Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen/Nakhitschewan. Beïram-Ali. Abschied von Rußland
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Nakhitschewan. Beïram-Ali. Abschied von Rußland.
Die Stadt und ihre Vergangenheit. Die alten Gebäude der armenischen Dominikaner. Die große Prozession des Beïram-Ali. Der Turm des Khans. Rahim-Khan; sein Palast. wunderschöner Belvédère. Der Platz von Nakhitschewan. Von Nakhitschewan nach Dschulfa. Bereitwilligkeit der persischen Beamten, uns in Persien eintreten zu lassen. Die Fähre über den Aras. Eski-Dschulfa und seine Brücke. Dschulfa. Persien. Liebenswürdigkeit des Bureauchefs. Der Brief von Nazar-Aga. Der betrunkene Postmeister; ein verlorener Tag.
Nakhitschewan ist eine der ältesten Städte des Arasthales; Ptolomäus erwähnt es schon unter dem Namen Naruana. Die Armenier leiten ihren Ursprung von Noe her und zeigen in einiger Entfernung von dem Turm der Khane das Grabmal Noes; ganz gewiß rechtfertigt aber der Titel, den dasselbe trägt, das zerfallene Aussehen nicht.
Die Stadt liegt sehr schön; gegen Nordwesten erhebt sich der Ararat; in nordwest-südöstlicher Richtung, zwischen der Stadt und dem See von Sewenga ziehen sich vulkanische Berge mit tiefen Einschnitten und isolierten Kuppen hin, und endlich, beherrscht von all den Bergen am Fuße des felsigen Ausläufers, auf dem Nakhitschewan liegt, die Ebene des Aras.
Nakhitschewan wurde vielleicht noch öfter zerstört und wieder erbaut als Eriwan. Schah Abbas (1586—1628) fürchtete die türkischen Einwanderungen, und um dieselben zu verhindern, wandte er ein radikales Mittel an. Er verwüstete nämlich das Land zwischen Erserum und Tebris gänzlich und machte eine vollständige Wüste daraus, um den türkischen Truppen das Vordringen unmöglich zu machen. Die Bewohner dieser unglücklichen Gegenden siedelte er in entfernteren Provinzen seines Reiches an.[1]
Als der Reisende Chardin im Jahre 1672 durch Nakhitschewan kam, hatte die Stadt sich eben wieder aus den Ruinen erhoben.
Sie war lange Zeit das wichtige Zentrum für die Katholiken des Orients. Ein Dominikanerpater mit Namen Barthélémy hatte gegen das Jahr 1320 eine armenische Seitenlinie des Dominikanerordens gegründet; diese Kongregation kam bald zu hohem Glanze und zählte allein in der Umgegend von Nakhitschewan zehn Klöster. Zur Zeit Chardins hatten die Mönche schon viel zu leiden unter der Eifersucht der Schismatiker und den Erpressungen durch die persische Regierung, wovon gewöhnlich die Schismatiker die Anstifter waren. Jetzt besitzen sie nur mehr das Kloster von Abrener, ungefähr drei Meilen von der Stadt. Tournefort sagt von diesen Katholiken: „Diese kleine Schar lebt heiligmäßig, sie ist gut unterrichtet, und im ganzen Orient giebt es keine besseren Christen als sie.“
Der Einfluß der Dominikaner machte sich noch, wenn auch nicht mehr in dem Maße wie früher, am Ende des achtzehnten Jahrhunderts geltend. Ferrière-Sauveboeuf (1782–1789) sagt, wenn auch mit einiger Übertreibung, daß alle Einwohner daselbst Christen seien, und daß die Zahl der Katholiken die der Gregorianer bei weitem übertreffe. (Im siebzehnten Jahrhundert hatten die Jesuiten auch eine Niederlassung in Eriwan. Die schismatischen Armenier nennen sich gewöhnlich Gregorianer, zum Andenken an den heiligen Gregor, den Apostel Armeniens, den sie fälschlich zum Patron ihres Schismas machen).
