Vom Sturm gejagt
[427] Vom Sturm gejagt. (Mit Illustration S. 412 und 413.) Die stattlichen Gewässer des Chiemsee bilden heutzutage einen der mächtigsten Anziehungspunkte für den gewaltigen, durch Oberbayern fluthenden Touristenstrom, seitdem das Feenschloß König Ludwigs auf der Insel Herrenwörth seine Wunder erschlossen hat, von welchen wir unseren Lesern wiederholt berichtet haben. Allsommerlich zieht eine wahre Völkerwanderung nach diesem größten Landsee des Königreiches, welchen der Volksmund „Bayerisches Meer“ nennt und dessen Umgebung, namentlich im Südosten und Süden mit den Gipfeln des hochumwölkten Hochgern und Hochfellen, ein herrliches Stück Erde ist. Die Chiemseelandschaft bietet für jeden feinsinnigen Naturfreund hohen Genuß: die glückliche Verbindung eines schön gezeichneten Gebirgskranzes mit der mächtigen landschaftlichen Wirkung eines weiten Horizontes und dem tausendfältig wechselnden Zauber des Wassers sichert derselben eine Fülle von künstlerischer Anregung, einen Reichthum von Motiven und eine Mannigfaltigkeit der Stimmung, in welcher ihr wohl nur wenig Oertlichkeiten des Alpenvorlandes gleichkommen.
Zudem hat sich hier trotz der ausgleichenden und abschleifenden Wirkung des gesteigerten Verkehrs noch viel eigenartiges und starkes Volksthum erhalten und von uralter Sitte und dunklen Resten heidnischen Brauches bietet das Chiemgau dem Forscher ausgiebige Quellen. Es ist ein stahlhartes, wetterfestes Geschlecht, das da zwischen Bergluft und Wellenschaum aufwächst und gedeiht, etwas herber vielleicht und schwerfälliger als der Tegernseeer Schlag, aber ebenso schneidig und sangesfreudig. Kaum irgendwo trifft man kühnere und zuverlässigere Fährleute als auf der kleinen Fraueninsel. Sobald der Junge nur erst einmal das Ruder heben kann, sieht man ihn draußen auf den Fluthen mit seinem ungeschlachten Fahrzeug sich tummeln, und der Reisende mag sein Heil einem zwölfjährigen Burschen, wenn der See nicht allzu sehr bewegt ist, getrost anvertrauen. Frauen und Mädchen stehen an Muth und Gewandtheit kaum hinter den Männern zurück und haben oft genug Gelegenheit, sie zu erproben. Denn ihnen liegt – wie in ältester Zeit – ein großer Theil der Feldarbeit drüben am Festlande ob. Wenn sie da vom frühen Morgen an geschafft, heißt es, Abends noch mit schwerbeladenem Schiffe eine Stunde weit heimfahren, und dabei giebt es zuweilen, wenn ein Unwetter über den See hereinbricht, einen bösen Tanz mit Wind und Wellen. Solch eine durchaus nicht ungewöhnliche Scene schildert uns Professor Karl Raupp in dem prächtigen Bilde, welches wir heute unsern Lesern bringen, mit der ihm eigenen Meisterschaft und mit dem feinen Verständniß von Land und Leuten, welches ihm aus langjährigem Studium derselben erwuchs.