Vier Stunden in Reserve bei Königgrätz

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor:
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Vier Stunden in Reserve bei Königgrätz
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 420–424
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[420]

Vier Stunden in Reserve bei Königgrätz.

Eine Erinnerung zum Jahrestage der Schlacht von, 3. Juli 1866.

Die fünfte preußische Division, bestehend aus dem achten, zwölften, achtzehnten und achtundvierzigsten Infanterieregiment nebst der dazu gehörigen Cavalerie und Artillerie, bezog nach einem sehr anstrengenden Marsche am 2. Juli 1866, also am Tage vor der Schlacht bei Königgrätz, Bivouac beim Dorfe Dobes. Der unvermeidliche Ochs, welcher unserem Bataillon für heute das Leben fristen sollte und den Tag über der marschirenden Colonne nachgeführt worden war, wurde geschlachtet und zerlegt. Er verschwand in unglaublich kurzer Zeit in unseren hungrigen Magen, obwohl dieselben nur noch widerwillig diese täglich wiederkehrende Nahrung annahmen. Brod war ein seltener Leckerbissen geworden. Allmählich verstummte der Lärm des Lagers; Jeder richtete sich in dem nassen Getreidefelde so gut ein, wie es eben gehen wollte; die Feuer erloschen nach und nach, und bald senkte sich die tiefste Stille auf die eben noch so laute und trotz aller Strapazen und Entbehrungen fröhliche Menge herab. Aber wir sollten uns nicht lange der uns sehr nothwendigen Ruhe erfreuen. Plötzlich rasselte die Trommel durch das Lager. Ich fuhr empor, und da noch Alles um mich her dunkel und still war, glaubte ich geträumt zu haben; indessen belehrten mich das anhaltende Wirbeln der Trommeln und ein lauter Zuruf, der sich hie und da vernehmen ließ, bald eines Anderen. Ein Blick auf die Uhr, welche eben eine halbe Stunde nach Mitternacht zeigte, und der Umstand, daß für morgen ein Ruhetag angesagt war, gaben mir die Ueberzeugung, daß etwas Ungewöhnliches vorgehen müsse. Niemand hatte auch nur eine Ahnung davon, daß uns die große Entscheidungsschlacht so nahe bevorstehe.

Bald traf der Befehl ein, Alles zum Abmarsch vorzubereiten. Vorher sollte Kaffee gekocht werden. Als wir jedoch das brodelnde Wasser geschüttet hatten, erhielten wir Ordre, sofort aufzubrechen. Was half es? Unsere braven Musketiere gossen brummend die schwarze Flüssigkeit in das Feuer, und in kürzester Zeit standen

[421]

Ruhe im Feuer.
Originalzeichnung von Ch. Sell in Düsseldorf.

[422] die Colonnen lautlos da, der Dinge harrend, die da kommen sollten. Das Commando ertönte, und vorwärts ging es in den naßkalten Morgen hinein mit nüchternem Magen und seufzend über den schönen, vergeudeten Kaffee, von welchem Jeder nur noch ein Minimum in Reserve hatte, aber fröhlich und guten Muthes. So marschirten wir südwärts bis zum Dorfe Horziz. Hier wurde Halt gemacht, und abermals wurde befohlen, Kaffee zu kochen. Das Holz dazu mußten die nächsten Gehöfte hergeben, und bald kamen die zum Wasserholen commandirten Leute zurück, mit den gefüllten Kochgeschirren klappernd. Wir hatten aber heute mit dem Kaffeekochen ganz entschiedenes Unglück. Schon stieg der Duft des halbfertigen Getränkes verlockend in die Nase, schon versuchte hie und da ein lüsterner Musketier, mit aufgeblasenen Backen die Flüssigkeit kühlend, einen Schluck des siedendheißen Getränkes über die Zunge zu bringen – da erscholl wiederum das unerbittliche Commandowort: „Vorwärts!“ und wieder mußte der kostbare Stoff ungenossen aus die Erde fließen. Irre ich nicht sehr, so entlockte diese nothgedrungene Kaffeeverschwendung den Lippen mehr als eines Musketiers höchst respectwidrige Aeußerungen gegen den unbekannten Urheber derselben. Indessen „Vorwärts!“ hieß es, und vorwärts ging es trotz leerem Magen und Mangel an Allem, was mit einem Nahrungsmittel Aehnlichkeit hatte. Gott sei Dank, wir sind niemals rückwärts gegangen!

