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Was Tiere träumen

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Was Tiere träumen
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aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1916, Sechster Band, Seite 203–209
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Erscheinungsdatum: 1916
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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Quelle: Commons
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[203] Was Tiere träumen. – In dem Pariser Villenvorort Trunay, der sich unter schattigen Bäumen am linken Ufer der Seine hinzieht, haust seit einigen fünfundzwanzig Jahren ein Sonderling, der von alt und jung mit gleicher Achtung und Freundlichkeit behandelt wird, obwohl er jeglichen Verkehr meidet und sich auch nur selten auf den Straßen blicken läßt. Doktor Charles Bernhard ist sein Name. Bevor er sich das in einem weiten Park liegende Haus am Nordausgange des Ortes kaufte, war er Arzt in Marseille. Das ist aber auch das einzige, was man von seiner Vergangenheit bestimmt weiß. Alles übrige hat die Sage sich zusammengereimt – einen ganzen Roman, in dem freilich manches Körnlein Wahrheit enthalten sein mag. Doktor Bernhards Frau soll nach kaum dreijähriger Ehe auf und davon gegangen sein, weil der ernste, stille Mann ihr Leben nicht auszufüllen vermochte.

Man erzählt sich, der kaum dreißigjährige Arzt habe diesen Schlag nie verwinden können. Da ihn in Marseille zu vieles an die ungetreue Gattin erinnerte, verkaufte er seine Praxis und flüchtete in die idyllische Einsamkeit der kleinen Villenkolonie, wo er sich, vielleicht um seine Herzensleere auszufüllen, mit einer ganzen Menagerie einheimischer und ausländischer Tiere umgab, die er sorgfältig pflegte, und die ihm offenbar den Umgang mit Menschen bald völlig ersetzten.

Doktor Bernhard hat ein Buch erscheinen lassen, das trotz des eigenartigen Titels „Was Tiere träumen“ und trotz seines lehrreichen und vielseitigen Inhalts nicht beachtet, nicht gekauft und seltsamerweise nicht einmal übersetzt worden ist. Der Verleger konnte schon die erste Auflage nicht unterbringen, und schließlich wurde das Werk, das jedem Tierfreund Stunden stiller Freude bereiten muß, in einem Pariser Warenhaus neben Detektivgeschichten für zwanzig Sou angeboten.

„Ich liebe die Tiere, besser, ich habe sie lieben gelernt,“ steht im Vorwort zu lesen. „Ein Hund, den ich herrenlos, halbverhungert auf dem Felde fand und mit heimnahm, war das erste Geschöpf, das meine Einsamkeit teilte. Und wie hat dieses äußerlich so häßliche Tier mir meine Barmherzigkeit gedankt, [204] wie hat es schließlich verstanden, aus meinen Zügen, dem Ausdruck meiner Augen meine Seelenstimmung zu erraten. Oft wenn ich in schmerzlichem Sinnen an meinem Schreibtisch saß, drückte sich plötzlich sein buschiger Kopf in meine Hand – schmeichelnd, tröstend. So war ich nie allein; so begriff ich, wie wir Menschen unserem Dasein auch ohne unsersgleichen einen befriedigenden Inhalt zu geben vermögen, so wurde ich Tierfreund im großen. Meine Tierliebe umfaßt alles, was da kreucht und fleucht. Selbst an Geschöpfen, denen die Wissenschaft die häßlichsten Eigenschaften angedichtet hat, entdeckte ich gute Seiten – nur weil ich mir die Mühe gab, jedes Tier nach seiner besonderen Individualität zu behandeln … Und dann, als mir fünf Jahre in stillem Frieden dahingegangen waren, als ich bereits in Haus, Hof und Garten gegen dreihundert der verschiedenartigsten Tiere beherbergte, kam mir der Gedanke, alles das niederzuschreiben, was ich an kleinen interessanten Zügen an meinen Pfleglingen beobachten konnte.“

Aus einem Teil dieser Notizen sei hier erzählt:

