Vielliebchen (Die Gartenlaube 1896)

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Textdaten
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Autor: Ernst Eckstein
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Titel: Vielliebchen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1–2, S. 12–16, 31–36
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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[12]

Vielliebchen.

Novelle von Ernst Eckstein.


1.

Ueber dem altfränkischen Hausgarten lag die Septembersonne. Ein sechzehnjähriger Knabe, das kluge hübsche Gesicht leuchtend vor Uebermut und quellender Jugendlust, schritt nach der Geißblattlaube, wo ein schlankes, wunderschönes zwanzigjähriges Mädchen auf der hellgrün gestrichenen Bank saß und ein Buch in der Hand hielt.

„Störe ich?“ fragte er eintretend.

Die junge Dame sah auf. „Ach, Du bist’s, Feodor?“

„Ja, ich, Tante Marie! Erwartest Du sonst wen?“

„Das nicht,“ versetzte Marie Sanders. „Aber ich dachte, Du hättest noch Schularbeiten …“

„Das eilt nicht, Tante. Erst kommt das Wichtigere. Ich lauere nämlich seit ein paar Tagen schon auf eine gute Gelegenheit, Dich einmal ganz unter vier Augen zu sprechen.“

„So? Das klingt ja beinahe feierlich.“

„Es ist auch feierlich. Aber dabei auch ein bißchen komisch. Vielleicht lachst Du mich aus.“

[14] „Du machst mich neugierig. Setz’ Dich da einmal her und sprich frei von der Leber weg!“

„Tante, ich muß Dir etwas Merkwürdiges mitteilen. Unser Professor ist sterblich in Dich verliebt.“

Das schöne blonde Mädchen errötete. „Unsinn! Wie kommst Du darauf?“

„O, das ahnt mir schon seit geraumer Zeit. Neulich jedoch ist mir die Sache zur vollen Gewißheit geworden. Und, bei Lichte besehen, ist es ja doch wohl gerade kein Wunder. Ich bin zwar der Sohn deiner Schwester, aber ich muß Dir trotzdem das ehrliche Kompliment machen: Du bist das reizendste, liebenswürdigste Mädchen, das ich mir denken kann.“

„Herr Gott, Junge, was schwatzest Du da alles zusammen? Wie alt bist Du jetzt?“

„Im April werde ich siebzehn. Da hab’ ich wohl schon ein Urteil über dergleichen. Also Professor Lotichius liebt Dich zum Närrischwerden. Du in deiner Naivetät merkst das natürlich nicht. Ich aber habe ihm tief in das Herz geblickt. Selbstverständlich, ohne daß er es weiß. Er in seiner Mutlosigkeit möchte das ja geheimhalten. Große Gelehrte sind auf diesem Gebiet oft wie die Kinder. Und er ist doch einmal ein Archäologe ersten Ranges, trotz seiner achtundzwanzig Jahre. Das sagte erst heute noch unser Klassenführer …“

„Ich bitte Dich, Feodor …“

„Thu’ nur nicht gleich, als ob Du mich fressen wolltest! Ich bin ein Gemütsmensch. Ich halt’ es für meine Pflicht, da den Mund aufzuthun, wo nur ein thörichter Mangel an Selbstvertrauen das Glück zweier Menschen bedroht. Lotichius in seiner blöden Bescheidenheit bildet sich ja natürlich ein, Marie Sanders, die Vielumworbene, wie Homer sagen würde, die allgefeierte blonde Schönheit, sei hundertmal zu schade für ihn.“

„O!“ fuhr Marie heraus.

„Ich weiß,“ lächelte Feodor altklug, „Du teilst diese Anschauung nicht. Würde ich denn dies Thema berührt haben, wenn ich nicht fest überzeugt wäre, daß meine schöne Tante im stillen ebenso heiß für den Professor schwärmt wie er für sie?“

„Nun hört aber alles auf! Wenn Du Dich je unterstehst …“

„Ich wiederhole Dir, blondrosiges Tantchen: Du brauchst gar nicht so wild zu werden! Selbstverständlich bleibt das alles ganz unter uns. Diskretion Ehrensache! Aber die Wahrheit läßt sich nicht aus der Welt schaffen. Meinst Du, ich wüßte nicht, daß Du vorhin geglaubt hast, es wäre Professor Lotichius, der auf die Laube zuschritt? Tantchen, Tantchen! Du hast ja keinen andern Gedanken mehr!“

„Junge, Du machst mir ordentlich Angst!“

„Nicht wahr? Der geborene Menschenkenner! Der zukünftige Jurist, wie er im Buche steht! Aber damit Du auch siehst, wie ich bei Lotichius zu Werke gegangen bin, um gravierende Indizien zu sammeln, und damit Du befähigt wirst, Dir selber ein Urteil zu bilden, höre mir nur einen Augenblick zu! Willst Du?“

„Was kann ich machen? Du überrumpelst mich ja …“

„Item, es war am verflossenen Montag, als ich mit unserm Professor den Gang in den Haßwald machte. Na, da hab’ ich denn also expreß von Dir angefangen. Ich habe ihm vorgeschwärmt, Du kannst Dir nicht vorstellen wie – und dein Loblied geblasen in allen Tonarten. Da hättest Du sehen sollen, wie das unwiderstehlich auf ihn einwirkte! Er ahnte ja nicht, daß mein fanatischer Hymnus Absicht war. Zunächst hat er in allen, selbst in den übertriebensten Punkten mir zugestimmt; und zwar so eigentümlich bewegt, daß man schon ganz hätte vernagelt sein müssen, um nicht das leidenschaftlich pochende Herz deutlich herauszuhören. Ich bitte Dich, laß mich nur ausreden! Du denkst wieder, ich hätte Dich kompromittiert? Ganz und gar nicht! Ich stellte das alles so hin, als fühlte ich selber den Drang, meiner Begeisterung für Dich einmal gründlich Luft zu schaffen, als sei ich selber ein wenig in Dich verknallt, wie das ja auch wirklich der Fall ist. Bei Gott, süßes Tantchen, wäre ich zehn Jahre älter, ich wüßte mir was Gescheiteres, als einem andern so voll Inbrunst das Wort zu reden …“

Er schlang ihr heftig den Arm um den Hals und drückte ihr einen sehr unerwarteten stürmischen Kuß auf die Wange.

„Du bist heute rein des Teufels!“ wehrte das junge Mädchen.

„Durchaus nicht. Als Neffe hab’ ich das Recht, meine Tante zu küssen. Kann ich dafür, daß Du erst einundzwanzig zählst? Aber nun hör’ mich weiter! Nachdem der Professor mir so warmherzig beigestimmt hatte, fügte er noch aus eigenem Vorrat ein paar Sätze hinzu, die ich Dir eigentlich in Goldlettern auf feinstem Velinpapier überreichen sollte. Er sagte zum Beispiel: ‚Fräulein Marie ist in der That ein liebenswürdiges, reichbegabtes Geschöpf und vom edelsten Streben erfüllt.‘ Siehst Du, das kommt davon, daß Du soviel Interesse für seine altgriechischen Götter bekundet hast! Dir liegt ja natürlich weit weniger an diesen Göttern als an ihm selbst …“

„Erlaube einmal …“

„Sei nur ganz ruhig! Darin hab’ ich ein sehr unbefangenes Urteil. Und ich will Dir noch etwas sagen. Die auffallende Freundschaft des Professors für mich wurzelt eigentlich nur in der Thatsache, daß er bemerkt hat, wie gut wir zwei, Du und ich, miteinander stehen …“

„Da thust Du ihm unrecht. Das wäre ja schnöde Berechnung.“

„Nein, das ist unbewußt. Neulich las ich im Molière, daß ein Verliebter sogar Sympathie für den Hund seiner Flamme empfindet. Da ich als Neffe doch um etliche Stufen höher stehe …“

Marie mußte trotz ihrer Aufregung lachen. Dann sagte sie ernsthaft: „Ich fürchte, Du bist doch unvorsichtig gewesen. Es war nicht recht, Feodor …“

