Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen/Von Urmia nach Wan

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Die Missionen von Urmia. Die Umgebung der Stadt Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen
von Paul Müller-Simonis
Unsere Drangsale in Wan vom 7. Oktober bis zum 14. November
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Elftes Kapitel.
Von Urmia nach Wan.
Abreise des russischen Konsuls. Es gelingt uns, Katerdschis zu finden. Unsere Abreise von Urmia. Nasi. Von Nasi nach Giangetschin. Drei Bäume; kurdische Lager; der Naslu-Tschaï ; Giangetschin; unser Gastwirt und seine Wohnung; Zauber der Abende; der Steuerempfänger. Von Giangetschin nach Disa; ich kaufe ein Pferd; die türkische Grenze; das Thal von Baradost; Eintritt in das Becken des Zab; Irrtümer in der Kiepertschen Karte. Disa; Sascha Givergis; altertümliche Gastfreundlichkeit. Von Pisa nach Pilunkiegh; das Zollamt und die Länge der Geschäfte; komische Zwischenfälle. Das Thal des Nehil-Tschaï. Pilunkiegh. Von Pilunkiegh nach Khatibaba. Von Khatibaba nach Baschkala. Baschkala; Iskender Effendi; kurdische Bewässerungsanlagen. Photographische Aufnahme von Baschkala. Das Land Albag. Von Baschkala nach Mahmudiysch; Fehler der Kiepertschen Karte. Der wahrscheinliche Ort der Ermordung des unglücklichen Schulz; der Tschuk und sein Paß; armselige Mahlzeit; die Festung Mahmudiysch; schlechter Wille der Eingeborenen; Geschichte der Stadt. Von Mahmudiysch nach Wan; die Brücke über den Kotur; Norkiegh; der Paß des Warak. Wan. Begegnung mit dem Pater Duplan. Gendarmen, die uns erwarten sollten, wollen uns arretieren; Einmischung des russischen Konsuls; Abend bei Kolubakin.


Da der russische Konsul es mit seiner Reise nach Wan eilig hatte und wir nicht dazu kommen konnten, für diese seltene und ziemlich unsichere Reise Pferde zu finden, waren wir gezwungen, Kolubakin allein reisen zu lassen. Die „Gelegenheit", welche die Verletzung der unsern Familien gegebenen Versprechungen rechtfertigte, war somit nicht mehr vorhanden; aber wir waren einmal auf der Reise, und unsere Ehre stand auf dem Spiele; darum mußten wir vorwärts.

Endlich gelang es uns, Pferde zu finden, aber diese waren schlecht im Stande. Ein Karawanenführer aus dem Innern Persiens, der nach einem Aufenthalte in Urmia über Dilman nach Tebris reisen wollte, verstand sich dazu, uns die notwendigen Pferde zu leihen. Sein Sohn, ein Bursche von fünfzehn Jahren, und ein Diener begleiteten uns. Der alte Perser erwartete unsere Rückkehr von Wan in Dilman.

30. September.

Nach dem Essen brachen wir auf und ritten bis Nasi in der Begleitung des Herrn Montéty. Der Weg hielt sich beständig in einer Ebene mit kleinen wellenförmigen Erhöhungen bis zu dem kleinen chaldäischen Dorfe, das auf dem linken Ufer des Naslu-Tschaï erbaut ist. Wir wurden von dem Pfarrer aufgenommen. Derselbe ist noch jung, aber Witwer und mit Kindern mehr als gesegnet, weshalb er auch selbstverständlich arm ist. Wie kann er sich bei der Sorge um seine Familie noch mit seinem Amte beschäftigen? diese Frage drängte sich uns unwillkürlich auf. Die Kirche starrte von Schmutz. Der Kirchhof enthielt keine interessanten Inschriften, trotzdem man uns die gegenteiligen Versicherungen gegeben hatte.

1. Oktober.

Um achteinhalb Uhr des Morgens reisten wir weiter. Wir trennten uns von Montéty und wandten uns dem Gebiete von Baradost zu.

Der Naslu-Tschaï bewässert das Land von Baradost. Er fließt von Norden nach Süden, dann durch verschiedene Engpässe, wendet sich darauf in einem Bogen nach Osten bis Nasi, worauf er dem See zufließt. Auf der Reise von Nasi nach Giangetschin durchschnitten wir den Bogen. Der Weg führt über eine Art terrassenförmige Hochebene, durch eine durchaus nackte Gegend, die hier und da von kleinen Gießbächen durchschnitten ist, deren Wasser dem Naslu-Tschai zueilt. In dem Augenblick, wo wir den Paß, der uns von Baradost trennte, überschreiten wollten, machten wir an dem Ufer eines Bergstromes Halt und staunten. Drei Bäume standen am Wege; niemand hat sie gepflanzt. Dies ist für die dortige Gegend ein kleines Wunder. Das kleine Gebüsch von Bisau-Dagh abgerechnet, waren dies die ersten wildwachsenden Bäume, die wir seit drei Wochen gesehen hatten, d. h. seitdem wir den Eschek-Meidan überschritten hatten.

Der Paß ist durch einen Schmugglerposten verteidigt, der uns einige Besorgnis einflößte; er erwartete uns mit den Waffen in der Hand und musterte uns scharf vom Kopf bis zu den Füßen. Ist es ein Regierungsposten oder der Wachtposten einer kurdischen Räuberbande? Im Grunde war das ziemlich dasselbe; wir waren zufrieden, daß wir unsere Flinten bei uns hatten und stolz vorbeigehen konnten.

Indem wir das Thal des Naslu-Tschaï wieder erreichten, kamen wir kurz vor Giangetschin an einem Lager nomadischer Kurden vorbei. Ihre großen braun, schwarzen Zelte sind zwar malerisch von Ansehen, gewähren aber bei näherer Besichtigung einen armseligen Anblick und sind durchaus nicht einladend.

Die Ebene von Giangetschin scheint früher ein See gewesen zu sein, der seine Deiche durchbrach und sich durch die Schlucht ergoß, die der Naslu-Tschaï bei seinem Austritt aus der Ebene durchläuft.

Ankunft 4½ Uhr nachmittags.

Ein vornehmer Christ des Ortes nahm uns in sein Haus auf. Man gelangt in dasselbe durch einen Gang, der zugleich als Pferdestall dient.

Das eigentliche Haus ist ein rechteckiger Saal von ungefähr acht Metern Länge und sechs Metern Breite. Das Dach ist nicht mehr platt wie in der Ebene von Urmia; vier hölzerne Pfeiler, die in den Ecken des Saales stehen, tragen zwei Balken, auf denen im Winkel drei Balken liegen; diese tragen wieder zwei Balken, und so geht es fort. Jede obere Lage steht etwas gegen die untere zurück. Das Ganze bildet ein pyramidenförmiges Gerüst, das mit Flechtwerk bedeckt ist, worauf sich eine ordentliche Schicht Stampferde befindet. Die Spitze des Daches ist offen in einer Weite von ungefähr zwei Fuß. Diese Öffnung dient zugleich als Fenster und Kamin.

