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Warten

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Textdaten
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Autor: Moritz Hartmann
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Titel: Warten
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 23, S. 333–336
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
s. Berichtigung (Die Gartenlaube 1859/26)
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[333]
Warten.
Von Moritz Hartmann.

Der alte Herr Viebahn[1][WS 1] erzählt:

„Ich kann es nicht leugnen, ich war ein verzogenes Muttersöhnlein; doch war ich dabei, als es hieß: „Franzosen zum Land hinaus!“ Und ein stattlicher Jäger war ich, das läßt sich auch nicht leugnen, obwohl man es heute, beim Anblick meines wirklich commercienräthlichen Bäuchleins, auch nicht glauben sollte. Es war an einem Nachmittage nach dem Kaffee, nachdem der französische Oberst, unser Tischgenosse, hinausgegangen war, daß mein Vater zu der Mutter sagte, und zwar mit einer Stimme, die sehr resolut klingen sollte, in der That aber ein wenig zitterte:

„Nun, Alte, unser Eduard wird nun auch fort müssen!“

„Wohin denn?“ fragte meine Mutter und that, als ob sie nicht verstände, während ihr abgewandtes Gesicht verrieth, daß sie wohl verstand.

„Nun, meine Alte, Du verstehst mich wohl,“ und legte die Hand auf ihre Schulter. „Eduard weiß, was ich meine,“ fügte er hinzu.

Ich nickte mit dem Kopfe; die Mutter sah mich mit einem unaussprechlichen Blicke an, dann zog sie einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete eine Kommode, und indem sie auf eine reiche Ausstattung von Hemden, Taschentüchern, Nachtleibchen und andere Wäsche zeigte, sagte sie: „Ihr seht wohl, daß ich längst daran gedacht habe, und daß Alles vorbereitet ist!“

„Gute Mutter,“ lächelte mein Vater, „Deine Vorsorge ist zu reichlich ausgefallen; bewahre das Alles für seine Heirath; er kann nur so viel mitnehmen, als in einen Tornister geht.“

Meine gute Mutter blieb schweigend vor der geöffneten Lade stehen und sah die Wäsche an, ohne ein Wort zu sagen, ohne nur einen Seufzer auszustoßen.

Mein Vater wandte sich zu mir: „Jetzt, Eduard, sei vorsichtig – geh zum Dr. Schrader – der wird Dir sagen, was Du zu thun hast.“

Die alte Margareth, unsere Hausmagd, die mich auf den Knieen geschaukelt, ein treues Hausmöbel, das zur Familie gehörte und vor der meine Mutter kein Geheimniß hatte, trat in die Stube, und da sie die Lade offen und den ernsten Ausdruck auf unsern Gesichtern sah, lächelte sie einverständlich und murmelte ein „Endlich, endlich!“ zwischen den Zähnen.

„Hast Du denn gar kein Herz, Margareth?“ fragte meine Mutter vorwurfsvoll.

„Ob ich ein Herz hab’, Frau Viebahn, das wissen Sie wohl, und ob ich den Eduard lieb hab’, das wissen Sie auch; aber was nützt das Alles, die Franzosen müssen fort!“ rief Margareth und streckte den Arm so energisch und unabhängig in die Luft, wie sie es in Gegenwart ihrer Herrschaft vielleicht in ihrem Leben nicht gethan.

Am Abend schlich ich mich zu Dr. Schrader, einem Gelehrten, der seit einigen Wochen die Flora unseres Gebirges studirte und vor der Stadt in einem kleinen Häuschen wohnte. Aber die besten Deutschen unserer Stadt wußten, daß er ein Abgesandter des Tugendbundes, daß das kleine Häuschen ein Werbebureau sei. Wir waren westphälisch, und die größte Vorsicht that noth. Dr. Schrader, der von Allem vortrefflich unterrichtet war, sagte mir, ich müsse von allen Freiwilligen der Letzte sein, der die Stadt verlasse, damit der französische Oberst, der in unserm Hause wohnte, auf das Verschwinden der jungen Leute nicht aufmerksam werde. Das that meinem Ehrgefühl sehr wehe, daß ich von allen Patrioten, die zur Vertheidigung des Vaterlandes auszogen, der Letzte sein sollte. Die [334] wenigen Tage, die ich in meiner Vaterstadt noch verbrachte, wurden mir eine wahre Hölle. Alle meine Altersgenossen waren verschwunden; wenn man mich so allein durch die Gassen schlendern sah, zuckte man die Achseln. So oft ich ausging, um bei einem alten Soldaten einige geheime Exercirstunden zu nehmen, setzte Margareth voraus, daß ich endlich abreise und daß ich nur der vielen französischen Soldaten wegen, die sich in unserem Hause herumtrieben, nicht offen Abschied nehme, und sie lächelte mir einen liebevollen Gruß zu. Kam ich aber des Abends wieder zurück, so rief sie ganz laut: „Noch nicht fort?“ und schüttelte den Kopf über mich, wie über einen verlorenen Menschen.

