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Weihnachts-Heiligerabend

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Textdaten
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Autor: Jodocus Donatus Hubertus Temme
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Titel: Weihnachts-Heiligerabend
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 36–39, S. 477–480, 493–496, 505–508, 517–522
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[477]
Weihnachts-Heiligerabend.
Vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“

Manches Jahr ist schon dahin gegangen, als ein heiliger Weihnachtsabend mir sehr trübe, schwere Stunden brachte. Ich hatte sie in der Ausübung meines Amtes als Criminalrichter, die mir nie so schwer geworden ist, wie damals.

Ich erzähle Dir die Geschichte, lieber Leser, um Dir zu zeigen, wie leicht die Schwäche den Menschen zum Verbrecher machen kann. Um sie Dir zu erzählen, muß ich noch weiter in mein früheres Leben zurückgehen.

Ich war sehr jung zur Universität gekommen, darauf auch sehr jung Oberlandesgerichtsauscultator geworden, und stolz oder eitel darauf, Referendarius titulirt zu werden und der College von meist schon gereiften Männern zu sein, von denen ein großer Theil sogar als Offiziere die Freiheitskriege mitgemacht hatte. Ich war fast ein Kind unter ihnen.

Gerade diese meine große Jugend brachte mir eine eigenthümliche Stellung in der Gesellschaft ein. Das Oberlandesgericht, bei welchem ich „Referendarius“ war, hatte seinen Sitz in einer kleinen Provinzialstadt. In der Stadt befanden sich außerdem nur untergeordnete Localbehörden. Sie besaß keinen Handel und keine Garnison. Das Oberlandesgericht war deshalb darin Ein und Alles für das gesellige Leben. Es gab den Ton an. Von den Beamten des Oberlandesgerichts thaten dies aber nicht die Präsidenten, ein paar alte, nur dem Wissen und dessen Musen, Qualen und Verdrießlichkeiten ergebene Herren; auch nicht die Räthe, fast sämmtlich vertrocknete und versauerte Actenmänner; wohl aber die jungen, lebenslustigen Referendarien, und mit ihnen im Bunde die Damenwelt des Städtchens, mochte sie aus den Damen der Beamtenfamilien oder auch der anderen wenigen Honoratioren des Ortes bestehen. Zu den Referendarien hielten sich zwei junge Assessoren des Oberlandesgerichts.

In der späteren Zeit gab es in diesem Lande kein traurigeres Loos als das der Referendarien, und meist auch noch das der Assessoren der Oberlandesgerichte. Es hat sich auch bis jetzt nur wenig gebessert. In dem bureaukratischen Staate entwickelt sich ein unverhältnißmäßig großer Andrang zu der Beamtencarriere. Jeder junge Mann mit und ohne Talent will ein Ring in dieser großen Kette der Staatsherrschaft werden. So findet man bei einem einzigen Oberlandesgerichte oft hundert, anderthalbhundert bis zweihundert Referendarien, und zwanzig, dreißig bisweilen fünfzig Assessoren, von denen Allen kein einziger auch nur einen Groschen Gehalt bekommt, die demnach Alle auf eine Anstellung mit Gehalt warten, und die, eben um der großen Ueberfüllung willen, zehn bis fünfzehn, bis zwanzig Jahre warten müssen, bevor sie angestellt werden. Sie werden darüber arm und alt und verdrießlich. So war es zu jener Zeit doch nicht. In dem ganzen Staate gab es damals vielleicht keine zweihundert Referendarien und keine fünfzig Assessoren. Und die Assessoren hatten Gehalt, sobald sie ernannt wurden, und die ordentlichen Referendarien wurden mit ausreichenden Diäten als richterliche Hülfsarbeiter verwendet, sobald sie vom Justizminister bestätigt worden waren.

Unter solchen Umständen waren damals die jungen Referendarien und Assessoren begreiflich doppelte Lieblinge der heirathslustigen jungen Damenwelt, und es gab der Liebschaften bei den Oberlandesgerichten eine Menge.

Ich war ein Kind, und zwar ein nicht schwärmerisches Kind. Ich hatte keine Lust zu der Liebe, denn auch zur Liebe muß man, wie zu allen Dingen Lust haben. Dagegen wurde ich der Vertraute mancher der Liebesleute jener kleinen Provinzialstadt. Vertrauter bedarf die Liebe immer. Der reizendste Zauber der Liebe ist das Geheimniß; das größte Glück der Liebe ist ein kleines Unglück dabei. Ist es nicht von selbst da, so macht man sich eins. Hat man das Unglück, so ist auch das Geheimniß von selbst bedingt. Solcher kleinen Unglücke gab es auch dort: Unterschied der Religion; adeliger und nicht adeliger Stand; ein frivoles, irreligiöses Wort des jungen Mannes, unvorsichtig in Gegenwart der frommen Mutter oder Geliebten ausgestoßen; lautes Schreien auf der Straße in der Nacht, wodurch der Schlaf des verdrießlichen Vaters gestört ward. Am häufigsten gab es gegenseitige Eifersüchteleien. Gerade diese forderten am meisten einen Vertrauten auf beiden Seiten, besonders auf Seiten der Damen.

Der alte, würdige erste Präsident des Oberlandesgerichts hatte eine einzige Tochter; Therese war ihr Name. Sie hieß die schöne Therese; sie hieß aber auch die stolze Präsidententochter. Man hatte Recht zu beiden Benennungen. Sie war neunzehn Jahre alt, groß, von einer blendenden Schönheit. Sie war zurückgezogen, still, äußerlich kalt; keiner der Referendarien wagte ihr zu nahen. Auch der unverheirathete Assessor nicht. Sie hatte auch keine andere Liebschaft.

Dennoch wurde ich der Vertraute auch ihrer Liebe.

Der zweite bei dem Oberlandesgerichte, und zwar mit Gehalt angestellte Assessor war vor etwa drei Monaten herversetzt worden. Er war direct von der Hauptstadt nach dem kleinen, in einem sehr entfernten Winkel der Monarchie gelegenen Orte gekommen. Er hieß von Grauburg und gehörte einer armen Offiziersadelsfamilie an. Er war ein talentvoller Mensch, der schon als Knabe sich ausgezeichnet hatte, weshalb ihn die Seinigen nicht dem [478] Offizierstande gewidmet hatten, sondern studiren ließen. Man versprach ihm eine bedeutende Carrière in der Beamtenhierarchie. Er entsprach indeß nach einer anderen Seite hin nicht den von ihm gehegten Erwartungen. Er offenbarte mehr und mehr einen leichtsinnigen Charakter und dies auch namentlich, als er nach wohlbestandenem dritten Examen als Assessor bei dem Kammergerichte zu B. angestellt wurde. Dadurch wurden seine Verwandten veranlaßt, beim Justizminister zu bewirken, daß er aus B., wo es der Verführung zu viele für ihn gab, nach der kleinen, stillen und kleinstädtischen Provinzialstadt versetzt wurde, wo er noch zudem einem sehr strengen Chef untergeordnet wurde.

Er kam hier an mit einer jungen Frau, mit der er, wie es hieß, kurz vor seiner Versetzung in die Provinz sich verheiratet habe.

Er war ein schöner, geist- und kenntnißreicher, liebenswürdiger junger Mann. Er brachte die feine Lebensart der ersten Zirkel der Residenz mit, in denen er gelebt hatte. Seine Frau war eine schöne Dame, groß und üppig. Wenn sie auch nicht den Geist und die Bildung ihren Mannes besaß, so war sie doch immer munter und anspruchslos, fast schüchtern, und dadurch wie um ihrer Schönheit willen nicht minder liebenswürdig als ihr Mann.

Er machte mit ihr Besuche bei dem Präsidenten und bei allen Räthen des Oberlandesgerichts, und in den anderen, zur Societät des Städtchens gehörigen Familien. Man machte ihnen die üblichen Gegenbesuche. Man ladete sie darauf ein. In kleinen Städten herrscht für das Alles eine tyrannische Sitte. Beide wurden bald die Lieblinge der Gesellschaften; Beide gefielen den Damen wie den Herren. Indeß Beide noch mehr den Damen, als den Herren. Das hatte einfach darin seinen Grund, daß er, obwohl verheirathet, allen Damen den Hof machte, und daß sie dabei nicht die geringste Eifersucht zeigte. Alle Damen hatten deshalb zu ihr besondere Neigung und nahmen sie unter ihren besonderen Schutz. Das hätte die Damen nun freilich naturgemäß andererseits in eine sittliche oder wenigstens weibliche Entrüstung gegen ihren Mann bringen müssen. Allein er machte ihnen, wie gesagt, Allen den Hof, und am meisten denen, die am meisten seine Frau in ihre Zuneigung nahmen.

Er machte auch der schönen Therese, der stolzen Präsidententochter, den Hof; aber es war das ein eigenes Hofmachen. Er suchte sie in der Gesellschaft angelegentlich auf; er ließ sich mit ihr in ein von seiner Seite lebhaft geführtes Gespräch ein, über einen möglich uninteressanten Gegenstand; er isolirte sich dadurch mit ihr von der übrigen Gesellschaft, und, sobald er dies erreicht hatte, sobald er Alles von ihr entfernt hatte, allein mit ihr war, entfernte auch er sich plötzlich unter irgend einem Vorwand von ihr und ließ sie allein. Er that es ohne allen Hohn in seinem Aeußeren. Aber war sein Thun nicht selbst Hohn?

Und die stolze Präsidententochter?

An einem schönen Sommernachmittage war von mehreren Familien ein gemeinsames Fest in einem benachbarten Wäldchen veranstaltet. Das geschah oft so, und solche kleine Waldfeste waren immer reizend. Alles was an jungen Damen und jungen Herren zu der Gesellschaft des Städtchens gehörte, wurde dazu eingeladen und erschien. Die jungen Leute gingen in bunten Gruppen zu Fuße, die älteren kamen zu Wagen nach. Eine oder zwei verheirathete Damen im gesetzten Alter mußten sich als Ehrendamen der jungen Welt anschließen. Das war jedesmal eine wundervoll schöne Zeit für alle jene Liebesleutchen mit dem unentbehrlichen kleinen Liebesunglück. Da konnte man verstohlen die Hand drücken, leise seufzen, leise Worte der Liebe flüstern; hinter einer dicken Eiche konnte gar ein flüchtiger Kuß gewechselt werden. Den Eifersüchtigen konnte man versöhnen; das Herz des Erkalteten konnte man durch Eifersucht in neue Flammen versetzen. Und wenn es durch Eifersucht nicht anging, gar durch tüchtige Schläge mit dem Plumpsack; denn dem ländlichen Waldvergnügen durften auch die ländlichen Waldspiele nicht fehlen.

An jenem Sommernachmittage war die Gesellschaft besonders munter gewesen. Scherz und Spiel hatten unaufhörlich mit einander gewechselt; alle Liebespaare hatten sich zusammengefunden und zusammengehalten. Keine Eifersucht, kein zankendes Mutterauge, keine grollende Vaterstirn war heute störend oder trennend zwischen sie getreten. Die allgemeine Freude ließ sie entweder nicht sehen, oder ließ sie nicht sehen wollen.

Was den Assessor von Grauburg und seine Frau betraf, so war von der Frau Assessorin unzertrennlich ein jüngerer Rath, dessen Frau ihn vor acht Tagen mit einem Knäbchen beschenkt hatte, die daher an der Gesellschaft nicht Theil nehmen konnte. Der Assessor machte auf das angelegentlichste der jungen Frau eines alten Geheimeraths die Cour, der sich gern leicht erkältete und daher mit den älteren Damen zum Thee in ein aufgeschlagenes Zelt sich zurückgezogen hatte.

Die schöne Therese kam erst gegen Abend mit ihrem Vater nachgefahren. Der Präsident war Wittwer.

In dem Augenblicke, als der Wagen hielt, war zufällig ein Spiel der jungen Welt beendigt. Die jungen Leute gingen den Ankommenden entgegen. In einer kleinen Provinzialstadt, in der meist nur Beamte wohnen, ist ein erster Präsident ein kleiner König, und seine Tochter eine Prinzessin.

Der Assessor von Grauburg ging ihnen nicht entgegen. Der alte Geheimerath, dessen Frau er führte, hatte einen Anfall von Husten bekommen, war in die Oeffnung des Zeltes getreten und hatte seine Frau gerufen; er wollte sie fragen, was sie von seinem Husten halte. Der Assessor begleitete die schöne Frau zu dem Zelte.

Die schöne Therese wurde von den jungen Leuten, Damen wie Herren, umringt. Warum sie so spät gekommen, wie es so schön heute hier sei, wie herrlich man sich schon amüsirt habe, wie viel Amüsement der schöne Abend noch verspreche, besonders da sie, die sehnlich Erwartete, jetzt hier sei, das und dergleichen bildete den Inhalt einer sehr lebhaften allgemeinen Unterhaltung.

Die eigenthümliche Art, wie der Herr von Grauburg die schöne Therese behandelte, hatte mich schon seit einiger Zeit auf Beide besonders aufmerksam gemacht. Ich beobachtete sie an jenem Nachmittage angelegentlicher. Ich bemerkte bald, daß die Gedanken des schönen Mädchens nicht bei der Unterhaltung waren. Sie antwortete vage, zerstreut. Ihre Augen flogen oft suchend über ihre nächste Umgebung hin. Sie suchte Zerstreuung und Suchen zu verbergen. Ich bemerkte dennoch, wie sie dann den Assessor von Grauburg aufsuchten, dann wie plötzlich träumend auf der Gestalt der Frau von Grauburg haften blieben. Gleich darauf gab sie ihnen, wie verwirrt und verlegen darüber, daß man sie beobachtet haben möge, eine andere Richtung.

Die Frau von Grauburg schien keine Notiz davon zu nehmen, daß sie der Gegenstand der Aufmerksamkeit der jungen Dame sei.

Der Herr von Grauburg war von dem alten Geheimerath aufgehalten worden. Der kränkliche Herr sprach mit ihm über die berühmtesten Aerzte der Residenz. Aber auch er war nur äußerlich bei dem Gespräche. Ich konnte sogar in der Entfernung seine Bewegungen der Ungeduld wahrnehmen. Sobald er konnte, riß er sich los.

Bei seiner Entfernung sah ich einen beinahe ängstlichen Blick in dem Auge der Tochter des Präsidenten. Sie suchte wieder damit, ich konnte nicht errathen, was. Auf einmal fiel ihr Auge auf mich. Ich stand allein.

„Wird denn kein Spiel wieder begonnen?“ fragte sie die ihr zunächst Stehenden.

„Gewiß, gewiß!“ antwortete man ihr zuvorkommend.

Sie trat auf mich zu.

„Sie haben keine Dame, wie ich sehe.“

Sie nahm meinen Arm.

In demselben Augenblicke ging der Assessor von Grauburg an uns vorüber, ruhig, kalt grüßend, zu seiner Frau.

Ich fühlte den schönen Arm der Dame in dem meinigen zittern. Man kehrte zu dem Spielplatze zurück.

„Weichen Sie nicht von mir,“ flüsterte meine Begleiterin mir zu.

Ich fühlte, wie sie heftiger zitterte; ihr Gesicht war blaß geworden.

„Sie sind nicht wohl?“ fragte ich sie, halb wirklich unbefangen, halb weil ich nicht recht wußte, was ich ihr erwidern sollte.

„Nicht ganz. Und doch! Nachher! Gehen Sie nur nicht von meiner Seite.“

Gleich darauf holte der Assessor uns ein. Er ging mit seiner Frau ebenfalls zu dem Spielplatze.

Der Arm meiner Begleiterin zitterte nicht mehr. In ihr Gesicht war die gewöhnliche zarte Röthe zurückgekehrt.

„Ach, mein Fräulein,“ sagte der Assessor zu der schönen Therese, „Sie kommen spät, aber –“

[479] Er stockte.

„Aber?“ fragte sie kalt.

„Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt. Nicht wahr: –“

Sie unterbrach ihn boshaft: „Richtig, mein Herr, so sagt Schiller.“

Er fuhr ruhig fort: „Nicht wahr, mein gnädiges Fräulein, das haben Sie bei Ihrer Ankunft dort wohl aus manchem Munde hören müssen?“

„Ich glaube.“

„Auch mir drängte sich bei Ihrer Ankunft natürlich eine geistreiche Bemerkung auf.“

„Ich zweifle nicht daran, hätte sie noch jetzt Gültigkeit?“

„Gerade jetzt.“

„So sei sie Ihnen gestattet.“

„Aber in der That, ich bemerke, daß Sie mit Ihrer Frage halb Recht hatten. Meine Bemerkung an sich bleibt richtig, Sie haben mich indeß verlegen gemacht, und in dem Munde eines Verlegenen haben auch die geistreichsten Bemerkungen keinen Werth.“

„Zählen Sie auch diese Bemerkung zu den geistreichen? Doch ich bitte.“

„Anzufangen?“

„Ja!“

„Ach, wie man eine Comödie anfängt!“

„So ungefähr.“

„Ich wäre Ihnen nur ein Schauspieler?“

„Mein Herr, führen Sie bei uns kein Schauspiel auf?“

Die Frau des Assessors erbleichte plötzlich. Der Assessor blieb völlig unbefangen.