„Weshalb nicht? Ich wollte mir doch Gewißheit verschaffen. Ich bin ein Gemütsmensch; ich kann zwei liebende Herzen nicht so trostlos verschmachten sehen. Und, wie gesagt: alles mit diplomatischer Feinheit! Am Schluß hab’ ich denn recht heimtückisch vor mich hingemurmelt: ‚Ja, ja, der Mann, der Tante Marie ’mal heiratet, wird’s gut bekommen.‘ Da ist er ganz blaß geworden – ich sage Dir, blaß wie hier deine Batistbluse – und hat beinahe kläglich durch die zuckenden Lippen gehaucht: ‚Unzweifelhaft!‘ Hiernach lenkte er mit aller Gewalt das Gespräch auf ein anderes Thema. Aber die Blässe seines guten, treuen Gesichts und der klägliche Ton seiner Stimme hat eine Weile noch vorgehalten. Ich merkte sehr wohl: er hatte im Geist einen blendenden Kavalier erblickt, der Dich glückstrahlend zum Altar führte. Etwa den Rittmeister Scholl. Kurz, die Sache ist klar und der Indizienbeweis vollständig erbracht. Die Geschworenenbank erklärt Herrn Professor Lotichius der leidenschaftlichsten Liebe zu Fräulein Marie Sanders einstimmig für schuldig.“

Marie holte tief Atem. „Ja, mein Gott,“ sagte sie stirnrunzelnd, „ich verstehe noch immer nicht recht, was Du denn eigentlich willst.“

„Nicht? Bist Du schwer von Begriff! Als zukünftiger Rechtsanwalt möchte ich jetzt schon den achtungswerten Beruf üben, das Verworrene zu schlichten und alles recht hübsch ins Gleiche zu bringen. Ich sehe doch, wie meine Worte Dein zwanzigjähriges Herz aufgewühlt haben. Und da Du nun gar keinen besseren, lieberen, edleren Mann kriegen kannst als den Professor, so will ich durch meinen verwandtschaftlichen Rat darauf hinwirken, daß Du ihm Deine Liebe ein wenig zeigst und seinem schwachen Mut auf die Beine hilfst.“

Marie blickte zu Boden.

„Ich weiß nicht, wie ich mir vorkomme,“ sprach sie in banger Verlegenheit. „Du halbwüchsiger Junge mischest Dich da in Dinge, die doch meilenweit über Deinen Gesichtskreis hinausgehen. Warum bleibst Du nicht bei Deinem Sophokles …?“

„Auch im Sophokles kommt ’was von Liebe vor. Und ich kann ja doch nun einmal nichts dafür, daß mein Herz für Euch beide in so bewundernder Sympathie und Freundschaft entbrannt ist. Es lebt was in mir, das mir unausgesetzt zuruft: ‚Ebne den Zweien den Weg!‘ Und sag’ mal selbst: der Professor als Onkel – wäre das nicht eine großartig schöne Errungenschaft für die Familie? Lotichius steht bereits im Konversations-Lexikon.“

Marie zog plötzlich ihr Taschentuch und fing an zu weinen.

„Was hast Du nur, Tantchen?“

„Ich schäme mich, daß ich so etwas von Dir anhören muß.“

„Ach, das glaube ich nicht! Du weinst nur vor Glückseligkeit, weil ich Dir eine so frohe Botschaft gebracht habe.“

„Feodor,“ hub sie nach einer Weile an und ergriff, seine Hand, „Du bist wirklich älter als Deine Jahre – und leider besitze ich nicht das Talent, zu heucheln. Wenn Du’s denn weißt – gut! Ich gebe Dir’s zu: Professor Lotichius ist mir nicht gleichgültig. Aber noch weniger gleichgültig ist mir mein Ruf und mein weiblicher Stolz. Du giebst mir Dein Ehrenwort, daß Du von dem, was ich jetzt eben gesagt habe, nie das Geringste verlauten läßt! [15] Das sähe doch aus … Wahrhaftig, der Gedanke wäre mir furchtbar. Also die Hand darauf, daß Du mich nie wieder bei dem Professor erwähnst, geschweige denn gar von dem redest, was Du so aus mir herausgefragt hast. Versprich mir das, oder, bei Gott, es geschieht ein Unglück!“

Feodor blickte ihr staunend in das erregte Antlitz.

„Gut,“ sagte er zögernd. „Wenn Du’s denn absolut haben willst. Aber im Grunde seh’ ich nicht ein …“

„Dein Ehrenwort!“

„Ja, ja, mein Ehrenwort! Du hast es in aller Form! Aber Du wirst mir gestatten, daß ich zu Deiner Forderung nachträglich eine Bemerkung mache. Ich sehe nämlich durchaus nicht ein, in wie weit es Dich kompromittieren könnte, wenn er’s erführe, daß Du ihn lieb hast. Sieh’ mal, er ist in gewisser Beziehung ein Unikum. Er bildet sich ein, daß er der unscheinbarste, häßlichste Mensch unter der Sonne ist …“

„Das ist ja unmöglich!“

„Doch. Es ist so! Und das macht ihn so über die Maßen schüchtern, so ungewandt – wie soll ich nur sagen? Ich wette, Lotichius hat in Herzensangelegenheiten nicht einmal die Erfahrungen eines Primaners. Jedenfalls hält er es für undenkbar, daß ein Geschöpf wie Du, so schön, so gefeiert, so vornehm, sich auch nur im entferntesten für seine Persönlichkeit interessieren könne. Vielleicht ein wenig für seine Forschungen, aber doch niemals für ihn selbst. Da fände ich es nun ganz in der Ordnung, wenn man ihm diese Thatsache, die er nicht zu erhoffen wagt, irgendwie zu Gemüt führte. Neulich hab’ ich erst noch gelesen, wie der berühmte italienische Dichter Anselmo Colombi zu seiner Frau kam …“

„Wie denn?“

„Nun, der war auch so ein schüchterner Herr. Monatelang hat er geschmachtet, und jedesmal, wenn die Gelegenheit da war, an seine Flamme das entscheidende Wort zu richten, war er wie auf den Mund geschlagen. Bis dann endlich einmal das kluge junge Mädchen, das später Frau Dichterin werden sollte, ihm bei einem solchen Tete-a-tete mütterlich sanft in die Augen sah und ihn fragte: ‚Nicht wahr, Herr Doktor, Sie möchten mich heiraten?‘ Und Anselmo Colombi sank der freimütigen Jungfrau mit einem aufjauchzenden Ja in die Arme. Siehst Du, aus dieser später sehr glücklichen Ehe wäre nie ’was geworden, wenn sich das junge Mädchen auf den Standpunkt gestellt hätte: es ist unweiblich, in solchen Dingen die Initiative zu ergreifen. Es handelt sich ja gar nicht um die Initiative – denn die hat er ja längst innerlich selbst ergriffen – sondern nur um das erlösende Wort. Na, Du weißt nun, wie Du daran bist! Leb’ wohl und überlege Dir, was Du zu thun hast! Ich denk’ nicht daran, gegen Deine Erlaubnis Schritte zu thun. Aber wenn Du zur Einsicht gelangst, daß die Vermittlung eines geistvollen Jünglings ihre Vorzüge hat, dann, liebes Tantchen, steh’ ich Dir jederzeit zur Verfügung.“ Er lachte, strich ihr zärtlich über das blonde Haar und trat in den Garten hinaus, wo rechts und links unter den halb gefärbten Bäumen die Astern und Georginen leuchteten. Dann verschwand er im Hause.

