Vom Czaren Nikolaus von Rußland

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Autor: K. v. B.
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Titel: Vom Czaren Nikolaus von Rußland
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aus: Die Gartenlaube, Heft 21, S. 328–331
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[328]

Vom Czaren Nikolaus von Rußland.

Von K. v. B.
I.

Ich wünschte einmal in Petersburg den Thurm der Admiralität, der ungefähr in der Mitte der Stadt liegt, zu besteigen, um von seiner Spitze aus die ganze Residenz mit einem Blicke übersehen zu können, und wandte mich an den commandirenden Officier.

Derselbe gab mir auf französisch die freundliche Versicherung, daß er mich herzlich gern hinauflassen würde, wenn es nicht verboten wäre, „und ich habe Furcht, daß Er uns sehe.“ – „Aber wer denn, mein Herr?“ – „Er, der Kaiser! Sie wissen, das Auge des Herrn sieht Alles.“ – „Aber ich bitte Sie, glauben Sie wirklich, daß der Kaiser mich auf der Spitze jenes hohen Thurmes, wo ich etwa wie ein Punkt erscheinen werde, entdecken könnte? Wie höchst unwahrscheinlich, daß sein Auge gerade jetzt auf diejenige Thurmöffnung fallen wird, durch die ich einige Secunden lang zu blicken wünsche! Und selbst wenn er auch zufällig gerade dorthin schauen sollte, wird er mich gleich als einen Fremden erkennen? Wird er nicht denken können, es sei ein Arbeiter oder sonst Jemand, der da etwas zu thun habe? Und wird er denn gleich herschicken oder selbst vorfahren, um sich zu erkundigen, wer es gewesen sei?“ – „Nun, so gehen Sie denn meinetwegen hinauf. Ich will es Ihnen von Herzen gern gestatten. Aber für mich ist viel Gefahr dabei, ich habe immer Furcht vor Ihm.

Ich muß sagen, dieser Vorfall frappirte mich in hohem Grade und blieb mir unvergeßlich, als ein Beweis der unermüdlichen Suspectionsthätigkeit des Kaisers sowohl, als der Größe der Furcht seiner Petersburger Beamten, die seiner überall und in jedem Augenblicke gewärtig waren.

[329] In der That, man hätte diesem Kaiser von Rußland fast Allgegenwart in seinem Reiche zuschreiben mögen, und so weit als ein Mensch diese Eigenschaft besitzen kann, so weit besaß er sie in der That. Es war keine Anstalt, keine Behörde, kein Institut in Petersburg, das nicht in jedem Augenblicke sein beobachtendes Auge zu fürchten gehabt hätte. Niemand war dort vor seinen Blicken sicher. Es gab Institute, zu denen er innerhalb Jahresfrist nicht kam. Allein die Möglichkeit, daß seine Droschke doch einmal unangemeldet vorfahren könne, hielt die Leute stets in Spannung.

Der Kaiser hat sich selbst mehrere Male darüber beklagt, daß er auf seinem Throne so allein stehe, daß er keine redlichen Gehülfen habe. Es war dies die natürliche Folge seines Vielregierens. In einem Lande, in welchem kein Gemeingeist existirt, wo Alles nur kaiserlich ist und für des Kaisers Rechnung und auf des Kaisers Impuls geschieht, ist auch Niemand für das Gemeinwesen interessirt. Der Kaiser mußte Alles selbst thun, und es lastete daher ein enormes Gewicht von Geschäften auf seinen Schultern. Wohin er mit seinem Auge und seiner Hand nicht kam, da schlummerte und feierte die Staatsmaschinerie.

Mir sagte einmal ein hochgestellter russischer Staatsbeamter, den ich über einen Punkt der russischen Statistik befragte, er könne mir auf meine Frage keine Antwort geben, auch kenne er nur Einen in ganz Rußland, der diese Antwort zu geben im Stande sei: das wäre der Kaiser; der Kaiser allein wisse genau über alle russischen Angelegenheiten die Wahrheit, oder wenigstens er allein könne genau die Wahrheit wissen, da in ihm sich alle Fäden concentrirten, und da bei ihm allein alle die Quellen, aus denen man die Statistik Rußlands schöpfen müsse, zusammen flössen.

