Vorwort (Ut ôler Welt)
Hiermit übergebe ich die von meinem Onkel Wilhelm Busch um 1850 gesammelten Märchen, Sagen, Volkslieder und Reime der Öffentlichkeit; es sind nicht Kinder- und Hausmärchen wie die von den Brüdern Grimm, von Bechstein, Musäus u. a. herausgegebenen Sammlungen; diese Sammlung ist für Erwachsene, insonderheit für wissenschaftlich interessierte Leser bestimmt.
Diese Sachen »Ut ôler welt« (Aus alter Zeit) lagen in sorgfältig geschriebenen Manuskripten meines Onkels druckfertig vor. Nur die Reihenfolge ist z. T. nach seinen späteren Bemerkungen besonders bei den Sagenstoffen etwas geändert. Er hatte gleich damals, als er sie sammelte, vorgehabt, sie heraus zu geben, auch schon den Entwurf zum Titelblatt »Volksmärchen« gezeichnet. Da fand er bei den Brüdern Grimm, Müllenhof, Kuhn und Schwartz u. a. ähnliche Erzählungen oder Stoffe und meinte, die Veröffentlichung der von ihm gesammelten hätte deshalb keinen Wert. Später sagte er wohl, daß doch vielleicht die Wiedensahler Überlieferung manches für den Fachmann Interessante enthalten möchte. Aber die öfter besprochene Herausgabe unterblieb doch.
Erst um 1900 in Mechtshausen kam mein Onkel dazu, einige wenige Sachen im Korrespondenzblatt des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung zu veröffentlichen.[1] Es wurde von verschiedenen Mitarbeitern, Professor Roethe-Berlin u. a. hervorgehoben, wie diese Proben der Wiedensahler Erzählungen und Reime manche bisher nicht bekannte Variation oder gute Darstellung anderweit bekannter Stoffe enthielten.
Hier werden nun alle von meinem Onkel vollständig niedergeschriebenen Stücke der um 1850 noch lebendigen Volksüberlieferung veröffentlicht, genau in der Darstellungsweise, auch in der Rechtschreibung, wie er sie aufgezeichnet [4] hat; die plattdeutschen Laute sind möglichst genau in der Form wiedergegeben, wie sie im Korrespondenzblatt gedruckt vorliegen. Die hochdeutsche Fassung einzelner zunächst plattdeutsch überlieferter Stücke rührt natürlich von meinem Onkel her.
Zu den mit abgedruckten Zeichnungen haben die Märchen- und Sagenstoffe die unmittelbare Anregung gegeben, wie schon aus Skizzenbüchern der fünfziger Jahre zu ersehen ist. Das leider nur im Entwurf angefertigte Titelblatt und die Bleifederzeichnung »Bremer Stadtmusikanten« sind hier zum ersten Mal veröffentlicht; die anderen drei Feder- und Tusch-Zeichnungen sind schon in dem Prachtwerk »Wilhelm Busch’s künstlerischer Nachlaß« erschienen und werden hier mit Genehmigung der Hofkunstanstalt Franz Hanfstaengl in München reproduziert.
Mein Onkel selbst hat sich verschiedentlich zu der Sammlung dieser Märchen und Sagen geäußert. So schreibt er 1893 in der kurzen Selbstbiographie »Von mir über mich«:
»Nach Antwerpen hielt ich mich in der Heimath auf.
Was damals die Leute ut ôler welt erzählten, sucht ich mir fleißig zu merken, doch wußte ich leider zu wenig, um zu wissen, was darunter wissenschaftlich bemerkenswerth ist. Das Vorspuken eines demnächstigen Feuers hieß: wabern. Den Wirbelwind, der auf der Landstraße den Staub auftrichtert, nannte man warwind; es sitzt eine Hexe drin. Übrigens hörte ich, seit der »alte Fritz« das Hexen verboten hätte, müßten sich die Hexen überhaupt sehr in Acht nehmen mit ihrer Kunst.
Am meisten wußte ein alter stiller für gewöhnlich wortkarger Mann. Einsam saß er abends im Dunkeln. Klopft ich ans Fenster, so steckte er freudig den Thrankrüsel an. In der Ofenecke stand sein Sorgensitz. Rechts von der Wand langte er sich die sinnreich senkrecht im Kattunbeutel hängende kurze Pfeife, links vom Ofen den Topf voll heimischen Tabacks; und nachdem er gestopft, gesogen und Dampf gemacht, fing er seine vom Mütterlein ererbten Geschichten an. Er erzählte gemächlich; wurde es aber dramatisch, so stand er auf und wechselte den Platz, je nach den redenden Personen, wobei denn auch die Zipfelmütze, die sonst nur leise nach vorne nickte, in mannigfachen Schwung gerieth.