„Mein Fräulein, wer in dieser ganzen respektablen Gesellschaft wäre nicht Schauspieler?“

„Ei, mein Herr, die geistreiche Bemerkung, die ich noch bei Ihnen zu Gute habe, muß eine ganz besonders geistreiche sein, da Sie allen Geist für etwas Anderes bei Ihnen absorbirt zu haben scheint. Darf ich endlich darum bitten?“

„Sie haben zu befehlen, meine Gnädige. Es handelte sich nur um eine Uebersetzung. Sie kennen doch das politische Sprichwort der Franzosen: „Le roi est mort, vive le roi!

„Ich kenne es.“

„Sehen Sie dort am Horizont noch gerade den letzten Strahl der scheidenden Sonne?“

„Nun?“

„Mit ihrem Scheiden kamen Sie. Die Königin stirbt, es lebe die Königin.“

„Sie erwarten Dank für die geistreiche Galanterie, mein Herr? Ich danke Ihnen.“

Das Fräulein sprach die Worte mit einem schneidend kalten Hohn. Unmittelbar darauf ging sie voran, der Gesellschaft nach, ohne dem Assessor Zeit zu einer Erwiderung zu lassen.

Die Gesellschaftsspiele wurden fortgesetzt. Die schöne Therese hielt mich fast mit Aengstlichkeit in ihrer Nähe fest. Ich wich mit einer Art von Mitgefühl nicht von ihr. Sie gab sich Mühe munter zu erscheinen. Der Assessor kümmerte sich nicht weiter um sie. Er war ausgelassen lustig den ganzen Abend.

Die Gesellschaft brach auf und nahm den Rückweg nach der Stadt, wie sie gekommen war, die jungen Leute zu Fuße, die ältern in ihren Wagen.

Die schöne Therese hatte Kopfschmerzen bekommen; sie erklärte es wenigstens beim Aufbruche, und sie verband damit die Erklärung, daß sie nicht zu Fuße zurückkehren könne.

„Du würdest aber allein fahren müssen“, sagte ihr der Vater, der an dem schönen Abend eine Fußpromenade vorzog.

Ich stand neben ihr.

„Würden Sie Ihre Dame verlassen?“ fragte sie mich mit einem freundlichen Lächeln und einem heimlichen Winke.

„Nur, wenn meine Dame es mir befiehlt!“

„So geben Sie mir Ihren Arm.“

Der Assessor hatte sie beobachtet. Er lächelte höhnisch.

Ihr Arm zitterte wieder in dem meinigen. Ich führte sie zu ihrem Wagen; wir fuhren in diesem allein nach Hause. Anfangs saß sie still neben mir. Sie starrte in den aufgehenden Mond. Ihr schönes Profil war doppelt schön und reizend in dem feinen, blassen Mondlichte. Sie blickte fortwährend unbeweglich. Auf einmal wurden ihre Augen glänzender in dem blassen Schein. Als ich genauer hinsah, gewahrte ich, daß der Glanz von großen Thränen herrühre, die in den Augen standen.

Sie bemerkte, daß ich sie ansah. Sie wischte die Thränen ab, dann wandte sie sich zu mir.

„Sie haben errathen, warum ich weine?“ fragte sie.

„Wie könnte ich? “ erwiederte ich ihr. Ich hatte in der That nur eine Ahnung.

„Sie haben“, sagte sie bestimmt. „Und es ist gut so. Ich muß einmal mein Herz erleichtern. Mein Vater hat nie Sinn für seine Kinder. Ich habe keine Mutter, keine Schwester, keinen Bruder, keine Freundin. Seien Sie mein Freund, mein Bruder. Sie sind verschwiegen.“ Sie nahm meine Hände. Indem sie sie heftig drückte, fuhr sie leidenschaftlich fort:

„Ja, ich liebe ihn. Sie haben es sehen müssen. Aber nur erst heute Abend haben Sie es bemerkt. Nicht wahr, nur erst heute?“

„Meine Ahnung wurde erst heute bestimmter.“

„Also schon früher? Auch die Andern?“

„Ich glaube nicht!“

„Haben Sie nichts darüber gehört? Hat Niemand darüber gesprochen? “

„Niemand.“

„Gewiß nicht?“

„Ich versichere Sie.“

Sie beruhigte sich.

„Ich war heute schwach“, fuhr sie fort. „Ich weiß selbst nicht wie es kam. Es war mir so sonderbar, gerade heute. Ich fühle mich so unglücklich, so verlassen.“

„Fräulein“, sagte ich –

„Nennen Sie mich Therese, Freundin.“

Sie war sehr aufgeregt. Ich faßte ihre Lage desto prosaischer auf und ich hielt es sogar für meine Pflicht, ihr frei und offen meine prosaische Ansicht über ihre Lage mitzutheilen.

„Meine Freundin“, sagte ich, „der Freund muß Ihnen sagen, daß Sie recht hätten sich unglücklich zu fühlen, wenn auch das Gefühl, das Sie für Liebe halten, wahr wäre.“

„Zweifeln Sie an diesem?“

„Um Ihretwillen!“

„Um meines Unglücks willen?“

„Zum Theil. Zum Theil aber auch –“

Ich stockte; was ich sagen wollte, war verletzend; ich konnte keine Worte dafür finden, die mir milde genug schienen.

„Was wollen Sie sagen?“

„Der Herr von Grauburg ist verheirathet.“

„Und?“

„Und ich muß Ihnen gestehen, daß ich die Ottilie in Goethe’s Wahlverwandtschaften nie für einen ächt weiblichen Charakter habe halten können.“

Ich sah im Mondschein ihr Gesicht blasser werden. Auf einmal wandte Sie mir ihr volles Gesicht zu. Sie sah mit ihren schönen Augen mich durchdringend an.

„Glauben Sie wirklich, daß er verheirathet ist?“

„Aber ich bitte Sie –“

„Ich begreife, daß Sie nicht daran zweifeln, daß Niemand es bezweifelt. Aber das Auge der Liebe sieht scharf. Das ist nicht mein Unglück. Aber er liebt mich nicht. Er hat meine Liebe bemerkt, er hat sie hervorgerufen, künstlich, vorsätzlich, um über sie, über mich zu spotten. Er hat kein Herz. Und ich liebe ihn!“

Ich hatte bisher zu der schönen, stolzen Präsidententochter, die durch ihr stolzes, würdevolles Wesen Jedermann von sich zurückzuhalten wußte, nur mit einer Art von Verehrung hinaufzusehen gewagt. Als sie mich so plötzlich zu ihrem Vertrauten machte, hatte ich zuerst nur Mitleid für sie gefühlt. Ihr letzten Worte schienen mir eine gewöhnliche verliebte und phantastische Närrin zu zeigen. Ich konnte dem Kitzel nicht widerstehen, sie das wenigstens ahnen zu lassen.

„Ich hatte geglaubt“, sagte ich, „er habe nur zuviel Herz, also jedenfalls ein sehr schönes, weiches und empfängliches Herz, und das habe gerade Ihnen gegenüber nicht widerstehen können, habe Ihnen gegenüber –“

Ich mußte mitten in meinem Satze einhalten.

Sie bedeckte laut weinend ihr Gesicht mit ihren Händen. „O Gott“, rief sie. „Stände ich doch wieder allein mit meinem [480] Schmerze, meinem Unglücke, meinem Geheimnisse. Nur Spott, nur Hohn soll mein Vertrauen mir einbringen.“ Sie war jedenfalls eine Unglückliche, unglücklich entweder in einer großen, starken Leidenschaft, oder in einer überschwenglichen Einbildung. Mein leerer Spott konnte nur verletzen und reizen.

„Verkennen Sie mich nicht“, erwiederte ich ihr beruhigend. „Ich meinte es gut. Sie tragen eine Wunde in Ihrer Brust; ich wollte durch lauten Spott ihre Tiefe, ihre Beschaffenheit sondiren. Es bedarf dessen nicht mehr. Ihre Wunde ist wirklich tief und schmerzhaft.“

„Das ist sie.“

Sie warf sich an meine Brust, anfangs noch laut, dann stiller weinend. Ich hatte keinen Spott mehr für sie. Ich hatte aber auch keine Trostgründe. Jeder wäre trivial gewesen. Ich hatte sie aber auch aus einem andern Grunde nicht.

Habe Einer, achtzehn Jahre alt, noch so wenig Lust zur Liebe, und fahre er, an einem schönen, warmen Sommerabend, im klaren Mondenschein, durch duftenden Wald und duftige Wiesen, im leise schaukelnden Wagen, an seiner Seite ein weibliches Wesen, ein Bild der Jugend und der Schönheit, ihre Hände in den seinigen, ihren Kopf an seinen Busen gelehnt, das Wogen ihres Busens, das Klopfen ihres Herzens fühlend, ei zum Teufel, er wird in seinem Herzen ganz andere Dinge fühlen als Spott und Hohn.

Wir erreichten die Stadt.

„Kommen Sie morgen Abend zu mir“, sagte sie beim Abschiede.

War sie eine Unglückliche, oder eine Thörin? War er der sorglose Verführer ihrer Liebe oder ihrer Phantasie? War er wirklich nicht verheirathet? Und wie sollte dies anzunehmen sein?

Am andern Tage lief ein sonderbares Gerücht mit der rasenden Eile eines Lauffeuers durch die kleine Stadt. Dem sonderbaren Gerüchte folgten sonderbare Ereignisse. Es war ein sonderbarer Zufall, daß das Alles am nächsten Tage nach jener Waldscene sich zutragen mußte.

Des Morgens um neun Uhr war die Fahrpost – ich weiß nicht ob damals schon Schnellposten eingerichtet waren – von B. in der kleinen Stadt eingetroffen. Sie mußte sich eine Stunde aufhalten, um präcis zehn Uhr weiter zu fahren. Aus dem Postwagen war ein junger Offizier gestiegen. Er kam aus der Residenz und wollte weiter fahren. Er fragte nach einem Gasthofe, in welchem er bis zur Abfahrt des Postwagens frühstücken könne. Nicht weit von dem Posthofe lag der erste, oder einer der ersten Gasthöfe des Städtchens. Er wurde dorthin gewiesen. Während er sein Frühstück verzehrte, schien er sich auf einmal auf etwas zu besinnen.

„H. heißt das Städtchen?“ fragte er den Gastwirth.

„Aufzuwarten.“

„Und ein Oberlandesgericht ist hier?“

„Aufzuwarten.“

„Potztausend, ist dabei nicht ein Assessor von Grauburg angestellt?“

„Gewiß.“

„Was macht er denn?“

„Es geht ihm gut. Es scheint ihm und seiner jungen Frau hier sehr zu gefallen.“

Dem Offizier fielen vor Verwunderung Gabel und Messer aus den Händen.

„Seiner jungen Frau? Seit wann ist der Grauburg denn verheirathet?“

„Er hat seine Frau schon von B. mit hierher gebracht.“

Der Lieutenant konnte vor Verwunderung nicht weiter essen.

„Von B.?“

„Sie können sich darauf verlassen.“

„Er brachte sie schon mit, als er hierher versetzt wurde?“

„Gewiß.“

„Es ist nicht möglich.“

„Aber ich versichere Sie.“

„Das muß ich wissen. Wo wohnt der Herr von Grauburg?“

„Nicht weit von hier. Dort in der ersten Straße rechts, im ersten Hause links.“

Der Offizier ließ sein Frühstück stehen, verließ den Gasthof und eilte nach der bezeichneten Straße und nach dem bezeichneten Hause.

Der Gastwirth sah ihn in sprachlosem Erstaunen nach. Seiner Frau Neugierde wurde desto redseliger, als er ihr die Unterredung mitgetheilt hatte.

Nach einer starken Viertelstunde kehrte der Offizier zurück. Er kehrte mit einem halb listigen und halb verlegenen Gesichte zurück.

„Nun“, fragte der neugierige Gastwirth, „haben der Herr Lieutenant sich überzeugt?“

Der Offizier antwortete nicht.

„Meine Rechnung, wenn ich bitten darf.“

Er erhielt seine Rechnung; er bezahlte sie; er kehrte zu dem Posthofe zurück; er fuhr mit dem weiter fahrenden Postwagen weiter. Er war abgefahren, stumm wie das Grab.

Nicht stumm, sondern sehr gesprächig war die Dienstmagd im Hause des Assessors von Grauburg gewesen. Durch sie erfuhr die Stadt bald Folgendes: Der Offizier hatte an der Wohnung des Herrn von Grauburg geklingelt. Das Dienstmädchen hatte ihm geöffnet.

„Der Herr Assessor von Grauburg zu Hause?“

„Nein. Der Herr ist in der Sitzung.“

„Die – die Frau Assessorin?“

„Die gnädige Frau ist zu Hause.“

„Können Sie mich melden?“

In dem Augenblicke öffnete sich eine Thür. Die Frau Assessorin von Grauburg trat heraus in das Entrée. Sie sah den fremden Offizier. Sie wollte zurückfliehen, aber der Offizier hatte auch sie gesehen.

„Zum Teufel, Aurora!“ rief er. Er stürzte ihr nach. Bevor sie die Thür hinter sich hatte zuschlagen können, hatte er sie schon wieder aufgerissen. Er war mit ihr in ihrem Zimmer.

Das Dienstmädchen stellte sich horchend an die Thür und konnte jedes Wort hören, das in dem Zimmer gesprochen wurde.

„Zum Teufel, Aurora, wie kommst Du hierher? Was machst Du hier?“

„Ich bitte Sie um des Himmels willen, sprechen Sie leise. Das Dienstmädchen –“

„Die gnädige Frau spielst Du hier? Die Frechheit ist zu groß. Wo hatte der Grauburg seine Gedanken? Er ruinirt sich in dem kleinen Neste –“

„Ich beschwöre Sie, Herr von Münchhoff. Wir leben hier so glücklich. Stören Sie unser Glück nicht.“

[493] Der Offizier lachte laut auf. „Ihr lebt wohl idyllisch! Er, und gar Du? Nun, da hört Alles auf, nach Deinem eignen Lieblingssprüchworte. Aber das muß aufhören.“

„Lieber Herr von Münchhoff – “ Die Dame sprach leiser. Auch der Offizier redete nicht mehr laut.

Das Mädchen hörte nichts mehr.

Nach einigen Minuten entfernte sich der Offizier.

Was die Magd gehört hatte, erfuhr sofort die Magd in dem Nachbarhause, in welchem eine Rathsfamilie wohnte. Von ihrer Magd erfuhr es sofort die Frau Räthin. Sie ließ ihren Mann aus der Sitzung rufen. Während er gehorsam sich nach Hause verfügte, rief den Vorbeigehenden der Gastwirth an. Er erfuhr von diesem das, was in dem Gasthofe sich zugetragen hatte; später aber auch von seiner Frau das Weitere. Er flog zurück in die Sitzung, und konnte nur mit Mühe deren Ende abwarten. Nachdem sie beendet war, ging er mit dem ersten Präsidenten auf die Seite, und theilte ihm mit, was er erfahren hatte; und er theilte es ihm entsetzt, entrüstet mit. Hier läge eins der schwersten Attentate vor gegen die Sitte, gegen das Familienleben, gegen die Collegialität, gegen die Stadt, gegen den Justizdienst.

Der Präsident überlegte sich die Sache während des Mittagessens, ruhig, ohne ein Wort zu sprechen. Nach dem Essen ließ er den Assessor zu sich rufen.

Der Assessor trat völlig unbefangen bei ihm ein.

„Herr Assessor, ich habe Sie in einer sehr ernsten Angelegenheit zu mir bitten lassen.“

„Halten Sie sie in der That für ernst, Herr Präsident?“

„Sie wissen also schon? Und die Thatsache ist wahr?“

„Vollkommen wahr.“

„Die Dame ist nicht Ihre Frau?“

„Gott bewahre!“

„Was ist sie denn?“

„Mein Gott, Herr Präsident, wären Ihnen denn solche Verbindungen der Residenz unbekannt?“

„Aber wir leben hier nicht in der Residenz; und dann besteht ein anderer Unterschied. Wie durften Sie wagen, die Person in das stille, heilige Leben so mancher Familie hier einzuführen?“

„Herr Präsident, ich mache mir nur einen Vorwurf darüber, sie auch in Ihr Haus gebracht zu haben.“

„Was haben Sie vor?“

„Die Sache ist ruchbar geworden. Die Dame wird noch heute abreisen.“

„Und Sie?“

„Ich, Herr Präsident?“

„Ich sehe, Sie sind leichtsinniger, als ich glaubte. Sie wollten hier bleiben? Nach der Beleidigung, die Sie so manchen Familien zugefügt haben? Unter dem Geschrei und Skandal der ganzen Stadt?“

„Pah!“

„Sie mögen für sich darüber denken, wie Sie wollen. Im Interesse des Dienstes muß ich anders denken und handeln. Ich gebe Ihnen daher hiermit einen Urlaub von vier Wochen, von heute an. Verstehen Sie?“

„Ich verstehe.“

„Sie haben damit, zumal bei Ihren Verbindungen in der Residenz, ausreichende Zeit für Ihre Arrangements.“

„Ich verstehe auch das, Herr Präsident. Ich habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen.“

„Leben Sie wohl.“

Eine Stunde darauf war der Assessor mit seiner „Frau“ abgefahren.

Noch eine Stunde später rasete ein wilder Aufruhr durch alle Straßen und durch alle Häuser der kleinen Stadt; es war ein Aufruhr alles sittlichen und geselligen Lebens. Eine wirklich gemeine Person hatte der freche Mensch als seine Frau in die Familien einzuführen gewagt; sie war die Freundin der Geheime- und anderer Räthinnen, und der Geheimeraths- und anderer Räthinnen Töchter gewesen! Eine größere Frechheit, eine größere Unverschämtheit ließ sich nicht denken.

