Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen/Die Russen in Transkaukasien und ihr Werk
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Die Russen in Transkaukasien und ihr Werk.
Letzte Bemerken über das Land, sein Klima, seine Vegetation. Bergwerke. Die Thätigkeit der Russen. Gegensatz zwischen der Thätigkeit der Russen im Kaukasus und der der Engländer in Indien. Erfolge der letzteren in materieller und intellektueller Hinsicht. Einige Details. Grund dieser Verschiedenheit. Die Raskolniks, deutsche Kolonisten. Militärdienst. Bevölkerung von Transkaukasien. Mohammedaner. Ihre bevorzugte Stellung. Die Katholiken befinden sich in steter Verfolgung, dürfen nicht einmal in Tiflis eine hl. Messe lesen. Die schismatischen Kirchen. Die georgische Kirche ist von der russischen getrennt. Herrschaft der Regierung über die Kirche. Die Heilige Synode. Gefahren durch die herabgewürdigte Stellung der russischen Kirche. Widerstand der armenischen Kirche; die Armenier werden die Polen des Südens sein. Transkaukasien ist nur eine militärische Kolonie.
Ehe wir den Reisebericht fortsetzen, sollen einige Bemerkungen über das Land folgen und unsere Eindrücke von seiner Bevölkerung niedergelegt werden.
Zunächst das Land.
Im ganzen ist Transkaukasien ein bezauberndes Land. Die Berge bieten zuweilen majestätische Konturen, deren Ansicht aber je nach der Abdachung wechselt. Das Thal des Rion bildet eine Art Trichter, wo sich die Wolken des schwarzen Meeres verdichten können; es fällt daselbst viel Regen, weshalb die Vegetation auch üppig ist.
Dagegen findet man an dem kaspischen Abhang wenig Wasser; der Baumwuchs ist deshalb daselbst auch spärlich. Man findet aus demselben Grunde auch dort ziemlich viel Steppen, die jedoch zum großen Teile in fruchtbares Land umgewandelt werden könnten, wenn ein ordentliches Bewässerungssystem geschaffen würde.
Dieser kaspische Abhang ist sehr den Ostwinden ausgesetzt, die von den steinigen Steppen Transkaspiens herüberwehen und alles vertrocknen und lebensunfähig machen. Diese Winde überschreiten zuweilen die Suramkette und lassen ihren Einfluß in Imereth und Mingrelien noch empfinden, wie auch wir ihn auf der Reise von Kutais nach Tiflis zu spüren Gelegenheit hatten.
Transkaukasien hat ein kontinentales Klima. Ungeachtet der bedeutenden Sommerhitze hält das Klima so ziemlich die Mitte zwischen dem des Kaukasus und dem der Schweiz; aber der Abstand zwischen den äußersten Temperaturpunkten ist in Transkaukasien doch viel höher. Je nach den einzelnen Orten schwankt er freilich, ist aber immerhin bedeutend größer als in dem westlichen Europa. In Eriwan, wo die mittlere Temperatur 10,8 Grad Celsius beträgt, erreicht dieser Abstand eine schreckliche Höhe, während er sonst doch erträglicher ist.
Auch die Schneegrenze wechselt häufig. Während sie auf dem Nordabhang des Kaukasus durch eine seltene Anomalie oft höher liegt als auf dem südlichen, schwankt sie auch da zwischen 2900 und 35OO Metern. Wie schon erwähnt, beginnt die Grenze des ewigen Schnees auf dem Ararat, dank dessen isolierter Lage und seiner vulkanischen Natur, erst in einer Höhe von 4000 Metern.
Ganz natürlich ist es auch daher, daß die Vegetation daselbst viel höher hinaufreicht als in den Alpen. Der Militärstraße von Georgien entlang findet man die Buche noch in einer Höhe von 2500 Metern; in derselben Höhe wächst auch noch die Gerste, während man in einer Höhe von 1000 Metern noch den Weinstock findet. Die besten Gewächse von Kakhetie finden sich in einer Höhe von 750 Metern in dem Thale von Alasan.
Die verschiedenartigen Kulturen von Transkaukasien sind wiederholt erwähnt worden, weshalb darauf nicht mehr zurückgekommen zu werden braucht. Nicht vergessen darf aber der Maulbeerbaum und die Zucht der Seidenraupen werden, weil diese Beschäftigung bedeutend ist. Transkaukasien führt jährlich wenigstens 400000 Kilogramm roher Seide aus.
Die Bergwerke, die sich zuweilen finden, könnten großartige Erträge abwerfen; aber mit Ausnahme der Steinkohlengruben in Tkwibuli und einiger anderer Bergwerke in der Umgegend von Tiflis und Elisabethpol ist kein einziges im Betrieb.
Was die Menschen und ihre Beschäftigung angeht, so kann ich natürlich über die Russen und ihre Thätigkeit im Kaukasus kein streng wissenschaftliches Urteil abgeben. Hier werden lediglich die Eindrücke eines Reisenden wiedergegeben, der mit seinen eigenen Augen verschiedene Systeme gesehen hat, der aber auch zugleich gesucht hat zu beobachten und sich von den Gegensätzen Rechenschaft zu geben. Um diese Eindrücke zu ordnen, muß man verallgemeinern, und dies ist schwer, wenn man Mißgriffe vermeiden will. Ich beschränke mich deshalb lediglich auf das Mitteilen der bloßen Thatsachen und überlasse dem Leser die Kritik.
Sicherlich ist die gegenwärtige Lage Transkaukasiens derjenigen unter seinen eingeborenen Fürsten weit vorzuziehen; das Leben der Bewohner ist sicher,[1] die Rechtspflege geordnet, Erpressungen kommen selten vor.
