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Ein merkwürdiges Künstlerleben

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Textdaten
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Autor: Ludwig Kalisch
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Titel: Ein merkwürdiges Künstlerleben
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 424–427
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[424]

Ein merkwürdiges Künstlerleben.

Von Ludwig Kalisch.

Seit einer langen Reihe von Jahren besuche ich in Paris jeden Sonntag ein Maleratelier, wo sich Künstler, Schriftsteller, Beamte und Industrielle einfinden. Jeder dieser Herren weiß etwas von den Ereignissen der vergangenen Woche zu erzählen, und so ist die Unterhaltung fruchtbringend für Alle. Eines Sonntags nun fand ich dort einen mir unbekannten ältlichen Mann von überaus einnehmendem Aeußern. Er hatte nicht nur aller Herren Länder gesehen, sondern auch die Herren aller Länder persönlich gekannt. Seine Schilderungen der berühmtesten Persönlichkeiten Europas und der Vereinigten Staaten Amerikas waren ebenso angenehm wie belehrend, und man hörte ihm um so lieber zu, als er eine höchst wohlklingende Stimme besaß und in seinen fesselnden Erzählungen nichts von jener Selbstgefälligkeit verrieth, der sich vielgereiste Leute so gern hingeben. Durch das Eintreten mehrerer Personen wurde er unterbrochen, und die Unterhaltung sprang nun von einem Gegenstände auf den andern. Da er in seinen Erzählungen einige Male die hervorragendsten Männer unserer Literatur genannt hatte und zu denselben in persönlicher Beziehung gestanden zu haben schien, so war meine Neugierde sehr gespannt; ich setzte mich daher zu ihm und gab meinen Wunsch zu erkennen, etwas Genaueres über diese Beziehungen zu erfahren.

„Ich habe die Heroen der deutschen Literatur, Kunst und Wissenschaft, die im zweiten, dritten und im Anfang des vierten Decenniums unsers Jahrhunderts lebten, mehr oder minder genau gekannt,“ sagte er. „Schenken Sie mir die Ehre Ihres Besuches, ich werde Ihnen dann mit Vergnügen mittheilen, was Ihr Interesse besonders erwecken könnte.“

Er überreichte mir seine Karte und empfahl sich.

Ich las auf derselben den Namen Alexandre Vattemare und war so klug wie zuvor. Erst auf meine Fragen erfuhr ich, daß es der berühmte Bauchredner und Schauspieler Alexander war, der seiner Zeit die Federn aller Journalisten in Bewegung gesetzt und die Bewunderung Blumenbach’s, Osiander’s und Alexander’s von Humboldt erregt hatte.

Ich säumte auch nicht, ihm einen Besuch abzustatten, und fand ihn in einem alten Saal, der mit Büchern, Mappen, Cartons und Fascikeln vollgestopft war. Nachdem die Unterhaltung durch die herkömmlichen Redensarten eingeleitet war, sagte er:

„Ich liebe Deutschland, denn dort war es, wo ich meine Laufbahn als Künstler begann und wo ich unter den berühmtesten Zeitgenossen die vielfachsten Beweise des Wohlwollens, ja der Freundschaft fand.“

„Wie kommt’s, daß Sie als Franzose just in Deutschland Ihre Carriere begonnen haben?“ fragte ich.

„Durch folgende Umstände,“ erwiderte er. „Nach meiner ersten Jugend, welche durch die seltsamsten Familienverhältnisse nichts weniger als eine heitere war, studirte ich Chirurgie und wurde 1814 beauftragt, dreihundert preußische Soldaten, die in der Genesung begriffen waren, von Paris nach Berlin zu bringen. Ich entledigte mich dieses Auftrags mit der Gewissenhaftigkeit eines [425] Mannes, dem das Wohl seiner Nebenmenschen am Herzen liegt, und es wurde mir die Zweite preußische Kriegsdenkmünze zuerkannt. Da ich während der hundert Tage aus leicht begreiflichen Gründen verweigerte, als Chirurg in die preussische Armee zu treten, wurde ich als Kriegsgefangener in Berlin zurückgehalten. Ich hatte damals noch nicht das zwanzigste Jahr erreicht, besaß ein leidliches Aeußere und wußte mich durch die Gabe der Stimmtäuschung überall angenehm zu machen. Der damalige französische Gesandte am preußischen Hofe, Herr von Caraman, der mich lieb gewonnen hatte und, obgleich für die Bourbonen schwärmend, doch meinen Entschluß, keine preußischen Dienste anzunehmen, sehr billigte, sagte mir eines Tages, er sehe nicht ein, warum ich aus meinem Talente der sogenannten Bauchrednerkunst nicht einen Erwerbszweig mache.