In den Spinnstuben sangen die Mädchen, was ihre Mütter und Großmütter gesungen. Während der Pause, abends um neun, wurde getanzt; auf der weiten Haustenne; unter der Stalllaterne; nach dem Liede:
maren will wi hawern meihn;
wer schall den wol binnen?
dat schall (meiers dortchen) don,
de will eck wol finnen.«
Als im Jahre 1900 die ersten Märchen im Korrespondenzblatt erschienen, [5] gab mein Onkel über unser Heimatdorf Wiedensahl, wo die meisten erzählt und von ihm gesammelt sind, Folgendes an[2]:
»Wiedensahl, platt Wiensaol, hat seinen Namen zum Theil von dem in der Mitte des Orts befindlichen Teiche, dat saol genannt, so daß jemand, der Freud am Vermuthen findet, sich denken mag, die Bedeutung des Ganzen könnte vielleicht Wald-, Weiden- oder Heiligensee sein.
Neben der Pfarre lag einst der Edelhof. Einer der edlen Herrn, die dort gehaust, ist wohl ein grimmiger Kerl gewesen, denn es heißt, er habe aus Ärger über einen Hahn, der oft über die Hecke flog und im adeligen Garten kratzte, seinen Nachbar, den Pastor, maustodtgeschossen.
Draußen, wo jetzt die alte Windmühle ihre Flügel dreht, hat vor Zeiten ein Schloß gestanden. Es ist lange verschwunden, nur der Brunnen blieb später noch sichtbar, bis schließlich das Gras darüber wuchs. Als die drei Frölen, denen das Schloß gehörte, nach Bockeloh zogen, schenkten sie ihr Land, die wiäme, der Pfarre, den Wald der Gemeinde. Dafür mußten die Wiedensahler eine Abgabe in Geld entrichten. Mal ließ sich der Mann, der es hob, mehre Jahre nicht blicken. Dem damals regierenden Burgemeister kam es bedenklich vor, wenn es so weiter ginge und dann die Summe auf einmal gefordert würde. Drum ging er los, um sich persönlich deshalb zu erkundigen. In Bockeloh, wo die Sache bereits gründlich vergessen war, hat man ihn sehr gelobt und freundlich entlassen mit der festen Versicherung, daß die Rückstände eingezogen und die Abgabe wieder regelmäßig geholt werden sollte, was denn auch pünktlich geschah.
Nicht weit von der Wiedensahler Grenze zieht sich im Schauenburger Walde der Schanzgraben oder Drusenwall hin. Eine Stelle, an der er doppelt ist, nennt man den Pferdestall. Rückten nun die Schlüsselburger von der Weser her, wie sie öfters thaten, zum Sengen und Plündern aus, dann zogen sich die Wiedensahler hinter den Wall zurück, und regelmäßig eilte ihnen der tapfere Ritter von Bückeburg mit seinen Leuten zu Hülfe. Die Wiedensahler waren nicht undankbar. So oft die gnädige Frau in Wochen kam, brachten sie ihr Eier und junge Hähnchen. Was aber gutswillens geschah, wurde später ein Zwang. Die Eier und Hähnchen mußten nach Bückeburg geliefert werden, ob die Gnädige in Wochen war oder nicht. Bis um die Mitte des letzten Jahrhunderts ist die Verpflichtung inkraft geblieben.
Die Zeit kramt alles um; nur thut sie es in abgelegener Gegend etwas später als anderswo.
Erst mit den zwanziger Jahren verlor sich der Brauch, in der Hespe, einem Fahrweg zwischen zwei Hecken, die Schweine von gemeindewegen durchs wilde Feuer zu treiben.
[6] Noch zu Ende der dreißiger oder anfangs der vierziger Jahre sah man das Halseisen, als Wahrzeichen einstiger Bußen, am steinernen Kirchhofsthor.
Alle ländlichen Häuser waren mit Stroh gedeckt. Über dem offenen Heerde unter der oosten hing der Kessel oder stand der Topf auf dem Dreifuß. In der Döntzen am drehbaren Holzarm schwebte abends der Krüsel mit Thran gefüllt.
Noch immer wurde der Taback, dreißig Pfund für ’n Thaler, auf dem Wiedensahler Jahrmarkt von den Landsberger Bauern verkauft. Noch immer holten sich die Großväter aus dem Wald ihren tunder und dörrten und klopften ihn tüchtig, damit er gut Funken fing.
So war es einmal. Jetzt sind es »geschichten ut ôler welt«.
Höckelheim, August 1910.