Volksheilstätten für Lungenkranke
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Volksheilstätten für Lungenkranke.
Unter allen Krankheiten der Menschheit, die verheerendsten Seuchen nicht ausgenommen, giebt es keine, an welcher jahraus jahrein so viele Menschen zu Grunde gehen, als die Lungenschwindsucht. Nun hat der berühmte „Bacillenvater“ Robert Koch in Berlin unumstößlich nachgewiesen, daß die alleinige Ursache dieser Krankheit der sogenannte Tuberkelbacillus ist, ein schlankes Stäbchen (bacillus = Stäbchen) von etwa fünf tausendstel (0,005) Millimeter Länge, so daß ein solches erst bei mindestens dreihundertfacher Vergrößerung in einem guten Mikroskope und gefärbt sichtbar zu werden anfängt.
Dieser Bacillus ist es, der die Lungenschwindsucht veranlaßt, in der Lunge des Kranken sich stark vermehrt und mit dem Auswurfe hinausbefördert wird. Und dieser Auswurf der Lungenkranken nun ist die hauptsächlichste Quelle der Gefahr für andere; denn wo dem Bacillus einige Wochen Ruhe zur Ansiedelung gelassen werden, wo er ferner ein geeignetes Nährmaterial für sich vorfindet, da richtet er große Verwüstungen an und ist äußerst schwer oder nie wieder zu vertreiben. Ich will hier nicht weiter auf Fragen eingehen, die endgültig noch nicht erledigt sind, so z. B. auf welche Weise der Auswurf ansteckend wirkt: ob dadurch, daß er vertrocknet, verstäubt und ‚eingeathmet‘ sich in den Lungen ansiedelt und die Schwindsucht hervorruft – eine Annahme, die durch ihre Einfachheit verlockend erscheint und von der Kochschen Schule auch zu der ihrigen gemacht worden ist, gegen die aber eine Menge schwerer Bedenken von gewichtiger Seite vorgebracht wird, – oder ob die Bacillen in trockenem oder feuchtem Zustande durch zufällige, wenn auch kleinste Wunden der Haut oder der Schleimhäute der Nase, des Mundes oder auf dem Wege der Lymphgefäße an den Ort gelangen, wo sie festen Fuß fassen – auf diese und andere Fragen ist hier nicht der Platz, näher einzugehen. Doch bleibt von der Beantwortung derselben die Thatsache unberührt, daß der bacillenhaltige Auswurf Lungenkranker der Hauptträger des Schwindsuchtsgiftes ist und deshalb unter allen Umständen so schnell und so gründlich wie möglich vernichtet werden muß. Nebenbei will ich nur noch darauf hinweisen, daß die Milch sowohl wie das Fleisch schwindsüchtiger (perlsüchtiger) Kühe, insbesondere erstere, wohl gar nicht so selten den Ausgangspunkt der menschlichen Schwindsucht bilden. Es ist nämlich nachgewiesen worden, daß die Milch von perlsüchtigem Rindvieh in 55 Prozent aller Fälle Schwindsuchtsbacillen enthielt. Wir sollen daraus die Lehre ziehen, nie rohe Milch zu genießen, sondern nur gekochte; längeres Kochen tödtet die Bacillen in der Milch unfehlbar, ohne den Nährwerth der letzteren herabzusetzen.