Kaiser Nikolaus nannte sich mit vollem Recht einen Selbstherrscher, ein Name, auf den er stolz war, der ihm zugleich aber auch erstaunlich viel Sorge und Last aufbürdete.

Nichts ging in Rußland von selbst. Der Kaiser war die riesenmäßige Triebfeder, die jedes Rad in Schwung setzte. So wie diese Triebfeder an Energie verlor, so gerieth auch das Uebrige in Stocken. Er mußte jeden Tag die Uhr aufziehen und mußte selbst alle seine Staatshausgeräthe stündlich putzen und ausstäuben. Daher diese täglichen und nie endenden Revuen seiner Truppen, daher diese fortwährenden Inspektionen aller Staats-Anstalten. Daher diese unermüdlichen Fahrten auf einspännigem Schlitten oder auf einer kleinen Droschke, mit der er wie ein Blitz durch die Straßen seiner Residenz eilte, und bald dieses, bald jenes Etablissement, bald diesen, bald jenen Privatmann oder Beamten mit seinem Besuche überraschte. – Daher sein stets waches Auge, mit dem er unterwegs Alles, selbst das Geringfügigste beachtete, den Officier, der seinen Hut nicht vorschriftsmäßig sitzen hatte, und der einen Knopf zu wenig an seiner Uniform zuknöpfte, den Professor, der gegen die Gesetze an einem Festtage der Universität sich öffentlich in gewöhnlicher Civilkleidung statt in seiner vorgeschriebenen Beamten-Uniform zeigte, und den der Kaiser wohl gar selbst auf seine Droschke nahm, um ihn auf die Hauptwache zu bringen, oder der doch auf seinen persönlich gegebenen Befehl arretirt wurde.

Wie der Kaiser alle seine Untergebenen stets im Auge behielt, so umgekehrt hatten freilich auch alle seine Beamten ihn fortwährend im Auge und blickten und horchten mit gespannter Aufmerksamkeit nach ihm hinüber, um seine Bewegungen und Pläne auszuspähen und zu erfahren, was er von ihnen wohl denken und was er in Bezug auf sie etwa vorhaben möchte.

Dem Kaiser Nikolaus war jenes Ueberraschungssystem am Ende ganz und gar zur Gewohnheit geworden, und er wendete es dann selbst auf seine Reisen in’s Ausland an, wo er auch oft eben so unerwartet erschienen und wieder verschwunden ist. Er setzte sich plötzlich in ein kleines Schiff, fuhr nach Schweden hinüber und umarmte den alten König dieses Nachbarlandes, der eher den Einsturz des Himmels als den Besuch des Kaisers von Rußland erwartet hätte. In ein paar Mal 24 Stunden war er wieder in seiner Residenz zurück. So unerwartet wie in Stockholm erschien er in Wien, wohin er von Böhmen aus in wenigen Stunden eilte, um dort einige fürstliche Personen zu besuchen.

Ich saß einst in Berlin in einem freundlichen Kaffeehause unter den Linden, westeuropäische Zeitungen lesend. Ich las von Guizot und Thiers und dachte nicht mit einem Gedanken an den Beherrscher des Nordens. Ich blickte vom Blatte auf, und welche imposante Figur rauschte ganz dicht neben mir vorüber? Es war der Kaiser Nikolaus von Rußland, der allmächtige Czar, der zu Fuß aus seinem Hotel kam, um einen preußischen Prinzen zu besuchen, dann auf der Eisenbahn auf einige Augenblicke zum Könige, einem Schwager, zu fahren, und von da auf Windesflügeln nach England zu eilen. In England war man in der gespanntesten Erwartung, ob er kommen würde oder nicht. Niemand war darüber im Klaren, die Königin und Prinz Albert in der peinlichsten Ungewißheit. Und als er wirklich erschienen, war er auch bald so rasch wieder fort, daß John Bull kaum Zeit genug hatte, sich zu besinnen, wie er den großen Potentaten aufnehmen solle. Derselbe hatte bereits Holland und Deutschland durchflogen, und war schon in seiner nordischen Residenz wieder angelangt, während manche langsame deutsche Journale sich noch darüber stritten, auf welchem Wege „Er“ wohl wieder in sein Reich zurückkehren möchte.