Endlich, endlich kam der Tag, da ich, nach kurzem Abschied, auf preußischen Boden entweichen durfte.

Na, ich will unsern Feldzug nicht erzählen; den kennt ja Jeder, oder es sollte ihn wenigstens Jeder kennen, um was daraus zu lernen für künftige Zeiten, die vielleicht nicht zu fern sind. Auch meine Heldenthaten und Schlachten will ich nicht erwähnen, und wie ich überall mit heiler Haut davon kam. Nur ein eigenthümliches, rührendes Vorkommniß will ich erzählen.

Wir waren schon am Rhein, als meine Schwadron den Befehl bekam, schnurstracks zurückzureiten und in einer gewissen Gegend Westphalens Posto zu fassen. Ich glaube, wir sollten dort eine Kriegscasse erwarten, um sie dann weiter an die französische Grenze zu begleiten. Das verdroß uns ein wenig, weil wir uns auf Paris gefreut hatten – aber die Alliirten zogen ja in Frankreich ein, und das war die Hauptsache, und wir waren im Ganzen lustig und guter Dinge. In Westphalen, mitten in einer großen Ebene, welche die Heerstraße in gerader Linie durchschnitt, wurden wir in einzelne Höfe, die über das Land zerstreut sind, einquartirt. Mir und noch fünf meiner Cameraden wurde ein kleiner Hof angewiesen, der unmittelbar an der Landstraße lag. Als wir daselbst mit unsern Zetteln in der Hand vorritten, kam uns ein altes Mütterchen entgegen, das uns überaus freundlich anlächelte und mit Kopfnicken, ohne eigentlich ein Wort zu sprechen, willkommen hieß. Sie wollte uns jeden Einzelnen aus dem Sattel heben und hätte es gewiß gethan, wenn wir nicht rasch abgesessen wären.

„Mutter Schleinitz,“ sagte ich, „da ist unser Quartierzettel.“

„Das bin ich nicht; die Mutter Schleinitz wohnt im oberen Hofe, dort oben; ich bin die Mutter Lene,“ sagte die Alte, immer lächelnd.

Wir sahen, daß wir uns geirrt hatten, und wollten wieder aufsitzen, um weiter zu reiten. Aber Mutter Lene flehte: „Das thut ja nichts; bleibt, Kinder, bleibt hier; Ihr sollt’s gut haben, wahrlich sehr gut! Caspar,“ rief sie, und ein Knecht kam aus dem Hofe – „Caspar, führ’ die Pferde in den Stall. – Kommt, Kinder, bleibt hier!“ bat die Alte wieder, nahm Zwei von uns am Arm, und zog sie in die Stube; die Andern folgten unwillkürlich. Wir wußten gar nicht, wie uns geschehen war; die Alte bat so innig, daß wir nicht widerstehen konnten. In der Stube öffnete sie eine Kammerthür, und wir sahen Würste, Schinken, Eierkörbe und allerlei andern Mundvorrath schön geordnet aufgehängt und aufgestellt. „Mein Keller,“ jagte sie, „ist auch gut bestellt – Ihr sollt es gut bei mir haben, Kinder – Ihr müßt nicht sparen und leben, so gut Ihr wollt.“