Alsbald nach der Entdeckung, daß die Lungenschwindsucht durch einen besonderen Spaltpilz hervorgerufen wird, glaubte eine Menge berühmter und unberühmter Aerzte, daß es nun das wichtigste sei, nach einem besonderen Heilmittel dagegen auf die Suche zu gehen, entweder um mit demselben die Bacillen im Innern des menschlichen Körpers unmittelbar zu tödten oder doch wenigstens die Gewebszellen oder die Gewebsflüssigkeit derartig zu verändern, [571] daß dieselben für die Tuberkelbacillen keinen geeigneten Nährboden mehr abgeben. An und für sich ist eine solche Ansicht und die aus derselben gezogene Schlußfolgerung ja nicht ganz unlogisch; haben wir doch gegen eine Reihe von Krankheiten, welche nachweislich ebenfalls durch Ansteckung infolge Berührung oder Ausdünstung entstehen, ein entsprechend geartetes Heilmittel, z. B. gegen das Wechselfieber Chinin, gegen den akuten Gelenkrheumatismus das salicylsaure Natron etc. Aber der Erfolg, den diese Heilmethode mit den Hunderten von Mitteln, vom benzoësauren Natron und Arsen angefangen bis zum Creosot und zur Einathmung überhitzter Luft, gegen die Schwindsucht aufzuweisen hat, ist mindestens gleich Null, wenn sie nicht, was wahrscheinlicher ist, sogar schädlich wirkt. „Die arzneiliche Behandlung der Lungenschwindsucht hat vollständig Bankerott gemacht“, urtheilt Professor Gerhardt-Berlin.
Trotzdem bricht sich die Ansicht, daß die Lungenschwindsucht eine heilbare Krankheit ist, immer mehr Bahn, dank den Erfolgen, welche hauptsächlich die besonders für Schwindsüchtige eingerichteten Heilanstalten in immer steigendem Maße aufzuweisen haben. Eine Statistik der letzten in der Heilanstalt zu Reiboldsgrün behandelten 2000 Fälle von wirklicher bacillärer Lungenschwindsucht lieferte folgendes Ergebniß: auf 100 Kranke entfallen geheilt 13,66%, bedeutend gebessert (d. h. sie verließen die Anstalt zu früh) 28,02%; gebessert (d. h. meist zu spät gekommen und zu früh abgereist) 28,60%, ungebessert 25,20%, gestorben 4,52%; also 70,28% thatsächliche Erfolge, welche sich noch ganz wesentlich vermehren und befestigen ließen, wenn die Kranken sofort nach den ersten Anzeichen der Erkrankung eine Heilanstalt aufsuchten und lange genug darin verblieben. Ich bin der festen Ueberzeugung, daß mindestens 75% aller Schwindsüchtigen vor einem frühzeitigen Tode bewahrt und wieder in ihrem Berufe arbeitsfähig werden könnten, wenn dieselben zeitig einer Heilanstalt für Lungenkranke übergeben würden und lange, etwa 3 Monate, in derselben verweilten. Diese Ueberzeugung drängt sich immer weiteren Kreisen auf, besonders auch den Führern in der ärztlichen Wissenschaft. Während seit meinem ersten Artikel in der „Gartenlaube“ (vergl. Seite 562 des Jahrg. 1882) manches Jahr verging, ohne daß viel mehr als die eine oder andere Zustimmung zu meinem Vorschlage der Errichtung von Volksheilstätten für Lungenkranke sich kundgab, scheint die Sache jetzt in Fluß zu kommen und durch die berufensten Hände in die richtigen Bahnen geleitet zu werden. Die Beschaffung der nöthigen Geldmittel spielt auch hier wieder wie so oft eine Hauptrolle.
In Berlin war schon vor mehreren Jahren bei den städtischen Behörden der Gedanke angeregt worden, durch Errichtung besonderer Anstalten für Tuberkulöse zu sorgen. Die Frage wurde der städtischen Deputation für Gesundheitspflege vorgelegt (30 Mitglieder) und von dieser einem Unterausschuß von Sachverständigen zur Beratung übergeben. Dieser Ausschuß hatte nun der Deputation für Gesundheitspflege folgende Erklärung vorgeschlagen: „Mit Rücksicht auf die große und voraussichtlich zunehmende Zahl der chronischen Brustkranken, welche in die städtischen Kranken- und Siechenanstalten aufgenommen werden müssen, ist die Errichtung einer besonderen Heil- und Pflegeanstalt für Lungenkranke in der Umgebung der Stadt dringend wünschenswerth.“
Erst am 22. Oktober 1889 kam dieser Vorschlag zur Beschlußfassung vor die städtische Deputation für Gesundheitspflege, und merkwürdigerweise wurde in derselben fast einstimmig beschlossen, die ganze Angelegenheit auf etwa ein Jahr zu vertagen. Als Grund hierfür wurde angegeben einmal die Rücksicht auf die großen anderweitigen gesundheitlichen Aufgaben, welche die Stadt Berlin in der nächsten Zeit zu erfüllen habe, sodann die Ansicht der in dem Unterausschuß anwesenden Aerzte, daß die Zahl der Ansteckungen mit Schwindsuchtsgift im Verhältniß zu der großen Anzahl Lungenkranker doch eine ganz außerordentlich geringe sei. Ein dem Ausschuß angehöriger Oberarzt eines der größten Berliner Krankenhäuser habe geltend gemacht, daß er tausend und mehr Tuberkulöse behandelt habe, ohne je einen vollständig sicheren Fall von Ansteckung festgestellt zu haben.