Ich sage, zum Theil mochten diese blitzschnellen Ueberraschungsreisen nur eine Gewohnheit sein, die der Kaiser als Autokrat in seinem eigenen Lande angenommen hatte, und die er dann auf’s Ausland übertrug. Zum Theil aber war auch dabei Berechnung und Politik. Der Kaiser hatte manche persönliche Feinde im Auslande, und es war nicht immer gut, daß sie, sowie auch das ganze Publicum, zu genau von der Zeit und Stunde, zu welcher er auf jeder Station einzutreffen gedachte, unterrichtet seien.

Die vielseitige Thätigkeit des Kaisers Nikolaus ist mir immer ein wahres Wunder gewesen. Er war seiner Zeit der beschäftigtste aller Potentaten von Europa. Der hundertste Theil von seinen Verrichtungen, so scheint es, wäre hinreichend gewesen, einem gewöhnlichen Menschen vollauf zu thun zu geben.

Es mußte eine eiserne Constitution, ein stählerner Wille, eine unerschöpfliche Kraft dazu gehören, um den mannigfaltigen Ansprüchen zu genügen, welche man an ihn machte, oder die er sich selber auflud. Die beste Idee wird man davon bekommen, wenn man bedenkt, wie viel das Wort, das Ludwig XIV. aussprach, und das in vollem Maße auf den Beherrscher Rußlands paßte, sagen will, das berühmte Wort: „L’état c’est moi.“

Nach einer in Rußland selbst angefertigten Aufzählung hat der Kaiser Nikolaus blos in den ersten 6½ Jahren seiner Regierung nicht weniger als 5073 Gesetze (Ukase, Manifeste, Instructionen) erlassen. Dies giebt also für jedes Jahr beinahe tausend Erlasse, oder für jeden Tag drei, und unter diesen Erlassen waren viele äußerst paragraphenreich.[1] Bedenkt man nun, daß jedes Gesetz eine Reihe von Bestimmungen enthielt, durch welche Tausende von Fällen entschieden und regulirt, Millionen von Menschen gebunden werden sollten, so kann man ermessen, welche Masse von Vorarbeiten dazu erforderlich war. Man lese nur einmal die Verhandlungen des englischen Parlaments und die Discussionen, Interpretationen und Commentationen der englischen Journale zu den vorgeschlagenen Gesetzen, um zu begreifen, wie vielseitig solche Gesetze sind, in denen jedes Wörtchen erwogen werden muß, und man wundere sich nun über die Thätigkeit eines Selbstherrschers, in dessen Kopfe und Cabinete Alles das vor sich gehen soll, was dort im Parlamente, in zahllosen Vereinen und den Journalen vor sich geht.

[330] Allerdings ging der Impuls und die Idee zu solchen Gesetzen nicht immer vom Kaiser selber aus. Sie wurden ihm oft schon fertig von seinen Ministern vorgelegt, und er hatte sie nur durchzugehen und zu bestätigen. Allein schon dies war eine sehr mühevolle Arbeit. Und daß der Kaiser Nikolaus diese Arbeit in der Regel wirklich über sich nahm, geht daraus hervor, daß am Rande vieler Ukase sich seine eigenhändigen Bemerkungen und Rothstift-Correcturen befinden.