Ich konnte den Leuten wahrlich nicht Unrecht geben, wenngleich die Motive des Schreiens bei Manchem nicht besser waren, als das Verfahren des Herrn von Grauburg.

Am Abend ging ich zu der schönen Therese. Ich war sehr neugierig, wie ich die stolze Präsidententochter finden werde. Ich fand sie in Thränen.

„O, mein Freund, ich bin sehr unglücklich!“

„Unglücklich? Sie sprachen ja schon gestern aus, daß sie nicht seine Frau sei.“

„Nicht darüber, das wußte ich, das hatte mein Herz, meine Liebe schon längst gesehen. Sie konnte seine Frau nicht sein. Aber er ist fort; er kommt nicht wieder.“

Sie erzählte mir die Unterredung ihres Vaters mit dem Herrn von Grauburg.

„Durfte er wiederkommen?“ fragte ich.

[494] Sie verhüllte ihr Gesicht.

„Und,“ fuhr ich fort, „ist es nicht namentlich für Sie ein Glück, daß er nicht wiederkommen darf? Verdient sein Betragen nicht eine schärfere Bezeichnung, als die des bloßen Leichtsinns?“

„Ich liebe ihn.“

„Das gerade wäre Ihr Unglück, wenn er zurückkehrte.“

„Auch jetzt?“

„Sie werden ihn vergessen.“

„Nie, nie!“

Dabei blieb sie. Es war wirklich eine unbegreifliche Liebe, die dieses reine Herz für den leichtsinnigen, für den mehr als leichtsinnigen Menschen fühlte. Liebe und Schmerz wuchsen mit jedem Tage.

Der vierwöchentliche Urlaub des Assessors von Grauburg lief zu Ende; niemand hatte daran gedacht, daß er zurückkehren werde. An dem Tage des Ablaufs brachte des Morgens um neun Uhr der Postwagen den Assessor; er kam allein zurück, aber frisch, munter und unbefangen, wie immer. Es war kein Sitzungstag. Er begab sich sofort, wie der Dienst es forderte, zu dem Präsidenten.

„Herr Präsident, ich melde mich von meinem Urlaub zurück.“

„Sie hatten mich also doch nicht verstanden, Herr Assessor?“

„Ich konnte nicht anders.“

„Mein Herr, wo es sich um die Ehre handelt, muß man Alles können. Sie hätten nicht hierher zurückkommen dürfen.“

„Herr Präsident, darf ich mir eine Bitte an Sie erlauben?“

„Was wünschen Sie?“

„Ich bitte um die Erlaubniß, um die Hand Ihrer Fräulein Tochter anhalten zu dürfen.“

Der Präsident stand sprachlos. Erst nach einer Weile konnte er Worte finden.

„Auf unsere Kosten,“ rief er entrüstet, „mit der Ruhe, dem Glücke, der Ehre meines Kindes wollen Sie Ihre Ehre wiederherstellen?“

„Ich liebe Ihr Fräulein Tochter.“

Der junge Mann sprach diese Worte im Tone des wahren Gefühls.

Der Präsident war ein alter, schon etwas hinfälliger Mann; er konnte auf ein langes Leben nicht mehr rechnen. Arm in den Dienst getreten, in dem er „von der Pike an“ gedient hatte, war der redliche, uneigennützige Mann arm geblieben. Nach seinem Tode stand seine Tochter ohne Vermögen, ohne Stütze da; sie hatte nichts, als was sie sich selbst erwerben konnte, als Gouvernante, als Gesellschafterin, oder in ähnlicher Weise. Der Herr von Grauburg war ein Mann von Talent und Kenntnissen; schon das mußte ihm eine gute Carrière verschaffen. Er war von Adel, seine Familie war mit den ersten Adelsfamilien am Staatsruder liirt; das mußte ihm eine „glänzende Laufbahn“ eröffnen. Er war leichtsinnig gewesen, mehr als leichtsinnig; aber das holländische Sprüchwort sagt: wer geraset hat, raset nicht mehr. Auch der Präsident kannte das Sprüchwort. Er sah den Assessor durchdringend an, und er las in seinen Augen die Bestätigung des Gefühls, mit welchem der junge Mann seine letzten Worte gesprochen hatte.

„Das geht meiner Tochter an,“ sagte er.

„Sie machen mich glücklich.“

Der Assessor ließ sich durch den Bedienten sofort bei dem Fräulein anmelden.

Die stolze Präsidententochter empfing ihn mit allem ihren Stolze, den sie vielleicht mühsam genug hatte zusammennehmen müssen.

„Mein Fräulein, ich befinde mich in einer so eigenthümlichen Lage, daß ich nur ohne alle Umschweife zu Ihnen reden kann.“

„Ich denke, Sie machen diese schon, mein Herr.“

„Fräulein, ich liebe Sie. Ich bitte um Ihr Herz und ihre Hand.“

Er nahm ihre Hand; sie ließ sie ihm; er drückte die Hand an sein Herz, an ihr Herz; sie litt auch das. Sie war verwirrt, betäubt, dann unglücklich, zuletzt glücklich. Sie waren Brautleute. Sie wurden Eheleute; sie waren glückliche Eheleute geworden, wenigstens so lange, als ich von ihnen gehört hatte.

Noch ein Jahr blieb der Herr von Grauburg Assessor bei dem Oberlandesgerichte in dem kleinen Städtchen; dann ging er zu der Verwaltung über, nach einer andern, weit entfernten[WS 1] Provinz des Staates.

Bald nachher hatte ich mein weiteres Examen gemacht, und auch ich wurde in eine andere Gegend versetzt.

Von dem Herrn von Grauburg und seiner Gattin hörte ich seitdem nichts mehr.

Freilich mußte ich noch oft an die schöne Therese zurückdenken, und wie sie im Mondschein ihre Thränen an meiner Brust ausgeweint hatte. Sie hatte sie zwar für einen Andern geweint, aber es durchzog dennoch ein süßes Weh mein Herz, wenn ich an sie dachte. Jedesmal aber auch, wenn ich dabei zugleich an den Mann denken mußte, für den sie die Thränen vergossen hatte, überfiel mich eine schwere Sorge um ihr Schicksal. Hatte nicht mindestens gegenseitiger Leichtsinn ihr Band geknüpft?

Zehn Jahre waren seit den erzählten Begebenheiten vergangen: ich wurde wieder in eine andere Provinz der Monarchie versetzt, und zwar als Mitglied eines Provinzialgerichtshofes, bei dem ich hauptsächlich Criminalsachen zu bearbeiten hatte. Ich kam in der zweiten Hälfte des Decembers an dem Orte meiner neuen Bestimmung an. Es war wiederum eine kleine Stadt, eine jener kleinen Beamtenstädte, in denen beinahe mehr Regierende, als Regierte wohnen. Es gab dort neben dem Obergerichte ein Regierungscollegium; ein Kavallerieregiment lag dort als Besatzung; eine große Menge von „Civil- und Militair-Unterbehörden“ gruppirte sich um diese Herren herum.

Ich war unverheirathet und quartirte mich für die erste Zeit in einem Gasthofe des Städtchens ein, an dessen Tafel ich auch speisete. Einige jüngere Leute, gleichfalls Beamte, Assessoren und Referendarien, waren bereits Tischgäste. Die Gespräche an der Tafel erstreckten sich meist nur über Geschäftsangelegenheiten.!

Der Beamte muß viel arbeiten, schon vom Referendarius an; das Klagen über viele Arbeiten wird ihm dadurch zur Gewohnheit; es gehört zum guten Ton in der Beamtenwelt, schon der Referendarius übt sich darin. Ueber Politik wurde selten gesprochen; nur die Skandalchronik des Städtchens brachte manchmal eine Abwechselung in die Unterredung.

Es war damals eine merkwürdige Zeit. Dem Könige war alles politische Treiben nach außen, jede Neuerung nach innen verhaßt. Gleichwohl ist keine Regierung mehr als die seinige von den Wechselfällen der europäischen Politik und von Neuerungen im Innern betroffen worden. Selbst noch nach 1815, in den langen fünfundzwanzig Jahren, in denen er nur mit Männern sich umgab, die jeder Veränderung der Regierung und Verwaltung noch mehr abhold waren, als er selbst. Der Geist der Zeit trieb die Widerwilligen rastlos vorwärts, bis sie zuletzt selber trieben. Indessen geschah das Alles, wie eben meist widerwillig, so fast unmerklich, nie wurde Geräusch davon gemacht, nie durfte Geräusch davon gemacht werden, man durfte nicht einmal sagen, daß es eine Neuerung ist, die man gemacht habe.

Der Grund lag klar vor; man fühlte, daß man immer mehr und mehr zum Umsturz des Bestehenden hingetrieben wurde und treiben mußte; das durfte nicht zum Bewußtsein der Menge kommen; der Unterthan durfte es nicht einmal ahnen. In dem Ahnen wurde schon dieser Umsturz selbst gefürchtet; in dem Sprechen darüber wurde die Revolution schon gefunden.

Deshalb gab es auch schon damals eine geheime Polizei gegen die Burschenschaften und andere „Demagogie“. Namentlich gab es vielfach im Lande geheime Agenten des Polizeiministeriums, die ihrem Chef Alles berichten mußten, was sowohl über äußere als innere Politik, besonders in den höheren Gesellschaften gesprochen wurde. Wo man sie erkannte, waren sie damals der allgemeine Gegenstand des Hasses und der Verachtung. Jedermann haßte und verachtete sie um ihres Metiers willen. Die Beamtenwelt, namentlich die höhere, haßte und verachtete sie noch ganz besonders aus einem andern Grunde. Es wurde jenen Leuten ostensibel ein anderes Amt überwiesen; bald waren sie Regierungsräthe, bald Richter, bald Steuerbeamte, bald selbst nur Subalternbeamte bei höheren Kollegien. So konnte einerseits der ehrenwerthe Beamte vermöge des „Dienstes“ nicht umhin, vielfach mit ihnen zu verkehren und die allgemeine Verachtung, die auf dem Verräther lastete, fiel nothwendig theilweise mit auf die Beamten, die mit ihm verkehrten. Andererseits waren sie eben Allen zu Aufpassern gesetzt, selbst den Präsidenten, Direktoren [495] und Räthen der Collegien, deren Mitglieder oder gar Subalternbeamte sie nur waren.

Sie führten fast in der ganzen Monarchie ein und denselben Spottnamen; man nannte sie „Demagogenfänger.“

Ich war seit ungefähr acht Tagen an dem Orte meiner neuen Bestimmung. Bei meiner Ankunft hatte ich eine große Menge Amtsgeschäfte vorgefunden, Rückstände meines Amtsvorgängers. Stadt, Gegend und Menschen hatte ich daher noch wenig kennen gelernt. Von den letzteren beinahe nichts als meinen Präsidenten und Kollegen, die ich in der Sitzung des Gerichtshofes gesehen, und denen ich die üblichen Besuche gemacht hatte; dabei lernte ich kaum die Gesichter unterscheiden. Es bestätigte sich auch dort ein Vergleich eines Bekannten, der zu sagen pflegte: „Kommen Sie einmal in eine Gesellschaft deutscher Beamten und deutscher Gelehrten, und sehen Sie sich die Gesichter an; es wird Ihnen jedesmal sein, als wenn Sie in eine Schüssel mit getrocknetem Obst sehen; Sie können nicht einmal unterscheiden, ob Sie vertrocknete Aepfel, Birnen oder Pflaumen vor sich haben.“

Außerdem hatte ich flüchtig ein paar junge Assessoren kennen gelernt, mit denen ich an der gemeinsamen Tafel des Gasthofes speisete.

Ich sollte Alles, was zur Gesellschaft des Orts gehörte, mit einem Male, wenn auch nur sehr äußerlich, kennen lernen.

In dem Städtchen war eine „Kasinogesellschaft,“ die im Winter alle vier Wochen einen großen Ball gab. Es war einer dieser Bälle. Ich hatte mich noch nicht in die Gesellschaft aufnehmen lassen. Der erste Präsident des Gerichts hatte mir trotzdem eine Einladungskarte zu dem Balle geschickt; ich mußte hingehen, und machte dem Präsidenten und seinen Damen mein Kompliment, und mischte mich dann in die Gesellschaft, um mir dieselbe zu besehen.

Es war wirklich eine glänzende Gesellschaft in dem prachtvoll hergerichteten Lokale. Man sah, daß die hier an einem entlegenen Ende der Monarchie versammelte Welt, wenigstens zu einem großen Theile, in den Cirkeln der Residenz sich bewegt hatte. Toilette und Haltung der Damen wie der Herren von Civil zeigte das; die Uniformen und die Tournüre der Offiziere müssen ja auf Commando aus der Residenz geholt werden.

Einer von meinen Wirthshausbekannten nannte mir die Namen der Anwesenden, und theilte mir ihre Geschichte wie ihre Verhältnisse mit. Es war meist eine Skandalchronik. Junge Frauen der Räthe mit den vertrockneten Obstgesichtern und junge Kavallerielieutenants spielten eine Hauptrolle darin. Sodann ein paar Adjutanten, die von den schmachtenden Augen der Frauen ihrer corpulenten Vorgesetzten mit einer fast mehr als militairischen Strenge gegen jeden Blick auf hübsche „Civilisten“-Frauen und Töchter bewacht wurden.

Mein Berichterstatter wurde unterbrochen. Die muntere Laune der ganzen Gesellschaft in unserer Nähe schien auf einmal gestört zu sein. Es entstand plötzlich eine fast unheimliche Stille um uns, freilich nur auf kurze Zeit.

In unsere Nähe war ein Herr getreten, den ich vorher noch nicht bemerkt hatte. Es war ein Mann etwa in der Mitte der dreißiger Jahre; er war ziemlich wohl gebaut. Sein Gesicht machte einen desto unangenehmeren Eindruck; es hatte einen plumpen jüdischen Schnitt, stark gebogene, dicke Nase, aufgeworfene Lippen. Das war es aber nicht, was das Gesicht unangenehm machte; es war darin zugleich ausgeprägt der Ausdruck des unterwürfigen Kriechens gegen Höhere und des rohen Uebermuths gegen Niedere. Verrath und Tücke schienen in dem Auge zu lauern. Das Alles konnte mir nun freilich nur halb die unheimliche Stille erklären, die der Mann durch sein bloßes Erscheinen um sich her verbreitete. Ich sah ihn beobachtender an. Mein Berichterstatter bemerkte meine Neugierde.

„Haben Sie nie von einem Doctor Feder gehört?“

„Nein.“

„Auch nicht in B.?“

„Auch dort nicht.“

„Der Mann ist für unsere Provinz eine Berühmtheit.“

„Das will nicht viel sagen. Sie wissen, jedes Regiment hat den besten Reiter in der ganzen Armee, und doch weiß kaum das dritte Regiment von ihm.“

„Das ist wahr. Aber –. Freilich, jede Provinz hat auch solche Burschen.“

„Dieser ist?“

„Früher ein Jude, jetzt ein Christ.“

„Das heißt?“

„Sie wissen, der verstorbene Staatskanzler begünstigte die Juden. Herr Feder studirte, wurde Doctor der Philosophie, hoffte im Bureau des Staatskanzlers seine Carrière zu machen und blieb Jude. Der Staatskanzler starb; man wollte von dem Juden nichts mehr wissen; er wurde Christ. Man wollte auch von dem Convertiten nichts mehr wissen; er bot sich zu allerlei Diensten an und wurde lange Zeit zurückgewiesen; er wurde Literaturjude, versteht sich als Christ. Diesmal hatte er richtig spekulirt. Wir haben im Staate Leute genug, die einen vortrefflichen, unübertrefflichen Bureaustyl schreiben; aber die Regierung hatte keinen Menschen, der nur erträglich als Publizist auftreten konnte. Dieser Mensch bot seine publizistische Feder an; sie wurde angenommen ; er wurde nach der Hauptstadt geholt und dort in den verschiedenen Ministerien gebraucht, wenn Artikel für auswärtige Zeitungen zu schreiben waren. Nur für auswärtige, für den inländischen beschränkten Unterthanenverstand war der Bureaustyl gut genug; aber er wurde mager bezahlt, und durfte nicht einmal mit einer Miene andeuten, daß und wie er gebraucht wurde. Das behagte ihm auf die Dauer nicht. Er pochte auf seine Verdienste und drohete außer Landes zu gehen und dort die Geheimnisse zu verrathen, die man ihm oft hatte anvertrauen müssen. Er wollte selbst eine Zeitung gründen; die Regierung sollte ihm das Geld dazu geben, und man gab es ihm endlich. Nach anderthalb Jahren hatte seine Zeitung das Geld verbraucht und das Doppelte dazu. Kein Mensch wollte die Zeitung lesen, geschweige kaufen. Er forderte und drohete von Neuem und darüber kam vor etwa einem halben Jahre der jetzige Minister an das Staatsruder. Dieser hat ihn besser zu benutzen gewußt. Er wurde hierher versetzt.“

„Und er ist jetzt?“ fragte ich.