So wertvoll dieses Geständniß gerade für die Sonderheilanstalten für Lungenkranke ist, und so sehr diese Erfahrung mit meiner eigenen übereinstimmt, so wenig berührt diese Begründung den Kern der Angelegenheit. Denn es sollen nicht Volksheilstätten für Lungenkranke gebaut werden, um die Gesunden vor Ansteckung zu bewahren – das erzielt man viel billiger und einfacher durch die Vernichtung des tuberkulösen Auswurfes – sondern um die von der Tuberkulose Befallenen zu heilen. Obgleich nun auch in gut geleiteten allgemeinen Krankenhäusern Besserungen vorkommen – nach Angabe des oben erwähnten Krankenhausoberarztes bis zu 32,7% – so besteht in solchen Krankenhäusern doch der große Uebelstand, daß Lungenkranke nicht gern lange in denselben behalten werden. Nach dem Geständniß eines andern Berliner Krankenhausleiters werden den von akuten Leiden wie Typhus, Lungenentzündung und andern befallenen, aber durchweg heilbaren und der ärztlichen Fürsorge während der verhältnißmäßig kurzen Dauer ihres Leidens weit bedürftigeren Kranken gegenüber die Lungenschwindsüchtigen mehr oder weniger vernachlässigt und, weil sie den nötigen Platz für Schwerkranke wegnehmen, zu zeitig entlassen. Daß es da bald wieder beim alten sein wird, ist ja selbstverständlich, und es verringert sich damit der Prozentsatz der dauernd Gebesserten bis aus ein verschwindendes Maß.
Von der städtischen Deputation für Gesundheitspflege auf ein Jahr zurückgestellt, wurde die Frage der Errichtung von Schwindsuchtsheilstätten für Unbemittelte vom Geheimen Rath Professor Leyden in der Sitzung des „Vereins für innere Medizin“ vom 20. Januar dieses Jahres wieder vor einer andern, lediglich ärztlichen Hörerschaft auf die Tagesordnung gebracht, um eine lebhafte Erörterung hervorzurufen. Leyden gesteht ebenfalls, daß mit Arzneimitteln gegen die Schwindsucht nichts auszurichten sei, sondern daß der Schwerpunkt der Behandlung in dem hygieinisch-diätetischen Verfahren zu suchen sei, jenem Verfahren, welches den Körper zu kräftigen und widerstandsfähig zu machen bestrebt ist, damit er die Krankheitserreger nach und nach zu überwinden und auszuscheiden befähigt wird. Ferner gesteht er, daß nur die Tuberkulösen in den vorgeschrittenen Krankheitsstufen und mit schweren Nebenerkrankungen in Hospitälern behandelt werden können und sollen, daß aber die Mehrzahl der Tuberkulösen in den gewöhnlichen Krankenhäusern nicht in solcher Weise behandelt werden können, welche geeignet ist, die überhaupt erreichbaren Erfolge bei ihnen auch wirklich zu erzielen. Die Behandlung der Tuberkulösen in besonderen Heilanstalten sei ein wesentlicher Fortschritt der Neuzeit. Auch bespricht er dann die Ansteckungsgefahr der Schwindsucht und ist ebenfalls der Ansicht, daß dieselbe in gut geleiteten Anstalten mit Sicherheit vermieden werden könne. „Nach Beseitigung dieser Bedenken,“ sagt er, „steht die Anstaltsbehandlung wieder in vollstem Ansehen, woran sich der Wunsch knüpfen muß, die Vortheile einer solchen Behandlung einer größeren Zahl dieser unglücklichen Kranken zugänglich zu machen, und zwar entspricht es den großen menschenfreundlichen Bestrebungen unserer Zeit, diese Vortheile nicht bloß wie bisher den besser gestellten Ständen, sondern auch den weniger begüterten Gesellschaftsklassen zugänglich zu machen.“
Am Schlusse seiner Rede kommt er daraus zurück, daß es zweckmäßig und erfolgreich sein würde, wenn von ärztlicher Seite die Anregung zur Errichtung solcher Heilanstalten in der Umgebung Berlins, in welcher es gewiß an den geeigneten Räumlichkeiten nicht fehle, in die Hand genommen würde.