Seit Chardins Reise hatte die Stadt noch mehrere Mißgeschicke zu erleben. Gegenwärtig beträgt ihre Bevölkerung 5000–6000 Köpfe. (Nach Meyers Konversationslexikon hatte sie im Jahre 1883 5389 Einwohner).
Diesen Morgen kündigte uns der Kutscher sofort eine freudige Nachricht an: Die Achse unseres Wagens war gebrochen. Diesem Umstand hatten wir es denn auch zu verdanken, daß wir der großen Prozession des Beïram-Ali beiwohnen konnten. Günstiger hätte das Unglück uns also nicht treffen können.
Ehe wir die Prozession näher beschreiben, sollen kurz die geschichtlichen Ereignisse erwähnt werden, die durch die Prozession in das Gedächtnis zurückgerufen werden sollen.
Der Zweck des Festes besteht darin, das Martyrium der am meisten von der weit verbreiteten Sekte der Schiiten verehrten zwei Männer zu feiern: Hassan und Hussein.
Nach dem Tode Mohammeds hatten Abu-Bekr, Omar und Othman nacheinander sich des Khalifats bemächtigt. Sie verdrängten so Ali-Ben-Abu-Taleb.
Dieser, ein Neffe des Propheten, hatte dessen Tochter Fatma, das einzige Kind Mohammeds geheiratet und schien als dessen Schwiegersohn auch zu seinem Nachfolger bestimmt zu sein. Jedoch gelangte er erst zum Khalifat nach dem grausamen Tode Othmans im Jahre 656. Er war einer der treuesten und mutigsten Begleiter des Propheten und erfreute sich großer Beliebtheit bei dem Volke.
Zunächst hatte er die Empörung Muhawias, des Gouverneurs von Syrien, niederzudrücken, der seine Unabhängigkeit erklärt hatte. Drei Koraïschiten beschlossen, den schrecklichen Krieg dadurch zu beendigen, daß sie die beiden Nebenbuhler töteten. Ali wurde 661 in Kufa ermordet und sein Sohn Hassan folgte ihm. Aber Muhawia wurde nur verwundet und setzte seine Rolle als Nebenbuhler Hassans fort. Nach dem Tode Muhawias nahm sein Nachfolger Yesid den Kampf gegen Hassan auf und suchte sich durch Verrat seines Feindes zu entledigen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen gelang es ihm endlich, Hassan in seinem eigenen Palaste zu Medina vergiften zu lassen. Da die Kinder Hassans noch zu jung waren, um die Regierung führen zu können, folgte ihm sein jüngerer Bruder Hussein.
Hussein wollte sich den Besitz Kufas, das damals die bedeutendste Stadt des Islams war, sichern und schickte seinen Bruderssohn Moslim dorthin. Aber die bedeutende Macht Jesids schüchterte die Bewohner Kufas ein: Moslim wurde verraten und ermordet. Er hatte seine beiden Kinder, im Alter von sechs und sieben Jahren, bei sich im Felde gehabt; auch diese wurden niedergemetzelt und ihre Köpfe im Triumph gegen das feindliche Lager getragen.
Als Hussein diese Botschaft empfing, brach er selbst gegen die Stadt auf. Yesid schickte ihm dreißigtausend (?) Mann zu einem Treffen am Ufer des Euphrat entgegen; Hufsein verfügte nur über zweiundsiebzig (?) Mann, als er sich der feindlichen Übermacht gegenüber sah. Obgleich der Ausgang des Kampfes für ihn keinen Augenblick zweifelhaft sein konnte, verschanzte er sich mit seinen paar Mann und hielt den feindlichen Angriff zwei Tage lang aus.
Am Ende des zweiten Tages waren seine Gefährten beinahe alle gefallen; er selbst war von Wunden durchlöchert. Geschwächt durch den großen Blutverlust fiel er vom Pferde.
Sofort schickte sein Feind eine Zahl Soldaten, um Hussein den Kopf abzuschneiden; aber keiner wollte sich zu diesem Sakrilegium hergeben. Selbst die entschlossensten unter ihnen flohen, sobald sie ihm in das Gesicht sahen.