„Offiziell Regierungsassessor und im Geheimen Demagogenfänger.“

„Ach!“

„Er ist aber schon nicht mehr zufrieden. Er strebt nach etwas Höherem und ich fürchte, daß er sein Ziel erreichen wird.“

„Dieses Ziel?“

„Eine Domainendirektion, die mehr Geld einbringt. Er ist vor einigen Tagen von einer Reise nach der Hauptstadt zurückgekommen; soll dort viel denuncirt und intriguirt, und deshalb viel Hoffnung hierher zurückgebracht haben. Es spielen dabei eigenthümliche Verhältnisse mit; ich erzähle sie Ihnen ein ander Mal. Sehen Sie sich jetzt einmal jene Dame an, mit der der Bursche spricht.“

Ich sah mich um. Der häßliche, unangenehme Mensch stand im vertraulichen Gespräche mit einer jungen Dame, einem feinen, blassen, sehr leidenden Gesichte. Man konnte keinen auffallenderen Kontrast sehen, als dieses zarte, unglückliche Mädchengesicht, und diese plumpe, rohe, gemeine Physiognomie des Polizeiagenten. In den Bilderbüchern für Kinder findet man zuweilen das Bild eines großen, zottigen blutgierigen Fleischerhundes, gegenüber einem feinen, ängstlichen Lämmchen. Dieses Bild, passend oder nicht passend, kam mir bei dem Anblicke unwillkürlich in das Gedächtniß. Der Mensch schien, nach dem Ausdrucke seines Gesichtes, nur gleichgültige Worte mit der jungen Dame zu sprechen, vielleicht nur über den Ball, über die Toiletten der Damen oder dergleichen. Man konnte gleichwohl deutlich bemerken, wie sie ihm nur gezwungen, mit innerem Widerstreben zuhörte, und wie dieser Zwang sie unglücklich machte.

„Wer ist die Dame?“ fragte ich meinen Bekannten.

„Seine Verlobte.“

„Unmöglich!“

„Ist Ihnen unter Ihren Collegen der Geheimerath Gamkow aufgefallen?“

„Ich habe wenig auf ihn geachtet; er scheint sehr unbedeutend zu sein.“

„Das ist er. Die junge Dame ist seine Tochter. Sie ist desto ausgezeichneter an Geist und Herz.“

„Und dennoch die Braut dieses gemeinen Menschen?“

„Sie sehen, wie unglücklich sie ist. Ihr eigener Vater hat sie dazu gezwungen.“

[496] „Er scheint mir ja beinahe schwachsinnig zu sein.“

„Eben darum.“

„Ich verstehe Sie nicht.“

„Der alte Geheimerath Gamkow ist eigentlich eine eben so gute, ehrliche, wie dumme und einfältige Haut. Aber er hat eine schwache Seite, der er Alles zum Opfer bringt; selbst dieses herrliche Mädchen hat er ihr aufgeopfert.“

„Ist der Mann wahnsinnig?“

„Nur ein Narr, oder, wenn Sie wollen, ein echter Beamter. Aber sehen Sie, er kommt auf uns zu. Seine Augen scheinen gerade Sie zu suchen, und ich möchte fast errathen, warum. Sie kommen von B.; Sie haben den Justizminister gesprochen; Sie werden bald die unglückliche Narrheit kennen lernen, für die er sein Kind dem Moloch dahinwirft.“

Der Geheimerath Gamkow näherte sich und seine Augen suchten mich in der That. Es war ein kleines vertrocknetes Actenmännchen. Auch das höchst unbedeutende Gesicht war vertrocknet; man konnte nur einen Ausdruck darin erkennen, den einer großen Aengstlichkeit. Diese Aengstlichkeit zeigte er auch in seinem Thun und Lassen. Ich hatte ihn bisher in den Gerichtssitzungen kennen gelernt. Bei jedem Worte, das er dort sprach, sah er sich furchtsam um, was für einen Eindruck es im Collegium hervorbringen werde; jeder Widerspruch brachte ihn in Verwirrung. Eine besondere Narrheit, von der mein Bekannter sprach, hatte ich an ihm nicht bemerkt. Ich war neugierig auf ihre Entdeckung. Mein Bekannter verließ mich, als das ängstliche Männchen sich näherte.

„Ah, ah, Herr College, sehen sich wohl unter den Töchtern des Landes um?“

„Ja, Herr Geheimerath!“

„Sind schön, recht schön. – Sind noch unverheiratet, Herr College?“

„Ja, Herr Geheimerath.“

„Auch noch nicht verlobt?“

„Nein.“

„Ah, schön, schön! Müssen sich hier verloben; meine Tochter, meine Marie soll die Brautwerberin machen; hat ohnehin mit Ihnen zu sprechen; soll Sie zu ihr führen; ist selbst schon verlobt mit einem hoffnungsvollen jungen Manne; gilt viel in B.; hat großen Einfluß bei allen Herren Ministern. A propos, Herr College, sind auf Ihrer Reise hierher durch B. gekommen. Auch bei Sr. Excellenz dem Herrn Justizminister gewesen?“

„Der Minister hatte mich ja zu sprechen gewünscht.“

„Ah, waren gar befohlen! Hohe Ehre! Großes Vertrauen! Seine Excellenz haben Ihnen gewiß auch von dem hiesigen Collegium gesprochen?“

„Einiges.“

„Ah, ah, auch von einigen Personen? Gewiß, gewiß.“

„Es ist möglich.“

„Haben Excellenz nicht gesagt, daß unser Vicepräsident bald abgeht? Ein würdiger Mann, verdienter Beamter; muß nothwendig bald versetzt werden, als Chefpräsident. Glauben Sie nicht auch?“

„Es ist nicht unwahrscheinlich.“

„Also wahr. Sehen Sie, also wahr. Und haben Seine Excellenz Ihnen nichts über seinen hiesigen Nachfolger gesagt?“

„Der Minister sprach über die Sache gar nicht.“

„Ah, Sie wollen mit der Sprache nicht heraus. Sie sind amtsverschwiegen; das ist brav; aber einem alten Collegen gegenüber, den die Sache so nahe angeht –. Ja, ja, man kann mich jetzt nicht mehr übergehen; man muß mir bei der nächsten Vacanz die Stelle des Vicepräsidenten geben; man hat mich lange genug übergangen, man hat mich ungerecht behandelt, meinen Patriotismus, meine Verdienste verkannt, meine großen Verdienste um das Vaterland. Man kann, man darf das nicht mehr. Ich habe mich jetzt unmittelbar an Se. Majestät den König gewandt; Ihnen im Vertrauen kann ich es sagen. Und mein künftiger Schwiegersohn, der in der Hauptstadt viel gilt, hat mich dort kräftig unterstützt, noch in diesen Tagen. Er hat auch wiederholt, was ich in der Supplik an Se. Majestät vorgetragen habe. Es ist nicht recht, daß die großen Verdienste und Aufopferungen eines alten, treuen königlichen Dieners so lange unbelohnt bleiben. Wissen doch, Herr College, wie ich mich für das Vaterland geopfert habe?“

„Ich bin nicht so glücklich. Ich bin fremd in der Provinz.“

„Ich werde es Ihnen erzählen. In dem unglücklichen Jahre (er meinte das Jahr 1806) wurde diese Stadt hier belagert. Ich war damals schon hier; bin hier geboren und erzogen, und auch immer geblieben; habe mich nie versetzen lassen; habe mein Eigenthum hier. Also in dem unglücklichen Jahre Belagerung der Stadt durch die Franzosen; fiel Bombe auf Bombe in die Stadt; eine schwerer und glühender als die andere; war damals junger Rath; war an keine Sitzung zu denken, auch an keine Instruktionstermine; saß Alles furchtsam unten in den Kellern und wagte sich nicht heraus. Ich allein hatte Muth und blieb in meiner Schreibstube und arbeitete; decretirte fleißig ab alle meine Nummern, lauter Cassensachen und Contumacialbescheide. Auf einmal, während ich mitten im Arbeiten saß, fiel eine schwere Bombe auf mein Haus, schlug durch Dach, Boden und Decke des Zimmers, neben mir nieder, zum Glück auch durch den Parquetboden in ein großes Sandloch und krepirte dort, ohne Schaden zu thun. Aber welch’ großes Unglück hätte da entstehen können; mein Haus zerstört, ich zerrissen. Wurde in der That todtkrank vor Schreck, lag sechs Wochen in Lebensgefahr. Und Alles unbelohnt geblieben! Alles! Bin noch Rath, wie damals. Nur Titel Geheimerath; muß endlich Präsident werden.“

Da hatte ich die volle Narrheit des alten Mannes. Er hatte schon seit 1806 daran gezehrt. Aber war es eine besondere Narrheit des Mannes? Will nicht in der Bureaukratie eben Alles Carrière machen? Und wird nicht jedes Mittel dazu in Bewegung gesetzt? Welche ganz andere Sachen werden da als Verdienste geltend gemacht! War nicht der alte närrische Mann, der nur die krepirte Bombe und seinen Schreck als Verdienst um den Staat aufrief, eine tausend Mal edlere Natur, als Hunderte von Subjekten, die Lakaien und Kammerjungfern den Hof machen und auf Bedienten- und Schergendienste sich berufen und nur berufen können, um befördert zu werden? Wie hoch stand er über seinem künftigen Schwiegersohne! Freilich, er wollte auch dessen Gemeinheit benutzen; er opferte für diese sogar sein Kind. Aber das war nur Folge seiner Narrheit, die ihn hier zurechnungslos machte. Ich hatte auch den Schlüssel zu der Verlobung und dem leidenden Gesichte seiner Tochter. Mir fiel ein, daß er mir gesagt hatte, sie wolle mich sprechen.

„Der wahre Verdienst,“ erwiederte ich ihm, „bleibt nie unbelohnt.“

„Gewiß nicht, gewiß nicht.“

„Aber wenn ich nicht irre, Herr Geheimerath, so sagten sie, Ihre Fräulein Tochter wünsche mich zu sprechen. Darf ich Sie bitten, mich ihr vorzustellen?“

„Sehr obligirt.“

Er führte mich zu seiner Tochter.

[505] Das schöne Mädchen war allein; ihr Bräutigam hatte sich schon seit einiger Zeit von ihr entfernt. Das blasse Gesicht erröthete, als ich mich ihr nahete. Es hatte ihr nicht unbemerkt bleiben können, daß ich sie während meines Gesprächs mit ihrem Vater und während ihrer Unterhaltung mit ihrem Bräutigam beobachtet hatte. Mir kam es vor, als wenn sie vor Scham erröthe, daß ich sie in der Nähe jenes gemeinen Menschen gesehen hatte.

„Ich habe einen Gruß an Sie,“ sagte sie zu mir. „Von einer Freundin, die Sie schon lange zu ihren Freunden zählt, von Therese von Grauburg.“

„Frau von Grauburg? Wo lebt sie?“

„Drei Meilen von hier, auf der Domaine Vornholz. Ihr Mann ist dort Domainendirektor.“

„Und wie geht es ihr?“

„Sie ist wohl; sie hat herrliche Kinder.“

„Und ihr Mann?“

„Sie hat mir die herzlichsten Grüße an Sie aufgetragen, als sie erfuhr, daß Sie hier seien. Sie denkt Ihrer noch mit inniger Freundschaft und hofft, Sie recht bald zu sehen.“

„Sie haben meine Frage nach ihrem Manne nicht beantwortet.“

Die Dame wurde verlegen; ich wurde neugieriger. „Er ist Domainendirektor, sagen Sie?“

„Ja.“

„Man hatte ihm eine bedeutendere Carrière prophezeit.“

„Die Stelle ist sehr einträglich.“

Sie hatte rasch geantwortet, und wurde blutroth im Gesichte, als wenn sie die rasche Antwort bereue. Ich erinnerte mich, daß mein Bekannter mir erzählt hatte, das Ziel des Demagogenfängers sei eine Domainendirektion; ich dachte noch darüber nach, als in einem Nebenzimmer des Ballsaales, das ganz in unserer Nähe war, eine Bewegung entstand; es waren dort Spieltische arrangirt. Aus der Thür des Zimmers trat rasch der Doktor Feder hervor; sein Gesicht war leichenblaß; seine Augen schossen Wuth. Hinter ihm her drängten sich mehrere Herren mit höhnischen, schadenfrohen Gesichtern; sie blieben meist in der Thür stehen und sahen ihm nach; ein junger Lieutenant folgte ihm in den Saal, laut lachend. Der Demagogenfänger mischte sich in das dichteste Gedränge des Saales und verschwand dort. Die junge Dame, mit der ich sprach, begann heftig zu zittern; sie wurde blässer, wie ihr elender Bräutigam.

„O Gott, was ist das!“ hörte ich sie leise seufzen.

Ich führte sie zu einem in der Nähe befindlichen leeren Sopha. Zum Glück hatte Niemand sie bemerkt; sie blieb auch ferner unbemerkt; freilich sollte dies ihr neuen Jammer bringen. Der junge Lieutenant ward von einer jener strengen Offiziersfrauen mit den schmachtenden Augen angehalten. Sie saß nicht weit von dem Sopha.

„Was gab es da, Herr von Borst?“

„Einen köstlichen Spaß, meine Gnädigste, auf Ehre!“

„Erzählen Sie.“

„Sie kennen den unangenehmen Menschen, den Doktor Feder?“

„Wer kennt ihn nicht!“

„Er drängt sich überall an und kriecht überall ein.“

„Mit Unterschied, Herr von Borst. Er kriecht nur gegen Adel und Offiziere; gegen alles Andere ist er grob.“

„Richtig, meine Gnädigste, auf Ehre. Adel und Offiziere können ihn aber auch zehnmal zur Thür hinauswerfen, er kommt immer wieder mit einem krummen Buckel und unterthänigen Diener zurück.“

„Schon sein Gesicht ist mir ein krummer Rücken und unterthäniger Diener. Aber erzählen Sie.“

„Sie wissen, der Rittmeister Schmettau kann ihn besonders nicht leiden; aber desto aufdringlicher und submisser ist der Mensch gegen ihn. Der Rittmeister spielt dort L’Hombre mit ein paar anderen Offizieren; der Doktor Feder stellt sich hinter seinen Stuhl; der Rittmeister hat Unglück, auf Ehre, abscheuliches Guignon, er verliert jedes Spiel, und der Doktor bedauert ihn. Der Graf Schmettau wird darüber doppelt ärgerlich; aber er hält an sich, denn er will dem erbärmlichen Menschen nicht zeigen, daß er sich über ihn ärgert und wartet auf eine günstige Gelegenheit, ihn zu züchtigen. Auf einmal bekommt der Rittmeister einen Solo mit vier Matadoren und zwei Trümpfen in Schwarz, einer Force und einer gardirten Dame; das Spiel war unverlierbar; er kündigt den Solo an; der Doktor Feder hat die Karte gesehen. Herr Graf, sagt er, wenn Sie das Spiel verlieren, so bin ich ein Hundsfott. Schreibt mir eine Codille an, sagt ruhig der Graf, wirft die Karten auf den Tisch und gibt weiter.

„Sehr gut,“ lachte die Dame.

„Superbe, auf Ehre, meine Gnädigste.“

„Und der Doktor? Fühlte er endlich!“

„Endlich. Alles lachte so fühlbar, daß er sich auf- und davon machte.“

[506] Die Dame und der Lieutenant lachten wiederholt.

Die unglückliche Braut raffte ihre letzte Kraft zusammen. Sie erhob sich von dem Sopha, nahm meinen Arm und bat mich mit einem Wink, sie aus dem Saale zu führen. Draußen erklärte sie, daß es ihr unmöglich sei, länger zu bleiben, und bat mich, sie nach Hause zu begleiten und ihrem Vater erst bei meiner Rückkehr Nachricht davon zu geben. Sie fürchtete, daß er, wenn sie ihm vorher ihren Entschluß mittheile, ihren Verlobten herbeirufen werde. Ich führte sie in ihre Wohnung und mußte wieder die Rolle eines Vertrauten übernehmen, denn sie erzählte mir unterwegs weinend ihr Schicksal. Sie war wirklich der Eitelkeit, der Thorheit ihres Vaters zum Opfer gebracht; der schwache Mann, der auch in Beziehung auf seine Wünsche dem Doktor einen Einfluß beimaß, hatte dessen Bewerbungen um die Tochter nachgegeben und die Unglückliche gequält, bis sie sich fügte. Sie erzählte mir jetzt auch mehr von der Frau von Granburg.

„Auch die arme Therese ist nicht glücklich und hat viel zu leiden und zu kämpfen gehabt, denn der Leichtsinn ihres Mannes hat ihr manche schwere Stunde bereitet; ihr Ehestand war eine fast ununterbrochene Kette von Sorge und Angst; seit einem halben Jahre haben sich diese noch vermehrt, und von einem großen Theile derselben wird sie hoffentlich in diesen Tagen befreit werden. Ihr Mann war unter dem Staatskanzler rasch befördert worden; er wurde Regierungsrath und bald Abtheilungsdirigent bei der Regierung; er stand eben im Begriff, zum Präsidenten ernannt zu werden, als der Staatskanzler starb. Sein Glück hatte zu seinem Leichtsinne den Uebermuth herbeigeführt, und dadurch hatte er sich viele Feinde zugezogen. Der Nachfolger des Staatskanzlers beförderte andere Familien, andere Personen. Der Herr von Grauburg wurde nicht Präsident, wohl aber waren eine Menge seiner Feinde befördert und sogar seine Vorgesetzten geworden. Er hatte sich nach und nach von der Leidenschaft des Spieles beherrschen lassen; man hatte ihn einige Male an einer öffentlichen Spielbank sitzen sehen; dies wurde zur Veranlassung genommen, ihm seine Abtheilungsdirektion zu nehmen. Er verlor nun die bedeutende Dirigentenzulage, und konnte sich nicht einschränken. Theresens Vater war ohne alles Vermögen gestorben; er selbst war gleichfalls ohne dieses, und gerieth daher sehr in Schulden; bei den Avancements wurde er übergangen; alle seine Beschwerden waren vergebens; der jetzige Minister kam; dieser will ihm noch weniger wohl; dessenungeachtet wurde er vor einem halben Jahre auf einmal befördert, und erhielt die sehr einträgliche Domainendirektion in Vornholz. Dies war Allen unerwartet und unerklärlich; ich sollte aber leider Licht darüber erhalten; man rechnete auf seine Schulden und die Leidenschaft für das Spiel, und rechnet noch darauf, um ihn völlig zu ruiniren. Zu seinem Amte gehörte die selbstständige Verwaltung einer bedeutenden Kasse. Therese theilt meine Befürchtung und beschwor ihn deshalb, dem Spiele zu entsagen; er versprach es und hat sein Versprechen auch gehalten; sie mußte bei seinem Leichtsinne dennoch in ununterbrochener Sorge leben.