Wie die ganze Gesetzgebung, so ruhten auch alle Geschäfte der Regierung und Verwaltung in seinen Händen. Er bedurfte dazu einer Menge von Gehülfen: Minister, Generalgouverneure, Gouverneure, Hofbeamte, Gesandte und unzählige andere Beamte, deren Posten unmittelbar durch ihn besetzt wurden, und zu denen er sich bald dieses, bald jenes Individuum ausersah. Man hörte oft in Petersburg Aeußerungen wie diese: „Auf diesen Mann hat der Kaiser ein Auge geworfen, er hat ihn längst im Stillen zu seinem Minister des Innern bestimmt.“ – Zuweilen versicherte man: „Jenen Mann zieht sich der Kaiser zu seinem zukünftigen Kriegsminister heran.“ – Solche zu hohen Posten im voraus designirte Männer fand man dort immer mehrere. Wenn man gerade nicht des Kaisers Namen nennen wollte, so sagte man dann von solchen Personen: „Der wird noch einmal hoch gehen. Er ist zu großen Dingen bestimmt.“ Ja, der Kaiser Nikolaus sprach selbst oft zu solchen Leuten folgendermaßen: „Peter Alexejewitsch, ich glaube, Du wirst rasch avanciren, Du wirst, wie mir es scheint, noch einmal eine bedeutende Carriere machen,“ – indem es dabei den Anschein hatte, als wolle er selber zur Beförderung dieser Carriere nichts beitragen, als steige vielmehr jener Mann durch eigenes Verdienst. Oft hatte er schon ganz junge Leute, die ihm besonders tüchtig erschienen, im Kopfe und machte sich einen Lebensplan oder eine Carriere für sie. Er ließ sie dann durch eine Art von Schule gehen, um sie zu diesem oder jenem hohen Posten, den er für sie reservirte, zu befähigen. Er ließ sie von unten auf dienen, ließ sie, wenn sie sich gelegentlich im polnischen oder kaukasischen Kriege oder auf der Parade auszeichneten, zu Obersten und Generalen avanciren, führte sie dann, wenn sie z. B. Minister des Innern oder des Unterrichts werden sollten, zum Civildienst über, machte sie zu Gehülfen oder Adjuncten in dem einen oder andern Ministerium, und schickte sie dann „mit außerordentlichen Aufträgen“ in verschiedene Provinzen des Reichs, damit er erfahre, „quid valeant humeri“.

Bewährten sie sich, so übertrug er ihnen dann wohl auf ein oder zwei Jahre die Verwaltung eines Gouvernements oder eines Generalgouvernements, bald in diesem, bald in jenem Theile des Reichs, damit sie das ganze Land in seinen Theilen kennen lernten und sich zu ihrem Posten befähigten. – Darauf stellte er einen solchen Mann dem bisherigen Minister als Viceminister zur Seite und nach einiger Zeit schrieb er an diesen einen Brief: „Mein lieber Dimitri P…witsch. Da die lange Reihe von Jahren, die Ihr mir dient, eine Ruhe heischt, die Ihr Euch schon lange wünscht, so – seid Ihr hiermit in Gnaden entlassen etc. etc.“ – und der neue nun fertige Minister trat an des Verabschiedeten Stelle. –

Suchte der Kaiser einen Erzieher für einen seiner Prinzen, so sagte er Niemandem etwas davon, wen er wohl wählen dürfte, auch fragte Niemand darnach. „Ne iswestno!“ (Es ist noch nicht bekannt) hieß es in Petersburg. Es lag noch ein tiefes Geheimniß darüber. Im Herzen des Kaisers hatte aber vielleicht bereits schon ein Funke Feuer gefangen. Er kannte längst einen Officier in seiner Umgebung, den er redlich und pünktlich seine Pflicht erfüllen sah. Diesem gab er dann zu Zeiten einige bedeutungsvolle Winke, indem er ihn mit kurzen Worten lobte und encouragirte: „Gut gemacht, Capitain!“ – „Bravo!“ –„Ich bin zufrieden!“ – „Fahre so fort, und Du wirst höher steigen!“

Wenn der Kaiser seine Beobachtungen und Einleitungen beendigt hatte, ging es dann oft sehr rasch. Plötzlich wurde der Capitain zum Obersten oder General avancirt und nicht lange nachher zum Leidwesen aller älteren Officiere zum Prinzen-Erzieher berufen. Der Mann erschrak selbst darüber und erklärte offenherzig, daß er zu einem so wichtigen Amte gar nicht die Kräfte in sich fühle. „Ich kenne Dich besser,“ antwortete der Kaiser. „Ich weiß, Du bist tauglich. Ueberlaß Dich mir.“

