Vermischtes
Wahn und Irrtum im Leben der Völker. Als derzeitiger Rektor der Universität Tübingen hatte sich Prof. Gaupp zur Festrede am Geburtstage des Königs von Württemberg das zeitgemäße Thema erwählt: „Wahn und Irrtum im Leben der Völker“. Die Frage, ob es geistige Volkskrankheiten – einen Völkerwahn – gibt, muß die ärztliche Wissenschaft verneinen, während der Kulturhistoriker sie angesichts der Greuel des Hexenwahns, der religiösen, politischen und wirtschaftlichen Volkserregungen aus Vergangenheit und Gegenwart zu bejahen geneigt ist. Was man Wahn eines Volkes oder Volksteiles nennt, sind Wirkungen der Suggestion, die von Kranken und Gesunden, von leidenschaftlich begeisterten Schwärmern und kühlen Betrügern ausgeübt werden.
Voraussetzung aller Suggestion ist die geistige Lenksamkeit; handelt es sich um aufgepfropfte Ideen, die gläubig übernommen, aber auch leicht wieder abgestreift, nicht wie der Wahn des Verrückten in tiefem, oft schmerzlichem Erleben erzeugt werden. So grundverschieden die „suggerierte Idee“ vom Wahn eines Geisteskranken ist, kann sie doch gelegentlich in gewissen Epochen der Geschichte eine Macht über die Gemüter ausüben, die dem Wahn des Kranken nicht viel nachzugeben scheint; ihrem Wesen nach ist sie [134] ein korrigierbarer Irrtum, und der Lauf der Geschichte hat immer gezeigt, daß die Korrektur eintritt, sobald die Selbstbesinnung zu ihrem Recht kommen kann. Die Zahl der Irrtümer, von denen wir die europäische Menschheit heute erfüllt sehen, ist unendlich, und zwar nicht nur bei unseren Feinden, sondern auch bei unserem eigenen Volke; aber der heutige Zustand will für die Lebensbeziehungen der Völker nach dem Kriege gar nichts besagen. Die hohen Ideale einer über den Nationen stehenden Menschlichkeit, einer reichen, alle Völker umfassenden Weltkultur sind nicht für alle Zukunft ernsthaft gefährdet. Die Leidenschaften der Stunde werden vergehen, die Geistesarbeit der Jahrhunderte wird bestehen. Wichtiger als die Sorge um die künftigen Beziehungen der Völker unserer Erde ist heute der gemeinsame Kampf gegen die verheerende Macht des internationalen Kapitalismus, auf dem der Fluch dieses Weltkrieges ruht, und die klare Besinnung der Völker auf die letzten und höchsten Werte alles menschlichen Seins.
Tolstoi-Jünger vor dem Kriegsgericht. Das Moskauer Kriegsgericht verhandelte bei geschlossenen Türen gegen eine Anzahl Anhänger der Lehren Leo Tolstois. Sie stehen, wie man dem „Journal de Genéve“ berichtet, unter Anklage, weil sie im Oktober 1914 durch eine im Bezirk Tula an Zäunen und Telegraphenstangen angeschlagene Proklamation die bekannten Anschauungen Tolstois über den Krieg zu verbreiten suchten; daß sie Soldaten zum Ungehorsam und zur Dienstverweigerung aufgefordert haben, kann ihnen nicht nachgewiesen werden. Die Aufrufe wiesen die vollen Namen und die genauen Adressen der Verfasser auf. Bei einer sofort vorgenommenen Haussuchung fand man einen zweiten Aufruf, der von zahlreichen Tolstoianern aus allen Teilen Rußlands unterzeichnet, aber nicht für die Oeffentlichkeit bestimmt war. Unter den Angeklagten befinden sich Tolstois ehemaliger Sekretär Bulgakow und der greise Hausarzt des Dichter-Philosophen Dr. Makowizky, der österreichischer Untertan ist. Im ganzen sind 28 Personen angeklagt, unter ihnen eine ganze Familie Rodin – Vater, Mutter, Tochter und zwei Söhne –, ferner der finnische Schriftsteller Arvid Ernfeld und ein gewisser Gremberg, der wegen des gleichen „Verbrechens“ schon in Charkow vor Gericht stand und zum Verlust aller bürgerlichen Rechte und zur lebenslänglichen Verbannung nach Sibirien verurteilt worden ist. Einer der Hauptangeklagten, Popow, stammt aus einer reichen Kaufmannsfamilie; schon als Gymnasist wurde er ein Jünger Tolstois und ging, nachdem er sein Vaterhaus verlassen hatte, auf die Wanderschaft. Als ihn der Vorsitzende des Gerichtshofes fragte, wer er sei, antwortete er: „Gottes Sohn.“ Für die Arbeit, die er bei Bauern verrichtete, [135] nahm er kein Geld, sondern nur Brot und Feldfrüchte. Er ist Vegetarier der strengsten Observanz und ißt zum Beispiel keinen Honig, weil man, um ihn zu erlangen, Bienen töten muß. Er hält es auch für Sünde, mit Pferden zu pflügen. Der Angeklagte Bespalow, der in einer dörflichen Gemeinde als Schreiber angestellt war, erregt Aufsehen durch sein gründliches Wissen auf dem Gebiete der Philosophie und der Literatur. Der Angeklagte Nowikow ist jener Bauersmann, zu dem Tolstoi sich begeben wollte, als er kurz vor seinem Tode die berühmte Flucht in Szene setzte …
Galsworthy über den Weltkrieg. In „Scribners Magazine“ schrieb der bekannte englische Schriftsteller Galsworthy vor kurzem „Glossen zum Weltkrieg“.