„Gottlob, sie wird in den nächsten Tagen davon befreit werden! Sie hat eine unverhoffte Erbschaft in Holland gemacht; ein Theil davon ist schon flüssig, denn sie erwartet mit jedem Tage die Zusendung einer Summe von 20,000 Thalern. In Folge dessen hat ihr Mann ihr versprechen müssen, das gefährliche Amt aufzugeben, und wieder eine Stelle als Regierungsrath zu übernehmen. Mit der Erbschaft können die Schulden bezahlt werden, und es bleibt dennoch soviel übrig, daß sie von den Zinsen und einem geringen Gehalte anständig leben können.“

Das erzählte mir meine Begleiterin.

Ich kehrte verstimmt in den Ballsaal zurück; doppelt mißvergnügt über das unglückliche Schicksal der lieben Freundinnen. Welche von ihnen war am meisten zu bedauern? Die Eine, die einem Leben voll Unglück an der Seite eines gemeinen Menschen entgegenging, oder die Andere, die schon so viele Jahre des Unglücks unter dem Treiben eines leichtsinnigen Mannes hatte verleben müssen, und kaum hoffen durfte, von einem geringen Theile ihrer Sorge für die Zukunft befreit zu werden? Die Arme sollte nicht davon befreit werden.

Ich theilte dem alten Geheimerath Gamkow die Entfernung seiner Tochter mit; sie sei etwas unwohl geworden. Er erschrak, aber nur um des künftigen Schwiegersohnes willen.

„Was wird der Herr Doktor dazu sagen? Helfen Sie ihn mir suchen, Herr College.“

Ich entschuldigte mich und ging in ein Nebenzimmer. Das Geräusch des Ballsaales, Musik, Gelächter, Tanz, Alles war mir in meiner Stimmung zuwider.

Es war gerade damals in vielen Provinzen des Staates unter den Beamten die Unsitte des Hazardspieles herrschend geworden, unter dem Civil sowohl als dem Militär, unter den Justiz- wie den Verwaltungsbeamten. Meist nehmen nur jüngere, mitunter aber auch ältere Beamte daran Theil. Ich lernte ein Gerichtscollegium kennen, dessen Direktor und fast sämmtliche Mitglieder die ganze Nacht hindurch Pharao spielten und von dem Spieltisch sich an den Sitzungstisch begaben, um eine Anzahl Bäcker- und anderer Gesellen wegen „verbotenen Hazardspiels“ zu einer namhaften Strafe zu verurtheilen. Zwischen nicht verbotenem und verbotenem Hazardspiel beruht der feine Unterschied darauf, ob der Einsatz der Spielenden ihren Vermögensverhältnissen angemessen sei oder nicht, woraus denn wieder beurtheilt werden sollte, ob sie mit oder ohne Gewinnsucht gespielt hätten.

Auch in dem Nebenzimmer des Ballsaales wurde gespielt; es war eine gemeinsame Pharaobank aufgelegt; eine solche Gemeinsamkeit sollte um so mehr die gewinnsüchtige Absicht ausschließen. Um den Spieltisch saßen eine Menge Menschen verschiedener Stände, als: Assessoren, Referendarien, Räthe, Lieutenants, Rittmeister, ein paar dicke Majore, Gutsbesitzer und Domainenbeamte aus der Nachbarschaft; auch einzelne Zuschauer standen umher. Es wurde ja ohne gewinnsüchtige Absicht gespielt, und man hatte deshalb keine Oeffentlichkeit zu scheuen.

Unter diesen Zuschauern war der Doktor Feder. Er sah, dem Anscheine nach, dem Spiele ohne besondere Theilnahme, nur wie zum Zeitvertreibe, zu. Indessen bemerkte ich bald, daß sich seine Augen meist nach einer und derselben Richtung hin bewegten, und in dem Hintergrunde seines Blickes schien mir große, wenn gleich sorgsam zurückgehaltene Tücke zu lauern. Ich folgte der Richtung seiner Augen; mein Blick traf auf zwei Herren, die an dem Spieltische neben einander saßen. Der Eine war ein großer, starker Mann, mit einem Gesichte, das eben so sehr durch seine Nöthe und seine groben Züge, wie durch platte Gemeinheit auffiel. Ich hielt ihn für einen Gutsbesitzer oder Domainenpächter aus der Gegend. Der Zweite war der völlige Gegensatz des Ersten. Er war in den mittleren Jahren, hatte ein feines, aristokratisches, geistreiches Gesicht, und machte damit fast einen noch unangenehmeren Eindruck, als sein Nachbar mit den groben, platten Gesichtszügen. Ueber die Ursache, kam man bald in’s Klare. Der Mann war weiter nichts als ein Lebemann, und dennoch schon völlig verlebt; die schönen Augen standen weit vor, die noch immer feingerötheten Wangen hingen schlaff herunter, und die hohe Stirn verlief in einen kahlen Scheitel.

Der Mann kam mir bekannt vor. Es war mir gewiß, daß ich ihn irgendwo gesehen hatte; ich meinte sogar, ich müsse näher mit ihm bekannt geworden sein. Ich konnte mich trotzdem nicht darauf besinnen, wo und wie dies geschehen sei. Er war eifrig in das Spiel vertieft, und schien nicht mit Glück zu spielen, denn er verlor fast jede Karte; er zog oft seine Börse, zählte eine bestimmte Summe heraus, und legte diese vor sich auf den Tisch. Sie war nach kurzer Zeit verspielt, und er mußte von Neuem die Börse in die Hand nehmen.

Sein Nachbar schien seine Aufmerksamkeit zwischen dem Spiele und einer andern Beschäftigung getheilt zu haben. Hinter ihm stand ein kleiner Tisch mit zwei Champagnerflaschen und zwei Gläsern. Er stand oft auf, schenkte die Gläser voll, leerte eins selbst und reichte das zweite seinem Nachbar. Dieser trank es jedesmal rasch aus, fast wie mechanisch, ohne von den Karten aufzublicken.

Mein Nachbar von der Wirthshaustafel stellte sich zu mir. Ich nahm ihn auf die Seite.

„Wer sind die beiden Herren dort?“ Ich zeigte auf den dicken und den verlebten Herrn.

„Sind Sie auch Ihnen aufgefallen?“

„Wie so?“

„Sehen Sie sich einmal das lauernde Auge des Demagogenfängers an.“

„Ich habe es bemerkt.“

[507] „Der Eine jener Beiden ist sein Helfershelfer, der Andere sein Opfer.“

Es durchflog eine furchtbare Ahnung mein Inneres.

„Erzählen Sie.“

„Der Herr mit dem feinen Gesichte ist der Domainendirektor von Grauburg aus Vornholz.

„Also wirklich!“

„Sie kennen ihn?“

„Fahren Sie fort. Der Andere?“

„Ist der Amtsrath Meier aus der Nachbarschaft. Ein reicher Domainenpachter, der jetzt die seit Jahren gepachtete Domaine vom Staate gekauft hat. Der Vertrag ist heute hier bei der Regierung abgeschlossen; ein bedeutender Theil des Kaufpreises ist sofort bezahlt worden.“

Meine entsetzliche Ahnung schien mir an Consistenz zu gewinnen.

„An wen?“ fragte ich.

„An den Domainendirektor.“

„Bezog sich darauf Ihre Aeußerung über den Helfershelfer und das Opfer?“

„Leider! Der Herr von Grauburg soll ruinirt werden, denn der Demagogenfänger spekulirt auf seine Stelle.“

„Ich weiß.“

„Sie wissen?“

„Erzählen Sie weiter.“

„Er ist mit dem Amtsrath schon aus früherer Zeit bekannt, als er noch in der Hauptstadt im Ministerium arbeitete. Der Amtsrath gehört zu den Leuten, die wissen, daß wer gut fahren will, auch gut schmieren muß. Man sagt, er habe auch jetzt bei dem Domainenkaufe den Doktor gebraucht. Ich glaube es und habe einen besondern Grund, es zu glauben. Er hat sehr wohlfeil gekauft; deshalb überliefert er auch den Herrn von Grauburg, den man in der Hauptstadt beseitigt wissen will; der Doktor hofft sein Nachfolger zu werden.“

„Aber er könnte dies ohnehin werden. Der Herr von Grauburg wünscht in das Regierungscollegium zurückzutreten; seine Frau hat geerbt.“

„Haben Sie auch davon gehört? Indessen, hier gilt es Dienst um Dienst. Wenn der Demagogenfänger den Herrn von Grauburg nicht überliefert, so bekommt er dessen Stelle nicht. Gerade um jener Erbschaft willen thut Eile noth. Morgen kann die Erbschaft erhoben sein, dann wäre es zu spät. Ich würde mich gar nicht wundern, wenn wir noch in dieser Nacht von einer Kassenvisitation in Vornholz hörten. Sehen Sie nur den Eifer, mit welchem der dicke Meier den Champagner einschenkt, und die Spannung, mit welcher der Demagogen fangende Schuft lauert.“

„Hat denn der Herr von Grauburg keinen Freund, keinen Bekannten, der ihn warnt?“

„In diesem Zimmer keinen.“

„Auch nicht im Saale?“

„Ich wüßte auch dort keinen. Sein großer Leichtsinn und sein früherer Uebermuth haben ihn nie beliebt gemacht.“

Ich konnte die Kombinationen meines Bekannten nicht unwahrscheinlich finden. Mein Entschluß war gefaßt. Ich trat wieder an den Spieltisch, und wollte das Ende der Taille abwarten, dann mit dem Domainendirektor sprechen, nöthigenfalls ihn an das Versprechen erinnern, das er seiner Frau gegeben hatte. Die Leidenschaft des Spieles sollte mein Vorhaben vereiteln. Die Taille hatte erst eben begonnen; das Spiel war hitziger und mithin höher geworden. Bisher war nur Silber auf den Tisch gekommen. Man sah jetzt einzelne Goldstücke in der Bank, sowie vor den Pointirenden. Der Herr von Grauburg spielte nur mit Gold; seine Silberbörse mußte geleert sein, denn er hatte eine volle Goldbörse neben sich liegen. Das Unglück verfolgte ihn fortwährend, und noch immer verlor jede Karte; er zählte nicht mehr bestimmte Summen aus der Börse ab, sondern zog unmittelbar die Einsätze daraus hervor, und verdoppelte diese nach jeder verlorenen Karte, deren er viele besetzt hatte. Sein Gesicht war höher geröthet von der Hitze des Weines und des Spieles.

Der dicke Amtsrath schenkte ihm fleißiger ein. Ein leiser Zug widerwärtigen Hohnes trat in das glatte Gesicht desselben. Der Doktor Feder sah unverwandt mit dem unheimlich lauernden Auge auf sein Opfer. Auch die Blicke der sämmtlichen übrigen Zuschauer waren nur auf das immer eifriger und höher werdende Spiel des Domainendirektors gerichtet; selbst manche Mitspieler achteten mehr auf sein, als auf ihr eigenes Spiel.

In dem ganzen Zimmer herrschte eine fast feierliche Stille. Ich stand in großer Unentschlossenheit, und hatte das Ende der Taille abwarten wollen, um Herrn von Grauburg zu warnen, denn er konnte bis dahin einen sehr bedeutenden Verlust haben. Wollte ich andererseits während der Taille mit ihm reden, so mußte das nothwendig Aufsehen erregen, vielleicht gar das ganze Spiel stören, jedenfalls aber die Aufmerksamkeit speciell auf den Domainendirektor in einer Weise richten, die für seine Lage nur nachtheilig werden konnte. Zudem entging es mir nicht, wie der Doktor Feder schon prüfende und mißtrauische Blicke auf mich geworfen. Hatte er wirklich Pläne gegen den Domainendirektor – und ich konnte nicht daran zweifeln – so mußte mein Einschreiten nur zu einer Beschleunigung der Ausführung seiner Pläne veranlassen. Dazu kam, daß der Herr von Grauburg unzweifelhaft schon jetzt fremdes Geld, einen Theil des ihm amtlich anvertrauten Kaufgeldes für die Domainen, angegriffen und im Spiele verloren hatte. Ich durfte daher nur einen möglichst ruhigen Beobachter machen.

Das Spiel war bis zur Mitte der Taille gekommen. Der Herr von Grauburg hatte sechs Karten besetzt, jede mit drei bis vier Goldstücken, und schien auf einmal einen andern Spielplan gemacht zu haben. Der Plan schien kindisch oder von einer gewissen verzweiflungsvollen Wuth des Spieles eingegeben zu sein. Er hatte die sechs Karten in einer Reihe neben einander liegen. Die letzte in der Reihe war eine Zehn. Auf diese schien er ein besonderes Vertrauen gesetzt zu haben. So oft eine der andern Karten verlor, legte er das Doppelte des verlorenen Betrags zu dem Satze, der bereits auf der Zehn stand; die verlorene Karte zog er zurück. Zuletzt spielte er nur noch die Zehn, und auf dieser stand ein großer Haufen Goldes.

Die Aufmerksamkeit auf sein Spiel verdoppelte sich. Er selbst hielt sich äußerlich vollkommen ruhig, und wußte jede seiner Bewegungen zu beherrschen; nur eine Blässe seines Gesichts, die mehr und mehr der frühern Rothe wich, und sein starr auf die Hände des Bankhalters gehefteter Blick bezeugten die innere Unruhe, die ihn verzehrte.

Die Zehn war erst einmal herausgekommen; sie hatte verloren. Alles war gespannt darauf, wie sie zum zweiten Male fallen würde. Sie gewann. Der Herr von Grauburg bog ruhig ein Paroli. Unmittelbar kam sie wieder heraus, und gewann wieder.

Ein allgemeines Ah der gelösten Spannung, der Ueberraschung, des Erstaunens empfing die Karte. Der Herr von Grauburg bog ruhig ein Septleva.

„Brav!“ sagten halblaut mehrere Stimmen bewundernder Referendarien und Lieutenants.

Ein alter Major knurrte: „Dummes Zeug!“ sagte er. „Bei einem solchen Satze thut ein Sixleva dieselben Dienste.“ Er wandte sich an den Domainendirektor. „Warum biegen Sie kein Sixleva? Sie retten den Satz, wenn die Karte verliert. Bei dem Septleva verlieren Sie ihn.“

Der Domainendirektor sah den Offizier höhnisch an.

„Sie erlauben, daß ich das Spiel eben so gut verstehe, wie Sie.“

Der Major schwieg ärgerlich, wagte aber nicht, das Spiel zu stören.

Der Banquier zog weiter ab. Die allgemeine Aufmerksamkeit, auf das Spiel wurde gespannter. Jedes Auge hing an den Händen des Banquiers, und jede Karte, die er berührte, wurde von den Blicken Aller verschlungen. Es herrschte, während der Banquier abzog, eine Stille in dem Zimmer, daß man eine Stecknadel hätte können niederfallen hören. Auch in dem Ballsaale war gerade eine Stille eingetreten, ein Tanz hatte aufgehört, die Musik schwieg. Am Gespanntesten war die Aufmerksamkeit des Domainendirektors. Aeußerlich war er auch jetzt vollkommen ruhig, und verzog keine Miene; wie sein Gesicht, so war sein ganzer Körper, unbeweglich; aber die Blässe seines Gesichts war furchtbar geworden, und seine Augen starrten fast erlöschend nach den Karten des Banquiers. Nur zuweilen glaubte man ein leises Zucken seiner zusammengepreßten Lippen zu bemerken, wie wenn er sie plötzlich öffnen müsse, um Athem zu schöpfen, um dem eng zusammengepreßten [508] Herzen Luft zu verschaffen, denn er erwartete eine entscheidende Karte.

Es war gewiß nicht mehr die bloße Leidenschaft des Spiels, die ihn in solcher Weise aufregte. Er hatte bedeutend verloren. Die Größe seines Verlustes mußte seine Gedanken weiter getragen, mußte ihn lebendiger zum Bewußtsein gebracht haben, daß er fremdes Geld angegriffen habe, daß er, wenn er es nicht sofort ersetzen könne, verloren sei, daß von dem Fallen der nächsten Karte sein Schicksal abhing. Die Summe, die er auf sie gesetzt hatte, war, siebenfach gewonnen, groß genug, um seinen gesammten bisherigen Verlust zu decken. Gerade darum hatte er wohl so viel auf die eine Karte gesetzt. Gewann sie nicht, so war er mit seiner Familie verloren.