,Trotzen Sie allen Vorurtheilen,‘ rief er, ,Sie werden es nicht bereuen?‘

Nun befand sich zu jener Zeit in Berlin eine französische Emigrantenfamilie, die gegen die bitterste Armuth kämpfte. Ich beschloß zum Besten derselben eine Vorstellung zu geben; diese glückte so sehr, daß ich sogleich die Familie als die meinige betrachtete und eine Kunstreise durch Deutschland machte, wo ich überall mit der größten Zuvorkommenheit behandelt wurde. In Deutschland begann ich auch die Sammlung meiner Autographen und Originalzeichnungen. Ich besitze jetzt an zehntausend Autographen,“ fuhr er fort, indem er auf die Mappen, Bündel und Hefte deutete, „und unter diesen sind fast sämmtliche Größen der deutschen Literatur vertreten.“

Er öffnete eine der Mappen, und ich sah sogleich folgende Zeilen von Goethe:

„Herrn Alexander wüßte nicht entschiedener meinen Beifall auszusprechen, als durch die Erklärung: daß ich allen denen ihm schon ertheilten Zeugnissen mit Vergnügen beistimme. Zu empfehlen weiß er sich selbst.

Diese Zeilen waren von Jena, 8. Juni 1818, datirt.

Ich bewunderte auf diesem Blatte den Abdruck eines Siegels, einen prachtvollen antiken Kopf darstellend.

„An dieses Siegel knüpft sich eine interessante Erinnerung,“ sagte Vattemare. „Man hat von vielen Seiten behauptet, Goethe sei kalt und steif gewesen. Es war natürlich, daß er sich gegen Diejenigen zugeknöpft zeigte, die ihn aus bloßer Neugierde besuchten. Gegen mich war er die Liebenswürdigkeit selbst. Ich hatte ihm einige Proben meines Talentes gegeben, und er schien mit mir sehr zufrieden. Als ich ihm meinen Wunsch zu erkennen gab, eine Handschrift von ihm zu besitzen, ging er sogleich an den Schreibtisch. Er hatte mir die Zeilen bereits eingehändigt, als er sie wieder zurückforderte und, das Siegel aus einer Schublade nehmend, sagte: ,Ich habe soeben dieses Siegel zum Geschenk erhalten, wir wollen nun sehen, wie sich der Abdruck auf dem Papier ausnimmt.’

Wir betrachteten Beide den Abdruck mit Wohlgefallen, und der alte Goethe wünschte mir dann mit einem Lächeln, das ich niemals vergessen werde, und in den liebenswürdigsten Ausdrücken viel Glück auf meinen Irrfahrten.“

„Sprach er Französisch mit Ihnen?“ fragte ich.

„Ja, und er drückte sich mit Bequemlichkeit im Französischen aus; er unterbrach jedoch mehrere Male das Französische durch deutsche Sätze, da er wußte, daß ich Deutsch ziemlich gut sprach und sehr gut verstand.

