Verlorene Briefe

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Autor: W. P.
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Titel: Verlorene Briefe
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 24, S. 421–422
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Verlorene Briefe.

000000 Doch nun, lieber Neffe, komme ich zu dem eigentlichen Gegenstande meines heutigen Briefes.

Gewiß erinnerst Du Dich noch, daß, als Du uns vor drei Jahren besuchtest, Du Dich öfters mit meinem braven alten Nachbarn und Freunde Werner unterhalten hast, wenn dieser nach vollbrachtem Tagewerk Abends auf ein Plauderstündchen zu uns herüber kam.

Du äußertest damals wiederholt Deine Freude darüber, in dem alten Werner ein Prachtexemplar unseres westfälischen Bauernstandes mit allen seinen Licht- und Schattenseiten kennen gelernt zu haben.

Kurz nach Deiner Abreise fanden in unserer Gegend die Herbstmanöver statt. Das ganze große Dorf war mit Einquartierung überfüllt. Für den Frieden des Werner’schen Hauses sollte diese Einquartierung verhängnißvoll werden. Ein schmucker Unterofficier verliebt sich in Werner’s einziges Kind Marie. Die Neigung war gegenseitig. Paul Kunze, so hieß der unternehmende Kriegsmann, war nach seinem bürgerlichen Berufe ein tüchtiger Schlosser, der in wenigen Wochen – nach Ablauf seiner Militärdienstzeit – eine gut bezahlte Stelle in einer größeren Maschinenbauanstalt der Hauptstadt übernehmen sollte. Dann, so hofften die jungen Leute, würde der Hochzeit nichts weiter im Wege stehen. Doch wie so oft im Leben erwiesen sich auch diese Hoffnungen als trügerisch.

Vater Werner wollte durchaus nichts davon wissen, daß seine Marie einen städtischen Handwerker heirathen sollte.

Um es kurz zu machen – es wiederholte sich wieder einmal die alte Geschichte von dem hartherzigen Vater und dem standhaften Liebespaare. Nach langem vergeblichen Ringen, nach vielen kummervollen Tagen, fruchtlosen Thränen, Bitten und Vorstellungen von beiden Seiten zerriß endlich das Band zwischen Vater und Tochter. Marie heirathete gegen den Willen des Vaters den Mann ihrer Wahl und zog mit ihm in die entfernte Stadt. Ein Verkehr zwischen Vater und Tochter fand nicht statt. Der alte Werner ließ die Briefe seiner Kinder, in deren letztem Marie ihm die erfreuliche wirthschaftliche Lage der jungen Leute und den Erwerb eines eigenen Häuschens in der Vorstadt mittheilte, unbeantwortet.

So vergingen mehrere Jahre. Da plötzlich, vor etwa vier Wochen, wurde der alte Werner von einem Schlaganfalle betroffen. Der Arzt erklärte, es sei bei einer leicht möglichen Wiederholung des Anfalles Lebensgefahr vorhanden. Ich bat den Kranken, seiner Tochter schreiben zu dürfen und sie zu seiner Pflege kommen zu lassen. Ich stieß jedoch auf den entschiedensten Widerspruch. Wie sehr freute ich mich dagegen, als mir der alte Werner, der inzwischen auch geistlichen Zuspruch empfangen hatte, einige Tage später mittheilte, er selber habe an seine Tochter geschrieben und sie zu sich eingeladen.

[422] Groß war die Ungeduld und der Aerger des Alten, als selbst nach Verlauf einer Woche noch keine Antwort auf den Brief eingetroffen war. Auf mein Zureden und meine bestimmte Erklärung, der Brief könne unmöglich in die Hände der Adressatin gelangt sein, entschloß Vater Werner sich endlich, nochmals zu schreiben. Um völlig sicher zu gehen, wurde der Brief unter „Einschreiben“ abgesandt. Unbegreiflicherweise ist auch auf diesen vor länger als acht Tagen abgesandten Brief eine Antwort nicht erfolgt. Der alte Werner ist vor Kummer und Zorn außer sich. Heute nun hat er vor Notar und Zeugen ein Testameut errichtet, durch das seine Tochter auf den Pflichttheil gesetzt wird und das ganze nicht unbedeutende Vermögen entfernten Verwandten zufällt.