Er sah in seiner inneren Unruhe unwillkürlich auf; sein Blick fiel in das unheimlich lauernde Auge des Doktor Feder, der sich ihm gerade gegenüber gestellt hatte. Sein Gesicht verzerrte sich wie von plötzlichem Schreck und plötzlicher Wuth; doch faßte er sich und starrte wieder auf die Karten. Keine Zehn wollte fallen. Der Banquier zog schneller ab; er war selbst von der allgemeinen Aufregung ergriffen, und strich rasch ein, oder zahlte rasch aus, was auf die andern Karten gewonnen oder verloren wurde. Es geschah Alles schweigend. Jedermann dachte nur an Eins, an die Karte des Domainendirektors, an die entscheidende Zehn. Endlich erschien sie, eine der letzten Karten im Talon; sie gewann – für die Bank.

In demselben Moment begann die Musik in dem Ballsaale nebenan einen rauschenden Galopp.

Der Herr von Grauburg schob das Gold, mit dem die Zehn bedeckt war, der Bank zu. Der Banquier strich es ein.

Eine allgemeine Bewegung, ein allgemeines Gemurmel erhob sich in der Gesellschaft.

Vor dem Herrn von Grauburg lag eine leere Goldbörse. Er faßte in seine Tasche, zog eine zweite gefüllte hervor, und legte sie vor sich an die Stelle der leeren, die er wegnahm. Er war wieder äußerlich vollkommen ruhig, aber seine Gesichtszüge waren sonderbar verzerrt und verschoben. In seinem Innern wüthete nur der Dämon des Spieles, der die von ihm Besessenen mit jener eigenthümlichen, aber fürchterlichen äußern Ruhe zu übergießen vermag.

Die Taille war beendet; der Banquier schickte sich zu einer neuen an; aber der alte Major, der sich über das Septleva geärgert hatte, erhob sich. Es war ein ehrlicher, alter Landwehrmajor.

„Das Spiel wird Hazard,“ sagte er, „das paßt sich nicht; ich verlange Theilung der Bank. Meinen Antheil schenke ich der Armenkasse.“ Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.

Die Spielgesellschaft erhob sich etwas still; die Worte des alten Majors hatten getroffen.

Ich hatte in der allgemeinen Bewegung den Herrn von Grauburg aus den Augen verloren, und suchte, darüber nachsinnend, ob es ein geeigneter Moment sei, ihn anzureden; jetzt nicht mehr, um ihn vor dem Spiele, sondern vor den Folgen desselben zu warnen. Als ich ihn wieder erblickte, war er schon in der Thür des Zimmers. Neben ihm ging der Amtsrath. Sein Gesicht konnte ich nicht mehr sehen. Beide verließen den Saal. Ihnen nachgehen konnte ich nicht, denn ich wußte nicht einmal, wohin sie sich begaben. Der Demagogenfänger war gleichfalls fort. Auch mich litt es nicht mehr in der rauschenden, fröhlichen Gesellschaft. Immer stand das von der Spielwuth verzerrte Gesicht des Herrn von Grauburg vor mir, und neben ihm die Jammergestalt der nicht mehr schönen und stolzen, aber der armen, unglücklichen Therese. Der Gedanke, daß die heutige Nacht sie völlig elend machen werde, wollte mich nicht verlassen, und erst spät schlief ich mit ihm ein, und erwachte mit ihm spät am andern Morgen.

Es war der Tag vor Weihnachten. Tausend und tausend Menschen erwachten an diesem Morgen mit einem freundlichen Lächeln im Gesichte, mit Freude und Hoffnung im Herzen, Freude die Großen, Hoffnung und Freude die Kleinen. Mir entfloh Lächeln, Hoffnung, Freude. Ich suchte sie zu erzwingen, indem ich an entfernte Lieben, an die Jahre meiner Kindheit dachte. In mein Inneres zog nur mehr Trauer und Sorge ein. Immer sah ich nur das verzerrte Gesicht des Spielers, den Jammer des armen Weibes, den Schmerz ihrer Kinder. Sie hatte herrliche Kinder, hatte mir das Fräulein Gamkow gesagt.

Ich hatte mich kaum angekleidet, und meine gewöhnliche Aktenarbeit begonnen, als ich ein Billet von dem ersten Präsidenten des Gerichtshofes erhielt. Ich erbrach es mit einer traurigen Ahnung. Was ich las, konnte meine Ahnung nur bestärken. Der Präsident theilte mir mit, daß das Regierungscollegium in einer wichtigen und schleunigen auswärtigen Angelegenheit richterlicher Hülfe bedürfe, und zu dem Ende von ihm sich einen Commissarius des Obergerichts erbeten habe, zur gemeinschaftlichen Verhandlung mit den Commissarien der Regierung. Ich habe mich sofort zu dem Vicepräsidenten der Regierung zu begeben, der persönlich die gemeinsame Commission dirigiren, und mir das Nähere über den Zweck mittheilen werde, und dessen Anordnungen und Anweisungen ich in Allem, so weit es die Gesetze gestatten, nachzukommen habe. Uebrigens sei die ganze Sache mit dem größten Amtsgeheimnisse zu behandeln.

Ich war keinen Augenblick zweifelhaft, um was es sich handle. Worin anders konnte, nach der Stellung des Herrn von Grauburg, nach den gestrigen Vorgängen, nach der Wichtigkeit der Angelegenheit, von der das Billet sprach, mein Auftrag bestehen, als einer Revision der Domainenkasse in Vornholz zum Zweck der sofortigen gerichtlichen Feststellung des Thatbestandes eines Defekts, vielleicht noch anderer Verbrechen, beizuwohnen, und zugleich zu den erforderlichen Verhaftungen und zu andern Maßregeln der Einleitung einer Criminaluntersuchung zu schreiten? Nie war mir ein peinlicherer Auftrag geworden. Was sollte ich machen? Ich konnte ihn ablehnen; ich konnte mich auf mein früheres Verhältniß zu dem verstorbenen Vater der Frau von Grauburg und zu dieser selbst berufen. Aber was war dadurch gewonnen? Einerseits war mir die Angelegenheit unter dem Siegel der Amtsverschwiegenheit anvertraut; ich konnte also, auch wenn ich den Auftrag ablehnte, kaum einen Schritt für die unglückliche Frau thun; andererseits blieb bei Annahme des Auftrags manche Möglichkeit, gar Wahrscheinlichkeit, der Armen nützlich zu sein, jedenfalls sie zu trösten, aufzurichten, ihr namentlich im Fall einer Verhaftung ihres Mannes behülflich zu sein bei ihren Einrichtungen für die Zukunft. War wirklich ein Defekt in der Kasse vorhanden und wurde er entdeckt, so war die Folge Cassation und mehrjährige Zuchthausstrafe.

Der Gerichtsbote, der mir das Billet des Präsidenten überbrachte, hatte mir gesagt, daß der Regierungspräsident schon reisefertig sei und auf mich warte. Ich mußte mich sofort auf den Weg machen.

Tausend Gedanken und Pläne, wie zu helfen, zu retten sei, durchkreuzten meinen Kopf. Unmittelbar hätte ich mir dadurch helfen können, daß ich viel Geld mitbrachte, durch welches der aufzufindende Defekt gedeckt und verdeckt werden konnte; aber durfte ich das, und konnte ich das? Ueber das Dürfen kam ich bald mit mir in’s Reine. Ein Verbrechen war für meine amtliche Stellung erst dann da, wenn ich es amtlich entdeckt und konstatirt hatte. Das war noch nicht der Fall. Bis dahin konnte noch keine meiner menschlichen Pflichten mit meinen amtlichen in Konflikt gerathen. Ueber die Sophisterei, die in diesem Raisonnement liegen mochte, setzte mein menschliches Gewissen, mein amtliches Gewissen bald hinweg. Aber woher das Geld bekommen? Es war viel Geld nöthig. Blos nach den gestrigen Verlusten des Herrn von Grauburg mußte ich beinahe tausend Thaler rechnen. Ich besaß keine hundert, hatte auch keinen einzigen Bekannten in der Stadt, von dem ich hätte borgen können; zudem fehlte es an Zeit. Ich konnte unmittelbar nicht helfen. In anderer Weise? Ich mußte es versuchen.

Ich machte einen Umweg zu der Wohnung des Regierungspräsidenten, und ging zu Maria Gamkow, erzählte ihr das Spiel des gestrigen Abends, und theilte ihr das Billet des Präsidenten mit. Ueber diese Verletzung der Amtsverschwiegenheit konnte mein amtliches Gewissen sich durch Sophismen nicht hinwegsetzen; ich mußte es nun einmal damit beschweren. Es war das einzige mögliche Mittel der Rettung, und es konnte Niemandem dadurch geschadet werden.

[517] Maria Gamkow war gleichfalls keinen Augenblick ungewiß darüber, daß es sich um ein großes Unglück für ihre Freundin handle. Sie vergaß ihren eignen Schmerz.

„Wie helfen wir? Auch ich bin ohne Geld; mein Vater kann über die erforderliche Summe nicht verfügen.“

„Sie sprachen von einer Erbschaft Theresens, die sie täglich erwarte?“

„Einen Theil derselben.“

„In baarem Gelde?“

„In Banknoten.“

„Sie sind wie baares Geld. In welcher Weise erwartet sie die Zusendung?“

„Mit der Post. Es wäre möglich, daß sie schon angekommen ist.“

„Wie weit ist Vornholz von hier?“

„Drei Meilen.“

„Fräulein, schreiben Sie ein paar Zeilen an Therese – oder nicht an sie; sie würde sich zu viel ängstigen und vielleicht ohne Noth. Schreiben Sie an Grauburg zwei Zeilen, daß er noch heute einen amtlichen Besuch zu erwarten habe, er möge sich darauf vorbereiten. Das wird genügen. Senden Sie ihm den Zettel durch einen reitenden Boten; ich werde Reise und Geschäft so viel als möglich aufhalten; unterdeß kann er zur Post und wenn er dort nichts findet, zu einem Banquier eilen.“

Sie schickte sofort nach einem Boten, und schrieb das Billet.

Ich verließ langsam ihre Wohnung. Beim Abschiede hatte sie mir noch gesagt, daß der Vicepräsident der Regierung, der Chef der Commission, zu den erbittertsten Feinden des Herrn von Grauburg gehöre, die dieser sich früher durch seinen Uebermuth zugezogen.

Ich fand bei dem Präsidenten den Kassenrath der Regierung und den Doktor Feder. Der Präsident hatte das Aussehen eines vornehmen Ladestocks; der Kassenrath sah aus, wie ein alter zu einem Menschen gewordener Silbergroschen, klein, dünn, abgeschabt, das Gesicht von schmutzigem Kupfer und grauer Silberplattirung; der Doktor Feder glich vollständig einer tückischen Katze. Hätte ich noch einen Zweifel über das Geschäft der Commission haben können, durch den Anblick dieser drei Personen wäre er mir gelöst worden.

„Sie kommen sehr spät, Herr Rath,“ empfing mich ziemlich vornehm der Präsident.

Die Impertinenz ärgerte mich.

„Ich stehe erst von diesem Augenblicke an unter Ihrem Befehle, Herr Präsident.“

Er erwiederte nichts, sondern forderte uns nur auf, ihm zu folgen; zu welchem Geschäfte, sagte er nicht, ich hatte auch keine Lust, ihn danach zu fragen. Vor der Thür standen zwei angespannte Reisewagen und neben jedem ein Regierungsexecutor. Der Präsident stieg in den einen Wagen, zu ihm setzte sich der Kassenrath. Zu mir sagte er: „Ich bitte in dem zweiten Wagen Platz zu nehmen, mit dem Herrn Doktor Feder.“

Ich wurde ärgerlicher.

„Herr Präsident, gehört der Herr Doktor Feder zu der Commission?“

„Ja.“

„In welcher Eigenschaft?“

„Wozu die Frage?“

„Darf ich um Antwort bitten?“

Er besann sich.

„Er begleitet die Commission als Secretair.“

„Herr Präsident, ich vertrete bei der Commission die Justiz, und bin außerdem, was meine Person anbetrifft, nicht gewohnt, mich mit Subalternbeamten zusammenwerfen zu lassen.“

Der Kassenrath entsetzte sich, der Demagogenfänger wurde leichenblaß, der Präsident feuerroth.

„Sie wollen nicht mit dem Herrn Doktor fahren?“

„Nein.“

„In meinem Wagen ist kein Platz mehr.“

„Herr Präsident, ich muß Ihren Anordnungen Folge leisten, aber nur so weit Gesetz und Anstand es mir gestatten. Es ist mir nicht anständig, von Ihnen auf gleiche Linie mit einem Ihrer Subalternbeamten gestellt zu werden.“

„Der Herr Doktor Feder ist kein Subalternbeamter.“

„Er versieht heute bei der Commission einen Subalterndienst.“

Der Präsident wurde verlegen. Keiner der beiden Wagen hatte einen Rücksitz; es konnten jedesmal nur zwei Personen darin sitzen. In seinem Wagen konnte er nach dem Vorgefallenen mich nicht aufnehmen; mit dem Doktor schien er gleichfalls nicht fahren zu wollen; andererseits drängte ihn Eile.

„Ich werde mich über Sie beschweren, Herr Rath.“

„Zu einer Beschwerde haben Sie immer das Recht, Herr Präsident.“

„Sie sind unter meine Befehle gestellt; Sie verfahren subordinationswidrig.“

„Ich werde mein Verfahren verantworten.“

[518] Wie ich nicht nachgab, so gab auch er nicht nach; doch stieg er wieder aus.

„Auerbach,“ befahl er einem der Executoren, „bestellen Sie Extrapost für den Herrn Oberlandesgerichtsrath. Eilen Sie!“

Wir begaben uns in seine Wohnung zurück, stumm, mit feindlichen Blicken einander messend. Es ist ein eigenes Leben, das Beamtenleben. Der Mensch muß ganz in dem Beamten zurücktreten, hatte mir einmal der Vater Theresens gesagt.

Ich war damals eben Auscultator geworden, und noch voll von Studentenansichten und Jugendextravaganzen. Es wurde davon gesprochen, daß ein junger Mann, der sich als Student feig benommen und den wir deshalb in Verruf erklärt hatten, bei demselben Gerichte als Auscultator eintreten werde. Ich erklärte in einer Gesellschaft laut, daß man solch einen Menschen nicht an dem Tische der Auscultatoren und Referendarien dulden dürfe. Der junge Mann kam zwar nicht, aber der Präsident ließ mich rufen und sagte mir: „wenn er kommt, und Sie verziehen nur eine Miene gegen ihn, so werde ich Sie aus dem Dienste entlassen. In dem Beamten muß der Mensch ganz aufgehen.“

Es dauerte eine halbe Stunde, bis der Postwagen kam. Ich hatte durch mein Benehmen den Aufenthalt nicht beabsichtigt, aber meine Freude über ihn war kein Amtsverbrechen. Wir stiegen wieder ein; der Präsident mit dem Kassenrath, ich allein, der Doktor Feder allein. Die beiden Executoren setzten sich auf den Bock des Präsidentenwagens.

„Schwager,“ sagte ich beim Abfahren laut zu dem Postillon, „Sie fahren unmittelbar hinter dem Wagen des Herrn Präsidenten.“

Er fuhr so. Auch dieser Uebermuth meiner feindlichen Stimmung sollte zu einem Aufenthalte beitragen.

Es war ein klarer Wintertag mit einem gelinden Froste. Es hatte nicht allein den Tag zuvor stark geschneit, sondern früher schon war viel Schnee gefallen. Wir fuhren auf einer Chaussee, die wenig befahren war; der Schnee lag unregelmäßig, aber doch überall hoch, der Frost hatte ihn mit einer Kruste bedeckt. Die Pferde mußten diese bei jedem Tritte durchschneiden, wobei sie sich die Füße verletzten. Wir hatten kaum den vierten Theil des Weges zurückgelegt, als eins der Postpferde vor meinem Wagen hinkte. Der Postillon fluchte, aber er konnte nur im Schritt fahren; der Kutscher des hinter mir fahrenden Doktor Feder fluchte noch mehr, aber er wagte nicht, an mir vorbeizufahren, denn er war Zeuge meiner Unterredung mit dem Präsidenten gewesen. Der Doktor hatte vollends nicht den Muth, ein Wort zu sagen, und so mußte er langsam hinter mir herfahren. Nach einer Weile fuhr auch der Wagen des Präsidenten langsam, so daß wir ihn einholten. Man hatte darin den Aufenthalt bemerkt, der mein Fuhrwerk traf. Die einträchtige Commission durfte sich nicht trennen. Die drei Wagen fuhren wie in einem Leichenzuge. Der Weg ging durch unbewohnte Haide, und es war daher an Relais nicht zu denken. Auf der Hälfte des Weges begegnete uns ein Schlitten; er flog mit rasender Eile an uns vorüber, und darin saß ein einzelner, in einen Pelz gehüllter Herr; ich erkannte in ihm trotz der Eile und trotz der Umhüllung den Herrn von Grauburg.

Es wurde mir schwer und doch auch wieder leicht um das Herz. Schwer, da ein Defect seiner Kasse jetzt völlig gewiß war; leicht, denn er mußte Hoffnung und Mittel zur Rettung haben. Unsere langsame Leichenfahrt kam ihm dabei zu Hülfe. Möchte sie zu einer Leichenfahrt für die Hoffnungen des nichtswürdigen Menschen hinter mir werden, wünschte ich in meinem Innern.