Nicht nur seine Minister und hohen Reichsbeamten, sondern auch alle, selbst die niedrigsten Officiersgrade in seiner Armee empfingen unmittelbar vom Kaiser ihre Bestallung und Beförderung. Bei uns drehen sich vielfache secundäre und tertiäre Gewalten zwischen der im Mittelpunkte stehenden Sonne und den niederen Beamtengraden. In Rußland fallen die Strahlen jener Sonne überall viel directer in die Behausung selbst der kleinsten Beamten. Daher rühmen sich denn auch dort alle immer einer besonderen Freundschaft mit dem Urquell aller Gewalt, als ob sie in ganz naher Vertraulichkeit mit dem Kaiser ständen. Der Schulmeister einer entlegenen Gouvernementsstadt sogar spricht, sich brüstend und sehr selbstgefällig: „Der Kaiser hat die Gnade gehabt, meinen Sohn zum Major zu machen,“ – als hätte der Kaiser es blos aus besonderer Dienstfertigkeit für ihn, den alten Papaschulmeister, gethan.

Sogar die Hofsänger seiner Capelle erwählte der Kaiser Nikolaus nicht selten selbst. Die beständige Selbstthätigkeit der russischen Autokraten bewirkt es, daß Andere um so lasser sind, und daß sich ihnen nichts von selbst darbietet. Wer weiß, wie viele hundert Male schon der erste Bassist der kaiserlichen Hofcapelle, als er noch gemeiner Uhlan war, seinem Officier mit einer erschütternden Baßstimme sein „Hurrah“ zugerufen haben mochte, ohne daß es deswegen diesem Officiere eingefallen wäre, ihn für etwas Anderes als für die Pike tauglich zu halten. Der Kaiser Nikolaus mußte ihn erst selbst eines Tages in dem Garten von Zarskoje-Selo auffinden und ihn fragen: „Sdarów, Ulan?“, (Bist Du wohl, Uhlan?) und dieser ihm mit tiefer, volltönender und ergreifender Baßstimme zurückdonnern: „Sdarów, Wasche Welitschestwo“ (Wohl, Eure Majestät). Der Kaiser mußte erst selbst von diesem tiefen Basse frappirt werden, den Mann des Soldatendienstes entheben, ihn in die Musikschule schicken und sich den besten Bassisten seiner Capelle aus ihm bilden.

Man erwäge, sage ich, diese Facta, denke sich tausend ähnliche Facta, und stelle sich nun vor, welche außerordentliche Geschäftigkeit und unaufhörliche Spannung und Anstrengung ein solches Verfolgen aller Carrieren, ein solches Beobachten aller Beamten und Unterthanen, ihrer Anlagen, ihrer Tauglichkeit etc. voraussetzt. Der russische Kaiser mußte jeden seiner Diener suchen, während sich andern Königen, z. B. der Majestät von England, fast jeder Minister und Diener aufdrängt, oft selbst freilich ganz wider ihren Willen aufdrängt.

So wie der Kaiser seine Diener sich gewissermaßen alle selbst erzog und schulte und sie, so zu sagen, jeden Schritt auf ihrer Carriere an seiner eigenen Hand oder an seinem Gängelbande machen ließ, so controlirte er sie auch später noch, wenn sie an ihrem Posten standen, mit eigenen Augen. Neben der officiellen geheimen Polizei, die sein dazu bestelltes Polizeiministerium ausübte, leitete der Kaiser auch noch in eigener Person ein System geheimer Polizei, von der er selbst das Haupt oder der Mittelpunkt war. Er fuhr nicht nur, wie ich schon erwähnte, inspicirend und beobachtend in seiner Residenz herum, um nachzusehen, ob die Trottoirs rein gehalten wären, ob die Leute auf den Straßen nach Vorschrift gekleidet wären, ob auch Jemand gegen den Ukas auf dem Admiralitätsthurme stände, ob die Schildwachen nicht an ihrem Posten schliefen, – sondern er sandte auch oft aus seiner Privatkanzlei außerordentliche Emissäre in verschiedene Theile des Reichs aus, damit sie ihm über dieses oder jenes Individuum einen Augenzeugenbericht abstatten möchten. So gab es denn erstlich die gewöhnliche ordinäre Polizei, dann die extraordinäre Geheimpolizei, und endlich noch, um diese zu controliren, des Kaisers ganz versteckte Privat- und Cabinet-Polizei.