Das Haus enthält noch einige andere bewohnbare Räume; aber diese sind von dem Steuerempfänger in Beschlag gelegt, der in das Dorf gekommen ist, um die Leute zu schröpfen. Dieser ehrenwerte Beamte litt am Fieber und verlangte sofort unsern Rat. Man behauptet (siehe Ritters Erdkunde IX, 746), daß, sobald im Herbste die Nächte anfangen kühler zu werden, die intermittierenden Fieber in ganz Kurdistan herrschen, worunter wir aber niemals zu leiden hatten.

Die ganze Familie wohnt in dem großen Zimmer; uns trat man eine der langen Seiten desselben ab; zu unserer Seite ließen sich die Männer nieder; uns gegenüber erhielten während der Nacht die Frauen und Kinder ihre Stelle; endlich, um das Bild zu vervollständigen, ließ sich mit den Kindern eine Herde kleiner Ochsen friedlich in dem Zimmer nieder. Aus der Mitte dieser ländlichen Bewohner machte sich bald ein scharfer Geruch bemerkbar. – Diese Abende besitzen auch einen Zauber, wenn man nach den Mühen des Tages den Thee im Kreise der alten Leute des Dorfes trinkt, die kommen, um den Fremden ihre Ehrerbietung zu bezeugen und zugleich ihre Neugierde zu befriedigen. Es sind kräftige, freie Gestalten, von Natur aus Räuber. Sie beobachten den Fremden mit großer Neugier, würdigen ihn auch zuweilen einiger Fragen und antworten, wenn er etwas fragt, in Rätseln. Bei dem flackernden Scheine des Herdes, wenn der sich mit aller Gewalt auf drängende Schlaf dem Reisenden nur mehr eine halbklare Erkenntnis der Sachen läßt, nehmen diese fremden Silhouetten, die ab und zu einige Worte mit halblauter Stimme wechseln, in ihrer Unbeweglichkeit und Geringschätzung einen phantastischen Anstrich an, und gerade dieser Traum im Zustande des Halbwachens läßt dem Reisenden angenehme Erinnerungen zurück.

Aber gerade die Höflichkeit dieser Bergbewohner wird zuweilen lästig. Sie blieben ruhig auf ihrer Stelle, selbst als wir uns hinlegten und schnarchten. Anfänglich war uns dieses selbstverständlich lästig; für die Folge wurden wir aber daran gewöhnt, uns in ihrer Gegenwart anzukleiden, ohne uns um die Leute weiter zu kümmern.

2. Oktober. Abreise um 7 Uhr morgens.

Der Hausherr begleitete uns bis zur türkischen Grenze, die er aber nicht überschritt, wenigstens nicht auf dem gewöhnlichen Wege, weil er eine Martiniflinte trug, die aus der türkischen Armee stammte und die ihm am Zollamte konfisziert worden wäre.

Die Grenze durchschneidet das Thal von Baradost, nachdem man kaum eine halbe Stunde im Gebirge ist. Der Grenzposten von Basirka befindet sich eine Stunde vor dem Thale. Dieses ist nackt und bietet durchaus nichts Interessantes, wohl aber ein günstiges Terrain zu Diebesherbergen.

Ehe wir uns von unserm Gastwirt in Giangetschin trennten, kaufte ich von ihm für vierzehn Toman (ungefähr achtzig Mark) sein Pferd, ein dreijähriges Füllen. Es war von guter Rasse, aber ein wenig müde, da es in vierzehn Tagen keinen Stall gesehen hatte. Zur Erinnerung an sein Heimatland gab ich ihm den Namen Baradost. Seine Gangart war ausgezeichnet, aber seine Faulheit außerordentlich. Infolgedes erhielt es von uns den Schimpfnamen „Djamuk“ (Büffel).

Ein wenig später überholten wir einen kleinen Trupp kurdischer Eseltreiber, die Weintrauben von Urmia nach der Türkei brachten. Sie ließen uns einige Pfund ab, die ein Extragericht für unser Mittagessen abgaben. Das Wetter war dumpf und bedeckt, der Himmel und das Thal bilden ein Gemälde, grau auf grau, schrecklich traurig und öde.

Der Weg biegt nach Südosten. An der Stelle, wo er nach der Karte von Kiepert sich nach Nord-Westen wendet, um Kuledere zu erreichen, verließen wir ihn und folgten einem andern, der mehr gebahnt zu sein schien; in südlicher Richtung erreichten wir den Paß, der das Becken von Urmia und das des großen Zab trennt.

Von dem Paß aus hat man eine herrliche Aussicht auf die schneebedeckten Berge des Hakkiari, des Herzens Kurdistans. Von hier aus kann man sich gut über die Erhebung des persischen Plateaus Rechenschaft geben. während wir, um den Paß zu erreichen, von Urmia aus im ganzen wenig gestiegen waren, öffneten sich vor uns tief eingeschnittene Thäler, die in den Bergen gigantische Spalten bilden und mit starkem Gefälle sich zu den Ebenen von Mesopotamien senken. Wir erreichten ein ödes Thal und kamen bald zu dem ersten Dorfe nach Basirka. Kiepert nennt es Sarai, aber die Leute der dortigen Gegend haben ihm den Namen Serdsch-Kaleh gegeben, da es wirklich mit einer kleinen Festung, die Kaleh heißt, gekrönt ist.

Ankunft 6 Uhr 50 Minuten abends.

Anderthalb Stunden später erreichten wir mit einbrechender Nacht Disa da, wohin Kiepert Serdsch-Kaleh verlegt. Kiepert bezeichnet Disa an einem andern Flüßchen, genau auf dem 42. Längegrad und südöstlich von dem wirklichen Disa. Disa ist gelegen an dem Zusammenfluß zweier Flüsse; der zur rechten Hand ist derjenige, dessen Laufe wir gefolgt sind; der zur linken scheint der bedeutendste Nebenfluß des Nehil-Tschaï zu sein und ist derjenige, an dessen Ufer Kiepert Disa verlegt, freilich achtundzwanzig Kilometer weiter stromaufwärts.