Es war schon völlig dunkel geworden, als die Wagen hielten. Einer der Executoren öffnete den Schlag meines Wagens.

„Wo sind wir?“ fragte ich ihn.

„Auf der Domaine Vornholz.“

Ich hatte nicht den geringsten Zweifel mehr gehabt, daß wir dort seien. Der Name gab mir dennoch einen Stich in das Herz, und trüb gestimmt verließ ich den Wagen.

Wir befanden uns auf einem weitläufigen, länglich viereckigen Hofe. der rund umher mit Gebäuden umgeben war; an dem obern Ende desselben, unmittelbar vor einem breiten und hohen schloßähnlichen, mit Thürmen versehenen Hause. Deutlich konnte ich die Umrisse an dem hellen Sternenhimmel sehen. Das Haus lag still und dunkel da, nur zwei Fenster in einem hohen Parterre, wahrscheinlich zu einem und demselben Zimmer gehörig, waren erleuchtet. Zu diesem Hause führte eine Freitreppe, vor deren Stufen die Wagen angehalten hatten.

Es regte sich nichts bei unserer Ankunft, weder in dem Hause oder Schlosse, noch in den andern Gebäuden, selbst nicht auf dem Hofe, wir waren also von den auf der Domaine anwesenden Personen nicht erwartet; auch nicht von der unglücklichen Frau, der eine schreckliche Stunde, vielleicht wie sehr leicht die völlige Vernichtung ihres ganzen, ohnehin bisher so spärlichen Lebensglückes harrte. Sie ahnete nichts davon; sie träumte vielleicht gerade jetzt von endlichen bessern Tagen, umgeben von ihren Kindern, oder beschäftigt mit der Ausschmückung des Weihnachtsbaumes für die lieben Ihrigen.

Es war Weihnachts-Heiligerabend. Das heimliche, heilige Dunkel war da, in dem tausend und aber tausend glückliche Kinderaugen lachten und leuchteten.

Wir stiegen die Freitreppe hinauf. Einer der Executoren zog an einer großen Glocke neben der Thüre. Sie läutete hell im Innern des Schlosses. Mehrere Hunde schlugen laut an. Bald darauf erhellten sich zwei Fenster zu beiden Seiten der Thüre, und diese wurde geöffnet. Wir traten in die geräumige Halle. Der Diener, der uns geöffnet hatte, ein dem Anscheine nach gewandter Mensch, sah uns verwundert an. Wir kamen also völlig unerwartet.

„Ist der Herr Domainendirektor zu Hause?“ fragte der Präsident den Bedienten.

Meine Reisegefährten hatten also wahrscheinlich den Herrn von Grauburg auf der Chaussee nicht erkannt.

„Der gnädige Herr sind verreiset,“ antwortete der Bediente.

„Bis wann?“

„Ich kann nicht dienen. Die gnädige Frau sind zu Hause.“

Der Präsident wechselte ein paar Blicke mit dem Kassenrath.

„Führe Er uns zu der Kasse.“

„Ich bedauere, die Kasse ist verschlossen.“

„Verschlossen? Und die Beamten?“

„Es ist Weihnachts-Heiligerabend.“

„Aber es ist noch nicht sechs, also noch Bureaustunde.“

„Als der gnädige Herr verreiseten, gaben sie den Beamten für heute Urlaub.“

Der Herr von Grauburg hatte uns also doch wohl erwartet.

„Schließe Er das Kassenzimmer auf,“ befahl der Präsident dem Bedienten.

„Ich bedauere, der gnädige Herr haben den Kassenschlüssel mitgenommen.“

Der Präsident und der Kassenrath wechselten verlegene Blicke.

„Nach meiner unmaßgeblichen Meinung,“ nahm der Doktor Feder das Wort, „dürfte ein Schlosser herbeizuholen sein.“

„In der That,“ sagte der Kassenrath zustimmend.

Der Präsident schien wohl vornehm, aber auch eben so leicht rathlos zu sein, und dann nur Andern folgen zu können.

„Ist ein Schlosser in der Nähe?“ fragte er den Bedienten.

Ich glaubte, lange genug geschwiegen zu haben.

„Herr Präsident,“ fragte ich, „gehört die Gewaltmaßregel, die Sie scheinen ausführen lassen zu wollen, zu den amtlichen Geschäften der Commission, der ich zugeordnet bin?“

„Gewissermaßen,“ antwortete er nicht vornehm.

„So muß ich für den Augenblick gegen sie protestiren. Sie haben noch nicht die Güte gehabt, auch nur mit einem einzigen Worte mich von dem Geschäfte der Commission in Kenntniß zu setzen. Bevor ich es nicht kenne, kann ich an keinem einzigen Akte Theil nehmen, viel weniger an einem Gewaltakt.“

„Sie haben Recht, Herr Rath. Bedienter, führe Er uns in ein Zimmer.“

Der Bediente öffnete ein Zimmer seitwärts in der Halle.

„Haben Sie die Güte, einstweilen in das Zimmer des gnädigen Herrn einzutreten. Ich werde weitere Befehle der gnädigen Frau einholen.“ Er verließ uns.

Wir befanden uns in einem comfortabeln, fast elegant eingerichteten Arbeitszimmer. Der Herr von Grauburg war überall Lebemann. Es herrschte große Ordnung in dem Zimmer. Nur einzelne ältere Akten lagen offen. Alle andern Geschäftspapiere schienen in den zahlreichen Schränken eingeschlossen zu sein. Die Schlüssel waren nicht da.

Der Bediente kam nach wenigen Augenblicken zurück.

„Die gnädige Frau läßt um die Namen der Herren bitten.“

„Wir haben mit dem Herrn Domainendirektor Geschäfte. Frage Er die gnädige Frau, wenn der Herr zurückkommt.“

[519] Der Bediente ging wieder; schnell kehrte er zurück.

„Die gnädige Frau erwartet den gnädigen Herrn in spätestens einer Stunde. Sie bedauert zugleich, den Herren nur dieses Zimmer anweisen zu können; außer den Familienstuben ist im Schlosse kein Zimmer geheizt.“

„Ich bin der gnädigen Frau verbunden.“

Der Bediente entfernte sich. Der Präsident wandte sich an mich.

„Ich erlaube mir jetzt, Sie von dem Gegenstande unseres Geschäfts in Kenntniß zu setzen. Der Domainendirektor von Grauburg verwaltet eine bedeutende Kasse, in der die Einnahmen der Domainenrentmeister des Bezirks zusammenfließen. Es sind schon seit einiger Zeit Anzeigen einer unordentlichen Verwaltung geeigneten Orts angebracht. Gestern hatte der Herr von Grauburg in der Stadt eine erhebliche amtliche Einnahme. Unmittelbar darauf hat er im Spiele eine große Summe Geldes verloren. Das Regierungspräsidium, dem hiervon die Anzeige wurde, mußte daraus Veranlassung zu einer außerordentlichen Kassenrevision nehmen. Bei der Wichtigkeit der Sache, bei dem dringenden Verdachte einer Veruntreuung, mindestens einer großen Unordnung, die eine gerichtliche Untersuchung hervorrufen könnte, erscheint es zugleich erforderlich, den Thatbestand sofort unter gerichtlicher Mitwirkung zu erheben. Daher Ihre Zuziehung, Herr Rath, zu den Verhandlungen, die wir nunmehr beginnen werden.“

Wort für Wort, was ich geahnt, was ich gewußt hatte.

„Darf ich mir vorher eine Frage erlauben, Herr Präsident?“

„Was wünschen Sie?“

„Von wem ist Ihnen die Anzeige des Spielverlustes des Herrn von Grauburg geworden?“ Ich warf einen durchdringenden Blick auf den Doktor Feder.

Der Mensch erblaßte, und unterbrach den Präsidenten, der mir antworten wollte.

„Gehört das zur Sache?“ fragte er.

Ich antwortete nicht, und hielt mich nur an den Präsidenten.

„Ich weiß nicht, Herr Präsident, wie weit Sie Ihrem Secretair das Recht eingeräumt haben, statt Ihrer zu antworten. Jedenfalls kann dadurch mein Recht nicht beeinträchtigt werden, meine Instruktion wie meine Information nur von Ihnen zu erhalten.“

Der Präsident zeigte sich mehr und mehr als ein eben so schwacher und unwissender, wie vornehmer Mann. Es gibt sehr viele solche Präsidenten. Der anmaßende Polizeiagent durfte gegen ihn doppelt anmaßend sein. Der Präsident wurde doppelt verlegen.

„Was bedürfen Sie noch zu Ihrer Information?“

„Den Namen des Denuncianten gegen den Herrn von Grauburg.“

„Aber wozu das, mein Herr?“

„Herr Präsident, räumen Sie mir das Recht ein für ein Verfahren, dem ich durch mein Mitwirken gerichtlichen Glauben verschaffen soll, vollständige Aktenkenntniß zu verlangen?“

„Ich kann Ihnen das nicht bestreiten.“

„So bitte ich um Antwort, oder um Mittheilung der schriftlichen Denunciation.“

Der Präsident konnte mir nicht mehr ausweichen. Er zögerte noch. Der Doktor Feder nahm die volle Frechheit des geheimen Polizeiagenten zusammen.

„Ich war es, der sich zu der Anzeige verpflichtet hielt.“

„Ist der Doktor wirklich der Denunciant, Herr Präsident?“

„Von ihm rührt die Anzeige her.“

„Ein Denunciant ist Ankläger, gar geheimer Ankläger; er kann nicht zugleich amtlich in der Sache verhandeln.“ Der Präsident wurde wieder blos vornehm.

„Das habe ich zu verantworten, Herr Rath.“

„Bitte um Verzeihung; ich habe hier darüber zu wachen, daß keine Ungesetzlichkeit des Verfahrens vorgenommen wird. Ich werde auf keinen Fall hier amtlich mit dem Herr Doktor Feder wirken.“

Ich war unbestreitbar in des Gesetzes und in meinem vollen Rechte. Auch der Doktor Feder sah das ein.

„Gut,“ sagte er. „Herr Präsident, ich werde Ihnen keine Verlegenheiten bereiten, und verzichte auf das Führen des Protokolls; dieser Herr wird dadurch seinen Zweck nicht erreichen, wenn er, wer weiß, aus welchen Gründen, das Geschäft der hohen Commission vereiteln will. Der Herr Regierungskassenrath kann das Protokoll führen.“

„So ist es,“ bestätigte der Kassenrath.

Ich war indessen noch nicht zufrieden mit der Demüthigung, die ich dem Menschen bereitet hatte. Ich leugne es nicht, meine Seele war erfüllt von Haß gegen den Bösewicht, der das Glück einer Familie vernichten wollte.

„Herr Präsident, ich muß Sie auch noch um die Entfernung des Herrn Doktor Feder bitten.“

„Herr Rath, Sie werden anmaßend.“

„Wenn ich es bin, so bin ich es für das Gesetz. Das Gesetz kennt und duldet keine amtlichen Verhandlungen in Gegenwart Dritter; über die Zuziehung und Zulassung von Zeugen und Denuncianten existiren sogar specielle Vorschriften.“

Es war mir wieder nichts einzuwenden. Der Präsident konnte nur etwas kleinlaut sagen:

„Aber, mein Herr, Sie haben gehört, daß kein anderes Zimmer im Schlosse geheizt ist. Wohin soll er?“

„Ein Bedientenzimmer wird geheizt sein.“

Der Polizeispion zitterte vor Wuth.

„Noch hat hier die amtliche Verhandlung nicht begonnen,“ sagte er.

„Ist das auch Ihre Meinung, Herr Präsident?“ fragte ich rasch, indem mir plötzlich ein Gedanke einkam.

„Gewiß.“

„So darf ich mich beurlauben, bis die amtliche Verhandlung beginnt. Ich bitte, mich, wenn Sie anzufangen befehlen, aus dem Zimmer der gnädigen Frau rufen zu lassen; ich habe mit ihr zu sprechen.“

Die Wuth des Doktor Feder verwandelte sich in Hohn.

„Ah, das war es! Durchschauen Sie den Plan, Herr Präsident?“

„Herr Rath,“ rief der Präsident, „Sie werden Ihres Amtseides eingedenk sein.“

„Ich bin kein Verräther.“

Ich verließ das Zimmer, und die drei Herren blieben allein. Mochten sie unter der Glut ihres Zornes ausschwitzen, was sie wollten. Eine ungesetzliche Maßregel, die sie beschlossen oder ausführten, brauchte ich ohnehin nicht anzuordnen, einer gesetzlichen konnte ich nicht entgegentreten; auch nicht, wenn eine gewaltsame Erbrechung der Kassenstube und der Kasse vorgenommen wurde. Sie waren in ihrem vollen Rechte, da der Domainendirektor sich entfernt und die Schlüssel nicht zurückgelassen hatte. Es drängte mich zu etwas Anderem. Ich mußte die unglückliche Frau sehen und zugleich versuchen, ob ich in irgend einer Weise retten könne, ohne den Pflichten meines Amtes untreu zu werden. Wie? darüber war ich allerdings selbst noch im Unklaren.

Ich trat in die Halle, an der das Zimmer lag; sie war schwach durch eine Flurlampe erleuchtet. Ich suchte einen Bedienten, um mich bei der Frau des Hauses anmelden zu lassen, fand aber Niemanden, und öffnete daher auf gut Glück eine Thür, welche in eine erleuchtete Stube führte. Eine Dame trat mir entgegen.

„Sie sind es?“ rief sie mir entgegen.

Die Frau von Grauburg stand vor mir, aber nicht mehr die schöne Therese und stolze Präsidententochter; sie war alt geworden und konnte wohl kaum dreißig Jahre zählen; ihre Gestalt war zusammengefallen und erschien mir wie eine Frau tief in den Vierzigen, die dieses Alter unter Gram und Sorgen erreicht hat. Ihr bleiches Gesicht hatte sich belebt, als sie mich erkannte. Meine Anwesenheit, die sie nicht geahnt hatte, schien sie mit einer plötzlichen Hoffnung zu erfüllen.

„Sie hier? Mir fällt ein schwerer Stein vom Herzen.“

Ich konnte, ich durfte ihr keine Hoffnung machen.

„Leider bin ich hier.“

Ihr Gesicht wurde bleicher, als es vorher gewesen war.

„O Gott! Sie sind Criminalbeamter!“

„Ich bin es. Aber fassen Sie Muth, Therese; lassen Sie uns überlegen; ich werde Alles thun, was ich, ohne meine amtliche Pflicht zu verletzen, verantworten kann; davon seien Sie überzeugt.“

„Das bin ich. Aber wer sind die Herren, die mit Ihnen hier sind?“

„Die Kassenbeamten der Regierung.“

[520] „Ich ahnete diese Kassenvisitation! Mein Mann ist nicht hier; er hatte einen reitenden Boten erhalten und fuhr eilig zur Stadt, nur von wichtigen Geschäften sprechend, die ihn riefen; anscheinend gleichgültig, aber jetzt erst sehe ich die Unruhe, die er zu verbergen suchte.“

„Hat er Ihnen gar nichts anvertraut?“

„Nichts! Er that es nie. Glauben Sie an Defecte in der Kasse?“

„Ich fürchte sie. Wie steht es mit Ihrer Erbschaft? Wenn erwarten Sie den Eingang derselben?“

„Schon gestern; heute oder morgen müssen die Gelder bestimmt eintreffen.“

„Morgen wäre es zu spät. Sind Sie nicht im Besitze anderer Geldsummen?“

Sie erröthete.

„Ich habe weiter nichts, als das Wirthschaftsgeld, und dies ist beinahe verausgabt; ich habe davon für die Weihnachtsfreude der Kinder angeschafft.“

„Bis wann kann Ihr Mann aus der Stadt zurück sein ?“

„Er fuhr um ein Uhr fort, und jetzt haben wir halb sechs; wenn seine Geschäfte ihn nicht so lange aufhalten, so kann er um sieben Uhr zurück sein, also in anderthalb Stunden.“

Ich sann über ein Mittel nach, Aufenthalt zu gewinnen; denn es kam Alles darauf an.

„Lassen Sie die Herren hierher zu einer Tasse Thee bitten.“

Sie eilte zu der Klingel.

„Die Herren sind der Regierungspräsident, der Kassenrath und der Doktor Feder.“

„Der?“

Sie zog, wie mit Abscheu, die Hand von der Klingel zurück.

„Wir gewinnen Aufenthalt,“ sagte ich.

Die Arme zog an der Klingel, als wenn diese ihr Rettungsanker wäre, und als der Bediente erschien, trug sie ihm die Einladung der Herren auf.

Die Glocke hatte aber gleichzeitig noch etwas Anderes in das Zimmer gerufen.

Durch eine Seitenthür stürzten drei Kinder mit fröhlichen, lachenden Augen herein. Das Christkindchen, das Christkindchen! riefen sie; aber enttäuscht, still und verlegen blieben sie an der Thüre stehen.

Ich sah mich jetzt erst näher in dem Zimmer um. Die Mutter war mit dem Aufputzen des Weihnachtsbaumes für die Kinder beschäftigt gewesen, als ich eintrat. Der frische Tannenbaum stand schon in der Mitte der Stube und war mit Schmelzketten, seidenen Bändern, silbernen Aepfeln und goldenen Nüssen behangen. So weit war die Mutter mit ihrer Vorbereitung gekommen, während schon die fremden Leute in ihrem Hause waren, und sie schon ahnete, was deren plötzliches Erscheinen bringen werde.