Heute lesen wir in den Zeitungen, daß in den Reihen unserer Feinde ein Sozialist oder ein Pazifist seine Stimme erhoben hat gegen die Pöbelleidenschaft und die Kriegswut seiner Landsleute, und wir denken: „Wahrlich, welch aufgeklärter Mann!“; am nächsten Tag lesen wir in denselben Zeitungen, daß der Herr Soundso dasselbe getan hat, aber in unserem eigenen Land, und wir sagen: „Herrgott, den sollte man aufhängen!“
Jetzt hören wir begeistert einem unserer Staatsmänner zu, der uns von dem letzten Blutstropfen und von dem letzten Pfennig spricht: „Das ist Patriotismus!“ Dann lesen wir, wie ein feindlicher Staatsmann seinem festen Entschluß Ausdruck gibt, auch Hunde und Katzen zu bewaffnen, und wir schreien: „Welch ein barbarischer Wahn!“
Am Montag erfahren wir, daß ein verkleideter Mitbürger bis ins Innerste des Feindeslandes vorgedrungen ist, um uns irgendeine wichtige Aufklärung zu verschaffen. Wir denken uns: „Das ist echter Heldenmut!“ Am Dienstag erbittert uns die Nachricht, daß mitten unter uns ein Feind gepackt wurde, der spionieren wollte, und wir sagen: „Gemeiner Spion!“
Unser Blut kocht am Mittwoch, weil wir von der schlechten Behandlung hören, die einer der Unsern in Feindesland erdulden mußte. Am Donnerstagabend nehmen wir den Bericht von der Zerstörung feindlichen Eigentums durch unsern Pöbel mit Befriedigung zur Kenntnis: „Was können Leute anderes erwarten, wenn sie zu dieser Nation gehören?“
Unsere Feinde singen einen Haßgesang, und wir verachten sie deshalb. Wir selbst hassen und schweigen. Aber wir fühlen uns ihnen sehr überlegen.
Sollten wir nicht lieber unsern Kampf ehrlich zu Ende kämpfen und auf diese Ironie verzichten?
[136] Die Verletzung des Briefgeheimnisses im Reichstag. Abg. Zubeil: Ein sehr schwarzes Kapitel, das an die schwärzeste Reaktionsperiode des vorigen Jahrhunderts erinnert, ist die Verletzung des Briefgeheimnisses. Unser Ansehen im Auslande kann dadurch nicht gefördert werden. Es ist gar keine Rede mehr davon, daß, wie Herr Stephan einst mit Stolz sagte, der Brief bei der Post so heilig sei wie die Bibel auf dem Altar. Unser Antrag fordert mit Recht, daß die Postbeamten dem Ersuchen von Militärbefehlshabern auf Verletzung des Briefgeheimnisses keine Folge leisten. Die militärischen Befehlshaber sind keine Vorgesetzten der Postbeamten, aber auch abgesehen davon, dürfen Befehle, die im Widerspruch mit dem Gesetz stehen, nicht ausgeführt werden, und der Reichskanzler hat alle Ursache, dem Gesetze Achtung zu verschaffen.