Man könnte freilich noch viel mehr erwarten seit der Besitzergreifung durch Rußland und muß auch zugleich staunen, daß so manche Erwerbsquellen des Landes nicht benutzt werden.
Wenn man von Transkaukasien aus nach Persien oder der Türkei reist, findet man den Gegensatz für Rußland günstig; hat man aber die Thätigkeit der Engländer in Indien gesehen, so muß man sich gestehen, daß die Russen noch sehr weit zurück sind.
Man sollte glauben, daß die Russen, die doch schon an den Grenzen des Landes wohnten, mehr Erfolge zu verzeichnen haben müßten als die Engländer in dem so entfernten Indien. Denn zunächst ist das Zahlenverhältnis zwischen den Eroberern und Unterjochten auf russischer Seite entschieden günstiger; dann muß man aber auch erwägen, daß die Engländer in Indien mit ganz fremden, ihnen unbekannten Völkerschaften zu thun hatten, über die sie zunächst nur einen indirekten Einfluß ausüben konnten durch Übernahme des Protektorates. Alles dies traf aber bei den Russen nicht zu.
Man könnte vielleicht einwenden, der Vergleich sei unzulässig, weil die Engländer Indien bereits besetzt hatten, ehe die Russen im Kaukasus Fuß faßten. Wenn man dies auch zugeben muß, so kann man andrerseits aber auch nicht leugnen, daß die Russen Tiflis schon seit dem Anfang dieses Jahrhunderts besitzen, und daß die englische Okkupation Indiens einen ganz andern Charakter der Verwaltung trug. Sie war vor 1857 eine Gesellschaft von Privatleuten, die Indische Handelsgesellschaft, die das Land beherrschte, und dieser Gesellschaft hat man oft den Vorwurf gemacht, das Land auszubeuten, ohne etwas für sein wohl zu thun. Sie beherrschte das Land mehr indirekt, als es jetzt durch die englische Regierung geschieht. Will man konsequent sein, so muß man doch zugeben, daß die soziale Thätigkeit Englands in Indien erst von dem Zeitpunkte an datiert, wo die „Indische Handelsgesellschaft“ ihre Rechte der englischen Krone übertrug. Und ganz davon abgesehen, wenn die „Indische Handelsgesellschaft“ die blühenden Zustände Indiens geschaffen hat durch das eigene Ansehen, so bleibt das englische Werk als das von Privatleuten um so bewunderungswürdiger, während aber auch der Gegensatz zu dem russischen um so schärfer hervortritt.
Betrachtet man die materielle Seite, so fällt einem bei einigen Städten des Kaukasus ein Pariser Anstrich auf; derselbe besteht aber zum größten Teile in Kaffeehäusern, wo gleichzeitig Konzert stattfindet (Tingeltangel) und Frisierbuden; von ernsthaften Einrichtungen findet sich selten eine Spur.
Das Innere des Landes zeigt wesentlich dasselbe Aussehen wie vor hundert Jahren; wohl wird es von einigen Straßen durchzogen, die aber mehr allein, laufenden Adern gleichen. Das übrige Straßennetz muß noch geschaffen werden, und gewöhnlich ist das Pferd noch das beste Verkehrsmittel. Der Handel hat sich schlecht entwickelt schon aus diesem Grunde, aber auch deshalb, weil sowohl Absatzgebiete wie auch die nötigen Anregungen fehlen. Der größte Teil einer außerordentlich fruchtbaren Gegend bleibt unbekannt und die Bewohner daher arm.
Von Indien kann man gerade das Gegenteil behaupten; dort wird keine einzige Hilfsquelle, die von der Natur geboten wird, verschmäht. Die wichtigsten Arbeiten für das öffentliche wohl werden dort mit Leichtigkeit und Schnelligkeit ausgeführt. Die Verbindungswege im Innern sind ausgezeichnet, ganz abgesehen von dem bedeutenden Eisenbahnnetze. Die Poststraßen, die wir dort benützten, sind in vorzüglichem Zustande. Der Postdienst wird mit großer Pünktlichkeit erfüllt, und dabei hat der Reisende weder die Plackereien mit der Polizei noch die ewigen Verspätungen zu fürchten wie in Transkaukasien.
Der Handel ist in Indien bedeutend entfaltet, und alles deutet auf eine anhaltende Thätigkeit hin. Der Ackerbau empfängt dort gar manche Anregungen und ist auch schon weit vorgeschritten, obgleich im Punkte des Bewässerungssystems noch manches zu vollenden ist.
In intellektueller und moralischer Hinsicht ist der Gegensatz noch bedeutend größer. Die geistige Entwickelung des Mittelstandes hat sich in Indien sehr rasch entfaltet, so daß man in der intellektuellen Bildung die Niedrigerstehenden leicht erkennt. Wenn auch der öffentliche Unterricht ziemlich im argen liegt, so trägt daran die große Bevölkerungszahl die Schuld, die über 230 000 000 beträgt, ferner auch die in der sozialen Verfassung des Landes begründeten Schwierigkeiten. England hat auch seine Schuldigkeit in diesem Punkte gethan und kein wünschenswertes Mittel unversucht gelassen.
Rußland hat dagegen im Kaukasus kaum angefangen, sich ernstlich mit dem Unterrichtswesen zu befassen, weshalb auch nur eine beschränkte Anzahl von Menschen einen Vorteil daraus hat ziehen können. Die große Masse der Einwohner ist sehr ungebildet.
Ich glaube, der Grund dieser Verschiedenheit ist besonders in dem Unterschiede der geistigen Anlagen dieser beiden Rassen zu suchen.
Die englische Regierung in Indien ist, wie schon erwähnt, vorherrschend eine bürgerliche und politische.
kann.