Wir marschirten in südlicher Richtung weiter bei strömendem Regen auf grundlosen Wegen, langsam vorrückend und dann und wann anhaltend. Da ertönte plötzlich in den hinter uns marschirenden Colonnen lauter, endloser Jubel, und, umgeben von seiner Stabswache, in offenem Wagen, kam unser greiser König Wilhelm daher. Bei dem jubelnden Zuruf der Truppen stimmte das ganz in unserer Nähe befindliche Musikchor des achten (Leibgrenadier-) Regimentes die Hymne an: „Heil Dir im Siegerkranz“, und des Königs Auge flog leuchtend über die jubelnden Soldaten, von denen jeder einzelne bereit war, für ihn und das ganze deutsche Vaterland in den Tod zu gehen, und von denen manch einer am heutigen Tage sein Bett in böhmischer Erde finden sollte. Welche Gedanken mochten in diesem Augenblicke, den ich nimmermehr vergessen werde, den greisen Monarchen bewegen, ihn, auf dessen Geheiß in den nächsten Stunden tausend und abertausend der kräftigsten Männer den Tod finden sollten für die große Sache, für welche sein Leben einzusetzen ein Jeder bereit war vorn Tambour bis zum commandirenden General!

Wohl hatten wir geahnt, daß etwas Großes, Gewaltiges sich vorbereite, daß die Entscheidung in die nächsten Tage fallen müsse; jetzt gab uns die Anwesenheit des Königs mitten unter den marschirenden Colonnen die Gewißheit, daß der Würfel, durch dessen Fall das Schicksal Deutschlands bestimmt werden sollte, im Begriff sei, dem Becher zu entrollen. Wer wird den höchsten Wurf thun? –

Es mochte gegen neun Uhr Morgens sein, als ein fernes, dumpfes Dröhnen an unser Ohr schlug, dessen Bedeutung uns von Gitschin her wohlbekannt war. Die Schlacht war eröffnet. War unserer Division bei Gitschin die Hauptarbeit zugefallen, so hatten wir diesmal die Bestimmung, in Gemeinschaft mit der sechsten Division – die fünfte und sechste Division bilden zusammen das dritte Armeecorps – den bereits im Gefecht befindlichen Truppen der Armee des Prinzen Friedrich Karl als Reserve zu dienen und sie, wenn nöthig, zu unterstützen. Bekanntlich griff Prinz Friedrich Karl im Centrum unserer und der feindlichen Aufstellung an. Lange schwankte der Kampf, unsere braven Truppen leisteten Unübertreffliches, indessen gelang es nicht, der gedeckten Stellung und dem überlegenen Artilleriefeuer des Feindes gegenüber, eine Entscheidung herbeizuführen. Es gab Augenblicke, in denen das Auge sehnsüchtig nach Osten spähte, von wo aus der Kronprinz, welcher mit seinen Truppen den linken Flügel der gesammten Aufstellung bildete, in den Kampf eingreifen sollte. Um für den Nothfall bei der Hand zu sein, wurde unsere Division, die neunte Brigade voran, bis in den Bereich der auf den Höhen bei Lipa aufgestellten feindlichen Batterien vorgezogen. Wir überschritten gegen zwölf Uhr die Bistritz beim Dorfe Unter-Dohalitz und gingen durch dieses Dorf hindurch bis auf die Chaussee, welche von Unter-Dohalitz nach dem bei unserer Ankunft bereits in Brand geschossenen Dohalicka führt. Zwischen diesen Dörfern, theils auf der Chaussee, theils südwestlich von Unter-Dohalitz, standen drei Batterien von der dritten und zwei Batterien von der zweiten Artilleriebrigade. Meine Compagnie wurde zunächst in einen am Auswege des Dorfes befindlichen Obstgarten postirt, woselbst ich auch einige Leute vom vierten Jägerbataillon bemerkte, welche, die Büchse unter dem Arme, gedeckt hinter den Bäumen standen. Der Feind mußte unser Vorrücken frühzeitig bemerkt haben, wenigstens schlug, sowie wir die ersten Häuser von Unter-Dohalitz erreicht hatten, eine Granate, von dem Hurrah der Soldaten begrüßt, in sehr verdächtiger Nähe in die Giebelwand eines Hauses, ohne jedoch zu crepiren, und von diesem Augenblicke an hatten wir wahrlich keine Ursache, uns darüber zu beklagen, daß der Feind uns unberücksichtigt lasse. Die Granaten fuhren in fast ununterbrochener Reihenfolge zischend und brausend, für jetzt noch unschädlich, über unsere Köpfe und fielen, meist ohne zu crepiren, in die sumpfigen Ufer der Bistritz.