Vermag ich nun auch nicht, mir das Schweigen der Tochter zu erklären, so bin ich doch gewiß, daß keine Absicht zu Grunde liegt. Als alter Freund der Familie habe ich den dringenden Wunsch, den Sachverhalt schleunigst aufzuklären, um dadurch hoffentlich nicht nur die junge Frau vor einem höchst empfindlichen Vermögensnachtheil zu bewahren, sondern auch zugleich Kummer und Zorn von den letzten Lebenstagen meines alten getreuen Nachbars zu verscheuchen.

Zu diesem Zwecke nun, mein lieber Neffe, wende ich mich an Dich, da Du ja Deiner Stellung als Postbeamter am ehesten wirst beurtheilen können, was hier zu thun ist. In dem letzten Briefe, den Frau Kunze vor cirka zweieinhalb Jahren ihrem Vater geschrieben hat, theilt sie mit, daß sie ihr eigenes Haus, Auguststraße 17, bewohnten. Von einem Bekannten, der vor einigen Monaten dort war, habe ich gehört, daß die Familie Kunze ihr inzwischen durch einen Anbau vergrößertes Besitzthum auch jetzt noch inne hat. Ich bitte Dich, mir sobald als möglich mitzutheilen, ob es Dir gelungen ist, die Sache aufzuklären. Inzwischen . . . Dein Onkel 


 Liebster Onkel!

Dein Brief traf gestern zu gelegener Zeit ein. Ich war am Nachmittage dienstfrei und dadurch in der Lage, mich sogleich der Angelegenheit widmen zu können. In Auguststraße 17, wohin ich mich zunächst begab, war ein Schlosser Paul Kunze gänzlich unbekannt. Mit Hilfe des Adreßbuchs ermittelte ich jedoch, daß der Genannte in derselben Straße zwar, aber in Nr. 38 wohnhaft sei. Ich traf demnächst nicht den Mann, wohl aber Frau Marie geborene Werner zu Haus. Ich theilte ihr den sie interessirenden Abschnitt Deines Briefes mit. Frau Kunze war vor Ueberraschung und Aufregung fast außer sich. Die beiden Briefe des alten Werner sind nicht in die Hände seiner Tochter gelangt. Es ist dieses völlig begreiflich, da die Adresse unrichtig war. Die Briefe werden als unbestellbar an den Aufgabeort zurückgeschickt sein. Frau Kunze sagte mir, daß vor zwei Jahren aus Anlaß zahlreicher Neubauten die Häuser neu numerirt seien, und daß ihr Haus damals in Stelle von Nr. 17 Nr. 38 erhalten habe. Da Frau Kunze noch mit dem Abendzuge nach dort abreisen wollte, so wird sie vermuthlich noch vor diesen Zeilen dort eingetroffen sein.

Was wegen Wiedererlangung der beiden Briefe des alten Werner zu geschehen hat, darüber ist Frau Kunze von mir genau unterrichtet. Dein Neffe. 


Die junge Frau traf noch rechtzeitig am Krankenlager ihres Vaters ein. Eine völlige Aussöhnung fand statt. Das Testament des alten Werner wurde zurückgenommen. Acht Tage später wurde Vater Werner zur ewigen Ruhe bestattet. Die durch Vermittelung der Ausgabepostanstalt zurückerlangten beiden Briefe, die „An Frau Marie Kunze in B. Auguststraße l7“ adressirt waren, trugen auf der Rückseite den Vermerk: „In der angegebenen Wohnung gänzlich unbekannt, daher zurück.“ Bei der Aufgabe-Postanstalt, wohin die Briefe seiner Zeit zurückgelangt waren, konnte der Absender aus Handschrift oder Siegel nicht erkannt werden. Die Briefe wurden daher an den bei der Ober-Postdirektion des Bezirks bestehenden „Ausschuß zur Eröffnung der unbestellbaren Briefe“ eingesandt.

Nun hatte aber der alte Werner die Briefe nur mit „Dein Vater“ unterzeichnet.

Der Ausschuß, der sich lediglich auf die Prüfung der Unterschriften beschränkt, konnte also nach Wiederverschluß der Briefe nur die für die Ermittelung des Absenders in den meisten Fällen und so auch hier ungenügende Angabe niederschreiben.