Die russische Regierung dagegen ist hauptsächlich militärischen Gepräges. Die ganze Sorge erstreckt sich deshalb auch auf die militärische Seite. Die Straßen dienen fast alle strategischen Zwecken, und auch nur solche Straßen werden für wert befunden, unterhalten zu werden. Die Russen unterhalten im Kaukasus ein Heer, dessen Zahl die der europäischen Truppen in Indien bedeutend übersteigt.[2] Der Militäretat kommt in erster Linie bei Rußland in Betracht und verschlingt nicht bloß alle Einkünfte, sondern ruft auch beständig ein Defizit hervor. Unter solchen Umständen ist es eigentlich selbstverständlich, daß Rußland sehr wenig für die Entwickelung thun kann.[3]
Dennoch könnte die Angelegenheit der militärischen Ausgaben nur vorübergehend sein und auf das ganze System nur vorübergehend wirken. Meines Erachtens verhält es sich damit aber folgendermaßen:
Das russische Militärsystem zeigt erstaunliche Resultate, wenn es sich um ein eben erobertes, bis dahin unkultiviertes Land handelt. In diesem Falle bringen die stramme Zucht und die Übereinstimmung in den Befehlen eine gewisse Einheit in die Sache und wirken gleichsam Wunder. Als Beispiel mag die Thätigkeit Rußlands in Transkaspien angeführt werden.
Aber wenn das Land beruhigt und der Zivilisation erschlossen ist, weicht die militärische Verwaltung einer bürgerlichen. Diese ist zwar eine Zivilverwaltung, d. h. dem Namen nach, aber sie atmet den militärischen Geist und militärische Gewohnheiten, zudem ist sie auch bureaukratisch bis zum Exceß. Militarismus in Vereinigung mit Bureaukratismus bewirken eine kleinliche, ungeheuer lästig fallende Verwaltung.
Alle geistige Kraft ist erforderlich, um eine solche Maschine in Bewegung zu setzen. Die Thätigkeit der Bureaux ist im Kaukasus so ziemlich dieselbe wie an den Ufern der Newa.
Wenn schon die Bureaukratie in einem zivilisierten Lande als ein lästiger Hemmschuh in der Entwickelung empfunden wird, so muß dies um so mehr in einem unkultivierten Lande der Fall sein, wo sie den Fortschritt gänzlich unmöglich macht.
Der russische Beamte hat nicht wie der englische ein großes Feld, das seiner eigenen Anregung anheimgegeben ist, sondern er ist stets an ein bestimmtes Programm gebunden. Irgend eine Veränderung (und wenn es auch eine Verbesserung wäre) vorzuschlagen, wird kein russischer Beamte wagen, denn das hieße doch an der Unfehlbarkeit des Systems zweifeln, den Faden der Verwaltung abreißen und – last not least – sich eine böse Note zuziehen. Daher verliert der Beamte auch schließlich jedes Interesse und läßt nach, sich mit Problemen zu beschäftigen, deren Lösung ihm gar nicht zusteht, sondern verrichtet mechanisch seine gewohnte Arbeit, für die er schließlich nicht verantwortlich gemacht werden kann.
Auf diese Weise geht auch die Lust verloren, zu irgend einem Werke die Initiative zu ergreifen, die in einem halbzivilisirten Lande aber durchaus nicht unterschätzt werden darf.
Da nun einmal das System der direkten Annexionen in Rußland gut geheißen ist, so ist daran nicht leicht etwas zu ändern; auch ist die bureaukratische Maschine vielleicht noch das weniger schlechte Mittel der Regierung, das dem Zaren zur Verfügung steht.
Es ist bereits erwähnt worden, welch außerordentliche Verwaltungselemente England in Indien besitzt. Dazu kommt freilich für England noch der Vorteil, den es in der unvergleichlichen Überlegenheit der Europäer über den Hindu besitzt. Der Engländer verliert den Gedanken an diese Überlegenheit keinen Augenblick aus dem Gesichte und steigt niemals von seinem erhabenen Standpunkte herab. Dadurch ist es so weit gekommen, daß er von dem Hindu als Mitglied einer höherstehenden Kaste betrachtet wird, der die übrigen gehorchen müssen.
Diese Verwaltungsbeamten und dieser Vorteil fehlen indes gänzlich bei den Russen. Der russische Pöbel entbehrt zunächst der sozialen Erziehung, mehr noch als des Unterrichts. Bis heran ist er stets geführt worden. Aus ihm ist noch nie eine Gesellschaft hervorgegangen, die an ein freies Entscheiden in allgemeinen Anliegen gewöhnt wäre. Daher ist das russische Volk auch jetzt nicht imstande, eine genügende Anzahl Männer zu liefern, die einen großen persönlichen Einfluß auf andere Menschen auszuüben vermögen.
Was die besseren Kreise betrifft, so hat neben merkbaren Ausnahmen der Wechsel zwischen der Feudalbarbarei und einer feinen Zivilisation doch leider zu oft den oberflächlichen Elementen derselben genützt.
In Wirklichkeit kann Rußland unter seinen Zivilbeamten die ihm nötigen Menschen nicht finden, um ein kleines Land zu verwalten, wenn es jedem einen großen Teil der Verantwortung selbst überlassen wollte.
Übrigens sind die Bewohner des Kaukasus den Russen sehr ähnlich; nur ihr sozialer Zustand ist noch ein wenig tiefer als der der Russen. Die Mehrzahl sind Christen; ein empfindlicher Stolz bildet einen hervorragenden Zug ihres Charakters. Keine Kasteneinteilung im Sinne des Hindu bereitet sie vor, sich der Herrschaft einer Randvoll Leute zu fügen, die in irgend einer Weise mit magischer Gewalt regieren. Für eine einfache Verwaltung müßten aber außerordentlich geschickte Menschen und eine gute Regierungstradition vorhanden sein. Beide Bedingungen kann Rußland nicht erfüllen. Es findet auch vielleicht einen größeren Vorteil dabei, sein durchweg mittelmäßiges Beamtenpersonal mit dem fraglichen Zauber einer ungeheuren Bureaukratie zu umgeben.