Unsere Könige geben als Regenten und Gesetzgeber nur die großen Impulse und verlassen sich darauf, daß diese Impulse dann, von anderen Zwischengewalten getragen, im Detail von selbst weiter wirken. Kaiser Nikolaus mußte nicht nur die großen Impulse geben, sondern auch noch bei jedem einzelnen Rädchen der Maschinerie selbst nachsehen, ob es seine Pflicht thue. Er war wie ein Anführer, der in jeder Schlacht die Pflichten eines Feldherrn und Taktikers mit denen eines Unterofficiers und einer Schildwache vereinigen soll. Es war mit dem Kaiser Nikolaus noch fast ebenso, wie zur Zeit Peter’s des Großen, der nicht nur selbst die Führung der Axt, des Bohrers und Hobels erlernte, sondern auch in Person den Richter und Bestrafer der Verbrecher spielte. –

[331] Da das Militärwesen des Kaisers Lieblingsfach war, so conferirte er natürlich mit keinem Minister so viel, wie mit dem Kriegsminister, und bei keiner Angelegenheit ging er so in alle Details ein, als in dieser. – Sein Auge – „l’oeil du Maître!“ – war hier auf eine bewundernswürdige Weise eingeübt, und man sagte in Petersburg, bei einer Parade entgehe dem Kaiser Nikolaus kein Knopf eines Soldaten. Fast täglich hielt er selbst die Revue einer Partie seiner Lieblings-Regimenter ab, und häufig stellte er im Laufe des Jahres ganz große Revuen an, bei denen er oft ganze Armeen an seinen scharf kritisirenden Blicken vorüberziehen ließ. Die Könige von Preußen haben sich zwar zuweilen eben so viel mit ihren Landtruppen zu thun gemacht, wie die Kaiser von Rußland mit den ihrigen. Allein sie haben dann doch wenigstens von Seiten des Meeres Ruhe gehabt. Nicht so der Kaiser Nikolaus, bei dem die Bildung einer großen Flotte eine Lieblingsidee war. Er hatte daher auf den salzigen Wogen eben so viel zu inspiciren und zu revidiren, wie auf dem Festlande, und er überwand häufig Sturm und Seekrankheit, um nachzusehen, wie die Sachen auf dem Wasser ständen.

Auch die Kirche, mit deren Angelegenheiten sich so viele andere Fürsten nicht befassen, haben die russischen Kaiser auf ihre eigenen Schultern genommen, indem sie sich auch auf diesem Gebiete zu Autokraten machten. Sogar jeder Pope wird daher von dem Kaiser an seinen Posten gestellt, und so wie alle Ukase, so muß er auch alle Bullen selbst durchdenken und unterschreiben, was man in andern Ländern doch den Päpsten, Synoden und Consistorien überläßt.

Die russischen Beamten verstehen sich in der Regel nur auf das Detail-Regiment. Sie haben nicht das Talent zu generalisiren und die leitenden Ideen und den Geist einer Maßregel zu ergreifen und bei der Ausführung zu wahren. Diese nationale Eigenheit seiner russischen Rathgeber vermehrte die Geschäfte des Kaisers Nikolaus noch in hohem Grade, so daß er sich oft nicht zu retten wußte vor allen den kleinen minutiösen Angelegenheiten und Fällen, die seine Minister ihm zur Entscheidung vorbrachten. Ein russischer Herr, der den Kaiser Alexander kannte, sagte mir in dieser Beziehung, daß dieser Kaiser von der Conferenz mit seinen russischen Ministern immer höchst mißgestimmt zurückgehrt sei, weil sie ihm eine zahllose Menge von Kleinigkeiten und eine solche Masse von Details und einzelnen Fällen vorgelegt hätten, daß er des Stoffs zuweilen nicht hätte mächtig werden können. Die polnischen Minister dagegen hätten es viel besser verstanden mit ihm zu arbeiten. Sie hätten seine Meinung und Idee leichter gefaßt, wären überhaupt politisch durchgebildeter gewesen und hätten den Kaiser nicht mit so vielen Bagatellen behelligt. Daher sei Alexander auch immer heiter und vergnügt aus den Conferenzen mit den Polen hervorgegangen.