Disa liegt terrassenförmig um einen Hügel, der mit einer alten Zitadelle gekrönt ist, und bildet in dem Halbschatten des Abends ein malerisches Bild. Unser Eintritt in die Stadt war ergötzlich. Wir hatten Gegu gefragt, ob er Disa kenne, welche Frage er mit „Nein“ beantwortete. Aber von allen Seiten kamen Brigantenphysiognomien an uns heran und riefen ihm ganz familiär: „He, Gegu!“ zu. Wir verlangten Aufklärung von unserem Führer. „Vater!“ antwortete er lachend, „Schaudi Disa nicht kennen, aber“ – er begleitete diese Worte mit einer bezeichnenden Geberde – „Schaudi gut kennen die Gegend um Disa herum.“ In früheren Zeiten hatte der alte Räuber hier gekreuzt. Ein anderes Ereignis: Die Häuser sind an den Hügel angelehnt und zur Hälfte unterirdisch, und ihre Dächer sind ganz kahl wie der Boden. Bei der Dunkelheit machten unsere Pferde etliche Male unfreiwillige Spaziergänge auf den terrassenartigen Dächern zum großen Schrecken der Frauen.

Endlich langten wir bei dem chaldäischen Geistlichen an. Dieser, Kascha-Givergis mit Namen, ist ein Mönch aus dem Kloster von Rabban-Hormis. Der Empfang war wirklich patriarchalisch. Wir wohnten mit dem Pfarrer in einem Zimmer zusammen, das sehr reinlich und mit Teppichen geziert war. Kaum hatten wir uns gesetzt, als ein Diener mit einer schönen persischen Gießkanne kam; er kniete nieder, zog uns die Schuhe aus und begann, uns die Füße zu waschen. Diese mit einer gewissen Würde und mit dem Bewußtsein, eine Pflicht der Gastfreundschaft erfüllt zu haben, vollzogene That, machte einen eigentümlichen Eindruck auf uns. Fanden wir nicht am Ende des neunzehnten Jahrhunderts dieselbe Form der gastfreundlichen Höflichkeit wie zu Abrahams Zeiten?

3. Oktober.

Der Morgen war unangenehm; wir mußten zum Zollamte und alsdann dem Kaimakan, dem Chef des Kasa oder des Gebietes von Guiavar, einen Besuch machen, und keiner der Beamten beeilte sich überhaupt aufzustehen. Der Kaimakan empfing uns sehr zuvorkommend; aber das Zollamt ist türkisch geblieben. Der Pfarrer hatte uns vorher schon in Kenntnis gesetzt über die Schwierigkeiten, die uns durch unsere Drucksachen erwachsen könnten; auch erbot er sich in liebenswürdigster Weise, unsere Bücher bei sich zu verbergen. Wir ließen also in unseren Koffern nur einige chaldäische Gebetbücher und einige alte französische Zeitungen.

Das ganze Zollamt geriet in Verwirrung! Die chaldäischen Bücher konnten auf das Wort des Vaters, der sich für ihre Ungefährlichkeit verbürgte, passieren; aber für die Zeitungen war dies nicht zulässig. Mit den klarsten Gleichnissen suchten wir den Beamten den mannigfachen Gebrauch dieser Journale auf der Reise begreiflich zu machen, aber die Sache war zu wichtig. Sie mußten nach Baschkala geschickt werden, wo ein Beamter war, der die französische Sprache verstand. Nun fand sich bei den Zeitungen noch ein verirrter Brief, der wieder den Gegenstand großer Beunruhigung bildete. Als Hyvernat von dem Brief reden hörte, nahm er ihn ruhig und zerriß ihn; jetzt geriet der Chef des Zollamtes bei nahe in Verzweiflung. „Wie,“ schrie er, „Sie zerreißen den Brief, und ich habe in meinem Bericht schon davon gesprochen? Haben Sie keinen andern?“ Auf diese naive Frage zog Hyvernat ganz bedächtig einen aus seiner Tasche. „Päkei, Päkei!“ (sehr gut, sehr gut) schrie der Zollamtsvorsteher ganz entzückt, da er den zerrissenen Brief ersetzen konnte. Alles war gut, und niemand dachte daran, die Nachforschungen nach andern wichtigen Dokumenten noch fortzusetzen.

Der Besuch auf dem Zollamte war offiziell beendigt; aber das Ganze war ohne Backhschich verlaufen, und diese Frage mußte noch nebenbei erledigt werden. Kascha-Giverghis übernahm dies für uns. Aber all sein Kommen und Gehen, all seine Besuche fruchteten nicht viel, so daß wir erst um drei Uhr des Nachmittags in der Begleitung zweier Zabtiehs unsere Reise fortsetzen konnten.

Abreise 3 Uhr nachmittags.

Auf einer Strecke von anderthalb Stunden ist der Nehil-Tschaï , an dessen Ufer wir weiterzogen, ein Fluß mit ruhigem Lauf; an einer Stelle bildet er sogar eine sehr tiefe Lagune, die mit Schilf eingefaßt und mit Knäkenten bevölkert ist. Aber bald wagt er sich in die außerordentlich engen und steilen Engpässe. Um die von den Felsen gebotenen Hindernisse zu überschreiten, muß man sich eines Pfades bedienen, der in phantastischer Weise bald steigt, bald fällt; er ist einfach schrecklich, aber der Anblick ist wunderbar. Auf dem Grunde der Schlucht fließt der Nehil-Tschaï, dessen Wasser in smaragdgrüner Farbe schimmert; nach Süden zu erhebt sich ein ganzes Chaos von hohen, mit ewigem Schnee bedeckten Bergen. Der Tura-Galila und der Tura-Gelka können sich mit ihren Gletschern würdig den Alpen zur Seite stellen.

Ankunft 6 Uhr 40 Minuten des Abends.

Nach anstrengendem Klettern erreichten wir das Dorf Pilunkiegh. Dieses liegt am Fuße eines Felsen, der in dem Halbschatten den Eindruck eines liegenden, riesenhaften Löwen macht. Pilunkiegh zählt nur einige Hütten. Wir schliefen in dem Palast des Dorfes, einer Loggia auf einem Pferdestall, die zwar einen herrlichen Blick auf die Berge gestattete, aber nur von drei Seiten verschlossen war; den Verschluß an der vierten Seite ersetzten wir, so gut es ging, durch unsere Plaids.

Szene aus Pilunkiegh.

Nach dem Abendessen kam der kurdische Hausherr, um uns Gesellschaft zu leisten. Ganz erstaunt waren wir, als wir sahen, daß seine Frau ihn begleitete und dazu nicht einmal verschleiert war. Ihr Profil ist beinahe schön zu nennen, nur macht es einen zu harten Eindruck. Sie trug ein georgisches Diadem, und die Lumpen, die aber die kurdische Künstlerin verrieten, kleideten sie herrlich. Sie brachte den ganzen Abend bei uns zu; hier ist man von der Zurückgezogenheit der persischen Frauen weit entfernt. Man merkt, daß diese Frau, ungeachtet ihrer tieferen Stellung, doch in Wirklichkeit die Herrin des Hauses ist. Ihr kleines Mädchen im Alter von zehn Monaten sah ganz munter und wild aus.