Indessen nahm unsere Artillerie, sowie sie aufgefahren war, das feindliche Feuer auf und lenkte dadurch einen Hagel feindlicher Granaten auf die Chaussee, auf welcher das Füsilierbataillon meines Regiments und, wenn ich nicht irre, auch mehrere Compagnien des ersten und zweiten Bataillons möglichst gedeckt im Chausseegraben lagen. Es war ein Sausen und Zischen in der Luft, ein Dröhnen und Knallen beim Platzen der Geschosse und ein markerschütterndes, gellendes Klingen beim Umhersprühen der Sprengstücke, als sei heute die ganze Hölle losgelassen. – Ich stand, wie erwähnt, in einem Obstgarten am Ausgange des Dorfes, denselben mußten die Munitionswagen passiren, die unseren Batterien von einer Colonne Munition zuführten, welche auf der Chaussee zwischen Sadowa und Unter-Dohalitz stand. Sowie ein Wagen im Galopp heranrasselte, verstärkte sich das feindliche Feuer, ein Zeichen, daß ein Theil des Terrainabschnittes, den die Wagen passiren mußten, vom Feinde übersehen werden konnte. Glücklicher Weise wurde kein Wagen getroffen; wir würden sonst wahrscheinlich mit ihm in die Luft geflogen sein. Nur ein Mal wurde, etwa dreißig Schritte von mir entfernt, ein Stangenpferd eines heranrasselnden Wagens von einer Granate ereilt und buchstäblich zerrissen. In unbegreiflich kurzer Zeit waren die Stränge durchschnitten, und der Wagen eilte von dannen seiner Bestimmung zu.

Indessen prasselte und zischte es höchst unheimlich durch die Zweige der hohen Obstbäume; mehr als ein Mal fühlte ich den warmen Luftzug eines vorübersausenden Geschosses; ein Sprengstück, handgroß, kam auf mich zugekollert, langsam übereck, wie ein Topfscherben von Knabenhand geschleudert, und blieb unschädlich einige Schritte von mir im Grase liegen. Die Krankenträger mußten ihre traurige Thätigkeit beginnen. Eine Bahre nach der andern, auf denen blutende, zerrissene Menschen stöhnend sich wanden, wurde in das Dorf getragen, woselbst in einem Bauernhause der Verbandplatz etablirt war. Der erste Verwundete, den ich sah, war ein Artillerist. Ich werde seinen Anblick nie vergessen! Der linke Unterarm war ihm zerschmettert, und das verletzte Glied in dem unterschlagenen rechten Arme tragend, schritt er schmerzverzerrten Antlitzes Lei uns vorüber, indem er uns zurief: „Kinder, haltet ihr fest, wir können fast nicht mehr!“ Hier war es auch, wo der brave, wegen seiner Bravour und wegen seiner umfassenden Kenntnisse allgemein hochgeachtete Artilleriemajor Rüstow, der Bruder des berühmten Militärschriftstellers, die Todeswunde erhielt. Unfern von mir ward ihm der rechte Unterschenkel zerschmettert. Ein Officier meines Regimentes sprang hinzu und half ihn auf die herbeigeholte Bahre legen. So ward er vorbeigetragen, regungslos, bekleidet mit seinem Regenmantel. Kurz vor seiner Verwundung hatte er, wie ein Artillerieofficier mir erzählt, auf dem rechten Flügel seiner ersten vierpfündigen Batterie gehalten und war auf die Meldung, daß die Munition anfange zu mangeln, fortgeritten, um die Zufuhr der Munition zu beschleunigen. Auf diesem Ritte traf ihn die tödtliche Kugel. Sein Tod ist ein schmerzlicher Verlust für die preußische Armee und insbesondere für die Artillerie.