Außer diesem Allen hatte nun der Kaiser Nikolaus noch das Haus voll von Kindern, Söhnen, Töchtern und Schwiegersöhnen, Brüdern, Schwägerinnen und Nichten. Da er in weit höherem Grade das Haupt seiner Familie war, als ein simpler Privatmann, so gaben ihm auch schon die Angelegenheiten seines Hauses, die er, wie die Staatsaffairen, in allen ihren Details selbst lenkte und leitete, mehr zu thun. Er hat im Innern seines Hauses Alles verrichtet, was die gewöhnlichsten Familienvater zu thun pflegen. Er hat seine Kinder in Person gestraft, er hat sich bei Nacht selbst wie eine sorgsame Mutter vom Lager erhoben und ihren Schlaf belauscht. Er hat seine Söhne selbst spät Abends besucht, um nachzusehen, ob sie zur festgesetzten Zeit zu Bette gegangen waren, und ob ihre Gouverneure vorschriftsmäßig bei ihnen schliefen.

Hört man bei aller dieser ganzen Masse von Geschäften, die auf den Schultern des Kaisers lasteten, nun noch von neuen Erfindungen in Petersburg, deren Urheber daraus hofften, daß der Kaiser einmal zu ihnen kommen würde, um von ihren Kunstprodukten Notiz zu nehmen, – hört man ferner, daß der Kaiser sich zuletzt entschloß, sogar auch noch die Pässe seiner Unterthanen in’s Ausland selbst auszustellen und zu unterschreiben, – bedenkt man, daß er es nicht selten für seine Pflicht hielt, einige seiner vornehmen Unterthanen mit Artigkeitsbesuchen zu beehren, – daß er oft bei alten kranken Damen vorfuhr, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, – daß er um Ostern sogar die Schildwachen seines Palastes um ihr Wohlsein befragte und ein paar Dutzend von ihnen, einem alten Herkommen gemäß, abküßte, – erinnert man sich endlich, wie viele Pflichten ihm neben der Regierung und Leitung seines Staates auch das bloße leere Hofceremoniell auferlegte, wie viele Gesandten europäischer und asiatischer Fürsten er beständig zu empfangen hatte, – erinnert man sich, daß er sehr oft von den in seinem Lande anwesenden „Fremden von Distinction“ Notiz nahm und sie zuweilen selbst auf das Eigenthümliche seines Volks und Reichs aufmerksam machte, – ja, daß er mitunter sogar aus fernen Gegenden seines Reichs herangereiste Bauern in den Zimmern seines Palastes herumgeführt hat, – erwägt man, daß er sich auch von allen Ereignissen in entfernten Ländern und Welttheilen unterrichtete, daß er mit aufmerksamem Auge die Politik aller Könige und Fürsten Europa’s, Asiens und Afrika’s überwachte, und daß er einige Beamte in seiner Nähe hatte, welche ihm über die Tagesereignisse aus den Zeitungen berichten mußten, ja, daß er sogar von einzelnen Journalartikeln oft selbst specielle Kenntniß nahm, – vergißt man endlich nicht, daß er nicht nur selbst zuweilen brillante Hoffeste veranstaltete, an denen er den lebhaftesten persönlichen Antheil nahm, und bei denen immer die wichtigste und schwierigste Rolle ihm, dem Wirthe, zufiel, – daß er auf diesen Hoffesten selbst eifrig tanzte, – daß er, wenn es Maskenbälle waren, sich auch einen Domino anlegte, daß er auch oft die Tanz- und Freudenfeste seiner Großen und seines Volks besuchte, daß er häufiger als irgend ein anderer europäischer Fürst Einladungen zu den Bällen bei seinen reichen Unterthanen annahm, – daß er nicht versäumte, sich bei den „Gulanien“ (Spazierfahrten), welche um Ostern und bei andern Gelegenheiten in den russischen Städten statt zu finden pflegen, öffentlich zu zeigen und unter die Leute zu mischen, – daß er nicht vergaß, bei allen großen Nationalfesten und öffentlichen Gelegenheiten aus allen Ständen und Volksclassen Einige auszusuchen, um an sie ein freundliches Wort zu richten; – überschaut man, sage ich, dies Alles: so bekommt man in der That das Bild von einer riesenhaften Thätigkeit, die kaum irgendwo wieder ihres Gleichen zu finden scheint; – und man fragt erstaunt, wie es möglich war, daß Jemand dreißig Jahre hindurch ein solches physische wie moralische Kräfte auf gleiche Weise aufreibendes Leben ertragen konnte.