Marie Sanders blieb nachdenklich bei ihrem Buche zurück. Sie konnte nicht weiter lesen. Ja, sie liebte den ernsten, klugen, dabei so weichen und gütigen Mann mit der ganzen Unwiderstehlichkeit einer ersten Leidenschaft. Und was Feodor ihr erzählt hatte, war in der That eine frohe Botschaft für sie; denn bis jetzt hatte sie immer noch heimlich daran gezweifelt, daß ihre Liebe erwidert sei. Die neue glückverheißende Lage flößte ihr aber zugleich eine wühlende Unruhe ein. Sie fühlte, daß Feodor den Professor nur zu richtig beurteilte. Dieser scheue, zaghafte Mann würde ohne Aufmunterung die entscheidende Frage niemals über die Lippen bringen. Diese Aufmunterung jedoch, gleichviel in welcher Form, widerstrebte ihr. Die Anekdote von dem Dichter Colombi klang in ihr nach. Sie rief sich jedes Wort Feodors ins Gedächtnis zurück. Nein! Bei aller Glut ihres Herzens würde sie doch niemals imstande sein, ihr weibliches Zartgefühl so sehr zu vergessen. Das war völlig undenkbar.


2.

Die Eltern Feodors, der Justizrat Merck und seine Frau Karoline, gaben zur Feier der zwanzigsten Wiederkehr ihres Vermählungstages ein kleines Familienfest. Außer den nächsten Verwandten hatte man auch ein paar gute Freunde geladen: vor allem Professor Lotichius und den Rittmeister Scholl, der unbedingt für den glänzendsten Offizier der Glaustädter Garnison galt. Feodor, der mit seiner noch jugendlichen Mama auf einem fast kameradschaftlichen Fuße stand, hatte sich die Vergünstigung ausgewirkt, bei der Tafelordnung ein Wort mitzureden. Die Folge war natürlich ein Arrangement, das den Professor Lotichius zum Tischherrn der blonden Marie Sanders machte. Die andere Seite des liebenswürdigen jungen Mädchens mußte man allerdings zum Leidwesen Feodors dem Rittmeister Scholl gönnen. Feodor hatte ursprünglich die Absicht gehabt, diesen schneidigen Kavalier möglichst am entgegengesetzten Ende der Tafel kalt zu stellen. Aber er fügte sich, da ihn die Mutter belehrte, es sei geradezu unartig, wenn man die offenkundigen Sympathien der Gäste so wenig berücksichtige.

Bei nochmaliger Ueberlegung fand er die Anordnung auch gar nicht so zweckwidrig. Wenn der Professor sah, wie eifrig der Rittmeister bei seinen Huldigungen ins Zeug ging, so übte das doch vielleicht einen günstigen Einfluß auf seine Zaghaftigkeit aus. Die Eifersucht war ja ein mächtiger Hebel.

Das kleine Diner verlief zur allgemeinsten Befriedigung. Küche und Keller boten Vorzügliches. Ein jovialer Onkel des Hausherrn brachte den Toast auf das glückliche Paar aus, rühmte das traute Familienleben, dessen die Mercks nun seit zwanzig Jahren sich ohne Trübung erfreuten, warf ein paar liebenswürdige Streiflichter auf die zwei hoffnungsvollen Kinder des Hauses, Feodor und die fünfzehnjährige Frieda, und wob zuletzt auch die reizende junge Schwester der Hausfrau mit vielerlei blumigen Schmeicheleien in das Gespinst seiner Rede. Allem Liebenswürdigen, was dieser Tante galt, pflichtete Feodor, der ihr schräg gegenüber saß, durch lebhaftes Kopfnicken bei, nicht ohne im stillen den guten Professor Lotichius mit hoffender Aufmerksamkeit zu beobachten. Der junge Gelehrte aber hielt seinen Blick starr auf den Teller gerichtet, preßte die Lippen fest aufeinander und spielte mit unsicherem Finger am Stengel seines Champagnerglases.

Stürmische Hochrufe unterbrachen diese Versunkenheit. Flüchtig errötend stieß Professor Lotichius mit seiner blonden Nachbarin an. Er brachte kein Wort über die Lippen, sondern wandte sich gleich zu den übrigen, vorab zu dem Jubelpaar. Der Rittmeister dagegen drehte sich mit einem vielsagenden Lächeln seinen mächtigen Schnurrbart und flüsterte seiner lieblichen Nachbarin schmeichlerisch zu:

„Mir ganz aus der Seele gesprochen – besonders was er da über Sie bemerkt hat! Famoser Herr, dieser Onkel! Ich gestatte mir, gnädiges Fräulein …“ Er leerte das Glas bis auf den letzten Tropfen und seine tiefschwarzen Augen schleuderten einen flammenden Blitz in die ihrigen.

Feodor sah zu seiner tiefsten Betrübnis, daß die Angelegenheit seines lieben Professors nicht den geringsten Fortgang nahm. Und wenn er die beiden Herren da rechts und links von Tante Marie vorurteilslos miteinander verglich, so gab es für ihn doch gar keinen Zweifel, wem von den Zweien der Kranz gebühre. Professor Lotichius war nicht nur ein genialisch veranlagter Mensch, sondern auch eine stattliche Männererscheinung; wohl gewachsen und von gewinnenden Zügen. Nur der Mangel an Selbstvertrauen, die trübe Scheu einer weltfremden Natur und dann auch eine gewisse Traumhaftigkeit und Zerstreutheit lieh ihm etwas vom Sonderling. Der Rittmeister dagegen war nur ein flotter, vielerfahrener Courmacher, ein liebenswürdiger Schwadroneur, aber im Grund seines Wesens hohl und ohne andere Interessen als die seines Dienstes und seines Amüsements. Wenn dem Professor erst einmal diese holde Marie als Lebensgefährtin zur Seite stand, würde sich alles, was ihn jetzt vielleicht in den Augen gewisser Leute beeinträchtigte, völlig verlieren; der wahre Kern seines Wesens würde siegreich zum Durchbruch gelangen. Der Rittmeister dagegen war und blieb ein gefälliger Durchschnittsmensch, der zu einem so tiefen, wundervollen Geschöpf wie Marie durchaus nicht paßte.

Feodor wunderte sich, daß er jetzt überhaupt solche Betrachtungen anstellte. Marie war ja doch ganz seiner Ansicht. Sie hatte ihm ja ihre Neigung zu dem Professor eingeräumt. Und streng genommen lieferte auch die Art, wie sie mit beiden Herren verkehrte, den Beweis für diese Neigung. Wenn sie mit dem Professor sprach, schien sie ganz eigentümlich befangen, während sie mit dem Rittmeister ohne Rückhalt scherzte und lachte und seine unbedeutendsten Späße mit augenscheinlicher Dankbarkeit aufnahm.

Freilich konnte ja diese Dankbarkeit von Professor Lotichius mißdeutet werden … Die Möglichkeit eines derartigen Irrtums [16] ärgerte den frühreifen Menschenkenner über die Maßen. Und der Professor ward immer schweigsamer. Feodor Merck beschloß daher, in diesen Herzensroman seines Freundes Lotichius fördernd einzugreifen, sobald sich ihm irgendwie die Gelegenheit böte.

Man war beim Dessert. Als er sich eine Handvoll Knackmandeln aus der silbernen Schale nahm, verfiel er sofort auf den Gedanken, Fräulein Marie Sanders müsse mit dem Professor ein Vielliebchen essen. Wenn Professor Lotichius in die Lage versetzt wurde, dem Gegenstand seiner Liebe etwas zu schenken, so begründete das doch immerhin einen Zusammenhang, der bei kluger Berechnung ausgenutzt werden konnte. Noch besser war es, wenn der Professor gewann. Marie mußte ihm dann etwas arbeiten, etwas recht Sinniges, Hübsches, Bedeutungsvolles, und Feodor wollte dann schon dafür Sorge tragen, daß diese Gabe möglichst erkennbar die Gesinnungen der Geberin aussprach. Da lag ja der Punkt, auf den’s hier vor allem ankam. Er mußte unzweideutig erfahren, was in der Seele Mariens vorging....