So oft ich später mit einer Berühmtheit zusammenkam,“ fuhr Vattemare fort, „mußte ich immer von meinem Besuche bei Goethe sprechen; am begierigsten, etwas über die Persönlichkeit des großen Dichters zu erfahren, zeigte sich Walter Scott, den ich im Frühling 1824 kennen lernte. Das war ein Mann! Eine biederere, schlichtere, wohlwollendere Natur läßt sich nicht leicht denken. Ich wurde von ihm und seiner vortrefflichen Gattin wie ein Sohn behandelt, und die heiteren Stunden, welche ich bei ihm in Abbotsford und in Edinburgh zubrachte, werden niemals aus meiner Erinnerung schwinden.“

Indem er diese Worte sprach, zeigte er mir eine sehr gelungene, in einer Messingkapsel befestigte Bronzemedaille, auf welcher der interessante Kopf Walter Scott’s vortrefflich geprägt war. Auf der Rückseite der Kapsel wären die Worte gravirt: „Mr. Alexandre with I ady Scott's best compliments. Edinburgh, 15. May 1824.

„Diese Medaille,“ sagte Vattemare, „sendete mir Lady Scott vor meiner Abreise von Schottland. Wie fast alle geniale und thätige Menschen, liebte Walter Scott einen guten Spaß. Eines Tages führte er mich bei einem Doctor Taylor in Edinburgh ein. Das war ein alles, kleines putziges Männchen mit einem fast fratzenhaften Gesichte. Nach einer kurzen Unterhaltung mit demselben empfahlen wir uns, und Walter Scott fragte mich, ob ich im Stande wäre, die Physiognomie dieses Doctors und sein Gebahren genau nachzuahmen. Ich antwortete ihm, daß mir dies nicht die mindeste Schwierigkeit verursachen würde. In der That hatte ich mir die sonderbare Gestalt des Doctors genau in’s Gedächtniß eingeprägt und konnte ihn auf’s Täuschendste nachahmen. Walter Scott war sehr zufrieden und führte mich, als ich mir einen Anzug verschafft, wie ihn der Doctor trug, und eine Perrücke aufgestülpt hatte, zu einem Bildhauer, der mich alsbald als den Doctor Taylor begrüßte und meinem Wunsche, in einer Büste von ihm portraitirt zu werden, gern entgegenkam. Der Bildhauer begab sich sogleich an’s Werk und modellirte tüchtig darauf los. In der vierten Sitzung sollte die in Thon modellirte Büste vollendet sein. Walter Sott wollte dieselbe in Gyps vervielfältigen lassen und dem Doctor selbst und dessen Bekannten eine Ueberraschung bereiten. Ich meinerseits wollte aber auch Walter Scott überraschen und bat ihn, der vierten Sitzung beizuwohnen. Er willigte gern ein. Wie in den früheren Sitzungen, sprach ich mit dem Bildhauer englisch und hüstelte und räusperte mich wie der Doctor. Nach einer Stunde sagte der Bildhauer, er betrachte die Arbeit als vollendet, worauf ich bemerkte, daß er an dem Schläfenhaar eine kleine Veränderung vornehmen müßte; während er aber dies that, warf ich rasch die Vermummung ab. Als sich nun der Künstler umdrehte und statt des kleinen, verhutzelten Männleins einen jungen, blonden, schlankgewachsenen Menschen sah, stand er einen Augenblick wie erstarrt, und um sein Erstaunen noch zu vermehren, sagte ich ihm in französischer Sprache: Ich danke Ihnen, mein Herr, für die prachtvolle Büste, die an Aehnlichkeit gewiß nichts zu wünschen übrig läßt und Ihrem Talent alle Ehre macht.‘ Walter Scott, der sich bisher in einer Ecke des Ateliers gehalten, strengte sich an, ernsthaft darein zu schauen, konnte aber doch, als er das verdutzte Gesicht des Künstlers sah, am Ende das Lachen nicht mehr zurückhalten. Wir klärten nun Beide den Künstler über den Scherz auf, den wir uns mit ihm erlaubt hatten; er ließ sich jedoch nicht früher überzeugen, als bis ich mich wieder in der früheren Vermummung vor ihm niedergesetzt hatte.