Hätte Kaiser Nikolaus auf seine Autokratenwürde verzichten wollen oder können, so hätte er ein viel sorgenloseres, genußreicheres und bequemeres Leben führen mögen, als er es auf seiner schwindelnden Höhe konnte, wo er, um sich auf dem Platze zu behaupten, in ein Meer von rastloser Arbeit, Unruhe und Sorgen gestürzt war.

Er gewährte das Schauspiel eines Schiffers, der in jedem Augenblicke wachen mußte, der das Ruder nicht einen Moment aus der Hand geben durfte, der alle Segel und Taue stets in Bereitschaft und in Spannung erhalten mußte, weil in jeder Minute der Fahrlässigkeit der Sturm losbrechen konnte.

Zum Theil, sage ich, liegt die Ueberspannung der Thätigkeit der Czaren in der Natur ihrer autokratischen Gewalt und ist aus dieser von selbst hervorgegangen. Zum Theil aber ist ihnen der Impuls dazu von jenem großen Muster und Beispiele der Czaren, von Peter dem Großen, in dessen Bahnen sich Alles in Rußland bewegt, und in dessen Fußstapfen noch jetzt, selbst ohne daß sie es wollen und wissen, die Nikolaus und Alexander und Paul wandeln, gegeben worden. [2]



  1. So viele Gesetze, wie der Kaiser Nikolaus, hat noch kein russischer Herrscher erlassen, wie aus folgender Tabelle ersichtlich ist, die in Rußland selbst angefertigt wurde und dem „Swod Sakannow“ (Gesetz-Codex) entnommen ist.
    Der Czar Alexei gab während einer Regierung
    von 27 Jahren 648 Ukase, jedes Jahr circa 24.
    Der Czar Feodor
    295      46.
    Die Czaren Iwan und Peter gemeinschaftlich 13¾
    623      39.
    Der Czar Peter I. 29
    3110      100.
    Die Czarin Katharina I. 22/3
    428      160.
    Der Czar Peter II. 21/3
    428      180.
    Die Czarin Anna 10¾
    2767      260.
    Die Czarin Elisabeth 20
    3110      125.
    Der Czar Peter III. ½
    192      384.
    Die Czarin Katharina II. 33½
    5957      180.
    Der Czar Alexander I. 242/3
    11,119      450.
    Der Czar Nikolaus während der ersten 61/2
    5073      850.

    Die Ukasenfluth ist also in einer viel größeren Proportion angeschwollen als die Größe des Reichs und die Zahl seiner Einwohner. Die Zahl der Einwohner wuchs von Alexei’s Zeiten her von 5 auf 60 Millionen oder auf das Zwölffache, die Zahl der jährlich publicirten Ukase von 24 auf 850, oder auf das Fünfunddreißigfache.

  2. Wie Friedrich der Große das Ideal der preußischen Regenten, so ist Peter der Große das Ideal der russischen Kaiser, und mit ihm verglichen zu werden, haben die meisten seiner Nachfolger ambitionirt. Katharina stellte sich immer Petern zur Seite und betrachtete sich als die Vollenderin dessen, was er angefangen hatte. Auch Nikolaus, glaube ich, hielt sich für eine neue Auflage Peter’s des Großen für das Jahrhundert. Deshalb hörte er auch Peter’s Lob gern, besonders wenn es von Anspielungen und Vergleichen mit ihm selber begleitet war. Ich traf im Innern von Rußland einen russischen Historiographen, der sich mit einer Geschichte Peter’s des Großen beschäftigte. Ich weiß nicht, ob er sie publicirt hat, aber ich glaube, das es dabei mehr auf einen Panegyrikus für den jetzt lebenden, als für den längst verstorbenen Kaiser abgesehen war.