Endlich entschlossen sich zwei, Sinan-Ibn-Arwa und Schumur-Sil-Djowschun, durch das Versprechen einer großen Belohnung aufgestachelt, ihn zu enthaupten. Schumur verhüllte sich das Gesicht. „Wer bist Du?“ schrie Hussein, „nimm den Schleier fort!“ Schumur gehorchte. „Warte einen Augenblick!“ fuhr Hussein fort, „es ist heute Freitag[2] der zehnte Tag des Monats Moharrem. und gerade die Stunde des Gebets. Lasse mich noch einige Augenblicke leben, damit ich noch ein Gebet sprechen kann!“ Nach diesen Worten kniete er nieder. Die Mörder benutzten den Augenblick und trennten ihm das Haupt vom Rumpfe.
Die Mörder entrissen nun den Aliden die Herrschaft; aber die Nachkommen der letztern blieben am Leben und führten den Streit fort, den sie sowohl auf das religiöse als auch auf das politische Gebiet übertrugen. Die arabische Dynastie der Latimiden (909– 1171) behauptete von Ali abzustammen. Persien wurde nun für die Folge der Zufluchtsort der religiösen Parteigänger Alis, die den Namen Schiiten bekamen. Sie verwarfen die Khalifen vor Ali als Ursurpatoren; ihre Lehre ist scheinbar orthodoxer als die der Sunniten, die mit der Aufeinanderfolge der Khalifen einverstanden sind.
Die Schiiten lebten ziemlich verborgen bis zum 14. Jahrhundert, wo Sefsi-ed-Din die Sekte bedeutend ausbreitete; sein Enkel Ismael zog aus den Verfolgungen, die von den sunnitischen Nachkommen Timurs gegen sie ausgeübt wurden, Nutzen, indem er den Patriotismus mit der Religion vereinigte und so die Revolution hervorrief, wodurch die tartarische Dynastie vertrieben wurde. Zu derselben Zeit entstand der unheilbare Riß zwischen Sunniten und Schiiten, zwischen Türken und Persern.
Das Fest, dem wir beiwohnten sollten, hat den Zweck, das Gedächtnis dieser Ermordeten und die Scheidung der zwei bedeutendsten mohammedanischen Sekten zu feiern.
Das genannte Fest wird von den muselmännischen Schiiten während der ersten zehn Tage des Monats Moharrem gefeiert. In den ersten neun Tagen bringen die „Gläubigen“, besonders die Tartaren die Abende mit wahnsinnigem Springen und Schreien zu. Die Zeremonie, der wir in der grünen Moschee in Eriwan beigewohnt hatten, und die Prozession mit den Fackeln, die wir dort des Abends gesehen hatten, bildeten einen Teil der Zeremonien in den ersten neun Tagen.
Während dieser Zeit beobachten die „Gläubigen“ auch ein strenges Fasten; das heißt, von Sonnenaufgang bis zum Untergang essen sie weder noch trinken oder rauchen sie; aber während der Nächte entschädigen sie sich reichlich. Die Leiden der Imams (der Priester) bilden den Gegenstand der Geheimnisse, die man während der neun Tage feiert. Den feierlichsten Gegenstand bewahrt man für den zehnten Tag auf, nämlich das Gedächtnis des Todes Husseins, welches dann alle Köpfe erfüllt.
Während der ersten neun Tage unternehmen die Mohammedaner Prozessionen durch die Orte, indem sie Klagelieder singen und ihren Gesang mit taktmäßigem Schlagen auf die Brust begleiten. Beim Herannahen des Abends führen die Tartaren ihre Prozession mit Fackeln und unter wahnsinnigem Springen aus. Auf diese Weise bezeigen sie ihren Schmerz, und um den Verrat der ersten Muselmänner auszugleichen, paradieren sie mit dem Mut, der sie beseelt, und mit dem Verlangen, das sie erfüllt, selbst mit dem Preise ihres Lebens ihren Glauben und ihre Priester zu verteidigen.