Feodor schmunzelte stillvergnügt vor sich hin. Beim Aufknacken der dritten Mandel fand er schon, was er suchte. Er legte die beiden Kerne auf einen Teller und reichte sie über den Tisch mit den Worten: „Für Dich, Tantchen, und den Herrn Professor als Deinen Tischherrn! Willst Du?“

„Ah, ein Vielliebchen!“ lachte der Rittmeister selbstbewußt und zwirbelte seine Schnurrbartspitze. „Die alte, fromme Sitte ist noch nicht ausgestorben!“

„Wenn es dem Herrn Professor recht ist …,“ sagte Marie, etwas verlegen. Sie glaubte, es würde auffallen, wenn sie nicht harmlos auf die Idee Feodors einginge.

„Selbstverständlich,“ meinte Lotichius errötend. „Ich muß nur zu meiner Schande gestehen, daß ich auf diesem Gebiet wenig Erfahrung habe.“

„Sehr einfach.“ Marie setzte ihm nun die üblichen Bedingungen kurz auseinander. Er nickte. Und dann vollzog man die Ceremonie mit einer gewissen ans Komische grenzenden Feierlichkeit.

„Absichtliches Verlieren ist ausgeschlossen,“ fügte Feodor in seiner Rolle als Unparteiischer eifrig hinzu. „Nicht wahr, Tante?“

„Natürlich. Sonst wäre ja gar kein Witz bei der Sache.“

„Also aufgepaßt, Herr Professor!“ mahnte der Rittmeister.

„Keine Sorge! Ich werde schon acht geben!“

Und wirklich schien Professor Lotichius von diesem Moment ab all’ seine Gedanken auf den Sieg in dieser scherzhaften Fehde zu richten. Er ward noch schweigsamer als zuvor; nur die Worte „Ich denke dran“ klangen etliche Male von seinen seltsam gekräuselten Lippen.

Kurz vor dem Aufstehen wollte der Zufall, daß Mariens Serviette von ihrem Schoße herab unter den Tisch glitt. Lotichius, voll arger List, bückte sich, hob sie auf und überreichte sie der nichtsahnenden Nachbarin mit einer artigen Handbewegung. Marie war von dieser Aufmerksamkeit des sonst nicht übermäßig galanten Professors derart verblüfft, daß sie die Anwendung des Schutzwortes vergaß und erst durch das triumphierende „Guten Morgen, Vielliebchen!“, das Lotichius ihr zurief, an die Lage der Dinge erinnert ward.

„Bravo!“ rief der übermütige Sohn des Hauses. Marie Sanders aber ward purpurrot, denn sie befürchtete, daß man trotz ihres vorhin so deutlich ausgesprochenen Grundsatzes dies rasche Verlieren für Absicht halten möchte. Sie stammelte ein paar Worte, die ihren Mangel an Aufmerksamkeit entschuldigen sollten, brach aber dann rasch ab.

Den Rest des Tages über war der Professor merkwürdig aufgeräumt. Besonders liebenswürdig und lebhaft unterhielt er sich mit seinem jungen Freunde Feodor, dem er von seiner griechischen Reise erzählte und auch sonst manche vertrauliche Mitteilung machte. In seiner Anspruchslosigkeit freute er sich seines Vielliebchen-Sieges wie eines großen Erfolges. Der Gedanke, Marie Sanders je zu besitzen, lag ihm dabei ferner als je, zumal er fest davon überzeugt war, dieser glänzende Rittmeister Scholl habe die ernsthaftesten Absichten. Mit einem solchen Rivalen aber es aufnehmen zu wollen, wäre ja doch der barste Wahnsinn gewesen. Im Grund seines Herzens hatte Lotichius dauernd entsagt. Für ihn war es Glück genug, wenn er ein kleines Andenken von ihr mit hinüber nach Bonn rettete. Er stand nämlich mit der dortigen Hochschule in Unterhandlung. Bis jetzt hatte er noch gezögert. Nun aber war es beschlossen: er würde den Ruf annehmen. Dieser Entschluß war es, der ihm eine gewisse Klarheit und Festigkeit lieh und ihn fast heiter erscheinen ließ.

Nach dem Kaffee begab sich die ganze Gesellschaft in den Hausgarten. Es war kurz vor Sonnenuntergang. Ueber den Bäumen, Sträuchern und Blumenbeeten lag die wehmütige Poesie des scheidenden Sommers. Feodor wußte es einzurichten, daß der Professor sich plötzlich mit Fräulein Marie allein in der Laube sah. Es entspann sich ein kurzes Gespräch. Lotichius teilte ihr mit, daß er wohl spätestens Anfang November abreisen werde. Er gehe nach Bonn, wo sich ein größerer Wirkungskreis ihm erschließe als hier in Glaustädt. Als sie nicht antwortete, fügte er halblaut hinzu:

„Ja, Fräulein Sanders! Ich verbessere mich ganz augenscheinlich. Auch hoffe ich dort gewisse Aufregungen und thörichte Träumereien leichter vergessen zu können als hier. Nicht jedem ist es auf Erden vergönnt, seine goldnen Phantasmen in Wirklichkeit umzusetzen, – – wie etwa bevorzugte Persönlichkeiten nach Art des Rittmeisters Scholl. …“

Er schwieg, selber erstaunt über die tollkühne Anspielung, die er sich niemals im Leben zugetraut hätte. Mariens Herz pochte. Aber noch ehe sie etwas erwidern konnte, trat der so befremdlich erwähnte Rittmeister Scholl dazwischen und überreichte ihr mit blendender Ritterlichkeit „die letzte Rose“ – „the last rose of summer“ –, die er soeben im großen La-France-Beet für sie gepflückt hatte.

[31]
3.

Während der nächsten Zeit war Marie eifrig damit beschäftigt, an dem Vielliebchen-Geschenk zu arbeiten. Große perlengestickte Brieftaschen waren damals sehr in der Mode. Und da eine Brieftasche ihr eine ganz besonders passende Gabe für einen Gelehrten schien, so war sie gleich am folgenden Morgen in das erste Galanteriewarengeschäft von Glaustädt gewandert, um etwas recht Vornehmes und Apartes für den Mann ihrer Neigung auszuwählen.

Das Wetter war trübe und kalt geworden; aber im Herzen Mariens blühte und leuchtete es wie ein sonniger Maimorgen. Sie hatte sich nämlich nach reiflicher Ueberlegung für einen Plan entschieden … Die Worte, die der Professor in der Geißblattlaube gesprochen, waren ja fast ein halbes Geständnis … Lotichius glich an Scheu und Befangenheit wirklich ein bißchen dem italienischen Dichter: man mußte ihm nachhelfen, so schwer es auch hielt, mit den althergebrachten Anschauungen weiblich-strenger Zurückhaltung brechen zu sollen. Wäre nicht der Rittmeister Scholl dazu gekommen, wer weiß, ob sich nicht alles von selbst gemacht hätte? Die Situation war so günstig und die Stimmung des liebenden Mannes schien so gehoben! Jetzt aber war dieser Augenblick unwiederbringlich versäumt. Da galt es zu handeln, ehe es zu spät ward.

Ganze Nachmittage lang saß Marie in ihrem Stübchen und stickte, bis ihr die Augen schmerzten. Es waren die kleinsten Glasperlen, die es gab, und ein sehr verwickeltes, schwieriges Muster; aber die fertige Arbeit würde auch eine köstliche Wirkung ausüben. Schlanke lichtgrüne Vergißmeinnichtstauden, die den Vordergrund bildeten, hoben sich mit ihren blauen und blaßroten Kelchen von dem Hintergrund einer verschleierten Landschaft ab. Das Muster war allerdings nur dann vollständig erkennbar, wenn man es weit von dem Auge entfernt hielt. Aber gestickt würde das deutlicher werden. Und auf jeden Fall gab sich das Ganze als ein wunderbar abgetöntes, farbenglitzerndes Mosaik. Für die Rückseite war ein gleichfalls in Perlen zu stickender Streifen mit der Aufschrift: „Guten Morgen, Vielliebchen!“ bestimmt. Unter die Aufschrift kam noch Datum und Jahreszahl. Schon die Mühsamkeit dieser großartigen Perlenarbeit mußte dem teuren Manne verraten, daß die Stickerin ihre sehnende Seele mit einstickte. So beschenkte man nur den Einen, dem man mit jeder Faser des Herzens zu eigen war. Und dann …

Flammende Glut stieg ihr ins Antlitz, wenn sie sich dieses „Dann“, das ihren tollkühnen Plan bedeutete, klar ins Bewußtsein rief. Sie schreckte wohl noch für kurze Momente zurück. Aber auch nur für kurze Momente. Sie wußte ja ganz genau, daß ihr nichts anderes übrig blieb, wenn sie nicht etwa die Freundschaftsdienste Feodors in Anspruch nehmen wollte. Vor Feodor aber schämte sie sich; das wäre ihr noch hundertmal peinlicher und demütigender gewesen … Nein, unter keiner Bedingung!