An diesen Vortrag schloß sich in den folgenden Sitzungen vom 3. und 20. Februar eine Besprechung, aus welcher zunächst leider zu ersehen war, daß, trotzdem Berlin durch seine neueren hygieinischen Einrichtungen zu einer sehr gesunden Stadt geworden ist, in welcher die Sterblichkeit der Bevölkerung vom Jahre 1075 bis 1885 von 29,7‰ auf 24,3‰ heruntergegangen ist, doch die Tuberkulose sich in Bezug auf ihre tödlichen Ausgänge in nichts gebessert habe; im Gegentheil starben im Jahre 1876 219, im Jahre 1885 aber 283 auf das Tausend der Gestorbenen an Schwindsucht, das heißt in einem Jahre in Berlin allein 4472 Personen. Und was sagte im Laufe der Verhandlung einer der Redner? „Was thun wir im allgemeinen der tuberkulösen Erkrankung gegenüber? Wir lassen es so gehen, wie es Gott gefällt … Durch die Errichtung von Heilstätten für Tuberkulöse wird man dem Elend der Armut entgegenarbeiten und den Kranken für sich, für seine Familie und für den Staat erhalten.“
Ein anderer Redner meinte: „Vor der Entdeckung des Tuberkelbacillus ist die Ansteckungsgefahr unterschätzt worden, jetzt wird sie überschätzt. Alle für dieselben beigebrachten Gründe sind rein theoretischer [572] Natur.“ Und ein anderer forderte, man solle die Kranken nicht nach dem Süden verschicken, weil sie im Eisenbahnwagen und in den Gasthöfen meist ein recht trauriges Dasein führten. Schließlich gelangte folgender Antrag zur Annahme: „Der Verein für innere Medizin“ beauftragt seinen Vorstand, sich mit den Vorständen anderer Vereine in Verbindung zu setzen, um die Gründung von Heilanstalten für Schwindsüchtige in der Nähe von Berlin zu bewerkstelligen.“ Damit ist diese wichtige Angelegenheit in guten Händen.