Es klingt fast unglaublich, wenn ich sage, daß mitten unter den Scenen des Todes und der Verwüstung auch erheiternde Momente, Augenblicke voll Humor und Komik Platz fanden. Ein Camerad, unser guter, dicker A., sorgte dafür. Seine unverwüstliche gute Laune, sein schlagender Witz hatte oft in schwierigen Lagen mit Erfolg eine momentan um sich greifende Mißstimmung in das Gegentheil umgewandelt. Auch er befand sich in dem mehrerwähnten Obstgarten, und während Alles, so gut es gehen wollte, in Gräben und hinter kleinen Terrainerhöhungen Deckung suchte, stand er [423] allein aufrecht hinter einem kaum armdicken Pflaumenbaum, an dem sein wohlgenährter Leib wohl eine halbe Elle auf jeder Seite hervorquoll, indem er mit seinen großen, guten Augen hinüberstarrte nach den feindlichen Batterien, die uns mehr, als behaglich war, mit Eisen überschütteten. Endlich ward ihm zugerufen, er solle sich doch nicht unnütz exponiren, er solle sich vielmehr in den nahen Graben legen, wie alle Uebrigen tbaten. Da rief er in aller Seelenruhe mit seiner fetten Stimme zurück, indem er auf das Bäumchen deutete, welches sich an ihn lehnte, wie etwa ein Bleistift an eine Tanne: „Ich habe ja Deckung!“ Erst nach wiederholtem Andringen der Cameraden verließ er den gefährlichen Platz, und zu seinem Glück, denn kurz nachher wurde der Baum von einer daherbrausenden Granate durchschnitten. Ein anderer Freund, ausgezeichnet durch fast gänzliche Abwesenheit des Haarwuchses und einigermaßen gefürchtet wegen seines kaustischen Witzes, lag gedeckt im Chausseegraben. Als ein Camerad von einem dienstlichen Auftrage dicht bei ihm vorbeigeführt wurde, tauchte das kahle Haupt plötzlich aus dem Graben auf, und lachenden Mundes rief der Inhaber desselben dem Vorüberschreitenden zu: „Ein frischer, fröhlicher Krieg heute!“ um ebenso schnell wieder unterzutauchen, als eine Granate in demselben Augenblicke wenige Schritte von ihm vorüberzischte.

Inzwischen mochte ungefähr eine Stunde verflossen sein; das feindliche Feuer nahm an Heftigkeit zu, und unsere Verluste mehrten sich. Wir erhielten deshalb den Befehl, in das Dorf zurückzugehen, da die theilweis massiven Gebäude einen größeren Schutz versprachen. Dieser Befehl wurde compagnieweise langsam und in musterhafter Ordnung ausgeführt, ein glänzendes Zeugniß für den guten Geist und die Disciplin der Truppen; denn nichts ist mehr geeignet, den Soldaten unruhig zu machen und die unentbehrliche Ordnung zu lockern, als lange Unthätigkeit und müßiges Abwarten in heftigem Feuer. Der avancirende, kämpfende Soldat concentrirt sein ganzes Denken und Fühlen auf den Kampf, auf den zu bezwingenden Gegner. Er weiß, daß es gilt, sich seiner, Haut zu wehren, und die Möglichkeit dazu ist ihm gegeben. Dies Bewußtsein und die Aufregung des Kampfes lassen kein anderes Gefühl in ihm aufkommen. Der unthätig dem Feuer ausgesetzte Mann hat zu viel Zeit zum Nachdenken. Die Granaten umzischen ihn: er darf nicht wanken und weichen; sein Nebenmann sinkt zerfleischt zu Boden: die eiserne Disciplin fesselt ihn an den angewiesenen Platz. So muß er stehen lange Stunden hindurch und zusehen, wie ein Camerad nach dem andern hinsinkt, um niemals wieder aufzustehen. Es wäre geradezu wunderbar, wenn da nicht bei jedem Einzelnen der Gedanke auftauchen sollte: „Wann wird dich die Kugel treffen?“ Ich habe diesen Gedanken auf vielen Gesichtern gelesen, und ich habe ihn selbst gehabt. In der That sollte unsere Standhaftigkeit heute noch auf eine harte Probe gestellt werden.