Feodor, der sich für die Brieftaschenstickerei außerordentlich interessierte, verfolgte mit Genugthuung ihren raschen Fortgang. Doch war er zugleich erstaunt und verstimmt darüber, daß der [32] Professor, der doch sonst häufig genug im Hause vorsprach, all’ die Tage her nicht das Mindeste von sich hören ließ.

„Was ist das nur mit unserem Lotichius?“ fragte er, als er sich wieder einmal auf den gepolsterten Rundstuhl neben die Tante setzte, während das junge Mädchen, über den Stickrahmen gebeugt, Perle an Perle reihte. „Weshalb kommt er nicht mehr?“

„Wer kann das wissen!“ sagte Marie.

Feodor trommelte mit der Hand auf den Tisch.

„Rätselhaft!“ meinte er achselzuckeud. „Früher sagte er doch wenigstens ’mal guten Tag, wenn er in sein Kolleg ging. Jetzt aber macht er, scheint’s, absichtlich einen Umweg.“

„Er wird seine Gründe haben,“ versetzte Marie ruhig.

Dann schaffte sie weiter, während der Junge stirnrunzelnd hinaus auf die Straße sah. Das Ausbleiben des Professors verursachte ihr keinerlei Unruhe mehr. Sie wußte, in welchem Irrtum er lebte und wie bald dieser Irrtum sich aufklären würde. Sie hatte ja ihren Plan … Wie sonderbar von Professor Lotichius, sie mit dem Rittmeister Scholl in Verbindung zu bringen, der ihr so vollständig gleichgültig war! Ach, daß einem die liebsten Menschen selbst dann nicht ins Herz sehen können, wenn soviel davon abhängt! Aber Geduld! Sie hatte ja ihren Plan …

Als Feodor nach etlichen Tagen wieder bei Tante Marie anklopfte, fand er die Thür von innen verriegelt. Das junge Mädchen rief ihm erschreckt zu: „Wer ist da? Du, Feodor? Ich kann niemand herein lassen, ich bin beim Anziehen.“

„So spät noch?“

„Ja. In einer halben Stunde komm wieder. Ich habe Dich dann um etwas zu bitten.“

„Gut! Also in einer halben Stunde!“

Was Fräulein Marie da vom Anziehen behauptete, war eine Notlüge. Sie saß vielmehr in vollständiger Haustoilette vor dem krummfüßigen Pfeilertischchen und schrieb einen Brief ins Reine, den sie vorher mit Anstrengung all ihres Scharfsinnes und Taktgefühls aufgesetzt hatte. Nach langer Mühe war sie mit dem Entwurf zustande gekommen. Der Brief war an Professor Lotichius gerichtet und enthielt, wenn auch nicht das unmittelbare Geständnis ihrer Neigung, so doch Worte und Wendungen, die den Professor über den wahren Sachverhalt nicht im Zweifel belassen konnten. Insbesondere war sein Irrtum bezüglich des Rittmeisters in diesem Briefe zerstört und die Bemerkung hinzugefügt, einen wie hohen Wert die Briefschreiberin darauf lege, daß gerade er, Professor Lotichius, sich in diesem Punkte nicht täusche. Lotichius mußte, wenn er dies Schreiben las, sofort die Ueberzeugung gewinnen, seine Werbung würde mit überquellender Herzensfreude angenommen und durch die Liebe eines ganzen Lebens belohnt werden. Und doch hatte Marie es fertig gebracht, dieser Enthüllung jeden Stachel der Unweiblichkeit zu nehmen und das Ganze mehr in dem Licht eines unfreiwilligen Sichverratens als in dem einer berechneten Kundgebung erscheinen zu lassen.

Nachdem sie die Reinschrift beendet hatte, steckte sie den Brief in ein schmales Couvert, verschloß es und schob es in die versteckteste Falte der gestern fertig gewordenen Brieftasche.

„Also doch wie die Frau Anselmo Colombis!“ dachte sie lächelnd. „Nun denn in Gottesnamen! Ich konnte nicht anders!“

Nach Verlauf einer halben Stunde kam Feodor.

„Du hast Dich ja heute besonders schön gemacht,“ sagte er mit einem zärtlichen Blick auf das lichte Alpakakleid. In Wahrheit jedoch war es nicht das Alpakakleid, was diesen Eindruck hervorrief, sondern der unbeschreibliche Hauch banger Glückseligkeit, der auf dem Antlitz des jungen Mädchens wie ein goldrosiger Schein lag.

„Feodor,“ sprach Marie ein wenig unsicher, „die Brieftasche ist vollendet. Willst Du mir nun den großen Gefallen thun, sie dem Professor persönlich in seine Wohnung zu bringen?“

„Gern! Was thäte ich nicht für meine bildhübsche Tante! Aber laß nun erst einmal sehen, wie sich das Ding macht!“

Er griff danach. Fräulein Marie wehrte ihm ängstlich.

„Ja nicht so anfassen! Das hellgraue Leder ist so furchtbar empfindlich.“

„Na, na, na!“ lachte Feodor. „Ich bin doch kein Kind, das mit Obst oder Honigfingern herumläuft. Aber ganz wie Du willst. Ich respektiere Dein Heiligtum. Rück’ es mir selber zurecht! Ich beschaue es mir dann in hochachtungsvollster Entfernung.“

Marie Sanders schob ihm die Tasche hin. Sie hatte rosenfarbiges Seidenpapier daruntergelegt und that jetzt wirklich, als ob sie selber sich scheue, das Kunstwerk anzutasten.

„Großartig!“ sagte Feodor. „Und eine Arbeit …! Na, wenn unser Professor jetzt noch immer nichts merkt …“

„Also Du findest mein Geschenk nicht zu geringfügig?“

„Hör’ mal! Geringfügig! Ein Prachtstück ist’s! Geradezu ersten Ranges!“

„Nun, das freut mich! Sei jetzt so gut und zünde mir dort ’mal das Licht an!“

„Ach, Du willst es wohl einsiegeln?“

„Natürlich. Das schickt sich doch so.“

Sie wickelte nun das Seidenpapier um die Tasche herum und verpackte das Ganze in einen weißen Konzeptbogen, den sie mit etlichen Siegeln und der Adresse versah. Links unten vermerkte sie: „Absenderin – Marie Sanders.“

Mit diesem Paketchen beladen schritt Feodor nach der Wohnung seines gelehrten Freundes. Da Professor Lotichius abwesend war, nahm die Wärterin, sichere Bestellung verheißend, das Geschenk in Empfang. Noch an dem nämlichen Abend traf ein Couvert mit einer Visitenkarte von Professor Lotichius ein. Auf der Visitenkarte stand unter dem Namen: – „dankt herzlich für das ausgezeichnet schöne Vielliebchen.“

Dann verstrichen wieder acht Tage, ohne daß Professor Lotichius was von sich hören ließ.