„Wenn Träume eine höhere Intelligenz voraussetzen, so besitzen diese alle Tiere, soweit ich sie belauschen konnte; denn bei meinen sämtlichen Pfleglingen bemerkte ich im Schlaf gewisse Bewegungen, hörte ich bestimmte Laute, die nur als der Ausfluß einer regen Gehirntätigkeit zu deuten sind. Vom winzigen Kolibri bis hinauf zu einem würdevollen Steinadler träumen alle meine Vögel. Mit geschlossenen Augen sitzen sie nachts da. Einige halten die Köpfe unter den Flügeln verborgen, haben ihr Gefieder aufgeplustert und ähneln so bunten Federkugeln. Andere vergraben den Schnabel nur in die Brustfedern, wieder andere legen den Kopf auf den Rücken. An das milde Licht einer halbverschleierten Lampe, mit der ich mich ihnen nahe, sind sie längst gewöhnt. Sie wachen nicht mehr auf, wenn der schwache Lichtschein sie trifft. Hier und da hebt eines im Schlaf den Fuß, bewegt die Flügel. Leises Piepen wird vernehmbar. Die kleinen Singvögel sind’s. Dann krächzt der Adler mißtönend in seinem großen Käfig. Sein Gefieder sträubt sich raschelnd. Und doch bleiben seine Augen von den hellen Lidern [205] bedeckt … Er träumt. – Meine Papageien sprechen sogar im Schlaf deutliche Worte vor sich hin und bewegen den Schnabel, als ob sie fräßen. Ein Kakadu mit einer prächtigen Haube, auch am Tage ein sehr lebhafter Vogel, träumt wohl am häufigsten. Obwohl er fest schläft, wie ich durch Versuche festgestellt habe, kommt er nie ganz zur Ruhe. Bald trippelt er auf seiner Stange von einem Fuß auf den anderen, bald reibt er die Schnabelhälften knirschend aneinander, dann wieder richtet sich seine Haube wie im Zorn auf, und gleichzeitig stößt er etwas wie ein ärgerliches Schnattern aus. Alle meine Kanarienvögel singen im Schlaf, brechen dann aber regelmäßig diese ihnen unbewußte Musikübung mit einem schrillen Mißton ab.

Von meinen vierbeinigen Hausgenossen träumen die Hunde am häufigsten und lebhaftesten: sie winseln, bellen leise, bewegen die Pfoten, atmen keuchend, strecken die Zunge aus, sträuben die Rückenhaare und schließen klappernd die Kiefer. Bei den Katzen bemerkte ich wieder im Schlaf recht oft kratzende Bewegungen der Vorderbeine, als ob sie irgendeinen Gegenstand verscharrten, auch ein Hervorstrecken der Krallen und die für ihr Geschlecht charakteristischen Töne des Wohlbehagens, das Schnurren. Mein alter Schimmel, der nun schon seit Jahren das Gnadenbrot bei mir frißt, wiehert häufig im Schlaf laut auf, seine Beine zucken, sein Schweif bewegt sich lebhaft. Vielleicht träumt er von jenen Tagen, wo wir beide noch die Umgebung von Trunay durchschweiften und die Wirtin des Gasthofes von Montesson ihm die vielen Zuckerstückchen reichte, wofür er sich stets durch lebhaftes Schweifwedeln bedankte. Meine Kapuzineräffchen, ebenso mein Pavianmännchen Mungo stehen, was die Lebhaftigkeit ihrer Träume anbetrifft, nicht weit hinter meinen Hunden zurück. Oft, wenn ihre Kiefer sich schnatternd bewegten, wenn sie im Schlaf grunzten und quiekten und ihre Greifhände sich immer wieder öffneten und schlossen, glaubte ich, sie müßten wach sein. Und doch schliefen sie.

Der Inhalt der Träume dürfte bei den Tieren zumeist aus Wiederbelebung von Erinnerungsbildern bestehen, wobei frische Erinnerungen, die die Tiere stark erregt haben, wohl hauptsächlich [206] in Frage kommen. Ich möchte hier nur einen Fall schildern, der recht eindringlich für diese Annahme spricht. Eines Tages im Sommer war durch ein Versehen meines Gärtners die Tür des Wolfzwingers offen gelassen worden. Auf seinem unerlaubten Spaziergang war der Wolf auch vor den Affenkäfig gelangt. Die Kapuzineräffchen und der Pavian, die den Raubtiergeruch witterten, gerieten in furchtbare Aufregung und Angst und verübten einen solchen Lärm, daß ich schleunigst aus dem nahen Treibhause herbeieilte. Nachdem der Wolf wieder eingesperrt worden war, suchte ich das Affenvölkchen durch Darreichung verschiedener Leckerbissen zu beruhigen. Das gelang aber nur schwer. Noch mehrere Nächte nach jenem Vorfall träumten die Tiere derart lebhaft, wie ich es nie zuvor beobachtet hatte. Immer wieder fuhren sie kreischend aus dem Schlaf empor und starrten wild um sich, während ihre Hände gar nicht zur Ruhe kamen. Ohne Zweifel sahen sie im Traum stets aufs neue den Wolf vor sich, wie er sich beutelüstern an den Gitterstäben hochreckte.“