Ich habe den Verlauf der Behandlung im Berliner „Verein für innere Medizin“ zuerst geschildert, da diese die letzte Kundgebung in dieser Beziehung ist und aus der Hauptstadt des Deutschen Reiches kommt. Vorher schon hatte Professor Finkelnburg aus Bonn in der Generalversammlung des Niederrheinischen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege am 2. Dez. 1889 zu Düsseldorf einen Vortrag gehalten: „Ueber die Errichtung von Volkssanatorien für Lungenschwindsüchtige“, in welchem derselbe ebenfalls, ausgehend von der Nutzlosigkeit aller gegen die Lungenschwindsucht neuerdings empfohlenen Mittel und von der erschreckend großen Verbreitung der Schwindsucht in Rheinland und Westfalen, wo zwischen 18,4 % bis 61 %, in einigen Berufsklassen, z. B. unter den Appreteuren in Crefeld, bis zu 92 % aller Todesfälle auf die Tuberkulose treffen, für die Errichtung von Volksheilstätten für Lungenkranke lebhaft eintritt. Auch Professor Finkelnburg betont die Ungefährlichkeit des Tuberkelparasiten gegenüber gesunden Menschen mit ungeschädigten Organen, die Unzulänglichkeit, ja geradezu Kärglichkeit der den unbemittelten Lungensüchtigen Deutschlands gewidmeten Krankenhauspflege, beweist diese seine Behauptung durch Zahlen, welche feststellen, daß im ganzen Deutschen Reiche auf je 100 Aufnahmen in die allgemeinen Krankenhäuser nur 4 % Lungenschwindsüchtige kamen, und verlangt am Schlusse seiner lehrreichen und vom edelsten Geiste getragenen Rede ein thatkräftiges Vorgehen in erster Reihe seitens der Gemeindeverwaltungen, insbesondere der größeren Städte, und der Krankenkassenvereine, denen größere Verwaltungsverbände, die Provinzial- und die Staatsbehörden zum Vortheil des Gemeinwohls mithelfend zur Seite stehen müßten. Erst nach einem thatkräftigen Vorgehen dieser berufenen Vertretungen öffentlicher Fürsorge sei bestimmt zu erwarten, daß auch die Privatwohlthätigkeit einem so menschenfreundlichen Unternehmen ihre Unterstützung zuwenden werde. Noch auf einen besonderen Punkt in der Rede Professor Finkelnburgs möchte ich hier aufmerksam machen. Er weist nämlich den zu errichtenden Anstalten für unbemittelte Lungenkranke noch einen erziehlichen Zweck zu, indem er annimmt, daß durch die mit Strenge durchgeführte Gewöhnung ihrer Pfleglinge an vorsichtige Behandlung des Auswurfes – und wie ich hinzufügen möchte, an natürliche Lebensweise, an Luft und gesunde Kost – allmählich eine Aufklärung und eine Erziehung weiterer Volksschichten außerhalb der Anstalten zur richtigen Pflege lungensüchtiger Kranken sich ergeben werde. Anstatt zu Ansteckungsherden der Krankheit zu werden, dürften diese Anstalten im Gegentheile Ausstrahlungspunkte einer geregelten Verhütung der Ansteckungsgefahr auch im Familienleben werden.
Nur einen Monat später, am 3. Januar 1890, hielt der – von dem Kehlkopfleiden des Kaisers Friedrich her bekannte – Professor Dr. Schrötter in Wien im „Wissenschaftlichen Klub“ daselbst einen Vortrag „Ueber die Tuberkulose und die Mittel zu ihrer Heilung“. Er weist zunächst darauf hin, daß in Wien durchschnittlich täglich 15 Menschen derselben zum Opfer fallen, was im Jahre etwa 5500 macht, also an sich und im Verhältniß zur Zahl der Todesfälle überhaupt viel mehr als in Berlin. Wien ist recht eigentlich eine Schwindsuchtsstadt, in ihr fallen – statt 1/7 wie anderswo – 1/4 aller Menschen, also 25 % der Schwindsucht zum Opfer, und selbst die Wiener Aerzte nennen die Schwindsucht die „Wiener Krankheit“. Besonders in den Armen- und Arbeitervierteln haust dieselbe schrecklich. Ferner huldigt auch Schrötter wie wohl zur Zeit mit Recht alle erfahrenen Forscher der Annahme, daß sich der schwindsüchtige Mensch zur Zeit der Ansteckung unter ganz besonders günstigen Bedingungen zur Aufnahme der kleinen Lebewesen, also in einer zeitweilig besonders gesteigerten Empfänglichkeit befunden habe. Also auch Schrötter kommt ohne die Annahme einer angeborenen oder ererbten besonderen Veranlagung nicht aus. Besonders neigt er – das sei hier nur nebenbei bemerkt – der Ansicht zu, daß viele Erkrankungen an Schwindsucht in vorgerückterem Alter von einer aus der frühesten Kindheit herstammenden, aber Jahre lang ohne alle äußere Anzeichen bestehenden tuberkulösen Entartung der Lymphdrüsen ausgehen, woraus wir den Schluß zu ziehen haben, daß Kinder, auf denen der Verdacht ruht, mit tuberkulösen (skrophulösen) Drüsenherden behaftet zu sein, ganz besonders reichlich ernährt und durch sorgfältige Abhärtung widerstandsfähig gemacht werden müssen. Dies gilt besonders für die Zeit der Entwickelung.