Am neunten erschien er zur landesüblichen Besuchsstunde im schwarzen Gehrock, um sich von der Familie Merck zu verabschieden. Seine Uebersiedlung nach Bonn sollte noch um ein paar Wochen früher erfolgen, als er vorausgesetzt hatte. Er dankte der Frau Justizrätin – ihr Gemahl war verreist – mit stammelnden Worten für die freundschaftliche Aufnahme, die er in ihrem gastfreien Hause genossen habe, und bat um die Erlaubnis, ihr und ihrer Schwester zum Andenken je eine griechische Gemme überreichen zu dürfen. Dann zog er zwei kleine Olivenholzschächtelchen aus der Tasche, in denen die beiden Gemmen auf lichtblauer Watte lagen, stellte die Schächtelchen halbzugeklappt auf den Tisch und überließ das Weitere, auch die Führung der Konversation, den Damen.

Marie, die seit der Absendung ihrer Brieftasche unausgesetzt zwischen Hoffnung und Trostlosigkeit hin- und hergeschwankt hatte, glaubte die sonderbar zurückhaltende Art des Professors nicht mehr mißdeuten zu dürfen. Während Frau Merck die sehr kunstvollen Gemmen bewunderte und ihr tiefstes Bedauern über den Weggang eines so werten Freundes aussprach, rief sich Marie mit fiebernder Bangigkeit jedes Wort ihres Schreibens ins Gedächtnis zurück. So streng sie auch richtete: ihr Brief enthielt nichts, was das Feingefühl eines wahrhaft liebenden Mannes hätte verletzen können. Es war also nur eins möglich: Feodor und sie selber hatten sich in der Beurteilung des Professors schmählich getäuscht. Er liebte sie nicht, verstand daher auch nicht ihre Motive und mußte nun diese Zeilen für die empörendste Aufdringlichkeit halten!

Es fiel ihr unendlich schwer, die Viertelstunde, die der Besuch dauerte, in gebührender Selbstbeherrschung zu überstehen. Als Professor Lotichius endlich mit einem traurigen Blick von ihr Abschied genommen, mit einem Blick, den sie als den unwillkürlichen Ausdruck seines Mißvergnügens darüber ansah, daß er sich in der Schätzung ihres Charakters so stark verrechnet hatte: da eilte sie hinaus in ihr Stübchen, warf sich langwegs auf das Bett und weinte zum Herzbrechen. Das Bitterste war ihr vielleicht in diesem Augenblicke der Umstand, daß sie auf Gottes Welt niemand in ihren Gram einweihen konnte. Selbst Feodor, der doch in anderer Beziehung ihr Mitwisser war, durfte von diesem Brief nichts erfahren. O, wie sie in ihrer hellen Verzweiflung den Knaben haßte, der ihr die unsinnige Anekdote von Anselmo Colombi erzählt hatte! Ihr erster Instinkt hatte doch recht behalten! Jede Unweiblichkeit, selbst wenn sie sich in das zarteste Kleid hüllte, strafte sich selbst. Ohne diesen abscheulichen Brief wäre ihr Leben zwar lichtlos und arm geblieben, aber doch nicht so im innersten Kern gebrochen! Jetzt, so schien es, fehlte ihr jeder Halt, jegliche Fähigkeit, ihr elendes Dasein noch weiter zu schleppen. Sie entbehrte jetzt nicht nur der Liebe, sondern sie hatte bei all’ ihrer Qual auch noch die Achtung des Mannes verloren, des einzigen Mannes, an dessen Achtung ihr wahrhaft gelegen war.

Und sie weinte, weinte, bis ihr in bleiernem Schlafe die Sinne schwanden. – – –

[34]
4.

Vierzig Jahre waren ins Land gegangen. Marie Sanders war unvermählt geblieben; ebenso wie Professor Lotichius, der mehr und mehr der äußeren Welt abstarb, sich ganz in die Tiefen seiner archäologischen Forschung vergrub und nur noch eins pflegte: die merkwürdige Freundschaft zu Feodor. Feodor selbst hatte vor drei Decennien sich in Glaustädt als Rechtsanwalt niedergelassen, ein hübsches, liebenswürdiges Mädchen geheiratet und etliche Zeit danach die schon lebhaft blühende Praxis durch die seines allzufrühe verstorbenen Vaters vergrößert. Er bewohnte am Nördlinger Thor ein schönes geräumiges Haus, wo auch die alte Justizrätin, die sich mit ihrer Schwiegertochter genau so kameradschaftlich nett gestellt hatte wie einst mit ihrem lustigen Unterprimaner, ein stilles, beschauliches Heim gefunden. Tante Marie aber war schon bald nach dem Wegzuge des Professors als Gesellschafterin einer entfernten Verwandten auf Reisen gegangen und hatte sich später, um ihrem Thätigkeitsdrang Genüge zu leisten, eine Stellung als Vorsteherin eines Dienstbotenheims geschaffen. Sie schrieb nur selten; dann aber strömte aus ihren Briefen stets der Hauch einer seltsamen Schwermut, die zu der scheinbaren Freudigkeit, mit der sie sich ihrem Beruf widmete, nicht recht passen wollte. Feodor hatte die Angelegenheit mit dem Professor niemals wieder erwähnt. Er kam sich wohl selber dabei etwas beschämt vor. Schließlich, wenn der Professor nicht wollte: zwingen konnte man ihn ja nicht; und es gab ja ganz merkwürdige Menschenkinder, die sich trotz aller Neigung und Sympathie zu keinem Entschlusse aufraffen können, weil sie gleichsam für ein ewiges Junggesellentum prädestiniert sind. Jedenfalls hielt es der ehemalige Liebesvermittler für zweckmäßig, den unangenehmen Zwischenfall totzuschweigen.

Da eines Tages, als Feodor, dessen Bart hier und da schon ergraut war, beim Frühkaffee saß und sich mit seiner gutherzigen Frau über die Schulstreiche seines ältesten Enkels besprach, kam ein Brief aus Bonn, dessen Adresse nicht von Lotichius herrührte. Lorenz, der langjährige Famulus des Professors, machte in diesem Schreiben die traurige Mitteilung, sein teurer Herr sei infolge eines Gehirnschlages plötzlich verstorben. In Anbetracht der ihm bekannten freundschaftlichen Beziehungen des Herrn Rechtsanwalts zu dem Verblichenen habe Lorenz geglaubt, dies ohne Verzug melden zu sollen. Er fügte noch die Bemerkung hinzu, daß der Herr Rechtsanwalt Feodor Merck, wie er, Lorenz, dies aus dem Munde des Verewigten wisse, schon vor Jahren durch letztwillige Verfügung des Herrn Professors zum Haupterben ernannt sei.

Feodor Merck war aufs tiefste erschüttert. Er dankte dem Famulus telegraphisch. Zum Begräbnis konnte er leider nicht abkommen. Doch schickte er einen prachtvollen Kranz aus Epheu, Lorbeer und Immergrün.

Nach Verlauf einiger Wochen begab sich Feodor Merck behufs Antritts der Erbschaft nach Bonn. Er wußte, Lotichius war nicht reich, kaum wohlhabend gewesen. Das hinterbliebene Vermögen mit Einschluß des Mobiliars konnte nur von geringem Wert sein. Auch der litterarische Nachlaß hatte wohl nur wissenschaftliche, nicht materielle Bedeutung. Feodor nahm sich vor, mit der Sichtung und Bearbeitung dieser archäologischen Ausbeute einen befreundeten jungen Gelehrten zu beauftragen, falls Lotichius hier nicht anders verfügt hätte. Von den Möbelstücken wollte er einiges zur Erinnerung an sich nehmen, andres dem Famulus schenken, den Rest aber unter der Hand verkaufen lassen.