Grass aus Hamburg machte hinter dem Rücken der Alten mit der Hand eine Bewegung vor der Stirne, als wollte er andeuten, laß es bei ihr nicht richtig sein müsse. Indessen ließen wir uns die gastliche Aufnahme gern gefallen und blieben bei der Mutter Lene. Caspar brachte unsere Pferde unter, und die Magd deckte den Tisch mit reinlichem Linnen, während die Alte sehr emsig am Heerde beschäftigt war, uns eine Mahlzeit zu bereiten. Aber diese Beschäftigung hielt sie nicht ab, uns, als wir uns an das Putzen unserer Umformen und Waffen machten, hie und da hülfreiche Hand zu leihen und Manches herbeizubringen, was unsere Arbeit erleichtern konnte. Wir waren erstaunt. Bei manchem Patrioten waren wir gastlich aufgenommen worden, aber solche Güte und Gastlichkeit, wie bei der allen Bäuerin, hatten wir noch nicht erfahren.

„Ja, das Volk, das Volk!“ rief der Eine, „ich sage es ja immer, das Volk, nur das Volk!“

Und der Andere: „Wie müssen die Unterdrücker und der Herr Hieronymus hier gehaust haben, wenn die Befreier so geliebt werden!“

Bei Tische trug sie selber auf und bediente uns wie eine Magd; dann setzte sie sich zu uns und sah lächelnd zu, wie wir mit jugendlichem Appetit, in ihre Speisen einhieben, und munterte uns auf, fortzufahren. Sie saß mir gerade gegenüber, und da bemerkte ich erst, daß ich kein gewöhnliches Gesicht vor mir hatte. Es lag etwas wie ein Schleier darüber, wie ein Schleier, der ein Geheimniß verdeckt.

Wie braun und gehärtet auch die bäuerlichen Züge erschienen, hatte doch das ganze Gesicht etwas unsäglich Mildes; nur zwei kummervolle Falten, die die Stirn von oben nach unten durchschnitten, machten den Eindruck, als wären sie nie glättbar und doch wieder, als warteten sie fortwährend einer Freude, die mit weicher Hand darüber fahre und sie verwische. Eigenthümlich war es, in wie geringer Verbindung Mund und Augen standen; denn während jener immer lächelte, blickten diese eben so unausgesetzt mit einem unsagbar sehnsüchtigen Ausdrucke und immer, als blickten sie in weite, verschwommene Ferne. Die Gestalt der alten Mutter Lene war kräftig, aber von der Last der Jahre und, wie man sich sagen mußte, von einer andern unsichtbaren Last etwas zusammengekrümmt. Je länger ich sie ansah, desto freundlicher, fast möchte ich sagen, desto zärtlicher wurde meine Stimme, wenn ich mit ihr sprach, und desto trauriger wurde ich im Innern meines Herzens, und ich konnte bemerken, daß es meinen Cameraden eben so erging. Es war unsern heitern und jugendlichen Gemüthern förmlich eine Last vom Herzen genommen, als sie, da die Schwarzwälder Uhr drei schlug, plötzlich aufstand und rasch zur Thüre hinaus schritt, um nicht wieder zurück zu kommen.

Nach Tische sahen wir nach unsern Pferden, die wir gut versorgt fanden, und gingen dann, uns im Hause einzurichten. Obwohl uns Mutter Lene die Stube ganz überlassen, wollten wir die gute Gastfreundin doch nicht aller Bequemlichkeit berauben und sahen uns im Hause um, wo wir unser Nachtlager aufschlagen könnten, ohne ihr beschwerlich zu fallen. Ich stieg zu diesem Zwecke die schmale Treppe hinauf, die vom Vorhause auf den Boden führte. Oben angekommen, hatte ich einen sonderbaren Anblicke. Vor einer Dachluke auf einem Strohsessel saß Mutter Lene, die seit mehr als einer Stunde verschwunden war, und sah unbeweglich vor sich hin. Ich hielt sie für schlafend, da ich mich aber näherte, sah ich ihre Augen weit geöffnet. Sie starrte unabwendbar der Landstraße entgegen, die wie ein gerader weißer Strich die Ebene durchschnitt und sich in weiter Ferne am östlichen Horizonte verlor. Ich stand neben ihr, ich sah in ihre weit offenen Augen, aber sie bemerkte mich nicht, obwohl ihr ganzes Leben in diesen Augen concentrirt schien. Ich hätte sie, ohne den ungewöhnlichen Glanz der Augen, für todt gehalten, so aber glaubte ich, sie befinde sich in irgend einem krankhaften Zustande, und fragte sie mit lauter Stimme: „Mutter Lene, fehlt Ihr was? Was macht Sie hier?“

Ein abwehrendes „Sch“ war die einzige Antwort; ihre Augen wandten sich dabei von der Straße nicht ab.