Die russische Regierung sah von jeher diese nächtlichen Versammlungen höchst ungern. Oft dienen sie unter dem religiösen Vorwande blutigen Zusammentreffen, bei denen Privatstreitigkeiten zuweilen zum Austrag kommen. Die russische Regierung hat zwar versucht, diese Versammlungen zu untersagen, aber es gelang ihr nicht. In Eriwan sagte uns der Polizeichef des Morgens, es fände keine öffentliche Zeremonie statt; die Tagesprozession fiel auch aus; aber die Prozession mit den Fackeln konnte die Polizei des Abends nicht verhindern. Der Unterchef der Polizei aber, der in unserm Hotel wohnte und selbst ein Mohammedaner war, zeigte nicht die geringste Lust, seine Glaubensgenossen gegen sich aufzureizen. Daher hatten wir Gelegenheit, dem letzten Akte dieses Dramas beizuwohnen.
Wir verfügten uns eiligst nach dem andern Ende der Stadt in das südliche Viertel in die Nähe des Palastes der alten Khane, wo die Zeremonien stattfinden sollten. Die ganze Einwohnerschaft war auf den Beinen. Auf den Kreuzwegen befanden sich Ruheplätze, um welche Kinder tanzten. Knaben von sechs bis sieben Jahren schwingen nackte Schwerter, um sich Mut zu verschaffen. Einige Derwische sammelten Zuhörer, denen sie dann eine Predigt hielten.
So kamen wir zum Khanspalast. Ein achteckiger Turm, der freilich schon halb in Trümmern liegt, bietet ein interessantes Denkmal der persischen Baukunst.
Die Mitte jeder Seite wird von einer Nische eingenommen, die mit Fayencearbeit geschmückt ist. Das obere Ende des Turmes trägt einen Fries, auf dem sich eine kufische Inschrift mit Buchstaben aus Fayence in sehr schönen Formen befindet. Ornamente derselben Art bedecken jede Ecke an dem Turme. An der Seite verdient ein von zwei Minarets flankierter Portikus auch einige Beachtung.
Während wir noch dieses Baudenkmal bewunderten, gelang es unserem Freunde Hyvernat, die Bekanntschaft Rahim-Khans, des Eigentümers der Ruinen, zu machen. Rahim ist ein Nachkomme der alten Khane von Nakhitschewan. wiewohl er das politische Ansehen seiner Vorfahren eingebüßt hat, übt er doch in dem täglichen Leben der Stadt noch einen großen Einfluß aus. Er ist ein russifizierter Tartar und trägt die unvermeidliche weiße Mütze (mit einer Kokarde), auch spricht er etwas französisch. Er lud uns ein, sein ganz in der Nähe gelegenes Palais zu besuchen. Bei unserem Eintritt zogen sich die Damen des Hauses, die ein sehr kurzes Kleid nach Art der Balletttänzerinnen tragen, selbstverständlich zurück, aber doch nicht mit der Eilfertigkeit, die durch die Gegenwart der Ungläubigen von dem schiitischen Glauben vorgeschrieben wird.
Das Palais an und für sich ist vollständig unbedeutend; aber von seiner Terrasse hat man eine der schönsten Aussichten der Welt. Die Terrasse beherrscht das weite Thal des Aras, und der Blick ruht auf dem entfernten, unvergleichlichen Ararat. Von Nakhitschewan aus gesehen, präsentiert sich der Ararat unter den anmutigsten Formen. Der kleine Kegel liegt vollständig wider dem großen, so daß man nur einen einzigen schlanken, majestätischen Berggipfel sieht. Die Wärme des Tages gab der Atmosphäre jene besondere Schwingungen, wie sie nur im Orient gekannt werden, und die weiße Schneekappe des Ararat schien in der Luft zu schwimmen.
Wie in der römischen Kampagne die Kuppel der St. Peterskirche, je weiter man sich entfernt, an Größe scheinbar zunimmt, so geht es auch mit dem Ararat; je größer die Entfernung ist, um so mehr verschmelzen die Umrisse, und um so mehr macht sich seine Größe geltend.
Nachdem wir lange das herrliche Landschaftsbild betrachtet hatten, begaben wir uns zu dem Platze, wo der Umzug stattfinden sollte.
