Volksjustiz auf Borkum

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Textdaten
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Autor: H. M.
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Titel: Volksjustiz auf Borkum
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 3, S. 43–44
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[43] Volksjustiz auf Borkum. Es liegt in der Natur der Sache, daß die volksthümlichsten Gebräuche sich in jenen Gegenden erhalten haben, die vermöge ihrer Lage wenig oder gar nicht mit der übrigen Welt in Berührung kamen. Mehr noch als im Innern des Landes ist dies für die am Saume der Nordsee liegenden Inseln eine Wahrheit. – Versetzen wir uns im Geiste nach Borkum, der größten ostfriesischen Insel. Freilich hat dieselbe an Umfang bedeutend verloren, denn während sie in grauer Vorzeit einen Theil des Festlandes bildete, vor zweitausend Jahren noch wenigstens zwanzig Quadratmeilen groß war, hat sie jetzt nur noch drei Stunden Länge und eine Stunde Breite. Das immer mehr in Aufnahme kommende Seebad verspricht den Volkseigenthümlichkeiten kein langes Dasein und darum muß der Culturhistoriker sich beeilen, dergleichen Schätze der Vergessenheit zu entreißen. Die von Jahr zu Jahr sich mehrende Anzahl der Badegäste ist kein Gewinn für die Sittlichkeit und der Pesthauch festländischer Uebercultur beginnt auch schon bei diesem Naturvölkchen die Gemüther zu berühren.

Mag man in unserem „aufgeklärten Zeitalter“ es für eine Lächerlichkeit halten, wenn die Idee der Sittlichkeit so weit getrieben wurde, daß keine Wittwe sich zum zweiten Male verheirathete, da man an eine ewige Liebe und Treue glaubte: ein solcher Volksstamm erinnert an die alten Germanen und verdient volle Anerkennung und Achtung.

Seit alten Zeiten wir hier der Umgang zwischen beiden Geschlechtern genau geregelt; dies ist noch heutigen Tages der Fall und ein bedeutender Hebel der Moralität. Im Winter findet man jeden Sonntag nach melkavend in den verschiedenen Häusern Gesellschaften junger Mädchen, die nicht ungern auch junge Mannsleute einlassen. Daran stößt sich Niemand, denn das geht in aller Zucht und Ehrbarkeit von statten, nur darf der Besuch nicht länger als bis zum zwölften Glockenschlage dauern. Weiß man aber, daß ein Jüngling sich zu einem Mädchen geschlichen hat und bis nach zwölf Uhr bei ihr verweilt, so wird das Haus umstellt. Jede Thür und jedes Fenster wird bewacht, um das Entschlüpfen des Anbeters zu verhindern; ein Parlamentär wird abgeschickt, die Uebergabe [44] auf Gnade und Ungnade zu verlangen, worauf meistens keine Antwort erfolgt. Das auf diese Weise inhaftirte Paar hat nun Zeit, sich über seine gegenseitigen Gefühle klar zu werden, denn bevor das Tagesgestirn dem Meere entsteigt, ist Niemand befugt, in das Haus einzudringen, es sei denn, daß die Bewohner desselben freiwillig die Thür öffneten. Dies geschieht aber selten und die Sittenrichter harren bei Gesang und Trank bis zum kommenden Morgen. Kaum ist dieser angebrochen, so wird da draußen Ernst gemacht. Man verstopft die Schornsteine mit Schnee oder allerlei Unrath, so daß man im Hause vor Rauch umkommen muß, man versucht Fenster zu öffnen oder Thüren zu sprengen und will das Alles nicht gelingen, so nimmt man die Ziegel vom Dache und steigt auf diese Weise in’s Haus. Aber dann findet man meistens das Mädchen allein. Die nun stattfindende Haussuchung wird so genau und vollkommen vorgenommen, als wenn Alle ausgelernte Polizisten wären: das Unterste wird zu oben gekehrt und kein Plätzchen undurchsucht gelassen, bis man endlich den Verliebten aus seinem Versteck hervorzieht. Ein lautes Hurrahgeschrei kündet den Fund an. Man richtet an den jungen Mann die Frage, ob er mit dem Mädchen verlobt sei? Bejaht er solche, so wünscht man dem Paare Glück, bringt ihnen ein Hoch und verkündet, den Bräutigam in ihrer Mitte mit sich fortziehend, der ganzen Insel das frohe Ereigniß einer neuen Verlobung. Erfolgt indeß auf jene Frage ein „Nein“, so wird dem Liebhaber ein Tau um den Leib gebunden und er, alles Sträubens ungeachtet, durch das Lynchgesetz verurtheilt, zur Abkühlung seines Liebesfiebers drei Mal hin und zurück, durch ein dazu bestimmtes Gewässer geschleift zu werden. Gesteht er während dieser Procedur seine Verlobung ein, so wird dadurch sein Strafmaß selbstredend abgekürzt. Im Winter wird, wie es noch im vergangenen stattfand, eine Passage durch das Eis hergestellt und dann der Schuldige der Wassertaufe übergeben. Daß die ganze Bevölkerung diesem tragikomischen Schauspiele beiwohnt und daß der auf solche Weise zum Baptist Gewordene Jahre lang ein Spott seiner Cameraden bleibt, läßt sich denken. Es vergeht daher oft manches Jahr, wo sich Keiner ertappen läßt; so war in den letzten zehn Jahren kein Sünder diesem Sittengerichte verfallen, aber der vergangene Winter forderte endlich wieder eine Wassertaufe.

H. M.