächtniß dem „Unternehmer“ mit dem Kästchen zu übergeben wünschte. Das Zurückbleiben meines Reisegefährten, der sich zu schwach oder zu alt fühlen mochte, machte diese Vorsichtsmaßregel für alle „Eventualitäten“ bei mir überflüssig; das Erinnern an dieselben dämpfte aber dennoch etwas die tolle Laune, in der ich mein sonderbar herausstaffirtes Ich im Spiegel bewunderte. Ein Schwimmcostüm, bestehend aus kurzem Kittel und Pantalon von zottigem brandrothen Flanell und mit einem dicken Strick um die Taille gegürtet, darüber ein kleines Rittermäntelchen von schwarzem getheerten Wachsleinen, an das eine Capote, das Gesicht bis fast zur Nase fest umgebend, von gleichem Stoffe sich anschloß, abscheuliche graue Wollsocken und Filzsandalen, die wieder mit dünnen Stricken den Fuß umwunden hielten – das war die vorschriftsmäßige Hoftoilette, in der man dem Berggeist der „Höhle der Winde“ seine devote Aufwartung zu machen hatte.

Mit hörbarem Herzklopfen trat ich zu den drei Herren und den beiden Führern hinaus, die die Reise in die Tiefe mit mir wagen wollten. Wir lachten Alle hell auf in wiedergekehrtem Humor, als wir, die eben noch völlig Fremden, in unserm Reisecostüm uns gegenseitig anstaunten, und flogen, trotz der Abmahnung der Führer, die uns vor verfrühter Uebermüdung und Erhitzung warnten, die vielen, vielen Stufen bis zu einem Thürmchen hinab, das noch dem Publicum zur Benutzung freigegeben war.

Auf der Wendeltreppe im Thürmchen begegneten wir einem eben zurückkehrenden Touristen und seinem Führer. Er hätte als abschreckendes Beispiel dienen müssen, wenn Einem von uns der moralische Muth zur Umkehr zu Gebote gestanden; Jeder aber fürchtete das Spottlächeln des Andern. Der Mann sah gräßlich aus, mit wogender Brust, keuchendem Athem; aus den zusammengeklebten Haarstreifen, die ihm unordentlich über die Stirn hingen – die Capote war vom Kopfe zurückgeglitten –, triefte es unaufhörlich Gesicht und Bart entlang; aus seinen Kleidern, von seinen Händen, aus seinen Schuhen goß es in Bächen herab, und er selbst bot ein zwar tragikomisches, aber auch jammervolles Bild totaler Erschöpfung. Wir schritten tapfer vorwärts, klirrend fiel hinter uns die eiserne Pforte in’s Schloß, die uns von der übrigen Welt abschnitt.

„Will Einer von den Herrschaften doch lieber zurückbleiben? Noch ist es Zeit!“

Der Frage des Führers – der den Pförtner spielte und unsere Regenmäntel in dem kleinen Wachthäuschen aufhing – antwortete ein beklommenes Schweigen. Langsamer als vorher stiegen wir den sandigen Abhang hinab und jetzt – jetzt kam die erste Taufe! Donnerartig, mit wahrem Wuthgebrüll stürzte es dreihundert Fuß hoch über und von oben über unsere Köpfe fort. In wildem Bogen stürzte der Fall über uns hin in die Tiefe. Das eisige Sturzbad, das der Wind prasselnd auf uns herabgoß, nahm nach wenigen Minuten schon Athem und Besinnung. Mit wogender Brust nach Luft ringend, erreichten wir endlich das Ende des Hügels; an diesen schloß sich ein schwanker hölzerner Steg, kaum breit genug für den Passirenden, den des Führers Faust am Strickgürtel gepackt hielt. Die gebrechliche Brücke schwankte und bebte über der reißenden Fluth, die sie glatt und schlüpfrig wie ein Parquet gespült hatte. Von der einen Seite nur schützte ein rundes Holzgeländer (eigentlich nur ein glattgeschälter langlaufender Baumstamm) gegen den Sturz in die grause Tiefe, und an ihm konnte die gleitende Hand dem vorsichtig tappenden Fuße zur Stütze dienen.