Dieser viereckige Platz ist mit Säumen bepflanzt. Eine Seite desselben erhebt sich in natürlichen Abstufungen, während zwei andere Seiten von dem Turm und dem Palast Rahims begrenzt werden. Die vierte Seite ist mit Häusern eingefaßt.
Wir kletterten auf die Terrasse eines dieser Häuser; vor uns war alles, selbst die Dächer der Häuser, mit einer bunten Menge bedeckt. Schleier und Kleider in allen möglichen Farben waren zu sehen. Von dem herrlichen Wetter begünstigt, begann der Zug.
Mit bloßen Worten läßt sich das Grauenhafte dieser Szene nicht beschreiben. Jedes Dorf der Umgegend zieht der Reihe nach um den Platz. Die „Märtyrer“ sind mit langen weißen Gewändern bekleidet; ihr Kopf ist frisch rasiert. Mit der linken Hand bilden sie eine Kette, während sie in der freien rechten Hand einen spitzen Säbel halten, der gegen das Gesicht gewendet ist. Mit diesen Säbeln schneiden sie sich in den Schädel und schreien dabei aus vollem Halse: „Wah Hussein, Schah Hussein! Hussein, Hassan!“ Es ist eine schreckliche Szene.
Das Blut fließt wirklich in Strömen und verhüllt die Gesichter, so daß nichts weiter zu sehen ist als das weiße der Zähne bei sehr weit geöffnetem Munde. Der Anblick ist empörend, und es ist unbedingt erforderlich, daß der Zuschauer all seine Energie aufbietet, um dieses schreckliche Schauspiel noch weiter betrachten zu können.
In dem Maße, wie sich die Prozession entfaltet, steigert sich auch der Fanatismus, und die Unglücklichen ritzen sich die Haut in der schrecklichsten Weise, so daß das Blut auf ihre weißen Gewänder und den Boden herabfließt, wobei es von den Anwesenden mit wahrer Verehrung aufgefangen wird. Türkische Priester haben die Aufgabe, über die größten Fanatiker zu wachen, damit diese sich nicht wirklich umbringen. Wenn schon viel Blut geflossen ist, verbindet man den Kopf der am meisten Erschöpften; aber diese sind von dem Blute wirklich trunken und fangen oft ernstlichen Streit mit denen an, die sie am Selbstzerfleischen verhindern, und kaum sehen sie sich ungehindert, als sie auch wieder ihr höllisches Werk von neuem beginnen. Kleine Kinder im Alter von sechs bis acht Jahren begleiten diese Rotten und üben sich bei diesem „Feste“ zum ersten Mal in den Waffen.
Nach den „Martyrern“ kommen Rotten, die dicke Knüttel in den Händen schwingen und dabei greuliche Flüche ausstoßen; mit ihnen zugleich erscheinen die Büßer. Der eine und andere von diesen ist halb entkleidet und zerreißt sich den Rücken mit Ketten, an denen sich Haken befinden. Die andern der Büßer haben nur die Brust entblößt und schlagen sich fortwährend mit der rechten Haust gegen dieselbe, indem sie das nämliche Gebrüll erschallen lassen wie die Martyrer. Dabei zeigen sie eine solche Ausdauer, daß sie schließlich im stande sind, sich die Haut vollständig von der Brust abzuziehen.
Der erste Teil des Umzuges ist beendet. Es folgt jetzt die symbolische Prozession: Puppen stellen die Opfer von Kerbela dar, ebenso folgen Darstellungen der Gräber u. s. w.
Beim Erscheinen dieser Prozession verdoppelt sich der Fanatismus. Mehrere der unglücklichen Martyrer fallen vor Erschöpfung nieder. Alle Anwesende, die Männer nicht ausgenommen, begrüßen diesen Aufzug mit einem schrecklichen Wimmern. Es ist leider nur möglich, dem Leser ein schwaches Bild der Wirklichkeit zu liefern, denn dieses Schauspiel spottet jeder Beschreibung. Ohne Übertreibung kann ich versichern, daß auch die Erinnerung daran mich noch lange Zeit wie ein Schreckbild verfolgt hat.