Ich legte meine Hand auf ihre Schulter und schüttelte sie leise. Eine ungeduldige Bewegung sagte mir, daß ich ein unberufener Störer war, brachte aber ihren Blick nicht eine halbe Secunde lang aus seiner Richtung.

Ich wußte nicht, was aus all dem zu machen, und rief die Cameraden, die auf ein gegebenes Zeichen auf den Fußspitzen herankamen. Da standen wir nun im Halbkreise um die Alte herum, sahen sie an, zuckten die Achsel, schüttelten die Köpfe und schlichen endlich fort, ohne auch nur von ihr bemerkt zu werden.

Im Hofe trafen wir Caspar, den Knecht, und fragten ihn, was das zu bedeuten habe.

„Bah,“ sagte Caspar, „so sitzt sie jeden Tag; sie erwartet ihren Sohn, ihren Wilhelm.“

„Sie hat einen Sohn?“ fragten wir.

„Ja, sie hatte einen Sohn. Die Franzosen haben ihr ihn vor drei Jahren fortgenommen, da er noch nicht siebzehn Jahre alt war, und haben ihn nach Rußland geführt. Na, man weiß, was aus den Franzosen und aus den Deutschen in Rußland geworden ist, aber die Alte läßt sich’s nicht ausreden, daß ihr Wilhelm noch einmal heim kommt. Sie erwartet ihn jeden Tag und sitzt da oben an der Dachluke, wo sie die Landstraße übersehen kann; denn von da, bildet sie sich ein, müsse er herkommen, weil er auf dem Wege fortgegangen ist. Sie besorgt ihr Hauswesen, arbeitet den ganzen übrigen Tag, damit ihr Wilhelm, wenn er heimkommt, sein väterliches Erbe in guter Ordnung finde, aber wie’s drei schlägt, läßt sie Alles stehen und liegen und steigt da hinauf und wartet.“

„Also darum liebt sie die Soldaten, weil sie selbst einen Sohn unter den Soldaten hat?“

[335] „Ja, freilich darum. Sie war mit den Franzosen, wie sie hier durchgekommen sind, gerade so gut und freigebig, wie mit Euch. Das ist ihr ganz gleichgültig, Deutsche oder Franzosen, wenn’s nur Soldaten sind.“

„Daß sie uns aber von ihrem Wilhelm noch gar nicht gesprochen hat?“

„Das kommt daher, daß sie sich schämt und fürchtet. Es haben sie schon viele Leute ausgelacht und ihr gesagt, ihr Warten sei überflüssig und ihr Wilhelm werde nie wieder nach Hause kommen, und da haben sie ihr erzählt, was Alles in Rußland vorgegangen, und haben ihr gesagt, sie sei verrückt, noch länger zu warten. Der Napoleon freilich, der ist entwischt, und unser Hieronymus, der hat sich noch früher aus dem Staube gemacht, bevor das Unglück und die große Kälte gekommen ist; aber die armen Soldaten – Nun schämt sie sich, daß man sie für verrückt hält, und fürchtet sich, daß man ihr sagen werde, daß ihr Wilhelm auch umgekommen, und da spricht sie nicht mehr darüber.“

Die ganze Geschichte machte uns sehr traurig, und als wir Abends in der Stube um den Tisch saßen und spät nach Sonnenuntergang die Alte murmelnd die Treppe herunterkommen hörten, wurden wir ganz still. So bemerkte sie uns gar nicht, als sie eintrat, und wir hörten deutlich, wie sie, die Hände ineinandergelegt, vor sich hinmurmelte: „Er ist nicht gekommen; nun, er wird wohl morgen kommen, er wird wohl morgen kommen; gewiß, er wird morgen kommen.“

„Er wird kommen!“ rief unser Camerad Helffreich, der Sohn eines Pastors und Studiosus Theologiä, „glaube, liebe und hoffe, Du gute Mutter.“