Dadurch aber ist es auf dem Punkte, zu viel und schlecht zu regieren, angelangt. Die russische Regierung läßt alle Sachen in dem rohen Zustande und schafft sich dadurch das größte Hindernis für die gedeihliche Entwickelung des Landes. Selbst die Privatunternehmungen einzelner sind oft tausend Scherereien seitens der Verwaltung ausgesetzt. Einzelne energische Personen, die nach oben hin gute Verbindungen hatten, benützten diese und beseitigten so die genannten Schwierigkeiten; dadurch sind sie in ganz gute Verhältnisse gekommen, aber solche Fälle sind eben nur Ausnahmen, wodurch die Regel bestätigt wird. Die Fremden werden von der Polizei peinlich genau, ja argwöhnisch, überwacht; der Reisepaß ist ein unerläßlicher Talisman, den der Reisende sich aber in jeder Stadt beglaubigen lassen muß. Gesellschaftliche Unternehmungen in industrieller und technischer Einsicht sind ohne die Zustimmung der Regierung undenkbar. Aber durch diese Beschränkung geht in solchen Ländern der Assoziationsgeist, wo er noch nicht entwickelt ist, im Keime zu Grunde.
Trotzdem nimmt man gewöhnlich an, daß die Bewohner des Kaukasus der Regierung des Zaren sehr ergeben sind; selbstverständlich muß man hierbei nicht an die Bergbevölkerung denken, die sich kaum beherrschen läßt. Wenn die anderen Einwohner treu zu der Regierung des Zaren stehen, so erklärt sich dies eben aus dem Fortschritt, den das Land unter dieser Regierung gemacht hat, mag er auch noch so klein sein.
Die Bevölkerung ist dem Zaren dafür dankbar, daß er ihr eine feste Regierung gegeben hat. Das ist aber auch das einzig Merkbare. Was den sonstigen Fortschritt angeht, so haben die Bewohner davon keine Vorstellung und kommen deshalb auch nicht in die Lage, über das Fehlen desselben klagen zu können. Übrigens würde eine zivilisatorische Regierung mehr für das Wohl des Landes thun können, als für seine eigene Beliebtheit. Bemühungen, wie die der Engländer in Indien, würden vielleicht dazu beitragen, das Verhältnis zwischen der Bevölkerung und der Regierung erkalten zu lassen, denn jeder Eingriff in das Hergebrachte gefällt den Bewohnern des Kaukasus nicht.
Die russische Herrschaft scheint demnach im Kaukasus festen Fuß gefaßt zu haben; eine andere Frage aber ist die, ob der Kaukasus auch mit Rußland zu einem Ganzen verwächst.
Bei der Beantwortung dieser Frage muß man unterscheiden zwischen einer äußeren Assimilation und einem wirklichen Aufgehen der beiden in einander.
Die Engländer haben mit bewunderungswürdiger Klugheit in ihrer Verwaltung die eingeborenen Indier zu verwenden verstanden; und gerade diese zeigten überall große Fähigkeiten und liefen den europäischen Beamten fast den Rang ab. So giebt es also einen bedeutenden Teil des englischen Lebens, der sich dem Hindu aufdrängt; aber diese Assimilation ist äußerlich. Der Engländer wird immer die oberste Klasse bleiben und sich niemals mit dem Hindu auf gleichen Fuß stellen, weshalb er ihm auch den Zutritt zu den höheren Ämtern verweigert. Dieses Ausschließen kann dem Engländer nicht übel gedeutet werden, denn nur um diesen Preis kann er seine Herrschaft daselbst behaupten. Der Hindu nimmt also das eine und andere von dem Engländer an, aber er wird sich niemals mit ihm vermischen, sondern immer ein von diesem verschiedenes Volk bilden.
Rußland dagegen begünstigt mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln eine gegenseitige Durchdringung der russischen und einheimischen Elemente. Deshalb kommen auch möglichst viel Einheimische zu den mannigfaltigsten Ämtern, wie ihnen auch kein höheres Amt unerreichbar ist. Beispielsweise sei nur an das russische Heer erinnert. Rußland wendet dieses Prinzip mit einer wirklichen Kühnheit an, die noch mehr dazu beiträgt, die Idee seiner Allmacht in dem Geiste der unterworfenen Völker zu befestigen, und der Erfolg hat dieser Idee nicht gefehlt. Kaum war der tapfere Schamyl besiegt, so wurde einer seiner Söhne russischer Offizier. Nicht lange hatte Skoboleff Goek-Tep erstürmt, als die Tekkes, die kurz vorher seine erbitterten Gegner gewesen waren, höhere Offizierstellen in der russischen Armee erhielten und mit ihren Truppen in den Dienst des Zaren traten.
Durch solche Kunstgriffe hat Rußland viel Einfluß gewonnen; jedesmal wenn diese Einheimischen Zivilbeamten werden, gehen sie ganz in der großen Verwaltungmaschine auf, so daß man ihre Persönlichkeit im Vergleich zu früher gar nicht mehr wieder erkennt.
Die Kaukasier werden von den Russen als eine gleichstehende Rasse behandelt. Die mit dem größten Teile der Bevölkerung gemeinsame Religion legt auch den Heiraten zwischen den Russen und den Einheimischen kein Hindernis in den Weg.