Bei der neuen Stellung, die wir einnahmen, erhielt meine Compagnie ihren Platz vor der offenen Seite eines großen geräumigen Gehöftes, offenbar des Gutshofes, welcher auf den anderen drei Seiten von langen massiven Gebäuden umschlossen war. Auf diesem Hose befand sich ein Bataillon, oder mehr, vom achten (Leibgrenadier-) Regiment. Unmittelbar an der offenen Seite führte die Chaussee vorbei, und längs ihrer stand das Bataillon, welchem ich angehörte. Hinter meinem Zuge stand der Schützenzug der siebenten Compagnie. Jenseit der Chaussee neben einem großen, zweistöckigen, massiven Speicher befanden sich dichtgedrängte Abtheilungen des achtzehnten Regimentes, und etwa fünfzig Schritte westlich von diesem Speicher lag ein Bauerhaus, in welchem unsere Aerzte sich ihrer traurigen Pflicht widmeten. Südlich von diesem Hause, mit meinem Standpunkte auf gleicher Linie, hielten zu Pferde an der Giebelwand eines Stalles der Divisions- und der Brigadegeneral, sowie mehrere Stabsofficiere mit ihren Adjutanten. Diese Localität meinem Gedächtnisse unauslöschlich einzuprägen, hatte ich drei lange Stunden Zeit, denn so lange waren wir, buchstäblich ohne von der Stelle zu rücken, an dem beschriebenen Orte dem feindlichen Artilleriefeuer ausgesetzt! Die Granaten flogen ununterbrochen mit jenem entsetzlichen Gezisch, das Niemand vergessen wird, der es ein Mal in seinem Leben gehört hat, vorläufig aber noch in hohem Bogen über unsere Köpfe hinweg, um unschädlich weit hinter ihrem Ziele in den Sumpf zu fallen, und hohe Schmutzgarben bei ihrem Zerplatzen auszuwerfen. Augenscheinlich vermuthete der Feind, daß weiter hinter dem Dorfe Reserven aufgestellt seien.

Die Soldaten fingen an schlechte Witze über das schlechte Schießen des Feindes zu reißen. Ueberhaupt machte sich allmählich eine Gleichgültigkeit gegen die Gefahr bemerkbar, welche wohl nur auf Rechnung der sich einstellenden Abspannung gesetzt werden kann. Wir hatten von Gitschin ab höchst anstrengende Märsche bei unzureichender Verpflegung gehabt, und in vergangener Nacht waren uns nur wenige Stunden Ruhe geworden. Dazu kam der Umstand, daß wir, da es inzwischen nahe an drei Uhr Nachmittags geworden war, bei einem tüchtigen zurückgelegten Marsche absolut nichts genossen hatten. Kein Wunder, wenn unter solchen Umständen eine Abspannung, eine Gleichgültigkeit gegen Alles eintritt. Ich habe in der That Leute während der heftigsten Kanonade ruhig und fest schlafen sehen. Andere suchten die letzten Reste ihres Tabaks zusammen, um sich gemüthlich eine Pfeife zu stopfen, vielleicht die letzte. Ich selbst begann einen nagenden Hunger zu empfinden und holte deshalb eine Tafel Chocolade hervor, die ich für den äußersten Nothfall aufgespart hatte. Als ich bemerkte, daß die Soldaten sehnsüchtig auf den Leckerbissen in meiner Hand schauten, brach ich die Tafel in kleine Stücke und theilte sie aus, so weit sie reichen wollte, indem ich die Empfänger versicherte, daß ein ganz kleines Stückchen des braunen Stoffes genüge, einen Löwenhunger auf drei Tage zu stillen. Ob diese Versicherung gefruchtet hat, steht freilich zu bezweifeln.

Inzwischen machte sich bemerkbar, daß immer drei feindliche Geschosse schnell hintereinander auf derselben Stelle einschlugen und daß sich die Entfernung zwischen ihnen und uns immer mehr verringerte, so daß man mit Sicherheit annehmen konnte, dieselben würden in nächster Zeit unsere Reihen erreichen, und diese Annahme erwies sich nur allzubald als begründet. Zu bewundern ist nur, daß wir hier verhältnißmäßig wenige Verluste zu beklagen hatten, trotzdem die ganze Division in gedrängter Colonne in und dicht hinter dem Dorfe stand. Zuerst schlugen einige Granaten in die Dächer der uns umgebenden Gebäude ein, so daß die Leute, welche nahe an denselben standen, sich dicht an die Wand drücken mußten, um nicht von den herabrasselnden Dachsteinen getroffen zu werden. Ein Sprengstück fuhr einem dicht vor mir knieenden Manne durch den Feldkessel. „Die Kerle gönnen einem nicht einmal das Bischen Speck, welches man noch bei sich hat,“ bemerkte der Soldat gelassen. Bald aber wurde die Lage ernster. Eine Granate schlug mitten in eine dichte Colonne des achtzehnten Regimentes, Tod und gräßliche Verstümmelungen mit sich bringend. Eine andere fuhr durch den achten Zug meines Bataillons hindurch, jedoch Niemanden verletzend und nur die Leute rechts und links zu Boden schleudernd, um alsdann einem Manne vom Schützenzuge der siebenten Compagnie den Leib aufzureißen. Der Arme verschied nach leisem, kurzem Schmerzensschrei. Er wurde hinweggetragen, und die aus seiner von dem Geschoß ebenfalls zerrissenen Patrontasche herausrollenden Patronen wurden von seinen Nebenmännern sorgfältig aufgelesen und aufgehoben. Vielleicht konnte eine von ihnen zum Werkzeug werden, den gefallenen Cameraden zu rächen.