Welche Gegensätze! Wenden wir unsere Blicke einen Augenblick weg, so sehen wir vor uns die großartige Ruhe des Ararat. Dort ist alles Schönheit, Anmut und Erhebung für den Geist. Plötzlich werden wir durch neues Gebrüll auf diese bluttriefenden Fanatiker aufmerksam gemacht. Welch fremdartige Gegensätze zwischen der sündigen Menschheit hier und dem erhabenen Werke Gottes!
Nachdem der Umzug beendet war, lud Rahim-Khan uns ein, in der Mitte des Platzes niederzusitzen, nahe bei dem Zelte seines Oheims, des Ehren-Khans von Nakhitschewan, der General in der russischen Armee ist.
Auf dem Platze sollte nun eine dramatische Darstellung des Todes Husseins vor sich gehen. Aber die aufgeregte Menge beherrschte den Platz. Der Polizeichef war ein Armenier, und die Mohammedaner waren aufgebracht darüber, daß ein Armenier, der doch einem früher unterdrückten Volke angehört, ihnen befehlen darf. Zugleich wurden sie wütend, auf dem Ehrenplatz eine gewisse Anzahl „Hunde“, welcher Titel uns verliehen ward, zu sehen. Deshalb pfiffen sie den Polizeichef aus. Dieser ist der Menge gegenüber machtlos, weshalb die Vorstellung nicht beendet werden konnte.
Dieser arme Polizeichef! Vom Anfang des Festes an hatte er uns bemerkt, jetzt aber kam er zu uns. „Sie reisen ja noch nicht ab!“ redete er uns an. Wir erklärten ihm zunächst unsern Unfall, und zu derselben Zeit gaben wir ihm auch die Versicherung, daß wir bleiben wollten. Wir waren dabei im Vorteil, denn durch das Überwachen der Menge war er so angestrengt, daß keine Gefahr vorlag, der Polizeichef werde uns mit Gewalt fortschaffen. Aber jeden Augenblick sahen wir ihn trostlose Blicke nach unserer Seite werfen. Um seine Angst abzukürzen, trafen wir endlich Anstalten zur Abreise.
Es war uns genug, diese Szenen gesehen zu haben; aber der Schrecken! Es scheint, wenn man nach den Berichten älterer Reisebeschreiber urteilt, daß diese Zeremonien früher nicht so blutig waren. Waren wir nun Zeugen des Wiederauflebens des mohammedanischen Fanatismus, das man in manchen Gegenden, wo der Islam herrscht, bemerkt, oder gehören diese blutigen Gebräuche bloß jener Gegend an? Diese Frage konnten wir nicht entscheiden.[3]
Wir verließen Nakhitschewan gegen Mittag und legten die fünfundvierzig Werste, die uns von Dschulfa trennten, rasch zurück.
Auf dieser langen Strecke giebt es nur ein einziges Posthaus, nämlich in Alendschitschaï. Dort hielt es uns schwer, Pferde zu bekommen, weil die Nähe der Grenze zugleich die Besuche von Räuberbanden befürchten läßt.
Hinter Alendschitschaï hält sich die Straße im Sommer in wilden Felsschluchten und bedient sich zuweilen des ausgetrockneten Bettes eines Bergstromes.
Bei unserer Ankunft an der russischen Grenze an dem Ufer des Aras, zeigten die russischen Beamten den größten Eifer, uns möglichst schleunigst auf das persische Gebiet überzusetzen. Nach der hergebrachten Gewohnheit konnten uns unsere Flinten noch Unannehmlichkeiten bereiten. Zunächst ist es verboten, solche Waffen in Rußland einzuführen; aber noch strenger ist es untersagt, solche ohne spezielle Erlaubnis von Rußland nach Persien auszuführen, woran man leicht erkennen kann, wie sehr der Zar den Schah überwacht.
Da uns die Beamten ohne die erforderlichen Erlaubnisscheine sahen, wurden sie sehr mißtrauisch; nach längerer Beratung sahen sie ein, daß sie nicht so ohne weiteres die Flinten der Reisenden, die nach Kurdistan wollten, mit Beschlag belegen konnten; zugleich aber war der Befehl der Ausweisung unserer so gefährlichen Persönlichkeiten so dringend, daß es den Beamten besser schien, wenn sie uns nur über die Grenze schafften mit unseren Flinten und unserem Gepäck, anstatt sich von Tiflis neue Instruktion zu erbitten.