Aber die Alte hatte nur die ersten Worte gehört; mit strahlendem Gesichte wandte sie sich zu uns und rief: „Nicht wahr, er wird kommen? Gewiß, er wird kommen!“ Dann setzte sie sich zu uns, stützte beide Arme auf den Tisch, sah uns lächelnd an und sprach mit halber Stimme, vertraulich, als ob sie von Anderen nicht hätte gehört sein wollen: „Seht, Kinder, hier zu Lande glaubt Niemand mehr, daß er wiederkommen werde. Die Leute hier verstehen nichts von Kriegssachen; Ihr aber, Ihr seid Soldaten, Ihr versteht’s. Und was meint Ihr, wie geht es ihm in Rußland?“

„Nun,“ sagte Graff, „es geht ihm wohl so gut, wie es Einem in Feindes Land gehen kann.“

„Feindes Land?“ lächelte die Alte, „Du bist ein närrischer Mensch; mein Wilhelm ist keines Menschen Feind; das ist ein gutes Kind, mein Wilhelm, und das werden sie ihm überall ansehen. Er ist ja auch nur mitgegangen, weil er hat mitgehen müssen, sonst hätten sie ihn erschossen. Da habe ich selbst gesagt: Wilhelm, gehe lieber mit, Du wirst schon wieder gesund und frisch heimkommen. Gut werden sie auch überall gegen ihn sein. Warum sollten sie nicht? Ich bin ja auch gut gegen die Soldaten. Immer wenn Soldaten kommen, behandele ich sie, als wären’s meine Söhne. Ich muß ja heimzahlen, was man anderwärts für meinen Wilhelm thut, und wenn man anderwärts hört, wie hier zu Lande die Soldaten gut behandelt werden, wie Kinder im eigenen Hause, wird man sie dort zu Lande auch so behandeln. Ist das nicht richtig?“

Wir nickten mit den Köpfen, denn Keiner von uns war im Stande, ein Wort hervorzubringen. Die Alte fuhr fort: „Na, und wenn er morgen nicht kömmt, so kommt er gewiß, wenn Friede ist. Nach der Schlacht bei Leipzig sagten sie hier, daß nun gewiß Friede wird, aber das war wohl nicht der rechte Friede? Ihr müßt ja das verstehen als Soldaten.“

„Nein,“ sagte Helffreich, „das war nicht der rechte Friede!“

„Das sage ich auch. Mit dem rechten Frieden kommt mein Wilhelm gewiß. Ach Gott!“ rief sie und sah uns dabei mit glückseligem Gesichte an, „wie mir das wohl thut, einmal so recht über diese Dinge zu sprechen, so recht verständig und mit Leuten, die sich darauf verstehen.“

Sie nickte uns voll Liebe zu und sah Einen nach dem Andern schweigend an, immer lächelnd, ohne zu bemerken, daß uns die Augen voll Wasser standen und daß es uns schwer war, ihren Blick auszuhalten. Nach einer langen Pause erst legte sie das Gesicht in beide Hände und sagte: „Wenn nur erst der rechte Friede käme! – Ja, der Napoleon! Wozu macht man denn alle die Kriege? Der rechte Friede, wenn nur erst der rechte Friede käme! So immer zu warten, das könnte Einen ganz krank machen. Es ist ein rechtes Elend!“

Helffreich stand auf und holte eine kleine Bibel, die er immer mit sich führte, setzte sich der Alten gegenüber und begann mit lauter Stimme aus dem Buche Tobias zu lesen: „Und Tobias sprach zu ihr: Schweige und sei getrost! Unserem Sohne geht es, ob Gott will, wohl, er hat einen getreuen Gesellen mit sich.“

„Sie aber wollte sich nicht trösten lassen und lief alle Tage hinaus und sah auf alle Straßen, da er herkommen sollte, ob sie ihn etwa ersähe.“

Die Alte erhob ihren Kopf aus den Händen und sagte: „Das ist ein tröstliches Buch, das Buch Tobias!“ – Und ehe Helffreich weiter lesen konnte, sagte sie auswendig: „Hanna aber saß fast täglich am Wege auf einem Berge, daß sie könnte weit um sich sehen. Und als sie an dem Orte nach ihm sähe, ward sie ihres Sohnes gewahr von ferne und kannte ihn von Stund’ an –“