Zwischen dem erwähnten Speicher und dem Bauerhause, in welches die Verwundeten gebracht wurden, stand der Medicinkarren meines Bataillons und bei demselben der zu ihm gehörige Trainsoldat. Zu diesem trat ein Feldwebel des achtzehnten Regimentes mit der Bitte, ihm etwas Wasser zur Stillung seines brennenden Durstes zu holen. Kaum hatte sich der Trainsoldat einige Schritte entfernt, als eine einschlagende Granate Wagen, Pferd und den zurückbleibenden Feldwebel in einen formlosen Haufen verwandelte.

Um solchen von Minute zu Minute sich mehrenden Scenen ruhig zuschauen zu können, dazu gehörten so abgestumpfte Nerven, wie die unsrigen nachgerade geworden waren. Entsetzlich aber war der Anblick, als ein Geschoß in das zum Verbandplatz eingerichtete Bauerhaus einschlug. Glücklicher Weise blieben unsere Aerzte, deren braves Verhalten, deren unermüdliche, aufopfernde Thätigkeit über alles Lob erhaben ist, unverletzt. Verstörten Antlitzes stürzten sie aus dem Hause, um einen sicherer gelegenen Ort für ihre Thätigkeit zu suchen, und ihnen nach schleppte sich jammernd und wehklagend, was von den Verwundeten sich noch fortzubewegen vermochte.

Zum neuen Verbandplatz wurde der mehrerwähnte Speicher ersehen, dessen feste eiserne Thür im Nu mit Axt und Spitzhaue eingeschlagen wurde. Dr. H., ein zu uns commandirter Landwehrarzt, lief aus dem Speicher nach dem Bauerhause zurück, um den [424] Transport der noch dort befindlichen Verwundeten zu leiten. Ganz in der Nähe des zertrümmerten Medicinkarrens schlug eine Granate wenige Schritte vor ihm in den Erdboden, einen Trichter von Schmutz, Feuer und Eisen auswerfend, ohne ihn jedoch zu verletzen. Ich könnte ihn zeichnen, wie er einen Augenblick starr wie eine Bildsäule mit zurückgebeugtem Oberleibe abwehrend die rechte Hand ausstreckte, alsdann sich auf dem Hacken mit der Schnelligkeit eines Gedankens um seine eigene Achse drehte und nach dem Speicher zurücklief. Nach einem Augenblick des Besinnens aber schritt er ruhig dem Bauerhause zu und kehrte ebenso ruhig wieder zurück.

Dergleichen Scenen wie die geschilderten ereigneten sich leider in großer Anzahl. Ich habe nur aufgezeichnet, was nur besonders lebhaft im Gedächtniß geblieben ist, und jeder Camerad wird Aehnliches zu berichten wissen. Die Haltung der Truppen während der langen vier Stunden, während deren wir den feindlichen Kugeln zum Kugelfang dienen mußten, war musterhaft. Schwerverwundete, Todte wurden fortgetragen, und sofort schloß sich die Lücke. Ich habe wohl ernste Gesichter, hier und da auch ein bleiches Antlitz gesehen, aber keines, welches Angst und Furcht verrathen hätte. Die Stabsofficiere, begleitet von ihren Adjutanten, ritten, die Pfeife oder die brennende Cigarre im Munde, dann und wann langsam auf der Chaussee auf und nieder, hier und da eine ermunternde Bemerkung, wohl auch ein Scherzwort an die Truppen richtend, und jeder Subalternofficier that dasselbe in Betreff der ihm untergebenen Leute.