Die übertriebene Liebenswürdigkeit der Polizei gegen Herrn Üverna hatte uns den Eintritt in das Land mit unseren Flinten ohne Erlaubnisschein gestattet; das übertriebene Mißtrauen gegen Gyvernat verschaffte uns die Erlaubnis, das Land wieder ohne den erforderlichen Erlaubnisschein für die Waffen zu verlassen. Lebe wohl, Rußland, schönes Land der Freiheit!
Wie schon erwähnt, bildet der Aras die Grenze zwischen Rußland und Persien. Der Fluß hat einen raschen Lauf, sein Wasser ist sehr trübe. Eine Fähre verbindet das russische Ufer mit dem persischen, da der Fluß hier nicht zu durchwaten ist. Etwas weiter stromaufwärts zwischen den Posten von Dschulfa und Eski-Dschulfa findet sich auch eine Fähre. Die Fähre geht indes nur über den Hauptarm des Flusses. Man hat dann noch eine sumpfige, zuweilen auch überschwemmte Strecke von ungefähr hundert Metern zurückzulegen, was entweder auf dem Rücken armseliger Pferde oder auf dem eines Mannes geschieht.
Eski-Dschulfa, das fünf Werste nordwestlich von dem russischen Grenzposten liegt, wurde durch Schah Abbas zerstört; die Ruinen sollen sehr interessant sein. Die Brücke von Eski-Dschulfa war sehr schön; sie verdankte ihre Erbauung den Römern, die ihre Eroberungszüge bis hierher ausdehnten. Es war dies in den ersten Jahren des Kaisertums, wo sich alles um Rom drehte und unbegrenzte Eroberungen in Aussicht standen. Deshalb sang auch Virgil (70–19 v. Chr.):
Incedunt victae longo ordine gentes,
Indomitique Dahae et pontem indignatus Araxes.[4]
Und Propertius:
Potabis galea fessua Araxis aquam.[5]
Der Volksmund verlegt diese Brücke, deren Erbauung er dem Augustus zuschreibt, vielleicht mit Recht nach Eski-Dschulfa. Später hat die Brücke all die großen asiatischen Eroberer gesehen. Timur überschritt sie mit seinen Horden, Abbas der Große zerstörte sie.
Auf dem russischen Ufer setzt sich der Posten von Dschulfa oder Dschulf, wie die Russen stets schreiben, aus einigen Zollgebäuden und einer Kosakenkaserne zusammen. Der persische Posten von Dschulfa auf dem andern Ufer zeigt ungefähr dasselbe Aussehen. Der Khan oder das Hôtel daselbst ist aber himmelweit von den russischen Posthäusern verschieden. Es enthält einige Zimmer, die mit herrlichen Teppichen geschmückt sind, stellt aber auch in Bezug auf Preise andere Forderungen.
Der persische Zollbeamte war außerordentlich höflich. Mit unserm Empfehlungsschreiben von Nazar-Aga[6], dem persischen Gesandten in Paris, machten wir dem obersten Zollbeamten einen Besuch, der uns sehr zuvorkommend empfing und uns in feierlicher Rede im Namen Seiner Majestät des Schah von allen Abgaben entband.
Den köstlichen Abend brachten wir auf der Terrasse des Khans zu.
Wir genossen das angenehme Gefühl, von dieser beunruhigenden Polizeiaufsicht befreit zu sein und trösteten uns über unser Mißgeschick durch sehr wenig liebenswürdige Betrachtungen über die Russen, die uns von der andern Seite des Flusses her noch betrachteten.
Der Untergang der Sonne war feenhaft. Vor uns entfalteten sich die Ketten des Karabagh mit ihren fremdartigen Einschnitten, auf dem rechten Ufer des Aras der Nischam.