In dem persönlichen Verkehr mit den Kaukasiern wissen die Russen leicht deren Sympathie zu erlangen. Statt der geringschätzenden Zurückhaltung der Engländer zeigen sie in den persönlichen Beziehungen ihr gutes Naturell und die Empfänglichkeit ihres Charakters. Einige Quälereien, einige Mißbräuche der Gewalt sind viel weniger als der englische Dünkel geeignet, die Einwohnerschaft zurückzustoßen, die eben von der Herrschaft der absoluten Willkür befreit worden ist.
Dennoch schreitet die Russifizierung sehr langsam vorwärts. Rußland kann nämlich infolge der erwähnten Umstände und des gebräuchlichen Systems keine Beamten in den Kaukasus schicken, die einen nachhaltigen und tiefen Einfluß ausüben.
Darum kann die Russifizierung nur auf dem langsamen Wege der Erziehung und der Vermischung der beiden Völkerschaften bewerkstelligt werden.
Aber Erziehung und Unterricht werden nur wenig berücksichtigt; eine zu große Eile, die russische Sprache in den Schulen einzuführen, würde wahrscheinlich die Vermischung noch länger hinausschieben. Diese Mischung ist bis jetzt auch noch ziemlich selten. Der Russe hat in seiner Heimat Raum genug, so daß er wenig Lust verspürt, als Kolonist in den Kaukasus zu ziehen. Die russische Bevölkerung im Kaukasus besteht darum hauptsächlich in den Beamten, die dazu noch häufig wechseln.
In Transkaukasien giebt es eine große Menge Dissidenten, die mit dem gemeinsamen Namen Raskolniks bezeichnet werden. Die Vorfahren dieser Leute sind wegen ihrer religiösen Ansicht von Rußland aus dorthin verbannt worden. Man schätzt die Raskolniks auf 30000 Seelen, in Wirklichkeit sind sie aber viel zahlreicher. Nach und nach vermischen sie sich mit den Eingeborenen; aber ihr Einfluß reicht nicht so weit, dieselben zu loyaler Anhänglichkeit an Rußland zu bewegen.
Auch giebt es in Transkaukasien einige Tausend Kolonisten deutschen Ursprungs. Diese werden wohl nie in echte Russen umgewandelt werden können, da sie ihre vaterländischen Sitten und Gebräuche beibehalten haben. Ihr Partikularismus und ihre Erfolge rufen bei den Russen Feindseligkeiten hervor. Die Deutschen waren die Lehrmeister der Russen in der dortigen Gegend und haben einen großen Einfluß auf die Russen gewonnen,[4] den die Russen heute abzuschütteln versuchen, weshalb sie bei jeder Gelegenheit einen glühenden Haß gegen die Deutschen an den Tag legen.
Selbst wenn die Russen in dem Kaukasus zahlreicher wären, würde doch die Vermischung der beiden Völkerschaften in sehr ungleicher Weise vor sich gehen. Ein großes Hindernis für diese Mischung hat Rußland dadurch beseitigt, daß es die georgische Kirche in seine Nationalkirche absorbierte; aber diese Schranke besteht dennoch bei der Masse des russischen und armenischen Volkes. Der Armenier ist durchaus nicht geneigt, seine Nationalität untergehen zu lassen und geht deshalb gewöhnlich Verbindungen mit andern Nationen aus dem Wege.
Eine gewisse Mischung der Russen könnte nun doch immerhin stattfinden, aber sie kann nur langsam erfolgen. Viel verspricht man sich allerdings für die Russifikation von dem obligatorischen Militärdienst, der kürzlich in Transkaukasien eingeführt worden ist.
Aber gerade dieser Militärdienst könnte den Russen noch manche Unruhen bereiten. Kaukasien ist ruhig und scheint dem Zar unterworfen; aber das Nationalgefühl ist bei den einzelnen Völkerschaften noch sehr lebhaft. Oft fragten wir Landleute, ob sie Russen seien, und immer antworteten sie zuweilen mit einer beleidigten Miene: „Gewiß nicht, wir sind Grusier.“ Ein höherer Offizier gestand uns, daß er fürchte, die Kaukasier und besonders die Bergbewohner, wenn sie durch den Militärdienst an eine strenge Disziplin gewöhnt sind, würden den Russen noch manche Verdrießlichkeiten bereiten.
Ohne Zweifel besitzt keines der mit einander rivalisierenden Völker, die sich im Kaukasus niedergelassen haben, das nötige Übergewicht, um hoffen zu können, über das andere zu herrschen und sich desselben gegen Rußland bedienen zu können; eine Empörung würde darum auch keinen besondern Erfolg zu verzeichnen haben. Aber die Thatsache, daß man eine solche zu befürchten haben könnte, zeigt doch schon an, daß die Russifizierung noch nicht fertig ist.
Man schätzt die Bevölkerung von Transkaukasien auf etwas mehr als vier Millionen Seelen. Alle möglichen Rassen sind dort vertreten. Auf unserm Wege waren am stärksten vertreten die Kartvelianer, Armenier und Tartaren. Als die bedeutendsten Stämme der Kartvelianer nennt man die Grusier, Imerether, Mingrelier und mehrere Völkerschaften der Gebirge. Alle diese Stämme sind Christen, wenigstens dem Namen nach. Man schätzt die Zahl ihrer Angehörigen auf ungefähr 900000 Seelen.
Die Armenier sind im Kaukasus in einer Stärke von 700000 Seelen vertreten; ihrer wird später noch Erwähnung geschehen.
Die mohammedanische Bevölkerung in Transkaukasien besteht aus Persern und Tartaren. Die Türken in den kürzlich eroberten Provinzen suchten das russische Gebiet zu verlassen.[5] Die Zahl der Mohammedaner in Transkaukasien übersteigt eine Million.