Nachdem Schrötter sodann noch einige Worte über die nothwendigen Vorbeugungsmittel gesprochen und der Vernichtung der Auswurfstoffe Erkrankter das Wort geredet hat, gelangt er zu der Beantwortung der Frage: „Was haben wir nun aber mit dem einmal erkrankten Individuum zu thun? Ist die Tuberkulose heilbar?“
„Glücklicherweise unzweifelhaft ‚ja‘“ lautet die Antwort. Aber Tausende von Mitteln und Verfahrungsweisen sind als sichere Heilmittel gepriesen worden, keins hat dem vorurtheilsfreien, unparteiischen Prüfen der Wissenschaft standhalten können … „Eines aber hat sich unter allen Umständen als sicherstes Heilmittel erwiesen, nämlich die möglichste Hebung der Ernährung und Kräftigung des Organismus, und um diese zu erzielen, der reichlichste Aufenthalt in reiner Luft mit allen Anregungen, welche durch eine solche auf unsern Körper gegeben sind. In diese Bahn müssen wir somit unsere ganzen Bestrebungen lenken.“ Und nun kommt er ebenfalls zu dem Schlusse, daß es nothwendig sei, für die 3400 mittellosen Schwindsüchtigen Wiens, welche die allgemeinen Krankenhäuser bevölkern, eigene Heilanstalten zu errichten, während man es den Wohlhabenden überlassen könne, nach dem Rathe ihrer Aerzte Kurorte oder Sonderheilanstalten für Lungenkranke aufzusuchen. Die Kosten der Errichtung solcher Pflegestätten für unbemittelte Lungenkranke können nicht in Betracht kommen, wo es sich um das Wohl von Tausenden handele, von denen dem Staate eine große Menge erhalten werden könne. Auf dem Südende der englischen Insel Wight, in Undercliff, bestehe seit 21 Jahren eine solche für 280 unbemittelte Kranke bestimmte, in einer überaus reichen Weise ausgestattete Anstalt. Die Sterblichkeit in derselben betrage nur 3,8 %. Auch in Wien sei ein Verein in der Gründung begriffen, der sich zur Aufgabe stelle, Gleichgesinnte herbeizuziehen, um die nöthigen Mittel aufzubringen. An der Spitze desselben stehen die Direktoren der 3 größten Krankenanstalten Wiens.
Soweit Schrötter.
Es war mir eine große Genugthuung, den geneigten Lesern in kurzem Auszuge die Ansichten dreier so hervorragender Gelehrten an drei verschiedenen Universitäten mittheilen zu können Noch mehr Genugthuung gewährt es mir, daß es überall Aerzte sind, welche die Anregung zu einem so durchaus menschenfreundlichen Werke öffentlich gegeben haben.
Gemeinsam heben alle drei Redner hervor:
a) Die Tuberkulose ist zwar ansteckend, aber ihre Ansteckungsfähigkeit wird bei weitem überschätzt.
b) Die Tuberkulose ist heilbar, aber nicht durch eines der hundert gegen dieselbe angepriesenen Mittel, sondern nur durch dauernden Aufenthalt in reiner Luft und Kräftigung des gesammten Organismus.
c) Das wird am besten erreicht in Sonderheilanstalten für Tuberkulöse, die aber durchweg nur den Bemittelten zugänglich sind; deshalb
d) ist es nothwendig, Volksheilstätten für unbemittelte Lungenkranke in der Näche der großen Städte zu errichten.
Möge die fast gleichzeitig von drei Seiten ausgegangene Anregung auf fruchtbaren Boden fallen!
