Wie das Schweizervolk tagt
Wie das Schweizervolk tagt.
„Wohlan, so sei der Ring sogleich gebildet!
Man pflanze auf die Schwerter der Gewalt!
Der Landesammann nehme seinen Platz,
Und seine Waibel stehen ihm zur Seite!“
Schiller.
Es war ein bewölkter, aber nicht unangenehmer Tag, an dem wir diesmal das Ländchen Uri betraten. Etwas wie eine feierliche Feststimmung lag auf der Gegend und auf den Leuten. Der See war ruhig und spiegelglatt, und die Berge schauten ernst hernieder, da der blaue Himmel über ihnen nicht lachen, die Sonne ihre Spitzen nicht vergolden wollte. Die Landleute erschienen überall in ihren Sonntagskleidern, meist einer Art kurzer nur bis zu den Hüften reichender Blousen von verschiedenen Farben. Erreichte man aber den nur eine halbe Stunde von Flüelen, dem Landungsplatze am Vierwaldstättersee, gelegenen Hauptort des Cantons, das aus der Tell-Sage weltbekannte Altdorf, so zeigte sich moderne Kleidung.
Der schmucke Flecken ist städtisch gebaut, und die Patrizierhäuser mit ihren hohen Giebeln, verzierten Parterrefenstern und wappengeschmückten Thoren bieten einen charakteristischen Anblick dar, ja imponiren zum Theil, namentlich da nicht selten hübsche Lockenköpfchen mit feurigen Augen aus ihnen herauslugen. Bei den Damen waltet hier, wie in Graubünden, eine gewisse, fast italienische Lebhaftigkeit vor, als ob die Straße nach Italien, die man hinwandelt, ihren Einfluß ausübe; die Männer dagegen sind mehr von deutscher Ruhe und nordischem Ernst. Die restaurirte kolossale Tell-Statue mit lebendigem Ausdruck in der ganzen Figur, an deren Sockel Schiller’s Worte stehen:
„Wohlan, o Herr!’
Weil Ihr mich meines Lebens habt gesichert –
So will ich Euch die Wahrheit gründlich sagen.
Mit diesem zweiten Pfeil durchschoß ich – Euch,
Wenn ich mein liebes Kind getroffen hätte,
Und Eurer – wahrlich, hätt’ ich nicht gefehlt.“
– diese Tell-Statue zeugt von der Pietät, mit welcher Uri fortwährend an der Tell-Geschichte hängt, deren Wahrheit dort zu bezweifeln nicht ganz rathsam wäre. Verbrennt auch nicht mehr, wie es vor hundert Jahren geschah, der Henker ein Buch, das die Rechte der historischen Kritik vertritt (wenn dies auch heute mit mehr Gründlichkeit und Erfolg geschieht, als damals), so wird doch jener romantisch ausgeschmückten Ueberlieferung in allen Cantonen der Schweiz immer lebhaftere Theilnahme gezollt.
Gerade seitdem die Wissenschaft die Existenz Tell’s in Zweifel gezogen hat, ist nicht nur jene Statue in Altdorf neu errichtet, sondern ist auch das Rütli vom Bunde angekauft und ausgeschmückt worden, seit jener Zeit ist die Tell-Capelle auf der Tell-Platte neu gebaut worden, und der Maler Stückelberger arbeitet noch fortwährend an den prächtigen Fresken in ihrem Innern.
Gegenüber der kräftig realistischen Tell-Gestalt mit dem emporgehobenen Pfeil nimmt sich an dem alten Thurm auf dem Hauptplatze Altdorfs das verschnörkelte Rococo-Gemälde vom Apfelschuß seltsam aus. Um diesen Thurm aber entwickelt sich jetzt reges Leben. Die freien Landleute von Uri sind von allen Seiten herbei geströmt, ihre Bürgerpflicht zu erfüllen, und sammeln sich auf dem Platze des Hauptortes, in Menge aber stärken sie sich noch in den umliegenden, zahlreichen Wirthshäusern mit Speise und Trank auf das bevorstehende Werk der Ausübung ihres uralten Souverainetätsrechtes. Auch Frauen und Kinder haben sich aus dem Canton mit ihren Gatten und Vätern eingefunden; denn die „Landsgemeinde“ ist, wie überall, ein Volksfest.