In religiöser Hinsicht können sich die Mohammedaner nicht beklagen, da sie manche Vorzüge genießen und sich einer vollständigen Freiheit erfreuen. Die religiöse Oberaufsicht wird durch Vermittelung der Groß-Mollahs geführt, die in Wirklichkeit eine Macht sind. In seinem großen Reiche hat der Zar eine zu starke mohammedanische Bevölkerung, als daß er sich eine lästige Einmischung in deren religiöse Angelegenheiten gestatten könnte; die geringste Unzufriedenheit der russischen Mohammedaner wäre die Ursache ernstlicher Gefahren. Auch die Regierung beschäftigt sich wenig mit deren Angelegenheiten. Ein Polizeibeamter sagte uns, daß man die Mohammedaner, falls sie sich nicht gegen Rußland empörten und die Russen nicht angriffen, ruhig gehen ließe, selbst wenn sie sich unter einander blutig bekämpften.[6] Selbst ihre barbarischen Feste, wie das Beïram-Ali-Fest, dem wir beigewohnt haben, werden von Rußland geduldet. Im Punkte des Militärdienstes gebraucht Rußland den Mohammedanern gegenüber die größte Nachsicht. Die Mohammedaner werden zu den Ämtern zugelassen, und viele unter ihnen bekleiden hohe Stellen in der Armee, wo sie freiwillig eingetreten sind.
Als Ausnahmen erlaubt auch der Zar Heiraten zwischen Mohammedanern und Christen unter der Bedingung, daß die Kinder in der russischen Religion erzogen werden.
Die Katholiken dagegen sind stets einem Regime unterworfen, das man am besten mit dem Ausdruck „Verfolgung“ bezeichnet.
Wir brachten beinahe drei Wochen in Tiflis zu und hatten während dieser Zeit mehrere katholische Priester der Stadt kennen gelernt. Keiner von ihnen aber wagte es, uns eine heilige Messe lesen zu lassen, nicht einmal in einem Zimmer.
Natürlich fürchteten sie nicht für uns, da wir doch später ausgewiesen würden; aber sie befürchteten nach unserer Abreise allerlei gerichtliche Untersuchungen und Scherereien.
Auf unsere Beschwerden über diese Angelegenheit erwiderte uns eine hochgestellte Persönlichkeit, daß Rußland den fremden Geistlichen durchaus nicht feindlich gesinnt sei; aber die Mehrzahl der katholischen Priester in Rußland seien Polen oder Georgier, und diese verwechselten die Religion mit dem Vaterlande, wodurch Rußland allerdings gezwungen sei, strenge zu verfahren.
Was man mit dem Ausdrucke „nicht feindlich gesinnt sein“ sagen will, ist mir unbekannt. Wohl aber ist mir bekannt, daß man alle katholischen Korporationen, die ehemals in Georgien bestanden und von Europäern geleitet wurden, auf sehr brutale Weise russischerseits aufgelöst hat. Nach den Zeichen des Mißtrauens und der Eile, mit der man uns über die Grenze schaffte, fragte ich mich, wie wohl die Regierung verfahren werde, wenn sie einem fremden Geistlichen einmal feindlich gesinnt sein sollte.[7]
Antwort auf die gegen sie erhobenen Beschuldigungen geben. Was die georgischen Priester betrifft, die ich in Tiflis gesehen habe, so kann ich allerdings versichern, daß sie sehr friedliebende Männer sind, und daß, wenn irgendwie Schwierigkeiten entstehen, diese nicht durch die georgischen Priester hervorgerufen werden, sondern durch den Regierungs-Despotismus und die Quälereien seitens der Beamten. Welche Gefahr könnte übrigens dem mächtigen Zaren durch die kleine georgische Kirche entstehen? Sollte es politisch nicht klüger sein, im Notfalle diesen alten gottesdienstlichen oder kirchlichen Einrichtungen, die doch keine Gefahr für den Zaren bilden, gegenüber einmal ein Auge zuzudrücken?
Wenn die Regierung wirklich die loyale Gesinnung besitzt, wie sie versichert, dann muß man auch zugeben, daß die religiösen Fragen das einzige Terrain abgeben, wo die russischen Beamten nach ihrem eigenen Ermessen handeln können, wobei sie, von dem intoleranten russischen Geiste unterstützt, sich leider nur zu oft zu allerlei Schikanen und auch zu Grausamkeiten hinreißen lassen.
Was die schismatischen Kirchen der Georgier und Armenier betrifft, so will Rußland dieselben mit seiner großen Nationalkirche vereinigen. Die Regierung findet es nämlich sehr praktisch, zu ihren Diensten eine hierarchisch eingeteilte Kirche zu haben, die leider nur allzu servil ist.
Gegenwärtig ist die russische Kirche nur eine ungeheure Macht in der Hand des Zaren. Die Heilige Synode ist freilich dem Namen nach die höchste kirchliche Autorität; aber die Heilige Synode ist nur ein Spielball des Zaren; denn auf ihre Zusammensetzung übt er den größten Einfluß aus, ihrer Sitzung wohnt ein Kommissar des Zaren (ein Laie!) bei, der sogar das Recht hat, die Beschlüsse der Synode aufzuheben, kurz, durch den ganzen Nimbus seiner Allgewalt macht der Zar aus der Heiligen Synode, was ihm beliebt.