Dieser muthwillige Scherz,“ fuhr Vattemare fort, „wurde bald nicht nur in Schottland und England, sondern, ich darf es sagen, in ganz Europa bekannt, und als ich acht Jahre später München besuchte, schrieb mir König Ludwig, er wünschte den Namen des schottischen Doctors so wie des Bildhauers zu erfahren.“

Vattemare zeigte mir den Brief des Königs. In diesem Briefe kam die Phrase vor: „Quoique peu de temps à ma disposition, j'aime à écrire à un artiste si célèbre comme vous.“ Man sieht, König Ludwig schrieb Französisch, wie er Deutsch schrieb, nur daß er im Französischen, wie ich aus dem Briefe ersah, die derbsten grammatikalischen und orthographischen Schnitzer machte.

„Der König von Baiern,“ sagte Vattemare, „war die personificirte Neugierde. Als ich ihn besuchte, zog er sich mit mir in ein kleines Cabinet zurück und bestürmte mich mit unzähligen Fragen. Er sprach auch viel von Goethe, der einige Monate vorher mit Tod abgegangen war, und äußerte zu wiederholten Malen mit sichtbarem Stolze, daß er sich dessen Freundschaft erfreut habe.

Zur selben Zeit lernte ich sämmtliche große deutsche Dichter persönlich kennen, und sie gaben nur alle mit der größten Bereitwilligkeit einen Beitrag für mein Album, das bereits mehrere tausend Handschriften enthielt. Ich erinnere mich noch mit vielem Vergnügen Ludwig Tieck’s, der damals schon kränkelte und meiner Vorstellung, die ich in Dresden gab, nicht beiwohnen konnte. Ich bat ihn um einige Zeilen für meine Sammlung und erhielt von ihm folgenden Brief:

,Meine Krankheit ist mir oft hinderlich und raubt mir so manches Erfreuliche. So hat sie mich zu meinem großen Verdrusse gehindert, Ihr so allgemein bewundertes mimisches Talent [426] kennen zu lernen. Indessen ist mir doch Ihre eigene persönliche Liebenswürdigkeit, geehrter Herr Alexander, nicht unbekannt geblieben, und ich widme Ihnen mit Vergnügen dieses Blättchen, um es Ihrem Album beizufügen, das ich mit großem Ergötzen einige Male durchblättert habe: wie viele Namen, und unter diesen wie viele berühmte enthält es! Wie erfreulich die Schriftzüge eines Roscoe und vieler Anderer kennen zu lernen!

Möge das Schicksal Ihnen, geehrter Mann, noch lange Gesundheit und Lebensfrische schenken, um sich und Andere durch Ihre Talente zu erfreuen.

     Dresden, den 12. Sptbr. 1833.

          Ihr ergebenster

               Ludwig Tieck.’

Nachdem ich diesen Brief erhalten, gab ich ihm eine Vorstellung in seiner Wohnung. Den folgenden Morgen sendete er mir folgendes Blatt:

,Vielen Dank, geehrter Herr Alexander, daß Sie so freundlich mir auf meinem Zimmer einige Proben Ihres Talentes haben zeigen wollen, welches Alles, was ich erwartete, übertroffen hat. Man kann es wunderbar nennen. Diese schnelle Veränderung aller Gesichtszüge bis zur Unkenntlichkeit, dieser sichere Wechsel der Töne, alles dies, verbunden mit Grazie und Witz, hat mich in Erstaunen gesetzt. Nehmen Sie meinen Dank für diese Freundlichkeit, mit der Sie einem Kranken eine so frohe Stunde gemacht haben. Diese Eindrücke verwischen und verbleichen sich niemals wieder, und wie vielen Schauspielern möchte man nur etwas von diesem überreichen Talente wünschen!

Ludwig Tieck.’

„Tieck hatte große, prachtvolle Augen,“ sagte Vattemare, „die, wenn er sich im Gespräch belebte, sehr feurig glänzten. Er begleitete die Vorstellung, die ich vor ihm gab, mit der größten Spannung und klagte dann, daß nur wenige Schauspieler wahrhaft mimische Künstler seien, daß sie aus ihrem Gesichte nichts zu machen wüßten und in ihren Zügen zwar eine heftige Leidenschaft bis zur Verzerrung ausdrückten, aber die verschiedenen Gemüthsbewegungen weder durch Stimme, noch durch Geberdenspiel zu schattiren verstünden. Sie belauschten zu wenig die Natur. Und hierauf sprach er mit großer Lebhaftigkeit über die mimische Kunst so viel Wahres und Schönes, daß ich wie gebannt von dein Zauber seiner Rede war.“