Jetzt, um halb elf Uhr, wird es Ernst. Ein Peloton Infanterie mit der alten Urnerfahne, dem schwarzen Stierkopf in gelbem Felde, die vielleicht manche Schlacht mitgemacht, zieht unter Musik auf, voran zwei Männer in mittelalterlicher schwarz-gelber Tracht, mit mächtigen Harsthörnern auf den Schultern, und stellt sich vor dem Rathhause, an dessen Thor die stolzen Goldlettern S. P. Q. U. (Rath und Volk von Uri) prangen, in Reih’ [435] und Glied auf. Bald erscheint, vom Fahnenmarsch begrüßt und mit geschultertem Gewehr empfangen, der Landammann von Uri, Herr Muheim, gefolgt von zwei Waibeln in den alterthümlichen, rechts gelben und links schwarzen Mänteln und Dreispitze mit schwarz-gelben Cocarden auf den Häuptern; er begiebt sich in das Rathhaus. Auch die übrigen Regierungsmitglieder folgen nach und nach, meist stattliche Herren von militärischem Typus, Alle in schwarzer Kleidung. Nach einiger Zeit erscheinen sie wieder und nehmen in den bereit stehenden Kutschen Platz, auf den Vordersitzen die Waibel. Das Militär setzt sich unter Hörnerklang und Trommelwirbel in Bewegung; die Kutschen folgen; die Volksmenge drängt hinterdrein, und hinaus geht es auf der staubigen Gotthardstraße über den wild schäumenden, brausenden Schächenbach nach dem Landsgemeindeplatz in Bözlingen, eine halbe Stunde südlich von Altdorf.
Diesen Platz muß ein landschafterisches Genie zum Tagen der Landsgemeinde ausgewählt haben; denn eine herrlichere Scenerie läßt sich kaum denken: Eine saftig-grünte Wiese seitwärts von der Straße, die sich amphitheatralisch aus der Thalsohle allmählich erhebt, dahinter eine mächtige Felswand von rothem Granit, gekrönt von dunklem Tannenwald und hinter diesem die schneegekrönten Häupter der Windgälle. Gegenüber aber, auf der andern Thalsohle, erschließt sich uns ein nicht minder harmonisches Bild: In der Mitte ein abgerundeter grüner Berg, der Gaißberg, an dem Wiesen, Wälder und Sennhütten malerisch abwechseln bis hoch hinauf, und hinter seinen beiden Flanken, beinahe symmetrisch, die riesigen Berggipfel des Uri-Rothstocks und des Spannortes, stark mit ewigem Schnee bedeckt; endlich im Hintergrunde, die beiden Thalseiten scheinbar verbindend, die sich buchstäblich in die Wolken verlierende zackige Gipfelgruppe des Bristenstockes.
In der Mitte dieser wundervollen Bergwelt nun, im ebenen Theile der Wiese, aber nahe am Berghange, ist aus rohen Brettern, die über Pflöcke gelegt sind, eine Art Circus von etwa dreißig Fuß Durchmesser mit nach außen sich erhöhenden Sitz- oder Stellplätzen errichtet. Im Mittelpunkte steht ein einfacher grünbedeckter kleiner Tisch, an dem nach Ankunft des Zuges der Landammann und der Landschreiber, ein im Dienste des Landes ergrauter Mann der Feder, auf Stühlen Platz nehmen; sie breiten die amtlichen Vorlagen, Protokolle etc. darauf aus.
Alsdann legt ein Waibel das Schwert, das die Macht des Landes über Leben und Tod bedeutet, auf den Tisch. Aus der vordersten Bank des „Ringes“, links vom Landammann, nehmen die Regierungsglieder, rechts aber die Geistlichen Platz, unter ihnen zwei Kapuziner in ihren braunen Kutten und langen Bärten, vom Volke besonders ehrfurchtsvoll begrüßt. Auf dem äußersten Rande des „Ringes“ sitzen, Alles überblickend, die sieben schwarzgelben Waibel, deren Erster, der Landwaibel, sich nun erhebt und in hochdeutscher Sprache die Formel spricht:
„Was Cantons- und Landräthe, stimmfähige Landsleute und gesetzlich niedergelassene Schweizerbürger sind, die sollen in den ‚Ring‘ treten; was aber nicht Cantons- und Landräthe, stimmfähige Landsleute und gesetzlich niedergelassene Schweizerbürger sind, die sollen vom ‚Ring‘ weggehen.“
Nachdem so die Spreu von den Körnern geschieden, erhebt sich unter allgemeiner Stille der Landammann und hält nicht hochdeutsch, wie der Landwaibel, sondern im reinsten Urnerdialekt eine Eröffnungsrede an seine „getrye liebe Landslyt“, die sehr gewandt und durchdacht, aber völlig von ultramontanem Geiste erfüllt ist.