Diese Überlegenheit der kurdischen Frauen ist von fast allen Reisenden bemerkt worden. Da die Bevölkerung ein halbes Nomadenleben führt, und die Frau an allen Gefahren desselben teilnimmt wie an allen Anstrengungen des Mannes und zuweilen Proben eines außerordentlichen Mutes ablegt, so ist sie allmählich dazu gekommen, sich in der Familie eine höhere Stellung zu erobern. Was die Männer betrifft, so kann man auf jeden von ihnen das türkische Wortspiel anwenden: „Kurd-Kurd“. Im Türkischen bezeichnet einmal das Wort Kurd den Namen des Stammes und ein anderes Mal den Wolf. Dieses Zusammentreffen zwischen dem räuberischen Sinn des Volkes und dem des Wolfes, dessen Namen das Volk auch trägt (im Türkischen), ist pikant.

Pilunkiegh scheint nur eine Sommerstation zu sein; denn die Menge der Herden, die sich während der Nacht um das Dorf drängen, steht in keinem Verhältnis zu den Ställen; auch scheinen die Wohnungen nicht für den Winter eingerichtet.

4. Oktober. Abreise 6½ Uhr des Morgens.

Unsere Reise fing damit an, daß unsere Pferde stürzten, wobei sie beinahe tot geblieben wären. Darauf gab es ein Auf- und Absteigen, während wir meistens zu Fuß reisten. Wir gingen nämlich in nördlicher Richtung, während der Nehil-Tschaï nach Osten fließt, um sich mit dem Zab zu vereinigen, wobei er unzugängliche Schluchten passiert. Wir verließen darum das Thal des Nehil-Tschaï, um auf dem kürzesten Wege zu der Höhe zu gelangen. Gegen elf Uhr überschritten wir einen Zufluß des Zab, der von Bergen malerisch eingeengt und mit Bäumen eingefaßt ist. Aus Furcht vor Briganten wollten unsere Zabtiehs sich hier nicht aufhalten. Nach längerem Steigen kamen wir auf eine große Hochebene. Obgleich es bereits Anfang Oktober war, hatten die Leute kaum mit der Ernte begonnen, weil die Früchte wegen der hohen Lage erst so spät reifen. Nach den Erzählungen unserer Zabtiehs soll dort kurz vorher zwischen den Briganten und den Einwohnern des benachbarten Dorfes ein blutiger Kampf stattgefunden haben.

Kurdischer Pflug.

Endlich stiegen wir abwärts in ein Thal, wo wir unterhalb des Dorfes Bovis bei einer Quelle Halt machten. Es war ungefähr zwei Uhr des Nachmittags, und der Hunger machte sich bei uns sehr fühlbar.

Bovis liegt nur eine halbe Stunde vom großen Zab entfernt. Wir fanden dort von neuem, daß das Land überall das Gepräge der Hochebene trägt; stromaufwärts, also nördlich von Bovis, trägt das Land die Bezeichnung Albag; das Thal ist breit; die Höhen, die es einfassen, gleichen mehr mäßig hohen Hügeln als Bergen. Langsam durchfließt der Zab[1] das Thal, indem er merkwürdige Krümmungen beschreibt, die uns unwillkürlich an die der Theiß erinnerten. Nach Süden zu ist der Gegensatz um so bemerklicher; der Zab wagt sich in die engsten Schluchten; die ihn begleitenden Berge nehmen die sonderbarsten Formen an und erheben sich zu ungeheurer Höhe über das Thal, durch das der Fluß sich nun in rasch aufeinander folgenden Strudeln hinabstürzt. Es ist dies die Gegend von Dschulamerik, die natürliche Festung Kurdistans. Die Wege daselbst sind nur schmale Pfade, die oft aus Balken errichtet sind, welche die Abgründe überdachen. Es ist dies die Heimat der tapfersten Kurden und der Nestorianer, die jenen an Stolz und Unabhängigkeitssinn durchaus nichts nachgeben.

Tavernier hat diese Gegenden besucht, als er sich von Tebris nach Dschestreh begab. Nach ihm hatten sich einige unerschrockene Missionare allein dorthin gewagt. Schulz war der erste, der sie in unserm Jahrhundert besuchte.

Unsere Wohnung in Khatibaba.

Wir durchwateten den Zab dem Dorfe Bovis gegenüber und erstiegen sein rechtes Ufer, indem wir beständig der Telegraphenlinie folgten, die durch die türkische Regierung von Baschkala nach Dschulamerik angelegt worden ist. Es ist merkwürdig, wie man uns erzählte, daß die Kurden, selbst wenn sie mit der türkischen Regierung nicht auf einem besonders guten Fuße stehen, doch nicht daran denken, die Telegraphendrähte zu durchschneiden. Die arabischen Bewohner Mesopotamiens dagegen sind boshafter und beginnen ihre Empörungen stets mit der Zerstörung der Telegraphenlinien. Auf unserm Wege trafen wir verschiedene schwefelhaltige Quellen. Das Wetter war unangenehm, und die Pferde schleppten sich nur mit vieler Mühe fort. Gegen Abend stiegen wir zu einem Zufluß des Zab hinab, dessen Krümmungen noch merkwürdiger sind als die des Zab. Unser Nachtlager wählten wir in Khatibaba.

Ankunft 6 Uhr 15 Minuten des Abends.

Das Haus war sehr niedrig, aber trotzdem geräumig genug; das Zimmer, das uns angewiesen wurde, ist sehr unangenehm, weil es außer dem Kamin, der der Thüre gegenüber angebracht ist, keine Öffnung enthält. Stopfen wir den Kamm zu, so ist es zum Ersticken; lassen wir ihn offen, so ist der schreckliche Luftdurchzug nicht abzuhalten. Nach dem anstrengenden Reisen wurde Hyvernat noch mit einer tüchtigen Migraine beglückt. Kascha-Isaak und ich befanden uns nicht viel besser. Der arme Gegu, der übrigens Glück hatte und eine kostbare Omelette mit Tomaten zurechtmachte, war untröstlich darüber, daß wir seiner Kochkunst so wenig Ehre erwiesen.

5. Oktober. Abreise 7½ Uhr morgens.

Um das an einem Zufluß des Zab gelegene Baschkala zu erreichen, ist es unnütz, das große Thal zu benützen; wir stiegen auf dem kürzesten Weg durch die Hügel hinauf. Unterwegs überraschte uns ein sündflutlicher Regen.[2]

Ankunft 10 Uhr 45 Minuten des Morgens.

In Baschkala wurden wir durch Iskender-Effendi, einen Beamten der ottomanischen Tabaksregie, sehr freundlich empfangen. Er ist ein geborener Italiener und verliert hier in der Eintönigkeit seines verlorenen Postens und in den Gefahren einer türkischen Verwaltung seine Zeit.