Staatssekretär des Reichspostamts Kraetke: Es kann gar keine Rede davon sein, daß Postbeamte das Briefgeheimnis verletzen. Gesetzmäßigen Beschlagnahmen müssen sie natürlich Eolge leisten.
Abg. Stadthagen: Der Staatssekretär sprach davon, daß die Postbeamten gesetzmäßigen Beschlagnahmen Folge leisten müssen. Ihm ist aber bekannt, daß in der Kommission Fälle vorgetragen worden sind, in denen nicht auf richterliche Anordnung, sondern auf Anordnung vom Generalkommando Briefe geöffnet worden sind. Dazu hat der Staatssekretär erklärt, er wäre dafür nicht verantwortlich. Ein solcher Zustand aber ist rechtswidrig. Der Staatssekretär geht um die Sache herum. Er müßte klipp und klar erklären, daß er auch gegenüber Anforderungen vom Generalkommando keine Gesetzesverletzung zulassen wird. Wo soll es hinführen, wenn ein Staatssekretär strafbare Handlungen soll begehen dürfen, wenn es ein Generalkommando will. Wir verlangen Unverletzlichkeit des Briefgeheimnisses auch gegenüber Generalkommandos. Strafbare Handlungen dürfen von den obersten Beamten des Reiches nicht geschützt werden.
Ministerialdirektor Lewald: Ich muß die Behauptung, daß Stellvertretende Kommandierende Generale, wenn sie die Oeffnung von Briefen anordnen, etwas Strafbares tun, entschieden zurückweisen. Unter dem Belagerungszustand sind bekanntlich eine Reihe Garantien der persönlichen Freiheit aufgehoben. Dazu gehört es auch, daß über gewisse Personen Briefsperre verhängt und festgestellt wird, mit wem sie korrespondieren. Das geschieht auf Grund der Aufhebung der betreffenden Bestimmung der preußischen Verfassung unter dem Belagerungszustandsgesetz. Das hat auch das Reichsgericht anerkannt.
Abg. Stadthagen: Das Gegenteil ist richtig. Durch Aufhebung eines Artikels der preußischen Verfassung, der sich nicht mit der Briefsperre beschäftigt, kann nicht eine [137] Reichsbestimmung aufgehoben werden. Die persönliche Freiheit in der preußischen Verfassung hat mit § 5 des Reichspostgesetzes nichts zu tun. Da wo das Belagerungszustandsgesetz überhaupt eingreift, z. B. das Preßgesetz, ist das ausdrücklich bestimmt. Von einer persönlichen Freiheit ist hier überhaupt nicht die Rede, durch die Verletzung des Briefgeheimnisses wird ein Staatsbürgerrecht, ein Staatsgesetz verletzt. Die Sperre kann nur der Richter anordnen, niemals ein Generalkommando. Das Reichsgericht hat im Band 49 seiner Entscheidungen, Seite 162, ausführlich dargelegt, daß die vollziehende Gewalt, die die Militärbefehlshaber erhalten haben, sich nur darauf beziehe, daß sie die zur Ausführung eines Gesetzes nötigen Anordnungen zu erlassen haben, also zu prüfen haben: Ist es nötig, solche Anordnungen zu erlassen? Niemals aber sind sie dadurch berechtigt zur Aufhebung eines Gesetzes. Eine solch ungeheuerliche Auslegung ist in keinem Kommentar zu finden. Es wäre dasselbe, als wenn man deduzieren würde, der König sei als vollziehende Gewalt berechtigt, ein Gesetz aufzuheben. Das Tatbestandsmerkmal einer strafbaren Handlung liegt bei diesem Vorgehen des Generalkommandos zweifellos vor. Diese Verletzung des Briefgeheimnisses erinnert an die schwärzesten Zeiten des schwarzen Kabinetts. In einem um seine Freiheit ringenden Deutschland dürfen solche Dinge nicht Vorkommen.
Ministerialdirektor Lewald: Der Vorredner legt das Belagerungszustandsgesetz zu eng aus. Das Reichsgericht hat wiederholt anerkannt, daß auf Grund des § 9b auch neues Recht geschaffen werden kann.
Abg. Stadthagen: § 9b handelt nur von Verboten. Was für ein Verbot ist denn hier ergangen? Glaubt der Ministerialdirektor etwa, daß ein Gericht sich findet, das einen Postbeamten bestraft, wenn er entgegen der Anordnung des Generalkommandos einen Brief aushändigt? Er ist ja zur Aushändigung verpflichtet. Wir müssen diesen Anfängen eines schwarzen Kabinetts mit aller Entschiedenheit entgegentreten.