„Wie war es Ihnen möglich,“ fragte ich, „sämmtliche Personen in Ihren Stücken zu spielen, ohne auch nur einen einzigen Augenblick eine Pause auf den Brettern eintreten zu lassen? Wie konnten Sie in kaum einer Minute als Officier, als altes Weib, als junges Mädchen erscheinen und die Täuschung im Publicum erhalten?“

„Diese Fragen sind während meiner Künstlerlaufbahn tausend und aber tausend Mal an mich gerichtet worden. Ja, nur Wenige wollten glauben, daß ich wirklich alle Personen in meinen Stücken spielte. Am allerungläubigsten zeigte sich die Herzogin von Berry. Nachdem dieselbe einigen meiner Vorstellungen im Théâtre de Madame beigewohnt, sagte sie mir geradezu, sie werde sich nimmer und nimmermehr überzeugen lassen, daß alle Rollen in meinen Stücken von mir selbst dargestellt würden, wenn ich sie nicht durch die unwiderleglichsten Beweise eines Bessern belehrte. Kurze Zeit darauf gab ich eine Vorstellung vor der königlichen Familie in St. Cloud. Wie bei allen meinen Vorstellungen wachte ich auf’s Strengste darüber, daß Niemand, wer es auch wäre, Eintritt in die Coulissen erhielte. Ich hatte in der ersten Scene einen Kutscher zu spielen. Wie ich nun in meinem dicken Mantel auftrat und mich schimpfend an den Tisch setzte, um dort einzuschlafen, merkte ich, daß die Herzogin sich hinter meinen Stuhl schlich und den Kragen meines Mantels faßte. Ich ließ sie gewähren, sprach, was ich zu sprechen hatte, und trat dann aus einer andern Thür als normannische Amme mit einem Säugling im Arm auf.

Die Herzogin, die noch den Kragenzipfel in der Hand hielt, stieß einen Schrei der Verwunderung aus, indem sie sah, daß nur noch der Mantel, aus dem ich, ohne daß sie es gemerkt hatte, wie ein Küchlein aus dein Ei geschlüpft war, am Tische saß.“

„Vortrefflich!“ sagte ich, „indessen ist dies noch keine Antwort auf meine Frage.“

„Eine Engländerin,“ erwiderte er, „Miß Wylton, die wahrend fünfundzwanzig Jahre mir und meiner Familie treu ergeben diente, begleitete mich auf allen meinen Reisen und war tüchtig eingeschult. Sie, und nur sie allein, hielt sich hinter den Coulissen und stand bei jeder Costümveränderung bereit, mir die Metamorphose zu erleichtern, die mit Blitzesschnelle geschehen mußte.

Auch trug ich in vielen Fällen mehrere Costüme übereinander, so daß ich mich gleichsam wie eine Zwiebel schälen konnte, und endlich kam mir meine eigentliche Kunst, die Stimm-Täuschung, am meisten zu statten. Da ich alle Stimmen, alle Arten von Geräusch, und zwar mit den genauesten Abstufungen je nach Entfernung und Richtung, nachahmen konnte, war es mir sehr leicht, die Aufmerksamkeit des Publicums in beständiger Spannung zu erhalten. Wenn ich auch selbst nicht auf der Bühne war, so war doch meine Stimme dort, und ich konnte auf den Brettern einen Monolog sprechen, oder eine von verworrenem Thiergeschrei unterbrochene Unterhaltung sich auf den Brettern entspinnen lassen, während ich mich hinter den Coulissen verwandelte.“

„Man hat mir gesagt,“ bemerkte ich, „daß Sie die Stimmen aller Thiere, das Geräusch aller Handwerksgeräthe, kurz, alle Töne, die unser Ohr treffen, so täuschend nachahmen konnten, daß eben Niemand an eine Täuschung glaubte.“