Die Aufgabe-Postanstalt vermochte nun nicht, hiernach den Empfänger zu ermitteln. Nachdem auch die vorschriftsmäßige Nachfrage bei der Ortspolizei-Behörde erfolglos geblieben war, wurden daher die Briefe als endgültig unanbringlich der Oberpostdirektion wieder eingesandt. Hier würden sie, wäre nicht der vorstehend erwähnte Zwischenfall eingetreten, nach vierteljährlicher Lagerfrist und – bezüglich des Einschreibbriefes – Erlaß einer meist wenig beachteten amtlichen Bekanntmachung im Amtsblatt, mit vielen andern Schicksalsgenossen dem Flammentode geopfert worden sein.


Im Jahre 1884 ist im Deutschen Reichspost-Gebiete (zu welchem bekanntlich Bayern und Württemberg nicht gehören.) eine Viertelmillion unanbringlicher Briefe und Postkarten durch Feuer vernichtet worden. Selbst die Phantasie eines Dante müßte erlahmen, wollte sie versuchen, in Worte zu fassen, welche Wirkungen – von der Qual vergeblichen Wartens, der Bitterkeit der Enttäuschung, dem Aerger über vermeintliche Vernachlässigung, den oft bedeutenden Vermögensnachtheilen bis zu den kummervollen Nächten, den zahllosen Thränen und dem verzehrenden Gram so mancher Mutter oder Braut – mit der Vernichtung dieser Viertelmillion Briefe, die nie in die Hände der Empfänger gelangten, in der kurzen Frist eines Jahres verknüpft sind.


Die Zahl dieser unanbringlichen Sendungen steigt mit der Zunahme des Briefverkehrs von Jahr zu Jahr. (Wie erheblich diese Verkehrssteigerung ist, geht daraus hervor, daß, während 1871 die Reichspostanstalten 319 Millionen Briefe absandten, diese Zahl 1884 bereits auf 785 Millionen gestiegen war. Verbrannt wurden 1871 – 171000 Briefe.)

Thatsächlich vergegenwärtigen sich wohl nur sehr wenige Briefschreiber die Möglichkeit, daß der Brief, den sie gerade unter der Feder haben, aus irgend einem Grunde (z. B. der Empfänger ist verstorben, abgereist ohne Angabe einer Adresse, in der angegebenen Wohnung nicht aufzufinden, hat die Annahme verweigert, in X. wohnen mehrere Adressaten gleichen Namens, welcher von diesen ist gemeint? etc.) unbestellbar werden könnte, und unterlassen es daher, den Brief oder noch besser die Rückseite seines Umschlages mit ihrem vollen Namen nebst Wohnungsangabe zu versehen.

So wird denn, wohl dem Empfänger, nicht aber dritten Personen verständlich, der Brief mit: Deine Tante Anna, Freundin Auguste, Dein Onkel Karl, treuer Schwiegerpapa etc. unterzeichnet.

Diese ungenügende Angabe des Absenders verhindert die sonst sichere Rückkehr der sich etwa als unbestellbar erweisenden Briefe in die Hände ihrer respektiven Verfasser und zieht, wie so oft im Leben, so auch hier, eine anscheinend geringfügige Unterlassung häufig die schmerzlichsten Folgen nach sich.

So einfach und selbstverständlich bei der geringsten Ueberlegung der hier eben geschilderte Vorgang und Zusammenhang erscheint, so zeigt doch die Erfahrung, daß das Bewußtsein desselben noch lange nicht genügend in das Verkehrsleben eingedrungen ist, Beweis eben jenes alljährliche Brandopfer von einer Viertelmillion unanbringlicher Briefe.

Die Erfahrung lehrt aber auch ferner, wie schwer es ist, auf die breite Masse des Volkes, aus welcher die weit überwiegende Mehrzahl der in Flammen aufgehenden Briefe stammt, belehrend einzuwirken.

Hier giebt es, da der Einfluß einer auch noch so verbreiteten Zeitschrift naturgemäß immerhin ein enger, begrenzter und auch flüchtiger ist, wohl nur ein zuverlässiges, wenngleich langsam wirkendes Mittel, die Belehrung der Schuljugend.

Daß an entscheidender Stelle diese für die Volkswohlfahrt gewiß nicht ganz unwichtige Angelegenheit in Erwägung genommen und daß demnächst die Schulbehörden mit entsprechendem Hinweis versehen werden möchten, dies ist der Zweck und hoffentlich auch die Rechtfertigung dieser Zeilen.

Eisleben. W. P.