Die Resolution Bernstein über die Verletzung des Briefgeheimnisses wird gegen die Stimmen der Soz. Arbg., Sozialdemokraten und Polen abgelehnt.
Ein englisches Gebet. Am 2. Januar 1916 fand in der Paulskathedrale in London ein nationaler Bittgottesdienst statt, dem unter anderen der Oberbürgermeister von London, die Stadträte und Sheriffs (oberste Beamte der Grafschaft) und einige achtzig Mitglieder der Londoner Kaufmannschaft in Amtstracht beiwohnten. Der Erzbischof von Canterbury leitete den Gottesdienst, der folgendes Gebet enthielt:
- „Lasset uns Gott bitten, daß er aus den Wirren und dem Elend des Krieges ein besseres Verständnis für das
[138] wahre Verhältnis von Recht und Macht erwachsen lasse und ein tieferes Erfassen der Botschaft Christi in seiner Bedeutung für die Gemeinschaft der Völker. Mögen wir keinen Wunsch haben, unsere Feinde vernichtet zu sehen, nur um ihrer Demütigung willen.
- Lasset uns für sie wie für uns selbst wünschen, daß ihre Augen für die Erkenntnis der Wahrheit geöffnet werden mögen; lasset uns beten, daß durch die Gnade Gottes der Tag kommen möge, an dem wir einander verstehen und achten lernen, und uns als Freunde vereinigen, um nach dem gemeinsamen Guten zu streben.
- Und vor allem lasset uns beten, daß wir, wenn der ersehnte Friede kommt, von dem festen Willen erfüllt sein mögen, die bittere Erinnerung an unsere Kämpfe dadurch auszulöschen, daß wir von neuem als Menschen von gutem Willen uns in den Dienst der hohen Aufgabe stellen, die Völker der Welt zur wahren Erkenntnis unseres einzigen Erlösers und des Herrn über uns alle und zum Gehorsam gegen ihn zu führen.“
Möchten alle Geistlichen sich angetrieben fühlen in diesem Sinne, jeder in den Formen, die sein Bekenntnis ihm eingibt, die einstige Verständigung der Völker vorbereiten zu helfen.
Die Frage eines Ausgleichsfriedens. Die „Zürcher Post“ vom 27. Mai enthält folgende Zuschrift: In den letzten Apriltagen wurde die Berner Postbehörde von der französischen Postbehörde verständigt, daß die Militärzensur eine Sendung des „Bundes der Menschheitsinteressen“ an den Präsidenten Wilson beschlagnahmt habe. Dieselbe enthielt die „Menscheit“ und die „Voix de l’Humanité“ vom 15. März mit den von Professor Dr. R. Broda (Bern) stammenden Vorschlägen für einen Ausgleichsfrieden und eine Bitte an die amerikanische Regierung, dieselbe wolle die Vorschläge zum Ausgangspunkt einer Vermittlungsaktion nehmen.
Soeben ist jedoch am Sitze des Bundes für Menschheitsinteressen in Bern ein Schreiben des Staatsdepartements zu Washington eingetroffen, dahingehend, daß die amerikanische Regierung die Vorschläge erhalten habe und in entsprechende Erwägung ziehen werde. Es scheint also, daß die französische Regierung die auf Beschlagnahme lautende Verfügung der eigenen Zensurbehörde wieder zurückgezogen hat. Seither hat Präsident Wilson bekanntlich auch in seiner Rede zu Charlette eine solche Aktion in Aussicht gestellt.
Ein weiteres Symptom für das Interesse an der Idee eines Ausgleichsfriedens mag darin erblickt werden, daß dem Bunde für Menschheitsinteressen auch von amtlicher [139] Stelle des Deutschen Reiches ein Dankschreiben für die Ueberreichung seiner Vorschläge zugekommen ist.
Erläuternd mag beigefügt werden, daß dieselben die territorialen Streitfragen durch einen auf die relativ stärksten spezifischen Bedürfnisse jedes Staates aufgebauten Austausch von Zugeständnissen zu lösen suchen und zwecks Sicherung eines Dauerfriedens eine Ausgestaltung des Völkerrechts im einzelnen darlegen und begründen.