Unsäglich mühsam ging es vorwärts auf der schlüpfrigen Bahn. In den Ohren begann es zu summen; schwarze Kreise zog der Schwindel vor unsere Augen. Das Sturzbad machte erst blind, dann taub, dann besinnungslos – nun trieb auch der Sturm im „Käfig der Winde“ sein gefährliches Spiel und schleuderte uns hin und her. Der Fuß hielt nur mühsam Stand in der eiskalten Douche, die über ihn hingurgelte. Bedrohlich hingen über unseren Köpfen, wie von der Luft getragen, vorspringende [707] kolossale Felsmassen, deren Haltung jeden Augenblick ihren Sturz und für uns Zerschmetterung befürchten ließ. Von dem Donnergebrüll, das uns umgab, wird man sich dann eine Vorstellung machen können, wenn man bedenkt, daß die ungeheure Masse des sich herabstürzenden Wassers den Tag über auf zweitausendvierhundert Millionen Tonnen (à 4000 Pfund), die Stunde auf einhundertzwei Millionen angeschlagen wird.

Meine Kräfte erlahmten, die Arme meines Führers umklammerten mich mit eisernen Banden, da ich allmählich alle eigene Widerstandskraft verlor und willenlos mich weiterzerren ließ, sie preßten mich fester und fester gegen die schwankende Balustrade, während sein eigener, des Weges kundiger Fuß an der ungeschützten Seite des Abgrundes entlang glitt.

Wir hatten die Hälfte des Weges nun glücklich zurückgelegt. Mit beiden Händen am Geländer angeklammert hielten wir kurze Rast und sammelten unsere Kräfte.

„Wollen Sie mit zurück? nicht für die Welt gehen ich und mein Sohn einen Schritt weiter,“ keuchte eine heisere Stimme an mein Ohr. Ich riß die geblendeten Augen gewaltsam auf; einen Moment kurzen Besinnens, kurzen Kampfes nur – ich wollte doch die Todesangst nicht ganz umsonst ausgestanden haben! Mit dankendem „Nein“ hatte ich die Möglichkeit der Umkehr mir schon geraubt; denn wie schwarze Schatten im Sprühregen schwebten die Enteilenden – durch den Stand des Windes jetzt begünstigt – zehn Schritte hinter uns auf dem Rückzug.

Zu drei Personen, aber zu drei todesmuthigen, entschlossenen, war unsere kleine Gesellschaft nun zusammengeschmolzen. Mit vollem Aufraffen aller moralischen Kraft traten wir unverschüchtert weiter und weiter den Weg in die Tiefe bis zu dreihundert Fuß an. Ich beherrschte mit fester Willenskraft die zuckenden Nerven, wollte ich doch das Abenteuer, da es nun einmal begonnen, auch unerschrocken zum Ende führen.

Der Sturzregen von oben minderte sich zwar, aber die Gefahren nahmen zu, jetzt wo der tastende Fuß nur in den Löchern des Felsgerölls einen Anhalt fand, über das es zudem noch brüllend und rauschend fortbrandete. Jeder Fehltritt, jedes Ausrutschen schon hätte grauenhaften Sturz und ein sicheres feuchtes Grab nach sich gezogen. Dennoch drangen wir vor und vor, jetzt erreichten wir den letzten Felsen, unter dem einige Fuß tiefer ein ausgewaschener Stein das Endziel unserer Reise in die Tiefe werden sollte.

Mein einer Begleiter hatte mit kühnem Sprunge in die Tiefe ihn jetzt erreicht; der Führer schwang sich im nächsten Moment an seine Seite und ein bewunderndes „Ah!“ hallte zu mir empor, die ich, beide Füße in die kleine Steinhöhlung geklemmt, die Hände an die überhängenden Felsriffe geklammert, die Entfernung von mir bis zum festen Plateau mit den Blicken abmaß. Meine Begleiter waren schlanke hochgewachsene Gestalten mit langen Gliedmaßen; ich selbst leider – wie schon erwähnt – bin von winzigen Proportionen. Der Sprung, der für sie ein Wagniß war, ward meinen kurzen Gliedern zur Unmöglichkeit.