Darauf sagte sie mit zitternder Stimme den Lobgesang her, und wir sahen mit Staunen, das sie das ganze „tröstliche Buch“ Tobias auswendig wußte. Sie nahm Helffreich die Bibel aus der Hand, legte sie vor sich nieder, zog das Licht näher, legte die Stirn in beide Hände und begann zu lesen und vergaß uns und die ganze Umgebung. Es wurde spät; sie las noch immer. Wir schlichen uns vom Tische, legten uns, müde vom Ritte, auf unsere Lager und schliefen längst den festen Schlaf der Jugend, als sie noch da saß und im tröstlichen Buche von der Wiederkehr des geliebten Sohnes las.

Am anderen Morgen war sie wieder eine gute Bäuerin, wie viele andere. Sie wirthschaftete in Haus und Hof umher und sorgte dafür, daß uns nichts fehle. Aber Nachmittags war sie wieder verschwunden. Wir stiegen Einer nach dem Andern einen Theil der Treppe hinauf, so daß nur der Kopf über den Boden des Speichers hervorragte, und sahen uns die Mutter Lene an, wie sie ruhig, unbeweglich dasaß und der Straße, die nach Osten führte, entgegensah. Wir schlichen wieder fort, ohne sie zu stören, und unwillkürlich gingen wir während des Nachmittags in den unteren Räumen des Hauses auf den Fußspitzen umher, als wäre ein Kranker im Hause oder als würde eine heilige Handlung vorgenommen.

In später Dämmerung erschien sie wieder und murmelte: „Er ist nicht gekommen; nun, er wird wohl morgen kommen; gewiß, er wird morgen kommen.“

So verging ein Tag um den andern; jeder Tag sah sie um dieselbe Zeit auf ihrem Warteposten; jeder Tag brachte uns dieselbe mütterliche Pflege von ihr. Nach und nach bekamen wir vor ihrem heiligen Wahnsinn eine solche Scheu, daß wir die Stunden, die sie vor der Dachluke zubrachte, auf unseren Pferden im freien Felde verweilten, um während dieser Zeit dem Hause und ihr die ganze ungestörte Ruhe zu lassen. Auch ritten wir immer nach der entgegengesetzten Seite der Landstraße, gegen Westen, da es uns etwas unheimlich gewesen wäre, unter diesem starren, concentrirten Blicke der wartenden Mutter hinzureiten oder gar vor diesem Blicke wie ein Hinderniß zu erscheinen.

So vergingen nahe an zwei Wochen, bis wir Befehl erhielten, uns wieder auf den Weg zu machen, und zwar Frankreich zu. Mutter Lene füllte uns noch alle Taschen mit Lebensmitteln, und in der innersten Seele gerührt nahmen wir Abschied. – „Schade,“ sagte sie, „daß Ihr nach der Seite reitet und nicht nach der anderen; da wäret Ihr vielleicht meinem Wilhelm begegnet. Na, wenn Ihr aus Frankreich zurückkommt, haltet Euch nur hier auf, da werdet Ihr ihn schon kennen lernen und sehen, daß es ein so stattlicher Soldat ist, wie Ihr.“

Wir versprachen, auf unserem Rückwege, wenn nur irgend möglich, gewiß wieder bei ihr einzukehren, und ritten unter ihren Segenswünschen und von ihrem Lächeln begleitet davon, Frankreich und dem Feinde entgegen.




Wir hielten Wort. Die Schlachten auf französischem Boden waren geschlagen, der Friede war seit mehreren Monaten geschlossen, und wir ritten als Sieger mit glücklichem und gehobenem Gefühl der Heimath zu. Wir kamen wieder nach Westphalen; aber wir sollten diesmal eine andere Straße reiten. Doch nahm man es mit uns Freiwilligen, die wir halb und halb schon entlassen waren, nicht so genau und man erlaubte uns, einen Umweg zu machen, der uns gestattete, die alte Mutter Lene wieder zu sehen. Wir hatten uns vorgenommen, mit einem der damaligen Sieges- und Freiheitslieder in den Hof einzureiten; aber wir hatten die Zeit schlecht bemessen und es war schon ziemlich spät am Nachmittage, also um die Zeit [336] ihres Wartens, als wir daselbst ankamen. So ließen wir das Singen sein, stiegen hundert Schritte vom Hause ab und führten die Pferde sachte und am Zügel in den Hof.