Baschkala (zu deutsch: Hauptfestung [der Gewässer]) liegt schön an den Westabhängen der Isperisberge in einer Höhe von 2900 Metern (unsere Barometer gaben die Höhe auf 2140 Meter an) und ist stufenweise an den Anhängen hinaufgebaut, die von einer alten Festung beherrscht werden. Es ist die höchste Stadt der Türkei; die Sommer sind schön und gemäßigt; die Winter sind lang und mehr schneeig als kalt. Getreide, wie auch Reis und Gerste, gedeihen gut in der Umgegend.

Vor dreißig Jahren war Baschkala nur ein armseliges Dorf. Als das Vilayet (Bezirk) von Hakkiari gebildet wurde, wurde Baschkala dessen Hauptstadt, und von da an datiert sein Aufschwung. Das Vilayet wurde wieder aufgehoben und mit dem von Wan vereinigt; aber Baschkala behielt seine Bedeutung, denn es ist ein in Kurdistan vorgeschobener Posten und kann einst als Handelsstation zwischen Persien und der Türkei noch eine Rolle spielen, wenn die türkische Regierung einmal dazu gelangen wird, die Wege sicher zu machen. Gegenwärtig ist Baschkala eine wichtige Telegraphenstation auf der türkisch-persischen Linie, sowie Ausgangspunkt mehrerer Wege in den Hakkiari.

Beim Ausgang aus der Stadt sieht man noch die Ruinen einer Fahrstraße, die indes niemals vollendet worden ist und deren Brücken noch zu erbauen sind.

Wir haben auf unserer Reise keine Briganten gesehen, wohl schöne kurdische Typen. Diese Kurden haben in den Thälern, die wir durchreisten, sehr bemerkenswerte Bewässerungsanlagen gemacht. Sie leiten aus unglaublichen Entfernungen das Wasser auf den Gipfel der Hügel, um ihre kleinen Wiesen damit zu bewässern.

Diese Kanäle sind ohne jegliche Nivellierinstrumente, lediglich nach dem Augenmaß hergestellt. Unglücklicherweise scheint es, daß die Kurden es nicht verstehen, aus ihren Arbeiten den größten Nutzen zu ziehen. Immer und überall findet sich die Wiederholung: fruchtbarer Boden, der aber infolge der praktischen Unfähigkeit und besonders durch den Mangel einer guten Regierung schlecht angebaut ist.

Gegen drei Uhr des Nachmittags begab ich mich in eine Ebene hinab, um eine photographische Aufnahme von der Stadt zu machen. Bei meiner Rückkehr traf ich eine ganze Bande von Beamten, den Vekil (Stellvertreter des Mutessarif, des Vorstehers der Provinz Albag) an der Spitze. Diese Beamten schienen keine Lust zu haben, sich meinetwegen in Unruhe bringen zu lassen und verschwanden. Kaum war ich weitergegangen, als sie Gegu anriefen, um ihn auszuforschen. Selbstverständlich machte sich dieser irgend etwas zurecht. Ich trat bei Iskender-Effendi ein; bald empfingen wir den Besuch des persischen Konsuls, Isaak Khans, eines jungen Mannes von sehr schönem Typus, dazu gut französisch sprechend. Kaum war dieser weggegangen, als der Chef der Polizei und ein Hauptmann erschienen. Der Hauptmann fragte mich ziemlich grob, mit wessen Erlaubnis ich das Wagestück unternommen habe, die Stadt zu photographieren. Ich antwortete ihm, daß ich dies ohne jeglichen Hintergedanken gethan habe, sondern lediglich deshalb, weil mir die Ansicht so gut gefallen habe. Er erwiderte, es sei verboten, ohne Erlaubnis Aufnahmen von der Stadt zu nehmen. „Kraft welches Gesetzes?“ fragte ich. Da gerieten sie wegen der Antwort in große Verlegenheit. Als sie nicht aufhörten, uns zu fragen und zu langweilen, wurden wir aufgebracht und erklärten ihnen, die Platten gegen ein über die Auslieferung aufgenommenes Protokoll auszuhändigen; aber darauf gingen sie nicht ein. Nun verlangten wir, zum Mutessarif geführt zu werden. Unter dem Vortritt der Beamten setzten wir uns in Bewegung, gefolgt von Gegu, der den gefährlichen Apparat trug.

Da der Mutessarif abwesend war, wurden wir von seinem Stellvertreter, dem Vekil, einem alten Gelehrten mit grauem Barte empfangen; er hatte schöne Gesichtszüge, aber ein falsches Aussehen. Er war mit einem grünen Pelzmantel bekleidet und trug einen weißen Turban.

Er begann die Verhandlung damit, uns zu eröffnen, daß es untersagt sei, eine photographische Aufnahme von der Stadt zu machen. Wir dagegen verlangten den Wortlaut des Gesetzes zu hören und boten ihm gegen ein entsprechendes Protokoll unsere Platten an. Vor diesem Entschluß schrak der alte Mollah zurück und sagte uns, er denke, daß das Gesetz uns verbiete, die Stadt zu photographieren, und daß er unsern Erlaubnisschein sehen wolle. Wir entgegneten ihm trocken, ein Mollah solle nicht denken, daß ein solches Gesetz existiere, sondern er habe das zu wissen. Diese Antwort reizte ihn sehr. Er bestand nicht weiter auf seiner Forderung und erklärte uns nur, daß er den Wali (Gouverneur) von Wan von der Sache sofort benachrichtigen werde, weil wir vielleicht ein sehr schweres Vergehen auf uns geladen hätten, indem wir die Sicherheit des ottomanischen Reiches gefährdeten. Vor dieser hohen Weisheit des Mollah mußten wir schweigen, machten ihm aber doch das Anerbieten, ihn selbst zu photographieren. Jetzt war die Verlegenheit des Alten sichtbar; er wäre gern auf unser Anerbieten eingegangen, aber er schenkte uns kein Zutrauen. Kurz, er verweigerte uns die Erfüllung unserer Bitte, indem er sich hinter die Vorschrift des Korans verschanzte, die verbietet, sich abbilden zu lassen, und welche Vorschrift er nicht zu übertreten wage. Wir beendeten die Sitzung, indem wir für den andern Morgen Zabtiehs verlangten. Man beglaubigte unsere Pässe mit der Bemerkung: „Gekommen von Hakkiari und abgereist nach Wan.“ Der Abend wurde uns etwas verdüstert durch die Vorahnung neuer Schwierigkeiten mit dieser beschränkten ottomanischen Verwaltung.

Gebiß von Giavar.