Wer meinem Berichte aufmerksam bis hierher gefolgt ist und auch meinen Artikel in Nr. 34 der „Gartenlaube“ von 1882 gelesen hat, dem muß es aufgefallen sein, daß keiner der drei angeführten Redner dafür eingetreten ist, solche Anstalten im Gebirge zu errichten. Dies wird verständlich aus dem Zwecke, den dieselben verfolgen. Es sollen die allgemeinen Krankenhäuser der großen Städte von den Schwindsüchtigen entlastet und letztere in möglichster Nähe derselben in besonderen Anstalten untergebracht werden. Da empfiehlt es sich allerdings schon der bedeutend vermehrten Kosten wegen nicht, die Schwindsuchtsheilanstalten für Unbemittelte weit ab von den Städten im Gebirge zu errichten. Sodann aber ist nicht zu verkennen, daß die neuen [573] theoretischen Erwägungen, nach denen zur Heilung von Schwindsucht nur reichliche Ernährung und reine Luft nöthig sein sollen, der Errichtung von Gebirgsheilanstalten nicht förderlich sein können. Und doch wird in wenigen Jahren nach Inbetriebsetzung der Niederungsheilanstalten für Lungenkranke ganz gewiß ein gründlicher Wandel der Ansichten stattfinden, wenn man erst durch die Erfahrung und durch Zahlenausweise gefunden haben wird, wie viel weniger Besserungen und Heilungen in denselben zu erzielen sind, als in Gebirgsheilstätten. Angenommen auch, das Waldgebirge enthalte nichts in sich, was in besonderer Weise auf die Besserung einer schwindsüchtigen Lunge wirkt: weder der geringere Atmosphärendruck, noch die größere Dünne der Einathmungsluft, weder die große Menge des in der Luft enthaltenen Ozons, noch die durchweg günstigeren Grundwasserverhältnisse, weder die stärkere Besonnung im Winter, noch der größere Schutz gegen starke Luftströmungen zu allen Jahreszeiten, weder die größere Kühle der Luft im Sommer, noch die größere Beständigkeit des Klimas im allgemeinen, noch sonstige günstige klimatische Umstände seien einzeln oder in ihrer Gesammtheit ausschlaggebend für die vorzüglichen Erfolge der Waldgebirgsheilanstalten; zugegeben ferner, der Begriff der Sicherheit gewisser Orte gegen Tuberkulose sei hinfällig und zur Heilung von Schwindsucht nur die dauernde Einathmung reinster Luft und reichliche Ernährung vonnöthen, so frage ich: wo in aller Welt giebt es reinere Luft, verbunden mit größerem Schutz gegen etwaige Unbilden der Witterung, als im waldreichen immergrünen Gebirge, und wo entwickelt sich ein solch riesiger Appetit und infolge dessen ein solch rascher Neuaufbau des lungensiechen Körpers wie eben dort? Wie oft habe ich es nicht erlebt, daß selbst Schwerkranke von der ersten Stunde des Aufenthaltes in der Gebirgsanstalt an einen Appetit entwickelten, über den sie sich so freuten, daß sie dies Ereigniß telegraphisch der besorgten Mutter mittheilten, die seit Monaten sich vergebens abmühte, dem Kranken ihre mit eigener Hand bereiteten kräftigen Speisen und Leckerbissen aufzunöthigen! Bei minder schwer Kranken tritt ein solcher Appetit ohne Ausnahme sofort ein. Man soll die Einrichtung von Heilanstalten für unbemittelte Lungenkranke in der Umgebung großer Städte um keinen Preis hindern. Aber man vergesse nicht, bewaldete Höhen zur Anlage zu wählen, wenn sie nahe genug liegen. Denn ich bin aus fast zwanzigjähriger Erfahrung mit Dr. Volland in Davos der noch durch keine stichhaltigen Gründe widerlegten Ansicht, daß es nicht allein darauf ankommt, wie, sondern insbesondere wo der Lungenkranke behandelt wird, und daß bei ins Belieben gestellter Auswahl eines Ortes immer und unter allen Umständen einer geschlossenen Heilanstalt im Waldgebirge der Vorzug zu geben ist. Den Höhenanstalten für Lungenkranke gehört nach wie vor die Zukunft.