„Ich habe Proben von dieser Fähigkeit nicht nur in meinen eigentlichen Vorstellungen, sondern auch in Privatkreisen abgelegt, wenn es galt, eine Gesellschaft zu erheitern,“ antwortete Vattemare.– „Ich will Ihnen einen Fall erzählen, der nicht bekannt geworden. Als ich im Jahre 1834 in Berlin war, erfreute ich mich der besondern Gunst des damaligen Kronprinzen von Preußen und seiner Gattin. Der Kronprinz gab mir ein sehr warmes Empfehlungsschreiben an seine Schwester, die Kaiserin von Rußland, so daß ich am Petersburger Hofe die freundlichste Aufnahme fand. Kaiser Nicolaus, dessen Namen so viele Menschen nicht ohne einen gewissen Schauder aussprachen, gewann mich bald sehr lieb. Eines Abends, als ich mich bei Hofe in einer Gruppe diplomatischer und militärischer Größen befand und Nicolaus ungewöhnlich ernst schien, sagte ich, es sei nicht schwer, ihn in heitere Stimmung zu versetzen. In demselben Augenblicke summte eine freche Schmeißfliege um das Haupt des Selbstherrschers. Er machte eine Bewegung, um das widerwärtige Insect von seinem Kopfe zu entfernen. Umsonst! Das Thier wurde immer unverschämter, immer zudringlicher, bis der Kaiser endlich die Haltung verlor und zornig mit beiden Händen in den Scheitel griff. Das Thier floh summend und brummend unter einen Gueridon, und als der Kaiser erfuhr, daß ich es war, der das Geräusch gemacht und ihn getäuscht hatte, lachte er laut auf und war dann sehr aufgeräumt.“

„Wie konnten Sie aber diesen Spaß wagen?“ fragte ich.

„Die Hohen und Höchsten dieser Erde,“ antwortete er in schwermüthigem Tone, „verzeihen Alles, wenn man sie nur belustigt. Die Hofnarren durften sich Alles erlauben; Hofweise hat es niemals gegeben. Der furchtbare Czar war gegen mich die Liebenswürdigkeit selbst. Er lud mich nach Peterhof ein, zeigte mir die prachtvollen Gemächer des Schlosses und ließ mich immer zuerst in dieselben mit den Worten eintreten: ,Monsieur Alexandre je suis chez moi’. Er wünschte meine Albums zu sehen, die sehr reich an Zeichnungen berühmter Künstler waren. Ich brachte ihm die Sammlung. Als er aber die Mappen öffnen wollte, legte ich die Hand darauf und bemerkte ihm, daß ich grundsätzlich nur Denjenigen diese Schätze öffnete, welche dieselben durch einen Beitrag bereicherten. ,Ich habe keine Zeichnung’ sagte er. – ,Sire’ erwiderte ich, ,die Zeichnung, die auf Ihrem Arbeitstische liegt?’ – ,Das ist eine Uniform für meine Grenadiere!’ – ,Eure Majestät werden eine Copie davon machen?’ – Er gab mir lächelnd die Zeichnung, nachdem er seinen Namen und das Datum unter dieselbe gesetzt.“

Vattemare zeigte mir sie, sowie eine Handzeichnung des damaligen Großfürsten Alexander. Es waren keine Meisterwerke.

Ich fragte ihn, ob er niemals unter dem Namen Vattemare gereist sei?