Die nackten Ausläufer dieser Gebirge, die einen vulkanischer Natur, die andern aus blutrotem Sandstein bestehend, bieten schon während des Tages die lebhaftesten Farbenschattierungen, vom intensiven Rot zum Grün oder Violett; aber das zu grelle Licht läßt die Einzelheiten nicht hervortreten. Beim Sonnenuntergang aber vereinigen sich all diese Farbentöne zu wunderschöner Harmonie und zeigen warme, entzückende Schattierungen: es ist ein bengalisches Licht, dessen Kosten die Natur selbst bestreitet. In der ganzen Landschaft herrschte eine feierliche Stille , bloß lange Reihen von Kamelen durchzogen die weite Ebene, um ein Nachtlager zu gewinnen. In der Ferne hörte man den Schrei des Muezzin, der die Gläubigen des Propheten zum Gebete versammelte. Nach und nach schweigt alles. Der eine Bergesgipfel nach dem andern, umleuchtet von den letzten Strahlen des scheidenden Tageslichts, sinkt in den Schatten, und diesem wundervollen Schauspiel folgt der poetische Zauber einer orientalischen Nacht.
Da die Mehrzahl der Reisenden sich sofort von Nakhitschewan nach Chol begab, hielt es für uns schwer, unsere Karawane zu organisieren, und vergeblich warteten wir den ganzen Tag auf Pferde.
Unsere Zeit verfloß in dem Anhören der Grobheiten des Postmeisters, der Eigentümer oder Verwalter des Khans war. Er war total betrunken und drängte sich stets zu unserm Zimmer, um angeblich unser Gepäck zu konfiszieren. Es wirkte ungemein komisch auf uns, zu sehen, mit welcher Achtung (oder Furcht) die Dienstboten dem brutalen Alten begegneten.
- ↑ Die Einwohner von Dschulfa siedelte er in einer Vorstadt von Ispahan an, wo nun Neu-Dschulfa entstand. Als kluger Staatsmann begünstigte er die Handelsunternehmungen der Armenier, und Neu-Dschulfa wurde einer der Haupthandelsplätze des Orients. Unter den habgierigen Nachfolgern des Schah Abbas hatte die Stadt viele Erpressungen zu erdulden, und nur die Erinnerung an die kurze Blütezeit blieb den armen Bewohnern.
- ↑ Bekanntlich der heilige Tag der Mohammedaner.
- ↑ Die armenischen Greuel von 1895 sprechen für die erste Annahme (D. Übers.).
- ↑ Es ziehen einher in langer Reihe die besiegten Völker und die unbesiegten Dahäer und der Brückenzertrümmerer Araxes.
- ↑ „Müde wirst du aus dem Helme trinken das Wasser des Arares.“
- ↑ Einer meiner Freunde, der persönlich mit Nazar-Agar bekannt war, hatte mir das Empfehlungsschreiben verschafft. Dieses amtliche Dokument ist sehr interessant. Es ist in persischer Schrift, also von rechts nach links geschrieben, hat rechts einen breiten Rand und nimmt eine Seite ein. Das Siegel, das die Unterschrift beglaubigt, findet sich nicht auf der ersten Seite, sondern auf der zweiten Seite rechts unten. Chardin erklärt dieses als eine Höflichkeitsbezeigung folgendermaßen: „Die vierte Höflichkeitsbezeigung, auf welche sie achten, besteht in der Anbringung des Siegels, welches die Unterschrift beglaubigt. Die tiefe Ehrfurcht verlangt, daß das Siegel (oder die Unterschrift) auf der Rückseite des Briefes unten angebracht werde und zwar in einer Ecke derart, daß nicht das Ganze, sondern bloß ein Teil auf dem Papier steht. Das bedeutet: Ich bin nicht wert, vor Dir zu erscheinen. Aus Ehrfurcht vor Dir wage ich nicht, mich ganz zu zeigen. Es giebt übrigens drei Plätze, wo man das Siegel anbringt. Bei Gleichstehenden setzt man es rechts unten in die Ecke nach unserer Art; bei Niedrigstehenden setzt der Schreiber das Siegel oben; wenn aber ein Geringer an einen Vornehmen schreibt, befindet sich das Siegel (oder die Unterschrift) auf der Rückseite.“ (Chardin, II. 292.)