Wie mochte das Mutterherz gebangt und gezagt, wie mochten die Hände gezittert haben, als sie den Baum schmückte. Die blühenden, fröhlichen Kindesgesichter hatten gewiß noch nicht vor ihrem feuchten Auge gestanden. Die Geschenke für die Kinder standen und lagen noch ungeordnet auf den Stühlen umher, und wenn auch sie geordnet waren, sollten die Kleinen hereinkommen. Der Ton der Glocke sollte sie rufen; er hatte sie zu früh gerufen; verlegen standen sie nun vor dem Baume, in dessen Zweigen die Lichter noch nicht brannten, und vor dem bekümmerten, ängstlichen Gesichte der Mutter. Das war keine Weihnachtsfreude.

Aber herrliche Kinder waren es. Marie Gamkow hatte Recht gehabt. Zwei Knaben von ungefähr acht und drei, und ein Mädchen von sechs Jahren; Alle gesund, frisch und blühend.

„Es ist noch zu früh, Kinder,“ sagte die Mutter.

„Ja, ja,“ bemerkte verständig der ältere Knabe, „es ist ja auch noch nicht sechs Uhr, und der Vater ist noch nicht zurück.“

Klug setzte das Mädchen hinzu: „Und vor sechs Uhr hat das Christkindchen auch keine Zeit.“

Der Bediente kehrte zurück.

„Die Herren ließen danken, sie seien beschäftigt.“

Die Frau vom Hause wies ihn an, den Herren den Thee in das Zimmer zu bringen, in dem sie sich befanden. Sie entfernte sich mit ihm, um draußen etwas zu besorgen. Die Kinder ließ sie bei mir.

„Erzählt dem Onkel; er ist ein Freund Eurer Mutter.“

Das Mädchen kam sogleich zutraulich zu mir.

„Wir schenken den Eltern auch etwas zu Weihnachten,“ sagte sie geheimnißvoll.

„Therese, Du sollst nicht plaudern,“ drohete keck der Knabe von drei Jahren.

„Mir könnt Ihr es schon sagen, Kinderchen, ich verrathe nichts. Was schenkt Ihr denn den Eltern? Zuerst Du, kleine Therese?“

„Ich habe ein Gedicht auswendig gelernt.“

„Und Du, mein kleiner Bursch? Wie heißt Du?“

„Gustav heißt er,“ rief das Mädchen; „er kann nicht lernen, er ist noch zu klein.“

„Aber,“ fiel trotzig der Kleine ein, „ich bringe das Versprechen, daß ich artig nun sein und Dich nicht mehr schlagen will. Das ist mein Geschenk. Die Mutter sagt, es sei ihr das Liebste.“

Ich wollte mich an den ältern Knaben wenden; das Geschwätz mit den Kindern sollte die große Unruhe zerstreuen, die mich immer mehr und mehr ergriff; aber da kehrte Frau von Grauburg heftig zitternd zurück.

„Man hat einen Schlosser kommen lassen,“ sagte sie; „er ist so eben eingetroffen.“

Sie war so erschöpft, daß sie sich nicht mehr halten konnte und auf das Sopha setzen mußte; eine furchtbare Blässe bedeckte ihr Gesicht; die Kinder flogen erschrocken zu ihr.

„Was fehlt Dir, Mutter? Bist Du krank? Du zitterst.“

Sie nahm alle ihre Kraft zusammen. „Es ist nichts,“ sagte sie; „es war kalt draußen; kehrt jetzt in Eure Stube zurück, denn um sechs kommt das Christkindchen, und das bescheert nur, wenn die Kinder nicht dabei sind.“

Die Thür des Zimmers öffnete sich, und der Bediente trat mit einem der beiden Executoren ein.

„Der Herr Präsident lassen den Herrn Rath bitten; das Geschäft soll sofort beginnen.“

„Ich komme.“

Der Bediente und Executor entfernten sich wieder.

„Es ist zu spät,“ jammerte die unglückliche Frau. „Er ist so leichtsinnig, und hat gewiß Defecte. Die Gesetze sind streng, ich kenne sie. Es ist vorbei, vorbei in dem letzten Momente! Ich hatte so viel, so lange Jahre gelitten, heute sollte das Ende der Leiden und der Angst kommen. Ich hatte mich so gefreut, denn heute sollte die Erbschaft eintreffen; sie sollte ein Weihnachtsgeschenk für ihn, für uns Alle sein; sie sollte allen unsern Sorgen ein Ende machen. O, noch eine, eine Stunde! Zu spät! Es ist vorbei!“

Der Dienst rief mich, der unerbittliche Dienst.

„Vertrauen Sie auf Gott, Therese!“

Ich mußte fort. Sie lag einer Ohnmacht nahe im Sopha. Die Kinder standen mit ihren bleichen Gesichtern um sie, die vor wenigen Augenblicken noch so fröhlichen, lachenden Gestalten. Hinter ihnen stand der Weihnachtsbaum mit den glitzernden Schmelzketten, den flatternden Seidenbändern, den blanken Aepfeln, den goldenen Nüssen und den bunten Wachskerzen; aber die bunten Kerzen brannten noch nicht; die Zweige des Baumes hingen finster und traurig herab. Es war Alles in Traum und Finsterniß. So mußte ich die Arme verlassen; das Herz wollte mir brechen. Ich blickte unmittelbar darauf in das höhnisch grinsende Gesicht des Doktor Feder.

Man war während meiner Abwesenheit nicht unthätig gewesen. Nicht nur ein Schlosser mit seinem Handwerkszeuge, auch der Rendant und der Controleur der Kasse waren durch die Executoren herbeigerufen. Man begab sich in das Kassenzimmer; der Doktor Feder mußte zurückbleiben, aber sein höhnischer Blick begleitete uns. Das Zimmer lag neben der Arbeitsstube des Herrn von Grauburg; es war verschlossen, und auf Befehl des Präsidenten sprengte der Schlosser das Schloß. Wir traten in das Zimmer.

„Zeigen Sie die Kasse,“ befahl der Präsident dem Rendanten.

Der Beamte führte uns nach dem Ende des Zimmers. In einer starken, vorgebauten Mauer befand sich eine eiserne Thür.

„Hier,“ sagte der Beamte.

„Die Schlüssel?“

„Der Domainendirektor führt sie allein.“

„Sie sind nicht hier?“

„Der Herr Domainendirektor trägt sie stets bei sich.“

„Schlosser, sprengen Sie die Thür.“

Der Schlosser sprengte die Thür. Es dauerte eine ziemliche Weile. Die Minuten verflossen mir wie Sekunden.

[521] „Die Kassenbücher?“ fragte der Präsident den Rendanten weiter.

„Sie befinden sich in der Kasse.“

„Wer führt sie?“

„Ich und der Controleur.“

„Bis wann sind sie geführt?“

„Bis heute Mittag ein Uhr, wo wir das Lokal verließen.“

„Ist der Kaufpreis der Domaine Dalhausen schon gebucht?“

„Es war die letzte Post heute.“

„Mit wie viel?“

„Mit zehntausend Thalern; es war eine Abschlagszahlung.“

„Es müssen zwölftausend sein,“ flüsterte der Kassenrath dem Präsidenten in’s Ohr.

Ich erbebte, als ich diese Worte vernahm.

„Ist die Summe zur Kasse gekommen?“ fragte der Präsident weiter.

„In meiner und des Controleurs Gegenwart.“

„In welchen Münzsorten?“

„In Gold.“

Der Präsident wandte sich an mich.

„Herr Rath, haben Sie noch Fragen an die Beamten zu stellen?“

„Nein.“

„Herr Regierungsrath, sehen Sie die Bücher nach.“

Der Rendant zog die Kassenbücher aus dem Kassengewölbe hervor; der Kassenrath sah sie ein.

„Schließen Sie die Bücher vorschriftsmäßig ab,“ sagte er zu den beiden Kassenbeamten.

Der Rendant nahm sein Kassabuch, der Controleur sein Controlebuch. Sie rechneten, um den Abschluß zu machen. Ich sah nach meiner Uhr; es war halb sieben. Der entscheidende Augenblick nahete; noch war Rettung möglich, denn die Bücher waren [522] noch nicht abgeschlossen, und der Bestand der Kasse noch nicht nachgezählt; erschien der Domainendirektor jetzt noch mit dem Gelde, das aller Wahrscheinlichkeit nach in der Kasse fehlte, so konnte er es noch offen, vor der ganzen Commission in die Kasse legen, ohne daß man ihn eines Verbrechens zu zeihen vermochte. Es lag nur eine Unordnung vor, die höchstens mit einer Verwarnung, einem Verweise zu rügen war. Nach wenigen Minuten war es zu spät.

Die beiden Kassenbeamten rechneten eifrig; der Präsident und der Kassenrath sahen ihnen ungeduldig zu; ich trat an das Fenster und horchte in den stillen, dunklen Abend hinein, nur nach einem einzigen Peitschenknall, nach dem Schnauben eines Pferdes und dem Schnarren eines Schlittens auf dem Schnee. Es blieb aber Alles still; kein Laut um mich her; draußen nur tiefes, stilles Dunkel; in dem Zimmer nur die still rechnenden und ungeduldig harrenden Beamten, und neben an, zwanzig Schritte weiter, jenseits der dicken Mauer die unglückliche Frau, umgeben von den traurigen Kindergesichtern.

Die Kassenbeamten hatten ihre Arbeit vollendet; der Rendant legte sein Buch dem Controleur, und der Controleur das seinige dem Rendanten zur Durchsicht und Vergleichung vor. Die beiden Bücher stimmten; jeder der Beamten unterschrieb nun den Abschluß des Andern. Der Kassenrath sah die Abschlüsse nach.

„Die Bücher sind in Ordnung,“ sagte er zu dem Präsidenten.

Der Präsident wandte sich wieder an mich.

„Herr Rath, ich ersuche Sie, Einsicht von den Büchern zu nehmen.“

Ich durchsah die Bücher genau, und rechnete lange, aber wahrlich nicht absichtlich, um noch einen letzten Aufenthalt zu gewinnen; meine Aufmerksamkeit war mehr draußen nach der Straße hin, als auf die Bücher gerichtet, gegen meinen Willen. Die Zahlen verschoben sich immer vor meinen Augen.

„Ich bitte, beeilen Sie sich,“ sagte der Präsident.

Ich nahm mich zusammen. Die Bücher waren in Ordnung; die Abschlüsse stimmten; ich gab sie dem Kassenrath zurück.

„Ich finde nichts zu erinnern.“

„So nehmen wir den Kassensturz vor.“

Die Kasse war in einer musterhaften äußerlichen Ordnung, Der Rendant hatte dafür gesorgt. Wie die Bücher sauber gehalten waren und jedes in sich, und alle miteinander stimmten, so waren auch die Geldbestände übersichtlich, in einer fast symmetrischen Ordnung in dem Gewölbe nebeneinander gelagert. Der Rendant holte die einzelnen Packete, Beutel und Rollen hervor und legte sie vor den Visitationscommissarien auf den Tisch. Die Packete enthielten Kassenanweisungen, die Beutel Silbergeld, die Rollen Gold. Auf jedem Stücke war die Summe des Inhaltes verzeichnet. Der Kassenrath zog die Summen nach diesen Bezeichnungen zusammen; ich folgte seiner Berechnung mit banger Erwartung. Die Summe stimmte genau mit dem Betrage, der nach den abgeschlossenen Büchern in der Kasse vorhanden sein mußte; es fehlte kein Pfennig. Den beiden Kassenbeamten sah man es an, wie es ihnen leichter um das Herz wurde. Mir wurde das meinige schwerer. Nur zehntausend Thaler waren aus dem gestrigen Domainenverkaufe zur Kasse gebracht. Zwölftausend Thaler hatten nach der Versicherung des Kassenrathes vereinnahmt werden sollen. War nun jene Versicherung richtig, so konnte diese Uebereinstimmung nur durch falsche Eintragung in die Bücher herbeigeführt sein. Fälschungen oder Unvorsichtigkeiten in den Kassenbüchern oder Belägen zum Zweck der Verdeckung eines Defectes oder Veruntreuung zog nach dem Gesetze eine Verlängerung der durch den Defect verwirkten Zuchthausstrafe, um die Hälfte der Dauer nach sich.

Der Präsident und der Kassenrath wechselten sprechende Blicke.

„Wo befinden sich die Dokumente über den gestrigen Domainenverkauf?“ fragte der Präsident den Rendanten.

Der Beamte zeigte auf eine verschlossene Truhe. „Der Herr Domainendirektor pflegt dergleichen Papiere hier zu bewahren.“

„Der Schlüssel?“

„Der Herr Domainendirektor trägt ihn mit dem Kassenschlüssel bei sich.“

„Schlosser, öffne Er die Truhe.“

Ward dieselbe geöffnet, so war Alles vorbei; ein Vergleich der Verkaufsdokumente mit den Büchern mußte sofort die Fälschung der letzteren und somit zugleich den Defect in der Kasse ergeben; von einem Versehen, von einer bloßen Unordnung konnte dann gar nicht mehr die Rede sein.

Der Schlosser wollte das Oeffnen der Truhe beginnen.

Ich horchte mit der äußersten Anstrengung nach dem Fenster und der Straße; kein Laut ließ sich vernehmen; mich faßte eine furchtbare Angst; sie hätte nicht größer sein können, wenn es sich um mich selbst, um meine eigene Rettung gehandelt hätte. Ich fühlte nur den einen, unwiderstehlichen Trieb zu retten. Wer auf den Criminalbeamten den Stein werfen will, der bedenke, daß ich damals erst achtundzwanzig Jahre zählte und seit kurzer Zeit Criminalbeamter war, und bedenke noch manches Andere, was auch in dem menschlichen Herzen eines Criminalbeamten vorgehen kann, meinetwegen sogar, daß ich auch heute noch so handeln würde; ein allerdings leichtsinniger, gewissenloser Beamter sollte gestürzt werden, aber von Schurken und aus den niederträchtigsten Motiven. Mit ihm sollte eine unschuldige Familie als Opfer fallen.

„Herr Präsident,“ sagte ich, „ich bitte, zunächst die Geldpackete und Rollen öffnen und nachzählen zu lassen.“

„Es wird später geschehen, mein Herr.“

„Nach der Ordnung der Kassenvisitation müßte es jetzt geschehen.“

„Ist eine gesetzliche Nichtigkeit damit verbunden, wenn es später geschieht?“

„Nein,“ antwortete ich.

„Also! Oeffne Er, Schlosser.“

„Wozu diese Gewalt? Ich finde sie nicht motivirt, da doch Kasse und Bücher stimmen.“

„Aber nicht Bücher und Beläge.“

„Wo wäre das ausgesprochen?“

„In den Akten. Nach diesen sind gestern zwölftausend Thaler Kaufgelder eingezahlt, und die Bücher sprechen nur von zehntausend; also fehlen zweitausend Thaler.“

„Nach welchem Stücke der Akten, wenn ich bitten darf?“

„Nach der Anzeige.“

„Nach der Denunciation!“ sagte ich verächtlich.

„Auf Grund dieser Denunciation sind wir hier, mein Herr.“

„Leider!“

Mein „leider“ konnte das Recht des Präsidenten nicht bestreiten. Der Schlosser öffnete die Truhe. In demselben Augenblicke flogen schnaubend Pferde unter dem Fenster vorbei; ein Schlitten rauschte über den Schnee: nach einigen Sekunden hielt er vor dem Hause. Der Präsident und der Kassenrath griffen Beide in die Truhe hinein, rissen Papiere hervor und wühlten darin. Die Hausthür wurde aufgerissen; es stürzte Jemand in das Haus.

„Hier,“ rief der Präsident. Er hielt ein Dokument empor.

„Zwölftausend Thaler sind eingezahlt. Zweitausend fehlen.“

„Zweitausend fehlen,“ wiederholte der Kassenrath, indem er in das Papier sah.

Der Präsident legte mir das Papier hin.

„Ueberzeugen Sie sich, Herr Rath, daß nach diesem Originaldokumente und dem Befunde der Bücher und der Kasse ein Defect von zweitausend Thalern und eine Fälschung der Bücher um diese Summe feststeht!“

Das Dokument war klar. „Ja,“ sagte ich langsam, „wenn die Zählung des Geldes kein anderes Resultat ergibt.

Während der Präsident fragte und ich antwortete, hatte sich die Thür des Zimmers geöffnet; als ich das letzte Wort gesprochen hatte, war sie wieder zugeschlagen. Ich glaubte, den Herrn von Grauburg in der Thür gesehen zu haben; eingetreten war Niemand. Ich stand wie verwirrt und betäubt da. Ein Schuß unmittelbar vor dem Zimmer weckte mich aus meiner Betäubung.

Ich sprang aus dem Zimmer in die Halle. Auf den Steinen lag der Domainendirektor von Grauburg mit zerschmettertem Gehirn. Er hatte durch den Schuß seinem Leben ein Ende gemacht. Er hatte die Erbschaft seiner Frau erhoben, und führte das Geld in Banknoten bei sich; ein Packet mit zweitausend Thalern lag neben ihm. Er war um eine Minute zu spät gekommen.

Ich eilte in das Zimmer Theresens. Sie lag ohnmächtig an der Erde; die Kinder standen weinend ihr zur Seite; neben ihnen lag der umgestürzte Weihnachtsbaum.




Die unglückliche Frau ist todt. Ihre Kinder sind brav geworden. Marie Gamkow wurde von dem Polizeispion befreit, welcher später Geheimerath wurde.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: entferntern