„Als Stimmen-Künstler,“ sagte er, „hieß ich Alexander; im Privatleben und als Sammler von Doubletten hieß ich Vattemare. Ich hatte nämlich schon in meinen Jünglingsjahren mit Bedauern gesehen, daß in den öffentlichen Bibliotheken, Münz- und Antikencabineten gar manche Werke und Kunstgegenstände mehrfach vorhanden sind, während dieselben Werke in anderen öffentlichen Anstalten gänzlich fehlten. Es tauchte nun in mir der Gedanke auf, daß durch gegenseitigen Austausch der mehrfach [427] ,vorhandenen Werke diese aus der unnützen Verborgenheit gezogen werden könnten, daß auf diese Weise fast sämmtliche Bibliotheken, ohne einen Heller auszugeben, ihre Schätze um ein Beträchtliches vermehren würden. Die Ausführung dieses Gedankens lag mir so sehr am Herzen, daß ich seit meiner ersten Kunstreise bis auf den heutigen Tag, in Europa sowohl wie in den Vereinigten Staaten, unausgesetzt daran arbeitete. Aber gegen welche Hindernisse hatte ich nicht zu kämpfen! Nun, wenn die Trägheit oder das Mißwollen der Beamten den Reisenden Vattemare vergebens reden ließ, so stellte sich der Spaßmacher Alexander ein und erreichte seinen Zweck. Ich erinnere mich noch, daß ich mich einst in einer deutschen Residenz bei dem Minister des öffentlichen Unterrichts anmelden ließ, um ihn für meinen Lieblingsgedanken zu gewinnen. Ich wartete lange im Vorzimmer. Endlich kam der Bediente zurück und sagte mir, Seine Excellenz sei sehr beschäftigt und könne mich nicht empfangen. ,Melden Sie Seiner Excellenz,’ rief ich, „Herr Alexander wünsche ihm seine Aufwartung zu machen? Kaum hatte der Bediente sich entfernt, als die Thür sich öffnete und der Minister mir beide Hände zugleich entgegenstreckend auf mich losstürzte, mich in sein Cabinet zog und nur unter den schmeichelhaftesten Ausdrücken über mein Talent das Wort gab, meine Bestrebungen zu fördern. Ohne Alexander hätte Vattemare überall verschlossene Thüren gesunden.“

Durch diesen ersten Besuch waren meine freundlichen Beziehungen zu Vattemare eingeleitet. Wir sahen uns in der Folge häufig, und er äußerte mehrere Male den Wunsch, ich möchte seine Denkwürdigkeiten veröffentlichen. Er wollte mir zu diesem Zwecke alle geschriebenen und gedruckten Materialien ,liefern und dieselben durch mündliche Unterhaltungen ergänzen. Ich bemerkte jedoch später, als ich von der Veröffentlichung dieser Memoiren sprach, eine gewisse Verlegenheit, die ich mir nicht erklären konnte. Er wich dieser Frage aus, und wie ich sah, mit Bedauern und Verdruß. Nach seinem Tode, der vor vier Jahren erfolgte, erfuhr ich, daß sein ältester Sohn, ein Geistlicher, sich der Publicirung widersetzt hatte. Sein zweiter Sohn hingegen, Hippolyte Vattemare, ein tüchtiger Publicist, dem man eine Reihe vortrefflicher Artikel über die politischen Zustände der Vereinigten Staaten verdankt, stellte mir mit der größten Bereitwilligkeit manche schätzbare Reliquien aus der Hinterlassenschaft seines Vaters zur Verfügung und unter andern viele Originalbriefe deutscher Dichter, Gelehrten und Fürsten. Von diesen Papieren besitze ich noch das Manuscript der Autobiographie Vattemare’s. Die Bekenntnisse, welche seine erste Jugend und den Beginn seiner Kunstreifen schildern, bieten ein lebhaftes Interesse dar. Merkwürdig ist es, daß Vattemare sehr ungern vor dem Publicum erschien, ja, daß er in späteren Jahren oft unter schwer zu unterdrückenden Thränen auf die Bühne trat. Er haßte überhaupt das Theater und besuchte niemals ein Schauspielhaus. Seit er seiner Kunst den Rücken gekehrt, war er selbst in den allervertrautesten Kreisen nicht mehr zu bewegen, eine Probe seines Talentes zu zeigen. Er beschäftigte sich ausschließlich mit seinem Lieblingsgedanken, dem internationalen Bücheraustausch. War es ihm doch geglückt, zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten allein den Austausch von dreihunderttausend Bänden zu bewirken!

Vattemare hatte in allen Schichten der Pariser Gesellschaft viele aufrichtig ergebene Freunde, die in ihm den liebenswürdigen Gesellschafter, den geistvollen Erzähler und ganz besonders den unbescholtenen Biedermann schätzten.