Er wolle, sagte Herr Muheim, indem er sich abwechselnd bald nach dieser, bald nach jener Seite des „Ringes“ wandte, nicht die andersgläubigen Mitbürger als Ketzer den Katholiken entgegensetzen, aber es geschehen Dinge namentlich in „Frankrych“ und „Dytschland“, daß darob jedes katholische Herz bluten müsse; der Kampf gegen diese Unterdrückung der Kirche sei ein schwerer, aber mit Beruhigung dürfen die Katholiken die Führung in diesem Kampfe dem „großen Papste Leo“ überlasten. Zum Schlusse seiner Rede forderte der Landammann die Anwesenden, deren siebenhundert bis achthundert sein mochten, zu einem Gebete für die glückliche Abwickelung der Landsgemeindegeschäfte auf, bestehend in fünf Vaterunsern und Ave-Maria; das Gebet wurde mit abgenommener Kopfbedeckung still verrichtet; dann nahm man die Geschäfte vor. So oft, was diesmal häufig vorkam, während der Verhandlungen Sonnenschein oder Regenschauer eintrat, kamen zwei dienstwillige Landsleute aus dem „Ring“ hervor und hielten Schirme über die Häupter des Landammanns und des Landschreibers. Unter dem Volke aber herrschte lebhafte Bewegung; der äußere Rand des „Ringes“ war ungeachtet der Verkündigung des Landwaibels ein beständiger Schauplatz des Auf- und Abkletterns von Landsleuten nicht nur, sondern auch von Fremden, ja von Frauen, Mädchen und Jungen jeden Alters. Auf und an dem nächsten, von einer Capelle malerisch gekrönten Hügel, der eine treffliche Aussicht über die Landsgemeinde darbot, waren zahlreiche Zuschauer bunt hingelagert, und am Eingange der Wiese nach der Straße hin strömte es beständig aus und ein; denn es herrschte dort bei den zahlreichen improvisirten Verkaufsstellen reger Verkehr mit Brod, Confect und mannigfachen Lebensmitteln.
Und nun die Geschäfte der Landsgemeinde? Ja, die sind in der Regel ohne Interesse für Fernerstehende. Doch handelte es sich gerade dieses Jahr um einen nicht uninteressanten Gegenstand: Bis dahin gab es im Canton Uri keine amtliche Armenunterstützung, weder von Seite des Staates, noch der Gemeinde, sondern die Bedürftigen mußten von ihren Verwandten bis in den Grad der Geschwisterkinder hinaus unterstützt werden, was man Verwandtschafts- oder Armensteuer (urnerisch: Armestyr) nannte. Seit Jahrhunderten müssen in Uri Anträge an die Landsgemeinde von einem „Siebengeschlecht“, das heißt von Männern aus mindestens sieben Geschlechtern (Familien) ausgehen. Ein „Siebengeschlecht“ beantragte Beschränkung der Verwandtschaftssteuer auf die auf- und absteigende Linie und Schaffung eines Gemeindebürgerrechtes zum Zwecke der Armenunterstützung durch die Gemeinden. Die bisherige Einrichtung war sowohl für die Armen wie für deren nicht begüterte Verwandte von großen Nachtheilen und oft sogar von hartem Drucke begleitet gewesen. Ein anderes „Siebengeschlecht“ hatte dagegen den Vorschlag ungenügend befunden und wollte radicaler verfahren, indem es auf völlige Abschaffung aller Unterstützungspflicht der Verwandten antrug.