Zuweilen aber setzt die Synode dem Wunsche des Zaren Weigerungen entgegen. Dies geschieht bei gewissen Heiraten der Prinzen. Mit diesen Weigerungen ist es dann aber auch nicht so schlimm bestellt. Der Zar weigert sich, und die Synode giebt nur den Namen dazu her. Wenn es aber vorkommen sollte, daß ein energischer und gewissenhafter Mann wirklich einen ernsthaften Einwand erhebt, so kann er sicher sein, daß er die längste Zeit Mitglied der Heiligen Synode gewesen ist. In einigen nebensächlichen Fragen läßt man freilich der Synode einen Schein der Freiheit, um sie in den Augen des Volkes nicht ganz in Verruf zu bringen.[8]
Die russische Kirche unterhält in dem Volke eine Verehrung des Zaren, wovon wir uns keine Vorstellung machen können; dieser Kultus ist die höchste Macht der kaiserlichen Regierung.
Aber dieses System könnte sich eines Tages gegen die drehen, die es heute anwenden.
Die Dissidenten oder Raskolniks sind außerordentlich zahlreich; gewissenhafte Schriftsteller schätzen ihre Zahl auf zwölf Millionen. Ihre Benennungen sind zahlreich; sie rekrutieren sich hauptsächlich aus den unzufriedenen Elementen, die der Mißbräuche überdrüssig sind. Ihr Bestehen wird oft geheim gehalten, und sie bilden eine ernsthafte Opposition gegen die russische Nationalkirche.
Die Mißbräuche in der russischen Kirche sind schreiend; das Volk selbst hat noch Religion, weshalb auch die Verachtung, die manchen der Religionsdiener zukommt, nicht so allgemein ist. Aber der Unglaube dringt mehr und mehr in Rußland ein. Wenn es einmal so weit gekommen sein wird, daß die höhern Stände unter dem Vorwande der Unwürdigkeit der Geistlichen die Religion verachten, wird sich die Bewegung verstärken; die Kraft des religiösen Gefühls in dem Volke wird sich dann durch die Nachwirkung vermindern. Die russische Kirche befindet sich vor einer gefährlichen Krisis; ihr Bestehen hängt von einer Reform ab. Aber woher soll diese Reform kommen?
Bei der katholischen Kirche bildet ein Land nur einen organischen Teil der ganzen katholischen Welt; jeder Unzufriedene, welchen Standes er auch sei, findet stets in seinem Bereiche Elemente einer Reform, die unter der Thätigkeit des katholischen Lebens sich verbinden können und, wenn sie auch die Krisis nicht aufzuhalten vermögen, so können sie doch ein Erheben vorbereiten.
Wenn die Krisis über die russische Kirche hereinbricht, so wäre dies wohl ein geeigneter Zeitpunkt, sich mit der römischen Kirche wieder zu vereinigen.
Das Aufsaugen der georgischen Kirche bietet keine sonderliche Schwierigkeiten, und man kann es schon jetzt als feststehende Thatsache betrachten. Denn diese Kirche hat niemals so viel Leben gezeigt, daß sie sich mit der mächtigen armenischen Kirche vergleichen ließe.
Die meisten Schwierigkeiten kommen von dieser her. Die Armenier wollen sich wohl auf die Russen stützen, aber nur um ihre Nationalität zu wahren, nicht um in Rußland gänzlich aufzugehen. Kirche und Nationalität sind ihnen unzertrennliche Begriffe, beides wollen sie unberührt erhalten. Jemand sagte uns: „Die Armenier werden für Rußland eines Tages die Polen des Südens sein!“
Überhaupt ist die Thätigkeit Rußlands nicht Wert, mit der Englands verglichen zu werden. Sie macht den Eindruck einer Zwitterbildung: mit alten Gebräuchen des orientalischen Despotismus sind unsere bureaukratischen Manieren vermischt worden. Das Ganze vermag dem Reisenden wenig Begeisterung einzuflößen. Denn wenn einmal die Zeit der heldenmütigen Eroberung verschwunden ist, fehlt der Zauber, der jedem Werke durch die lebendige und persönliche Thätigkeit der Menschen, die zu der Eroberung beigetragen haben, verliehen wird. Nichtsdestoweniger darf man aber doch nicht außer acht lassen, daß angesichts einer solchen Eroberung Rußland als eine gefürchtete Macht erscheinen muß.
Sein abgehärtetes Volk, das mit der Muttermilch die Verehrung des Zaren einsaugt, liefert kriegstüchtige und fanatische Soldaten. Der Russe verbirgt unter einem europäischen Firnis rohe Gewohnheiten, woran teils der Mangel an Unterricht, dann aber auch der stete Kampf gegen das unwirtliche Klima schuld ist. Zu jeder Zeit ist er bereit, unermeßliche Wüsten zu durchlaufen und die Hälfte seines Lebens in irgend einer verlorenen Ecke des ausgedehnten Reiches zu verbringen. Das abenteuerliche Leben entwickelt in dem Russen einen gewissen Nomadeninstinkt, so daß es scheint, als ob er ohne sein Vorwissen unter demselben Einfluß stände, der unaufhörlich von einem Lager zum andern die unzähligen andern vagabundierenden Völkerschaften des Kaiserreiches treibt.
Die Größe sucht noch Größeres, und Rußland leidet an dieser Krankheit; es muß noch immer mehr erobern. In dem Eifer des Eroberns werden die Reichtümer der Länder vielleicht unvollkommen entdeckt, aber nicht ausgebeutet. Und später kommt es auch kaum dazu, man muß weiter gehen, weiter erobern: das russische Nationaltemperament treibt dazu.