Der Führer stand jetzt, der Tiefe ab- und mir zugewandt, mit zurückgezogenem Oberkörper in der Stellung eines Fechters. Beide ausgebreitete Handflächen hatte er mir zugehoben.

„Lasten Sie sich fallen, ich fange Sie auf.“ Jede Muskel und Ader schwoll zu Strängen an dem Athleten, als er sich nun zum unerschütterlichen Stützpfeiler zu stählen trachtete.

Die eine Minute langen Zauderns ward mir zur Ewigkeit. Wenn seine Hand nicht eisern sicher war, wenn er seine Kräfte überschätzte und die nervigen Finger dem wuchtigen Anprall meines sinkenden Körpers nicht gewachsen waren! Ich schloß vor dem gräßlichen Bilde die Augen, es drehte sich in wilden Kreisen um mich und das erstarrende Blut trieb den Angstschweiß in Bächen über das Antlitz. Dort oben konnte ich nicht mehr lange kleben zwischen Himmel und Wasser; die wunden Hände erlahmten im Griff der zackigen Schroffen, noch wenige Secunden und sie verloren den Halt. Ein, zwei Minuten athemlose Erwartung; im verzweifelten Entschluß sinkt der Oberkörper vorwärts, die Füße lösen sich aus ihrem Stützpunkt – ich gleite der Rettung oder der Ewigkeit entgegen!

Ein eherner Griff und die Besinnung kehrt mir zurück; von den Händen des Mannes, dessen herculischer Kraft ich allein die Erhaltung meines Lebens danke, sank ich herab auf meine Kniee, und, als wolle das höchste Wesen in seiner vollen Glorie und Nähe sich gerade jetzt uns offenbaren, spannte es, in nie geahnter Pracht, seinen schillernden Friedensbogen über und unter uns aus. Es war ein Moment der höchsten Weihe; in uns und um uns lebte und webte der einzige Gott!

Noch eine kurze Zeit des Kampfes hatten wir gegen das Wüthen der Elemente zu bestehen, als wir von Stein zu Stein emporklommen, zu denen ich mich an den herabgestreckten Händen des Führers von jedem Vorsprung neuerdings aufzuschwingen hatte. In weitem Bogen ging es langsam bergauf. Noch einmal bückte ich mich im Sturzbad, um einen kleinen Stein zur Erinnerung an die überstandenen Gefahren als Trophäe heimzutragen. Wir standen auf demselben Fleck, von dem wir ausgegangen. Jetzt fielen die letzten Tropfen, der rieselnde Staubregen hörte plötzlich auf. Nach zwanzig Minuten, die sich zur Ewigkeit in der Todesangst ausgedehnt, zerschunden, abgehetzt, vor Kälte klappernd und bebend, in triefenden Kleidern, erreichten wir, mehr todt als lebendig, die sichere Höhe.

Wir athmeten lang und athmeten tief
Und begrüßten das rosige Licht!

„Sie sind eine kleine couragöse Frau,“ begrüßte mich mein Begleiter und schüttelte mir treuherzig die Hände zum Abschied. „Sie sind eine kleine Heldin,“ bewillkommneten uns Jene, die uns so muthlos auf halbem Wege verlassen hatten.

„Der Mensch versuche die Götter nicht“, war Alles, was ich zur Entgegnung zu stammeln vermochte. Meine Kräfte waren völlig dahin, meine Glieder gelähmt; ich schleppte mich mühsam die Treppen hinauf. Meinen lieben Verwandten sank ich jauchzend in die Arme; war es mir doch, als wäre ich nach dieser Reise in die Unterwelt dem Leben auf’s Neue zurückgeschenkt, als hätte ich es als kostbares Pfand, dessen Werth ich ehedem unterschätzte, neuerdings erst vom Himmel zurückempfangen.

Die Höhle der Winde ist für mich aber die Feuerprobe der Ausdauer und des Muthes geworden. Ein Testament war glücklicherweise für dieses Mal überflüssig.
C. Löwenherz.