Im Stalle fanden wir den Knecht Caspar, der uns froh willkommen hieß. „Was macht die Alte?“ fragten wir beinahe einstimmig.

„Schlecht, schlecht!“ antwortete er kopfschüttelnd. „Seit man hier im Lande überall große Feuer angezündet und den Frieden verkündigt hat, geht’s schlecht. Sie lief von Hof zu Hof und fragte, ob das der rechte Frieden sei, und seitdem hat sie Alles liegen lassen und sitzt nun den ganzen Tag vor ihrem Dachfenster und wartet; denn jetzt, meint sie, müsse ihr Wilhelm kommen. Und da er nach dem rechten Frieden doch nicht kommt, scheint ihr das etwas quer, und nun, glaub’ ich, macht sie’s nicht mehr lange. So eine Hoffnung in so einem alten Haus ist wie ein Stützbalken; nimm den Balken weg, das alte Haus stürzt zusammen. Ich glaube, daß ihr Balken angefault ist.“

Wir wollten doch wenigstens die Alte sehen und stiegen, wie ehemals, die halbe Treppe hinauf. Da saß sie richtig auf ihrem Posten. Aber es fiel uns auf, daß sie nicht mehr, wie sonst, gerade vor sich hinstarrte, der Landstraße entgegen, und daß ihr Kopf auf die Brust herabgefallen war, wie bei einer Person, die sich nicht aufrecht halten kann. Besorgt schlichen wir näher. Da sahen wir, daß sie die Augen geschlossen hatte. Bei unserem Herantreten öffnete sie dieselben und da sie uns erkannte, lächelte sie freundlich, wie ehemals, aber bei weitem schmerzlicher. Es fiel uns auf, wie arg in dieser kurzen Zeit ihr Gesicht verfallen war und daß sie sich uns zuwandte, während es damals nicht möglich war, ihre Augen von der Landstraße abzulenken.

„Seid Ihr da, Kinder?“ sagte sie mit schwacher Stimme. „Ihr kommt von der anderen Seite, von dieser Seite kommt Niemand. Und ist doch der rechte Friede geschlossen? Oder ist’s noch nicht der rechte Friede? Wo ist der, der mir aus dem tröstlichen Buche Tobias vorgelesen und der mir vom rechten Frieden gesprochen?“ Sie suchte Helffreich mit den Augen – da rief sie: „Aber Einer fehlt! Wo ist denn der Lange, Schwarze?“

In der That fehlte Graff in unserer Mitte; in Lothringen hatte ihn eine Kugel aus dem Hinterhalte hingestreckt.

Wir antworteten nicht.

„Ich weiß,“ sagte die Alte, „ich weiß. Dessen Mutter wird auch lange warten.“ So sprechend, wandte sich ihr Gesicht wieder der Luke und der Landstraße zu. „Ich werde nicht länger mehr warten.“ sagte sie weiter und lächelte. „Seht Ihr dort – er kommt!“

So sprechend, stand sie auf und streckte den Arm der Straße entgegen. In demselben Augenblicke aber stürzte sie in den Stuhl zurück, und die Augen weit geöffnet, noch immer wartend und auslugend, saß sie da und – war todt.

Wir blieben einen Tag länger, als unser Urlaub gestattete, um der guten Mutter Lene die letzte Ehre zu erweisen. Hoch zu Roß folgten wir ihrem Sarge. Helffreich hatte sich vom Pastor die Erlaubniß ausgebeten, an seiner Statt ihr die Grabrede zu halten. Aber er war noch nicht genug Pastor, und brachte vor Rührung kein Wort hervor.



  1. Unsere Braunschweiger Leser werden in Herrn Viebahn den Erzähler wohl ohne Namensänderung erkennen.
    D. Redact.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Die Mutmassung der Autorenschaft Eduard Viewegs wurde im Heft 26 zurück gezogen.