Und gerade der Russe, der an unermeßliche Länderstrecken gewöhnt ist, eine rauhe Lebensweise führt, dazu von einem unaufhörlichen Bedürfnis der Verbreitung gequält wird und nichts versäumt hat, die modernen Empfindungen in seinen Dienst zu ziehen, dieser Russe scheint dazu bestimmt, der Länderräuber unserer Zeit zu werden. Daß er die an die Knechtschaft gewöhnten Mohammedaner unterjocht, ist ein Fortschritt zu nennen. Aber wo er auf seinem Siegeslaufe christliche Völker unterjochen wird, wird er mit seiner Herrschaft auch die Tyrannei und die Verachtung des Individuums feierlich einsetzen. Und gerade dies wird in Rußland bewundert. Was ich davon gesehen habe, rief in mir unwillkürlich den Gedanken wach, daß Rußland heute das Land einnimmt, woher die Barbarenhorden kamen, die Europa verwüsteten, und ich glaube, daß der Geist dieser Horden in dem russischen Volke weiter lebt, wenn er auch im Laufe der Jahrhunderte durch den Einfluß des Christentums etwas gemäßigt worden ist. Ich sage es frei heraus: Ich liebe Rußland durchaus nicht, sondern als ein Freund der Freiheit und der freien Institutionen muß ich sagen: ich fürchte es.
Was den Kaukasus betrifft, so ist dieser, um meine Eindrücke zusammen zufassen, eine starke Militärkolonie, wo eine Eisenhand einige Fortschritte einzuführen sucht mit der größten Bequemlichkeit der Verwaltung und durch die Mischung der verschiedensten Elemente; das ist alles!
- ↑ Das Leben ist sicher, d. h. im allgemeinen; denn es finden sich auch noch Räuberbanden, die sogar lange Zeit ihr Handwerk ungestraft ausüben. Kerim, dessen später noch Erwähnung geschehen wird, hat das Land mehrere Jahre beherrscht. Im November 1890 ließ eine Räuberbande sogar einen Eisenbahnzug zwischen Tuas und Dsegan entgleisen, plünderte die Reisenden und tötete mehrere.
- ↑ Die Russen haben im Kaukasus zu viel Truppen, während die Engländer in Indien zu wenig Soldaten haben.
- ↑ Nachstehende Zahlen, deren Richtigkeit der Verfasser verbürgen muß, sind E. Reclus,
Geograph. VI. S. 299 entnommen:
Der Etat von Kaukasien, der 1878 die Summe von 6 750000 Rubeln als Einnahmen enthielt, bildet einen Teil des Generaletats des Kaiserreiches. Transkaukasien mit Daghestan hat einen Etat, der sich von Jahr zu Jahr erhöht. Die Einnahmen betrugen 1870 5 358470 Rubel, 1880 aber 8 784980 Rubel (nach Chabrow, Kavkazskiy-Kalender). Diese Summe müßte bei weitem zur Bestreitung der Ausgaben reichen, wenn die Unterhaltung einer so bedeutenden Armee in den Grenzorten nicht das Doppelte und in wenigen Jahren nicht das Vierfache der Kosten verursachte und so das Defizit vermehrte. Dieses Defizit, das in Friedenszeiten zwischen 18 und 20 Millionen Rubeln schwankt, steigt in Kriegszeiten zu der Höhe von 57 Millionen. In den zehn Jahren von 1869 bis 1878 betrug die Gesamtsumme des Defizit nicht weniger als 343 131005 Rubel. In ganz Transkaukasien beträgt die Gesamtsumme der Ausgaben, sei es für Entwickelung des Landes, Unterricht, Erbauung von Straßen, Unterhaltung der Wälder oder Ansiedelung von Kolonisten kaum 1 800000 Rubel, wenigstens im Jahre 1881. Seit dieser Zeit mag es sich etwas geändert haben.
Summe der Einnahmen in Kaukasien 1878: 16 339703 Rubel
Ausgaben: 71 660325 Rubel
Defizit: 55 320662 Rubel. - ↑ In Tiflis waren unter vier einflußreichen Personen, die wir kennen lernten, wenigstens drei deutschen Ursprungs.
- ↑ Von 1878 bis 1881 fand in den von Rußland annektierten türkischen Gebieten folgende
Volksbewegung statt:
Auswanderer: 87760 Seelen
Einwanderer: 21890 Seelen
Verlust: 65870 Seelen. - ↑ Die Mohammedaner. besonders die Tartaren, haben ein großes Gefühl der Zusammengehörigkeit; derselbe Polizeibeamte erzählte uns auch, daß die Tartaren oft den Verbrechern ihres Stammes einen Zufluchtsort geben, so lange diese ihre Glaubensgenossen nicht belästigen. Auf diese Weise werde die Ausübung der Justiz im Kaukasus sehr erschwert.
- ↑ Übrigens sind die Russen doch schlaue Politiker; vor einigen Jahren machte ein französischer Priester, der eine hohe Stellung einnahm und großen persönlichen Einfluß hatte, eine Reise nach Rußland. Dafür hatte man solche Maßnahmen getroffen. daß er immer von offiziellen Freunden umgeben war, die ihn überall hin begleiteten. Bei seiner Rückkehr war er ganz von der russischen Freisinnigkeit überzeugt. Dies aber hatten die Russen gerade beabsichtigt, und noch heute machen sie sich über den gelungenen Streich lustig.
- ↑ Die Synode ist eine Schöpfung Peters des Großen, der nach dem Tode des Patriarchen Kadrian (1702) den höchsten Grad der russischen Hierarchie für sich in Anspruch nahm und ihn dem Namen nach durch die Heilige Synode ersetzte und auf diese Weise den Cäsaropapismus begründete. Eine genau unterrichtete Person teilte uns mit, daß die Bischöfe der Reihenfolge nach Mitglieder der Synode werden sollen; doch kann der Zar auch Aufnahmen machen, er kann sich seine Leute wählen, wie er sie nötig hat. Alle Fragen der Disziplin werden durch den Zaren selbst entschieden, während die Synode sich nur mit dogmatischen Fragen zu beschäftigen hat, und wie? Eine andere Persönlichkeit bezeichnete die russischen Geistlichen als „Gehilfen der Polizei.“