Von Wehmut erfüllt, betrat er das Arbeitszimmer des großen Gelehrten und ging hier sofort ans Werk, die Manuskripte und Briefschaften, die wohlverwahrt in den Fächern des alten Schreibtisches lagen, einigermaßen zu registrieren und in Pakete zu schnüren. Er fand da zunächst eine Unmasse von kleinen aufgeklebten Notizen, Excerpten und fragmentarischen Aufsätzen, alles Vorarbeiten zu dem großartigen Buch „Griechische Plastik“, mit dem Lotichius sich seit Jahren beschäftigt hatte. Außerdem noch fünf oder sechs Monographien, zum Teil beinahe fertig und nur noch einer letzten feilenden Hand bedürftig, zum Teil doch in ihren Grundzügen feststehend, klare, scharfumrissene Entwürfe, die sich dem Meister während der Arbeit an seinem Hauptwerk abgesplittert, zu deren Förderung er indessen nicht Zeit gefunden. Links oben, in einem besonderen Schubfach, ziemlich bunt durcheinander, lagen die Korrespondenzen vieler Jahrzehnte, meist Zuschriften hervorragender Berufsgenossen, dazwischen auch hier und da ein Familien- und Freundesbrief. Feodor nahm diese Briefschaften stoßweise heraus, umschnürte sie und ließ sie dann von dem Famulus einpacken. Zu Hause in aller Ruhe wollte er zusehen, was von diesen meist schon vergilbten Blättern des Aufhebens wert sei, das übrige aber verbrennen. Hier in Bonn, angesichts der verschiedenartigen sonstigen Obliegenheiten fehlte ihm Zeit und Stimmung.

Nachdem er die Briefe sämtlich herausgenommen, fand er im Hintergrund des Gefaches, von braunem Papier umhüllt, ein etwa handhohes Paket. Er öffnete dieses Paket. Es waren dünne, meist unscheinbar gebundene Notizbücher. Er klappte das oberste auf und las in den festen, klaren Schriftzügen des Professors: „Tagebuch meiner griechischen Reise.“ Auf dem Deckel des zweiten stand: „Pompejanische Studien.“ Dann auf dem dritten: „Einnahme- und Ausgabeverzeichnis“ …

Mit einem Male glaubte sich Feodor wieder in die Zeit seiner Primanertage versetzt, jener glücklichen Zeit, da Professor Lotichius im Elternhause des Knaben als häufiger Gast verkehrte. Er sah sich wieder in der besonnten Geißblattlaube neben der jugendlich schönen Tante sitzen, und dann droben in ihrem traulichen Stübchen, wo sie mit freudeglühenden Wangen ihr liebes Gesicht über den Stickrahmen beugte. Unter dem „Einnahme- und Ausgabeverzeichnis“ des Heimgegangenen lag nämlich die Brieftasche, die ihm Tante Marie vor jetzt nahezu einundvierzig Jahren zum Vielliebchen geschenkt hatte. Gleich auf den ersten Blick erkannte Feodor das sehr eigenartige Perlenbild, das er ja damals in der Entstehung mit so großer Aufmerksamkeit verfolgt und sich genau eingeprägt hatte. Das waren die hellgrünen Vergißmeinnichtstauden mit den bläulichen und rötlichen Blumenkelchen, und die seltsam verschleierte Mosaiklandschaft im Hintergrunde. Zu allem Ueberfluß stellte er auch das Vorhandensein des Perlenstreifens auf der Rückseite mit Datum und Jahreszahl fest. Welch’ eine mühsame Arbeit war das gewesen! Und wie hübsch und sorgfältig ausgeführt! Noch heute riß sie ihn zur Bewunderung hin, obschon sie ihm ganz eigentümlich altmodisch vorkam und gleichsam verschossen. Aber die zierlichen Perlen hatten doch ganz gewiß nichts an ihrer Farbenpracht eingebüßt. Das Ganze wirkte nur jetzt so fremdartig, so verjährt.…

Schwermutsvoll über die Flucht der Zeit nachdenkend, drehte Feodor Merck die Brieftasche langsam zwischen den Fingern. Ein wunderbares Verhängnis, daß diese beiden Menschen so einsam durchs Leben gegangen waren, ohne sich gegenseitig zu finden! Wie Feodor all’ die Einzelheiten sich ins Gedächtnis zurückrief, mußte er trotzdem seine Auffassung von damals für richtig halten. Der gereifte Mann bestätigte aus innigster Ueberzeugung die Ansicht des Knaben: Professor Lotichius war von dem Zauber Mariens aufs tiefste berührt worden. Er hatte sie wahrhaft geliebt. Und dennoch war er ohne ein Wort der Erklärung von Glaustädt weggegangen und hatte auch später geschwiegen, bis das verwundete Herz Mariens sich nach und nach auf sich selber zurückzog und endlich dem Leben abstarb.…

Nun, jetzt wohnte ja längst eine genügsame Ruhe in dem Gemüt der Gealterten. Sie war still und tapfer ihren lichtlosen Weg gegangen und hatte sich allgemach mit diesem Schicksal ausgesöhnt.

Da zuckte ihm plötzlich der Gedanke durchs Hirn: diese Brieftasche bekommt Tante Marie! Vielleicht gewährt es ihr doch eine Art von Genugthuung, wenn ich ihr sage, wie sorgfältig der Verewigte ihr Geschenk aufgehoben, und wie er es gleichsam für sie, die Geberin, hier zwischen den wertvollen Tagebüchern aus seiner Jugendzeit hinterlegt hat.

Er klappte die Brieftasche auf, um zu sehen, ob die mit hellroter Schnur eingehefteten Blätter irgend etwas enthielten, was für ihn von Belang sei. Aber das Ganze schien vollständig unberührt. Wie er die Blätter so zwischen Daumen und Zeigefinger auf- und abgleiten ließ, sah er auch nicht den Schimmer einer Notiz. So wickelte er die Tasche denn sorgfältig ein und schob sie in seinen Rock.


5.

Marie Sanders erhielt am vierzehnten März eine Postsendung aus Bonn, der ein liebenswürdiges Schreiben ihres Neffen, des Rechtsanwalts Doktor Feodor Merck, beilag. Mit herzlichen Grüßen überschickte er ihr als wehmütig schönes Andenken an Professor Lotichius die perlengestickte Brieftasche von damals … Tante Marie wußte ja … Und Feodor hoffte, daß es ihr einige Freude bereiten [35] würde, aus dem Zustand der Brieftasche zu erkennen, wie sehr Professor Lotichius ihre Gabe in Ehren gehalten.

Marie Sanders zählte jetzt einundsechzig Jahre. Das reiche goldblonde Haar von einst war schneeweiß geworden, das mildvornehme Gesicht hatte noch eine entfernte Ähnlichkeit mit dem des zwanzigjährigen Mädchens; besonders um Stirne und Augen. In diesen freundlichen Zügen lag nichts Altjüngferliches, Verstimmtes oder Vergrämtes: nur ein Hauch herbstlicher Trauer, die schweigsame Elegie eines späten Oktobertages, wenn sich die Stürme beruhigt haben und im aufsteigenden Abendnebel nur leise das dürre Laub raschelt. Marie Sanders hatte sogar im Ausdruck des wohlwollenden Mundes etwas Frauenhaftes und Mütterliches.

Als sie den Brief ihres Neffen gelesen, flog ein seltsames Zucken über ihr Antlitz. Was sie in jener fernen Zeit durchgemacht hatte – die Schmerzen ihres verwundeten Stolzes, das tiefe Leid über die unerwiderte Neigung – war längst vergessen. Nur das Liebe und Gute schien ihr treu im Gedächtnis zu haften. Jetzt war ihr zu Sinne, als kehre ihr mit dem Geschenk von damals ein lebendiges Stück ihrer begrabenen Jugend zurück. All’ die beglückenden Träume, die sie während der Zeit des Hoffens und Harrens bis zum Abschied des teuren Mannes gesponnen hatte, tauchten von neuem farbenprächtig in ihrer schauernden Seele auf, ohne den herben Beigeschmack der Enttäuschung. Die Morgenröte der ersten und einzigen Liebe warf einen warm verklärenden Strahl auf dieses längst schon abgeschlossene Frauendasein.