Wie Doktor Bernhard künstlich bei seinen Pfleglingen bestimmte Träume hervorrief, das schildert er in einem besonderen Abschnitt seines Buches. „Mein treuester vierbeiniger Freund Bermal, jener Hund ganz unbestimmter Rasse, den ich von der Straße auflas, liegt zu meinen Füßen vor dem Kamin. Vor einer halben Stunde sind wir von unserem Abendspaziergang heimgekehrt. Bermal hat sich dabei auf dem Felde einen strengen Verweis zugezogen; er jagte einen Junghasen auf, der bereits von irgendeinem geflügelten Räuber, wie ich nachher sah, böse zugerichtet worden war. Trotz meiner Zurufe verführte den Hund die Jagdleidenschaft. Er trieb den Hasen vor sich her, tat ihm aber nichts zuleide. Als ich dazukam, lag das Tierchen am Boden, keuchend, mit verängstigten Augen. Es starb auf dem Heimweg. Trotzdem nahm ich es mit mir, um es im Garten zu verscharren.

Der schlafende Hund bringt mich auf einen Gedanken. Ich gehe leise hinaus, hole den toten Junghasen und warte eine Weile, bis Bermal wieder fest schläft. Dann lege ich vorsichtig [207] das Häschen vor ihn nieder, ziemlich dicht an seine Schnauze. Eine Weile vergeht. Plötzlich wird der Hund unruhig, stößt ein leises Bellen aus, seine Beine bewegen sich lebhaft, sein Rückenhaar sträubt sich: er träumt. Wovon? Vielleicht von der Hetze auf den Hasen. Hat der Geruch des toten Tieres diese Erinnerung in ihm wachgerufen? Die Entscheidung ist schwer. Zur Nachprüfung des eben Beobachteten stelle ich folgenden Versuch an. Ich nehme den Hasen vom Boden auf, lege ihn ins Nebenzimmer und vertiefe mich dann in ein Buch. Nach einer Stunde – inzwischen ist Bermal zweimal erwacht und hat seinen Platz gewechselt – wiederhole ich dasselbe Spiel von vorhin. Der Hund hat den Kadaver des Hasen jetzt kaum einige Sekunden vor der Nase, und schon beginnen seine Pfoten zu zucken, schon entrinnt sich seiner Kehle das heisere, leise Bellen. Mit einem Wort: ich habe dieselben Anzeichen für einen den Hund erregenden Traum vor mir. Charakteristisch ist besonders das Zusammenziehen und Strecken der Beine, der hastige Atem: Bermal läuft im Traum! Und daß er hinter dem Hasen her ist, daß sein Jagderlebnis ihn im Schlafe beschäftigt, wer wollte noch länger daran zweifeln?!“

Ähnliches erzählt Doktor Bernhard auch von seinem Neufundländer Grix. Dieser eifrige Badefreund hatte eines Tages am Ufer der Seine eine Wasserratte aufgespürt, war ihr in den Fluß nachgesprungen und hatte sie bis zum Eingang ihres Baues verfolgt. Zwei Tage später traf Doktor Bernhard einen Landmann, der in einem Tellereisen eine Wasserratte statt eines Marders, dem er nachstellte, gefangen hatte. Mit dieser Ratte stellte der Tierfreund dann denselben Versuch bei seinem Grix an, den er ein Jahr vorher mit Bermal unternommen hatte. Auch dem Neufundländer wurde durch die Witterung der Wasserratte die Erinnerung an sein Abenteuer am Ufer der Seine vermittelt. Er machte mit den Vorderbeinen deutliche Schwimmbewegungen und stieß ein drohendes Knurren aus, kurz, er glaubte sich im Traum wieder im Flusse bei der Verfolgung des langschwänzigen Nagers.