Es war fast vier Uhr Nachmittags geworden, und noch immer dauerte die Kanonade mit gleicher Heftigkeit fort. Wir hatten keine Ahnung davon, daß die Schlacht durch das Eingreifen der kronprinzlichen Armee längst entschieden war und daß der Feind nur noch focht, um seinen Rückzug zu decken.

Da plötzlich lief die frohe Kunde durch die Reihen: „Der Kronprinz ist da!“ Und gleich darauf verstummte mit einem Male, wie abgeschnitten, der Donner der Geschütze. Der Wechsel zwischen dem Getöse der Schlacht und der eintretenden Stille war ein so plötzlicher, unerwarteter und unvermittelter, daß man förmlich Mühe hatte, sich in der neuen Situation zurechtzufinden. Gleich nach dem Verstummen der Kanonen bekamen wir den Befehl, gegen die südlich von Dohalitz und Dohalicka gelegenen Höhen vorzugehen. Die ganze Division debouchirte aus dem Dorfe und marschirte über ein von Kugeln buchstäblich durchfurchtes Terrain in der ihr angewiesenen Richtung. – Ich will nicht leugnen, daß mir trotz der Gleichgültigkeit, welche während der vierstündigen Kanonade über mich gekommen war, ein Stein, und zwar ein recht großer, vom Herzen fiel, als wir endlich, endlich Dohalitz im Rücken hatten, welches von den Soldaten in ihren späteren Gesprächen scherzweise stets „der Wurstkessel“ genannt wurde. So muß einer armen Seele zu Muthe sein, die aus dem Fegefeuer plötzlich in’s Paradies versetzt wird!

Es war ein imposanter Anblick, den unser Vormarsch bot. So weit das Auge reichte, reihte sich Bataillon an Bataillon, in langer, unübersehbarer Linie avancirend gegen die gegenüberliegenden Anhöhen, auf denen ein gutes Auge die abziehenden feindlichen Colonnen erkennen konnte. Da brachen plötzlich in unserer linken Flanke wie eine Windsbraut mehrere feindliche Reiterregimenter hervor, bereit, sich auf uns zu stürzen, um die Verfolgung aufzuhalten und zu retten, was noch zu retten war.

Ihnen entgegen, noch ehe sie in Schußweite gekommen waren, warf sich unsere Cavalerie, jählings hervorbrechend, ich weiß nicht woher. Ein heftiger Anprall, ein kurzes, wüthendes Einhauen, und die österreichischen Reiter stoben auseinander nach allen Richtungen der Windrose; ihnen nach die Unserigen, die blutige Wahlstatt zurücklassend voll ächzender, verwundeter und zertretener Menschen und herrenlos umhergaloppirender Pferde. Dies war der letzte Act des großen Dramas, den wir zu sehen bekamen.

Wir bezogen Bivouac beim Dorfe Wunster. Jetzt endlich gelangten wir dazu, das in der vergangenen Nacht um ein Uhr begonnene Geschäft des Kaffeekochens mit Erfolg fortzusetzen und zu einem glücklichen Ende zu führen. Als wir uns eben dazu anschickten, rasselte mitten durch unser Lager eine Brigade Cavalerie und einige reitende Batterien zur Verfolgung des flüchtenden Feindes, und bis in den späten Abend hinein tönte der Kanonendonner von Königgrätz und der Elbe zu uns herüber. Ich für meine Person habe freilich nicht mehr viel davon gehört, denn ich schlief den Schlaf des Gerechten, nachdem ich mich durch einen Schluck Kaffee und eine erbettelte Brodrinde erquickt hatte. Aber noch Wochen hindurch hatte ich bei jedem Geräusch das Gefühl, als wurde in nächster Nähe ein Geschütz gelöst.[1]

- z.




  1. Die Treue und Lebendigkeit des obigen Artikels hat den bekannten Schlachtenmaler Ch. Sell in Düsseldorf, dessen großes Oelbild der Schlacht von Königgrätz den ersten Preis davon trug, nicht nur bewogen die beigegebene Illustration für die Gartenlaube zu zeichnen, sondern der Darstellung auch das Motiv zu einem umfänglichen Oelgemälde zu entnehmen, mit dessen Ausführung er in diesem Augenblicke noch beschäftigt ist.
    D. Red.