Iskender-Effendi zeigte uns ein schönes Gebiß, das in einem alten Grabe des Giavar, bei Disa, gefunden worden war. Das Skelett des Pferdes lag neben dem Skelette eines Mannes, und es schien, als ob an dem Orte sich noch sehr viele Gräber befinden. Leider konnten wir keine genaue Auskunft erhalten, weshalb wir uns auf diese Mitteilung beschränken müssen, die vielleicht irgend einem Anthropologen als Führer dienen kann. Das Gebiß aus Schmiedeeisen ist sehr schwer; es wiegt 500 türkische Dramen (ungefähr 1000 Gramm).

Die Provinz Albag, wovon Baschkala heute das Zentrum ist, hat in der christlichen Geschichte Armeniens eine bedeutende Rolle gespielt. Sie bildete einen Teil der Provinz Waspurakan und scheint eine der ersten Gegenden gewesen zu sein, die das Licht des wahren Glaubens erhielt. Die armenische Tradition verlegt den Ort, wo Bartholomäus den Martertod erlitt, in die alte Stadt Albag. Wie man auch in einem Kloster fünf Stunden nordöstlich von Baschkala sein angebliches Grab zeigt. Die Bevölkerung des Distriktes ist heute zum größten Teil mohammedanisch, doch zählt man noch mehr als tausend armenische Familien. Die nestorianischen Gebiete fangen erst hinter Kermi, unterhalb der Vereinigung des Nehil-Tschaï mit dem großen Zab, an.

6. Oktober. Abreise 7½ Uhr morgens.

Im Augenblick der Abreise kamen unsere zwei Zabtiehs an; allem Gebrauche zuwider waren es zwei Infanteristen. Da wir durch sie nicht auf unserer Reise aufgehalten zu werden wünschten, schickten wir sie zurück. Iskender-Effendi gab uns darauf einen Beamten der Regie als Führer.

Der Weg geht von Baschkala nicht in gerader Richtung auf Tschuk zu, wie ihn Kiepert auf seiner Karte verzeichnet. Um diesem Wege zu folgen, müßte man vor Tschuk einen sehr steilen Paß erklettern. Um dieses zu vermeiden, geht der Pfad nordöstlich um den Ausläufer des Gebirges herum, das die Thäler von Baschkala und des Tschuk von einander trennt und sich nur unmerklich von der Ebene des Albag abhebt. In der Ebene liegt das Dorf Kalai-Kerari; es ist dies wahrscheinlich der Ort, wo der unglückliche Schulz im November 1829 ermordet wurde.[3] Unternehmend, mutig, aber durch sein Gepäck zu viel Aufsehen machend und dazu den großen Herrn spielend, versuchte er zu sehr die kurdische Begierlichkeit. Nachdem er Dschulamerik – der erste in diesem Jahrhundert – besucht hatte, wurde er durch den kurdischen Anführer, der sich zu seinem Führer angeboten hatte, heimtückischer Weise ermordet. Sein tragischer Tod vermehrte noch den schlechten Ruf des Landes; die Bewohner desselben witterten in jedem Europäer einen Rächer für den begangenen Mord und hielten deshalb lange Zeit ihre Berge dem Eindringen der Europäer verschlossen.

Bald dreht sich der Pfad nach Westen, und wir verloren das Thal des Zab aus den Augen. Unsere persische Tscherwadare sind wahre Faulenzer; während der eine ein Kind ohne jegliche Erfahrung ist, raucht der andere leidenschaftlich Opium. Um sie in Gang zu bringen, mußten wir zu Knutenhieben greifen und hatten so noch einmal Gelegenheit, die absolute Wirkung dieses Mittels auf die Perser konstatieren zu können. Von dem Moment an wurden die Leute sehr gelenkig und pünktlich; aus Brummbären und Murrköpfen wurden sie heitere, lachfrohe Menschen.

Nachdem sich der Pfad um den Bergausläufer gewunden, steigt er in das Thal von Tschuk und überschreitet den Fluß eine Strecke unterhalb des Dorfes. Alsdann beginnt eine steile Partie bis zu der Paßhöhe, die das Becken des Zab von dem geschlossenen Becken des Wansees trennt. Wir erreichten den Beginn des Passes gleich nach Mittag. Hier wollten wir frühstücken und uns an den reichlichen Vorräten, mit denen Iskender-Effendi uns versorgt hatte, gütlich thun. Aber welche Täuschung! Die Dienstboten Iskenders hatten während der Nacht ungefähr alles aufgezehrt, so daß uns nichts blieb als einige Stücke schlecht gebackenes Brot, drei oder vier Zwiebeln und paar Hammelknochen, deren Reinigung von Fleisch aber auch schon eine vollendete Thatsache war. Wir mußten uns zufrieden geben. Wir zerbrachen die Knochen, um gleich wirklichen Troglodyten das Mark zu verzehren, und setzten dann unsern Weg fort, freilich sehr wenig gestärkt.

Wir erreichten den Paß gegen 1½ Uhr. Seine Höhe beträgt nach Angabe unserer Barometer 2780 Meter, während Binder dieselbe auf 3200 angiebt.

Beim Beginn des Passes stand ein Posten Zabtiehs; zwei von ihnen wollten uns um jeden Preis begleiten, da sie Gefahr für uns fürchteten. Gegu, der das Land am besten kannte, riet uns, die Begleitung anzunehmen, und wir folgten seinem Rate. Diese ganze Gebirgspartie hat Überfluß an dem Anscheine nach schieferhaltigen Felsen, die in allen möglichen Farben erglänzen: rot, grün, schwarz, grau. Das Terrain ist zu einem Hinterhalt wie eigens geschaffen. Im Winter häuft sich bei dem Paß eine große Menge Schnee auf. Auch ist der Weg von großen Steinen abgesteckt, die dem Reisenden dann als Wegweiser dienen sollen.

Bei dem Abstieg in das Thal von Coschab ist der Anblick der Berge sehr schön, während das Thal selbst nichts Pittoreskes bietet.

Bei einer Biegung des Weges sahen wir plötzlich auf einem unzugänglichen Felsen die Festung Mahmudiysch vor uns. Sie besteht aus den sehr großen Ruinen eines Schlosses, das prachtvoll gewesen sein muß. Von der Höhe des Felsen ähnelt die Festung einem Adlernest, aber sie beherrscht das Thal und sperrt es völlig ab. Als Ruine fällt sie durch ihre pittoreske Wildheit auf, die sich selten so findet.[4]

Ankunft 5½ Uhr nachmittags.

Die späte Ankunft und die trüben Erfahrungen von Baschkala verhinderten mich, eine photographische Aufnahme zu machen.