Hören wir, was Doktor Bernhard in demselben Kapitel über [208] einen Papagei zu berichten weiß. „Der klügste meiner vier Papageien war ohne Zweifel ein Alexandersittich von seltener Größe und prächtigem Gefieder. Koko war ein äußerst friedliebendes Tier – nur mit meiner Angorakatze Sara lebte er auf so gespanntem Fuße, daß ich das schneeweiße Katzenfräulein nie in den Raum lassen durfte, wo Kokos Bauer stand. Kam Sara zufällig dort hinein, so erhob der Papagei ein wütendes Geschrei, sträubte das Gefieder und benahm sich wie ein Toller. Daß Koko die ziemlich scharfe Ausdünstung der Angorakatze genau kannte, hatte ich schon früher dadurch festgestellt, daß ich Sara versuchsweise in einem verdeckten Korbe dicht an den Käfig trug. Der Papagei wurde sofort unruhig. Seine Aufregung steigerte sich immer mehr, obwohl er seine Feindin nicht sehen konnte. Jedenfalls widerlegt diese meine Beobachtung die Annahme, daß Vögel einen sehr schlecht entwickelten Geruchsinn besäßen. Eines Nachts hatte ich ziemlich lange am Schreibtisch gesessen, als mir mit einem Male Sara, die ihr Körbchen leise verlassen hatte, schmeichelnd um die Füße strich. Dieser unbedeutende Zwischenfall erinnerte mich daran, daß ich längst beabsichtigt hatte, mich auch einmal näher mit Kokos Traumleben zu beschäftigen. Ich nahm also die Katze auf den Arm und ging leise in das Vogelhaus hinüber, das neben meinem kleinen Wintergarten liegt. Bei dem hellen Mondschein vermochte ich mich auch ohne Licht recht gut zurechtzufinden. Koko saß zusammengekauert auf der mittelsten Stange seines Käfigs. Sehr bald jedoch wurde er unruhig, reckte mit geschlossenen Augen den Kopf weit vor, krächzte leise und plumpste zu meinem Schreck plötzlich von der Stange auf den Sandboden des Bauers hinab. Da erst erwachte er und begann sofort ein derartiges Gekreisch, daß das ganze Vogelhaus lebendig wurde und ich mich schleunigst mit Sara zurückziehen mußte.“

„Wenn überhaupt noch darüber ein Zweifel bestehen kann,“ fährt Doktor Bernhard fort, „ob ein bestimmter, einem Tier unangenehmer Geruch imstande ist, gewisse Erinnerungsbilder im Traume zur Entstehung zu bringen, so will ich hier zum Schluß noch einen Fall schildern, der meines Erachtens auch die hartnäckigsten [209] Zweifler überzeugen muß. Mein Pavianmännchen, das friedlich mit dem Kapuzineräffchen in einem geräumigen Käfig haust, hatte sich einmal an einem verrosteten Eisendrahtstück, das zum Befestigen eines Futternapfes diente, eine Rißwunde am Rücken beigebracht, die in Eiterung überging. Da der Pavian körperlich schon sehr heruntergekommen war und auch stark fieberte, als ich den Schaden bemerkte, entschloß ich mich, ihn in Narkose von dem Geschwür zu befreien. Mungo, der schon seit Tagen teilnahmlos in einer Ecke hockte, ließ sich geduldig auf dem Operationstisch von meinem Gärtner und einem zweiten Manne festhalten. Wie ich ihm aber die Chloroformmaske auf das Gesicht drücken wollte, begann ein wilder Kampf, der erst aufhörte, als das Betäubungsmittel zu wirken anfing. Der operative Eingriff gelang sehr gut. Mungo erholte sich schnell, besonders da er den Verband stets ohne viel Widerstreben erneuern ließ. Ihn abzureißen, dazu war er viel zu klug. Nachdem er völlig wiederhergestellt war, begab ich mich eines Nachts mit einem in Chloroform getauchten Wattebausch zu dem Affenkäfig. Mein Pavian hockte wie immer schlafend auf dem mittelsten Ast des Kletterbaumes. Neben ihm saßen einträchtig die Kapuzineräffchen. Der süßliche Geruch des Chloroforms hatte sehr bald Mungos Nase erreicht, mithin auch die seiner Nachbarn. Während nun an ihm deutliche Zeichen von Unruhe bemerkbar waren, die sich schnell zu wütendem Grunzen, Zähnefletschen und zitternden Armbewegungen steigerten, schliefen die Kapuzineräffchen ruhig weiter. Nach einigen Minuten schon fuhr Mungo wie in wilder Angst hoch und flüchtete kreischend in den hintersten Winkel des Käfigs. Fraglos hatte ein Traumgesicht ihn derartig erschreckt, daß er vor Entsetzen schließlich erwachte. Dieser Traum kann aber nur eine Erinnerung an die damals bei der Operation überstandene Narkose zum Gegenstand gehabt haben, woran wohl angesichts der Tatsache, daß die Käfiggenossen Mungos durch den süßlichen, aufdringlichen Geruch nicht in ihrem Schlummer gestört wurden, niemand mehr zweifeln wird.“
W. K.