Mit zitternder Hand wickelte sie die Brieftasche aus der Umhüllung. Beim Anblick der unvergessenen Stickerei quollen ihr zwei funkelnde Thränen unter den Wimpern hervor. Sie drückte den Mund auf die hell schimmernden Perlen wie der Gläubige auf ein Reliquienstück. Dann musterte sie noch einmal, in unsagbare Empfindungen versenkt, die blühenden Blumenstauden mit der halb nur erkennbaren Landschaft dahinter, die ihr jetzt vollends verschwamm; denn sie weinte, ohne daß sie es wußte.

Endlich zog sie das Taschentuch, trocknete ihr beströmtes Antlitz und die brennenden Lider und seufzte aus tiefster Brust.

Welch ein seltsames Geschöpf sie doch war! Als sie die Nachricht von seinem Tod erhielt, war sie verhältnismäßig so ruhig gewesen! Sie hatte ja kaum je wieder etwas von ihm gehört; denn Feodor vermied es ja absichtlich, ihn zu erwähnen, und sie selbst getraute sich nicht, nach ihm zu fragen. Der Tod hatte für sie überhaupt nichts Schreckhaftes. Ja, der Gedanke, daß er sein ruhmreiches Leben nun so plötzlich beschloß, ohne die Leiden und Gebrechlichkeiten des Greisenalters kennenzulernen, flößte ihr eine gewisse Genugthuung ein. Sie war also rasch mit sich fertig geworden. Jetzt aber, da ihr die Brieftasche hier den Traum ihrer Jugend zurückführte, war sie kaum noch fähig, dem Ansturm dieser Erinnerungen stand zu halten.

Schamhaft zögernd fing sie jetzt an, in dem Notizheft, das mit dem hellroten Band in der Brieftasche befestigt war, langsam zu blättern. Auch sie war erstaunt, sämtliche Seiten vollständig unbenutzt zu finden. Das Herz bebte ihr wieder. So wenig also hatte er von ihr wissen wollen, daß er ihr schönes Geschenk nicht einmal in Gebrauch nahm! Die Auslegung, die Feodor sich gegeben, der gerade darin eine besondere Ehrung, eine Art heiliger Scheu erblickte, kam ihr nicht in den Sinn. Vollständig unbenutzt! Also einfach beiseite gelegt! Doch nein! Hier auf der letzten Seite stand ja wirklich eine blaßgraue Bleistiftnotiz …

Sie beugte sich vor, um zu lesen. Und wie sie las, ward ihr Gesicht totenblaß und ihre Hände begannen zu schlottern, so daß sie ein paarmal aufhören mußte, wie um neue Kräfte zu sammeln.

Die Bleistiftnotiz lautete:

„Diese Brieftasche empfing ich kurz vor Beendigung meines Aufenthaltes in Glaustädt als Vielliebchen von Fräulein Marie Sanders. Wehe mir, daß ich dies unvergleichliche Mädchen jemals kennengelernt! Ich liebe sie bis zum Wahnsinn. Trotzdem werde ich ehestens erleben müssen, daß sie das Weib eines andern wird. Wie mochte ich thörichter Mann auch nur minutenlang hoffen, sie, die Gefeierte, Glänzende, Herrliche, werde sich jemals zu mir, dem unscheinbaren Gelehrten, herablassen können! Sie bekundet nur freundschaftliche Teilnahme, Mitleid vielleicht, aber sonst nichts. Mit diesem Geschenk begrabe ich all’ meine Hoffnungen. Ich halte es unter Verwahrung wie ein kostbares Kleinod. Nach meinem Tod erst soll Marie aus diesen Zeilen erfahren – wenn sie es überhaupt erfährt – was sie dem Trostlosen und Vereinsamten während der glücklichen Tage in Glaustädt gewesen ist. 0 Edwin Lotichius.“

Die Brust des gealterten Fräuleins keuchte. Feodor hatte also doch tiefer geschaut als sie! Es war also dennoch kein Irrwahn gewesen! Aber wenn er sie wirklich geliebt hatte, wie war es dann möglich …? Unwillkürlich griff ihre bebende Hand in die Falte, wo sie damals den Brief an Lotichius verborgen hatte. Eiskalt lief es ihr über den Rücken und wie vernichtet sank sie in ihren Lehnstuhl.

Ihr Brief steckte da noch – unberührt und uneröffnet.…

Der Schlag war zu furchtbar. Marie Sanders verlor das Bewußtsein.


6.

Als sie wieder erwachte, sah sie Feodor an ihrem Lager stehen. Aber es war nicht der Rechtsanwalt mit dem halb schon ergrauten Bart, sondern der blühende, jugendstrahlende Unterprimaner … Und das war auch ihr hübsches, niedliches Mädchenzimmer im Hause der Schwester, nicht die einsame Stube des alten, weißhaarigen Fräuleins. Marie hatte das alles geträumt, alles, alles … „Gott sei Dank!“ wollte sie rufen. Aber da fiel ihr ein, daß die Hauptsache ja doch Wirklichkeit war. Lotichius hatte sich heute verabschiedet: morgen in aller Frühe wollte er seine Reise nach Bonn antreten. Keine Silbe hatte er auf ihren Brief erwidert. Ihr Leben war doch verloren …

Und nun weinte sie wieder.

„Tante, sei doch vernünftig!“ murmelte Feodor und ergriff ihre Hand. „In zwanzig Minuten geht es zu Tische. Was soll denn Mama denken?“

„Ach, Feodor, Feodor!“ schluchzte sie laut. „Ich habe so gräßlich geträumt. Es liegt noch auf mir wie die Last einer furchtbaren Schuld …“

Und hingerissen von dem Bedürfnis, ihr krankes Herz auszuschütten, erzählte sie alles bis ins kleinste.

Die Augen Feodors leuchteten.

„Das ist wie ein Finger des Schicksals! Ich bin fest überzeugt: Du hast wahr geträumt bis auf den Ausgang. Bisher wolltest Du nicht, daß sich Dein unkluger Neffe einmischte. Jetzt, bei allem, was heilig ist, lass’ ich mir’s nicht mehr verbieten!“

Somit rannte er weg. Um einen Vorwand brauchte er nicht verlegen zu sein. Bei dem Abschiedsbesuch des Professors war er, Feodor, leider nicht dagewesen. Und verabschieden mußte er sich ja doch von dem trefflichen Freund.

„Wie gefällt Ihnen die Brieftasche?“ fragte er nach einer Weile. „Die von Tante Marie, mein’ ich?“

„Ausgezeichnet!“

„Ich glaube, es liegt eine Widmung darin …“

„Ach? Eine Widmung? Da muß ich doch gleich einmal nachsehen …“

Also es war in der That, wie die Tante geträumt hatte! Der Brief Mariens steckte noch uneröffnet in der festschließenden Falte! Und daher das unendliche Weh der beiden in heißer Liebe entbrannten Herzen!

O, diese Gelehrten!

Feodor eilte jetzt schleunigst heim und überließ den Professor seinem glückseligen Schicksal.

Wenige Stunden danach aber kam ein flammender, leidenschaftlich beredter Brief.…

Und am Abend erschien der Professor selbst, ganz verwandelt in Miene und Haltung, ein Herzenseroberer, ein Stürmer, ein Triumphator!

Und zu Anfang Dezember fand in dem nämlichen Saale, wo Lotichius und Fräulein Marie das denkwürdige Vielliebchen miteinander gegessen hatten, die Feier der Hochzeit statt. Feodor Merck dichtete zu dieser Feier einen schwungvollen Hymenäus. Es kamen darin etliche Anspielungen auf Anselmo Colombi vor, die nur der junge Poet und die glückstrahlende Braut verstanden. Später dann, als sie mit ihrem Lotichius allein war, hat sie in herzklopfender Generalbeichte auch ihm das volle Verständnis dafür erschlossen. Da freute er sich, einen so hochberühmten Thorheitsgenossen zu haben. Er hätte sich sonst zeitlebens für den schrecklichsten Esel Europas gehalten, und das ist doch schwer zu vereinigen mit der Amtswürde eines ordentlichen Professors der Archäologie zu Bonn am Rhein.