Die Stadt liegt zu beiden Seiten des Coschab (zu deutsch: gutes Wasser), die durch eine schöne Brücke mit einander verbunden sind. Die ganz aus Mohammedanern bestehende Bevölkerung ist sehr fanatisch und zeigte keine Spur von Zuvorkommenheit. Nicht einmal ein Nachtlager wollte man uns geben. Da gewahrten wir endlich ein ganz neues Haus, das noch unbewohnt war; ohne jedwede Zeremonie quartierten wir uns daselbst ein, indem wir die zahlreichen Öffnungen, so gut es ging, verstopften. Auch hinsichtlich der Lebensmittel hatten wir Schwierigkeiten zu bestehen. Glücklicherweise hatte Gegu noch einige Hülsenfrüchte und etwas rohes Fleisch. Auch fand er grundschlechtes Brennmaterial, wovon man ihm allerdings auch noch die nötige Menge verweigert hatte, nämlich eine Art dornige, verkümmerte Pflanze. Mit Aufbietung vieler Geduld kam er dann endlich dazu, uns à la russe ein Bordj (eine Kohlsuppe) zu kochen, die uns trefflich mundete.

Mahmudiysch oder Coschab war lange Zeit der Sitz eines mächtigen Emirs, der es verstand, seine Unabhängigkeit aufrecht zu erhalten, indem er sich je nach den Umständen entweder den Türken oder den Persern anschloß. Diese Emire gaben sich für Nachfolger der Ommyaden aus. Der Begründer der Dynastie, Scheck Mahmud, hatte vom Man „Schwarzer Hammel“ als Belohnung für seine Tapferkeit die Belehnung mit diesen Ländern erhalten. Er ließ sich in Coschab nieder, und sein Volk erhielt den Namen Mahmuden. Die Mahmuden waren ursprünglich Uesiden, traten aber unter Hassan-Beg, ihrem neunten Emir, zum Islam über.

7. Oktober. Abreise 5½ Uhr des Morgens.

Wir hatten unseren Tscherwadaren die Knute versprochen, wenn sie nicht um vier Uhr reisefertig wären. Infolge dieser Vorsichtsmaßregel konnten wir schon um 5½ Uhr abreisen. Unser Führer legte eine schreckliche Furcht vor den Briganten an den Tag.

Ungefähr zwei Stunden lang bleibt der Weg auf dem linken Ufer des Coschab; zwei felsige Ausläufer versperren alsdann das Thal, indem sie nur eine enge Schlucht lassen, durch die der Fluß zieht. Diesen Punkt hat man benützt, um über den Coschab eine Brücke zu bauen, die nur aus einem einzigen Bogen besteht und infolgedessen nicht besonders fest zu sein scheint. Nachdem die Brücke, die in einem sehr schlechten Zustande ist, einmal hinter uns lag, mußten wir wieder tüchtig klettern, um den einen Ausläufer zu umgehen. Unterhalb der Schlucht erweitert sich das Thal von Coschab wieder, bietet aber von da ab wenig Interessantes. Eine Gewitterschwüle erschwerte den Marsch sehr, weshalb unsere ganze Gesellschaft in eine kleine Unordnung geriet. Zur linken ließen wir Hindostan liegen, überschritten ein Hügelland und gelangten schließlich zu dem kleinen armenischen Dorfe Norkiegh, das in einem Seitenthale des Coschab liegt. Das Dorf selbst ist schmutzig; indes fanden wir ein ziemlich anständiges Haus, wo wir etwas ausruhen konnten.

Gleich nach Mittag setzten wir uns wieder in Bewegung, um den Paß von Warak zu ersteigen. In dem Maße, wie wir uns dem Gipfel näherten, zog auch das Gewitter drohend näher; deshalb trieben wir unsere Pferde zur Eile an und legten eine gute Strecke im Galopp zurück. Da erblickten wir ganz unerwartet das Ende des Sees von Wan vor uns. In der Ferne erhob sich die imposante Masse des Sipan-Dagh, während sich zu unseren Füßen ein grüner Fleck ausbreitete, nämlich Wan mit seinen Gärten. Die Erscheinung dauerte nur einen Augenblick, da brach ein Sturm los und hüllte den Berg mit einem leichten Mantel von Schnee ein.

Beim Eintritt in die Ebene trafen wir den Pater Duplan, einen Dominikaner-Missionar von Wan, den wir durch eine Depesche von unserer Ankunft unterrichtet hatten, und der die Liebenswürdigkeit besaß, selbst zu unserem Empfange zu erscheinen.

Der Anblick der Ebene von Wan ist entschieden viel großartiger als der der Ebene von Urmia. Das gebirgige Thal, das wir verließen, bildet eine Art Einfassung. Schöne Gebüsche tragen zur Belebung der Landschaft bei. Von hier aus gesehen, erscheint das Wasser des Sees in einem metallischen Glanze, ähnlich dem des frisch gehärteten Stahls. Endlich ist die Landschaft noch durch den Sipan-Dagh abgeschlossen. Zwar kann dieser mit dem Ararat gewiß nicht wetteifern, dessen Linien mehr abgerundet sind und mit dem schneebedeckten Gipfel den Hintergrund eines wahrhaft schönen Landschaftsbildes abgeben. Aber das ganze Becken von Wan ist bezaubernd durch die Anmut seiner Umrisse. In Urmia fragt man sich unwillkürlich, warum der See gerade dort ist. In Wan dagegen bildet der See den Hauptteil des Landschaftsbildes.

Als wir an einem Bache, nahe beim Eintritt in die „Gärten“ angelangt waren, sahen wir plötzlich den Weg durch eine Bande Gendarmen versperrt, die uns erwarteten; der Unteroffizier forderte uns auf, ihm zum Hekümeht (Bureau des Gouverneurs) zu folgen. Wir wollten ihm unsere Papiere zeigen, aber er antwortete uns, daß ihn die Papiere nichts angingen, und daß er nur den Befehl habe, uns dem Polizeichef vorzuführen.

Einem solchen unqualifizierbaren Verfahren, das einer Verhaftung ziemlich ähnlich sah, weigerten wir uns einfach zu gehorchen und erklärten den Gendarmen, daß sie Gewalt anwenden müßten. Sofort schickte Pater Duplan seinen Diener im Galopp zum russischen Konsul, um ihn von dem Vorfall zu unterrichten. während wir so auf unsere Verteidigung bedacht waren, zogen die Gendarmen allmählich andere Saiten auf. Sie drückten uns ihr persönliches Bedauern aus, daß sie zu solch seltsamen Verrichtungen kommandiert worden seien, und wollten warten, ob ihnen die Ausführung des Befehls vielleicht erspart bliebe. Vor einer Gewaltthat haben sie Furcht, weil wir Europäer sind und vielleicht mit der Unterstützung unserer Regierung reisen. Wenn man uns verhaften und dann gezwungen würde, uns mit den üblichen Entschuldigungen wieder in Freiheit zu setzen, würde der Polizeichef das alte türkische Manöver anwenden, nämlich seine Hände in Unschuld zu waschen und zu sagen, er sei nicht richtig verstanden, und seine Ordres seien überschritten worden, und zum Beweis dafür wolle er den Gendarmen eine empfindliche Strafe erteilen. Dies wissen die Gendarmen auch ganz gut, und darum zögerten sie auch und warteten das Resultat der Appellation an den russischen Konsul ab.