Die Mitglieder beider Siebengeschlechter mußten in das Innere des Ringes treten, und für jeden der beiden Anträge sprach ein Redner mit vieler Gewandtheit. Nachdem noch weitere „Landsleute“ für und gegen beide Anträge gesprochen, und zwar oft mit ziemlicher Derbheit, wurde, wie in der Schweiz bei allen offenen (nicht schriftlichen) Abstimmungen gebräuchlich ist, durch Aufheben der Hand abgestimmt. Der Antrag des ersten „Siebengeschlechtes“ erhielt die Mehrheit, und die Regierung wird nun nächstes Jahr eine bezügliche Vorlage an die Landsgemeinde zu bringen haben.
Unter den übrigen Verhandlungen war von einigem und zwar humoristischem Interesse nur das Gesuch eines seit zwanzig Jahren in Altdorf lebenden badischen Schneiders um das urnerische Cantonsbürgerrecht. Um ihm dies zu einem billigen Preise zu erwirken, wies sein Anwalt darauf hin, daß der Petent, seinem Berufe gemäß, kein Großvieh, sondern blos Ziegen halte und daher die Einkünfte der Allmeinde (Gemeinweide) nicht stark schmälern werde. Der Ziegen haltende Schneider mußte sich aus dem Ringe entfernen, während über ihn abgestimmt wurde, und draußen stehen wie Heinrich der Vierte in Canossa; seine Aufnahme erfolgte aber ohne Anstand, und er trat als richtiger Urner wieder in den Ring zurück.
Nach den eigentlichen Verhandlungen kamen die Wahlen an die Reihe. Herr Landammann Muheim erklärte mit Entschiedenheit, von seiner hohen Stelle zurücktreten zu wollen und nach vielem seiner Amtsführung gespendeten Lobe wurde ihm endlich entsprochen und der Landesstatthalter Karl Müller („Korli Müller“ bezeichnete ihn mir mein Nachbar) an seine Stelle gewählt, die er denn auch sogleich, von Collegen und Geistlichen warm beglückwünscht, am Tische einnahm, während Herr Muheim sich in den Ring begab.
Bei jeder folgenden Wahl wurden lange Reden, bald Empfehlungen, bald Ablehnungen bezweckend, gehalten, besonders lebhafte aber bei der Wahl der Ständeräthe (Vertreter des Cantons als solcher in der schweizerischen Bundesversammlung); an betonte mit heftigen Ausfällen gegen die liberale Mehrheit der schweizerischen Räthe die Nothwendigkeit, daß Uri durch conservativ-katholische Männer in Bern vertreten werde.
Nach fünfthalbstündiger Dauer würde die Landsgemeinde ohne weitere Förmlichkeit geschlossen. Schon vorher waren die Bänke des Ringes stark gelichtet, namentlich hatte sich die Geistlichkeit schon frühe entfernt; nun brach auch der schwache Rest der Anwesenden auf, und der Zug setzte sich in gleicher Ordnung, wie er hergekommen, wieder nach Altdorf in Bewegung, wo sich [436] denn das souveraine Volk, nach erfüllter Pflicht, bei Tanz und Musik, bei Lieder- und Becherklang gütlich that und seine selbstgewählte Obrigkeit hoch leben ließ.
Und wie lange wird diese Eigenthümlichkeit der kleinen Cantone noch dauern?
Das ist schwer zu sagen – gewiß aber nicht ewig. Es ist eine zu große Anomalie, daß gerade in denjenigen Cantonen, in welchen nie eine gesetzlich anerkannte Aristokratie bestanden hat, ein factischer Adel den ehemaligen rechtlichen der Städte überdauert, daß gewisse Familien im Besitze der Aemter bleiben, weil deren Glieder ihres Reichthums wegen allein im Stande sind, dem Lande ohne Gehalt zu dienen; sie müßten ja keine Menschen sein, wenn sie dies blos aus Pflichtgefühl und nicht auch aus Ehrgeiz thäten. Vor Kurzem erst begann die Gotthardbahn mitten durch Uri Menschen und Güter, Vertreter einer neuen Zeit, in größerer Menge als je zuvor zu tragen, und so fest ist Uri trotz seiner Berge nicht, daß es dem Einflusse freisinniger und weltbürgerlicher Ideen auf die Dauer widerstehen könnte. Die ganze Geschichte des Menschengeschlechtes steuert – wir freuen uns dessen nicht, können es aber auch nicht bestreiten und noch weniger verhindern – in entschiedenstem Maße einer Nivellirung entgegen, und diesem Schicksale kann kein Volksstamm, er mag noch so conservativ sein, widerstehen.