Das Ergebnis dieser Appellation ließ nicht lange auf sich warten; nach kaum zwanzig Minuten erschien im gestreckten Galopp der gefürchtete Hadschik, der Kawaß des Konsuls. Mit der Knute in der Hand befahl er den Gendarmen, zu verschwinden; wie Lämmer gehorchten sie, indem sie sich in eine respektable Entfernung zurückzogen. Aber ihre Achtung verwandelte sich in demütige Unterwerfung, als wir nach einigen Schritten dem Konsul selbst begegneten. Er saß im Wagen mit seiner Frau und deren Vater, Michel Kowadenski. Kolubakin ließ Hyvernat in den Wagen steigen. Sein Schwiegervater nahm das Pferd Hyvernats, und so hielten wir mit großem Pomp unsern Einzug in Wan. Der Wagen fuhr direkt zum Konsulat. In der Begleitung Kowadenskis brachte ich sofort unser Gepäck zu den Missionaren und begab mich dann mit Vater Duplan zu Fuß in die Wohnung Kolubakins.

Um das Haus des Konsuls zu erreichen, mußten wir an einem Posten vorbei, wo sich gerade der Tabur-Agafsi (der Polizeichef) befand. Er ließ uns durch einen Beamten rufen. Teils durch Einschüchterung, teils durch Überredung suchte er uns zum Eintritt in den Posten zu veranlassen, indem er vorgab, mit uns reden zu wollen. Die List war indes zu grob, um uns auf diese Weise in die Höhle des Löwen zu locken. Pater Duplan ließ ihm antworten, daß, wenn er mit uns amtlich zu verhandeln habe, nicht ein solcher Posten, eine Schenke nämlich, der geeignete Ort dafür sei, sondern der Konak, wo die Frage erledigt werden könnte. Wolle er uns aber aus Höflichkeit grüßen, so sei der Ort weder seiner noch unser würdig. Als der Offizier noch auf seiner Forderung beharrte, trat Kowadenski mit einem befehlenden Tone dazwischen und geleitete uns zum Konsulat. Die Polizisten folgten uns, so daß der Konsul genötigt war, sie vor die Thüre setzen zu lassen.

Scheik Hamid.

Es schien, als ob unsere Anwesenheit die Türken sehr beunruhigte, die von der Manie befallen sind, in jedem Reisenden einen Spion zu erblicken. Wir sind geistlich; und das letzte Schreiben des Papstes an die Armenier hatte in dem Lande große Aufregung hervorgerufen; vielleicht glaubte man auch noch, daß wir in Beziehung zu diesem Schreiben standen. Wir hatten Kascha Isaak bei uns, der ein Chaldäer ist, und der Wali hatte durch häßliche Manöver, die er als Mitschuldiger der Kurden unternommen hatte, damals mit den Christen des Hakkiari manchen Strauß auszufechten. Dazu kam noch, daß wir unter der Führung eines Beamten der Regie gekommen waren, der zu gleicher Zeit in dem Dienste Scheik Hamids war, eines der angesehensten Männer des Landes, und Scheik Hamid war, was wir aber damals noch nicht wußten, ein Todfeind des Walis. Es ist also leicht erklärlich, daß wir im höchsten Grade verdächtig waren.

Indem wir der Dinge harrten, die über uns kommen würden, verbrachten wir auf dem Konsulat aber einen angenehmen Abend. Das Haus ist nett eingerichtet. Durch eine Menge Bilder und patriotischer Erinnerungen scheint man dem Bedürfnis, sich an das Vaterland zu erinnern, entgegenkommen zu wollen. Frau Kolubakin ist eine junge Frau, der es aber an dem erforderlichen Mute fehlt, um sich hier einzugewöhnen, wo ein geselliger Verkehr unmöglich ist. Der Konsul ist ein junger, energischer Mann, der sicher noch eine große Zukunft hat.

8. Oktober.

Wir quartierten uns bei den Dominikanern ein. Pater Rhetorius und Pater Duvlan empfingen uns wie alte Freunde. Man wird schnell in diesen entfernten Gegenden mit einander bekannt, wenn man denselben Gefahren und denselben Scherereien ausgesetzt ist und man sich zudem durch denselben priesterlichen Charakter nahe steht.

  1. Der große Zab hat seine Quelle im Albag unter dem 38. Grad nördl. Breite in einer Höhe von 2286 Metern (Ritters Erdkunde IX. 641). Nach unsern Berechnungen ist die Höhe um 200-300 Meter zu gering angegeben. Fünfzig Kilometer unterhalb Mosul vereinigt er sich mit dem Tigris, genau auf dem 36. Breitegrad in einer Höhe von ungefähr 150 Metern über dem Meere. Seine Hauptrichtung ist die von Norden nach Süden. Indessen ist sein Lauf viel länger, als man nach den hier gemachten Angaben annehmen soll. Wenn man die Länge des Laufes auf 450 Kilometer annimmt, bleibt man wohl noch hinter der Wirklichkeit zurück. Eine Länge von 450 Kilometern angenommen, ergäbe doch noch immerhin ein Gefälle von 4,77 Metern auf das Kilometer. Alle diese Angaben sind indes, wie nochmals betont werden muß, nur annähernd richtig; denn erstens hält es schwer, diese Gegenden zu besuchen, dann aber ist es noch schwieriger, daselbst topographische Aufnahmen zu machen. Die Bewohner jener Gegenden sehen in solchen Operationen entweder Hexereien oder Spionage. In diesen beiden Fällen würden die Kurden zu einem Entschluß kommen, dessen Ergebnis das wäre, den Spion oder den Hexenmeister bei Seite zu schaffen.
  2. Es scheint in der That, daß der Fluß von Baschkala, obgleich er kürzer ist, der Hauptarm des Zab ist. Von Anfang an ist er bedeutender als der Zeï, obwohl dieser länger ist. Der Zeï kommt von Norden und bewässert den Albag.
  3. Grant und Ainsworth bezeichnen Kalai-Kerari als Ort der Ermordung des Schulz. Das Zeugnis Grants, eines methodistischen Missionars, der kurze Zeit nach der Ermordung in Urmia ankam, dürfte von großem Werte sein. (Grant, the Nestorians, chap. IX. – Ainsworth II. 294).
    Ritter giebt in seiner Erdkunde IX. 647 als wahrscheinlichen Schauplatz des Verbrechens die Umgebung von Arsa-Atis, einige Stunden südlicher an. (cf. Willbrock’s letter in the journal of the Royal Asiatic Society. March 1834. No. 1, p. 134–137).
  4. Binder giebt davon eine ausgezeichnete Photographie Seite 127.