Wohnungsnot in den großen Städten
[163] Wohnungsnot in den großen Städten. Immer wieder kommt man in der Oeffentlichkeit zurück auf die traurigen Wohnungsverhältisse der ärmeren Volksklassen in den großen Städten. So geschieht dies auch neuerdings in einer kleinen, bei Carl Heymann in Berlin erschienenen Schrift, welche Untersuchungen über diese Verhältnisse in Berlin bringt. Es sind drei Aufsätze verschiedener Verfasser, die sich vorzugsweise mit den schlechten Wohnungen in Kellern und unter dem Dache beschäftigen, dabei aber sich wohl bewußt sind, daß sie ihren Stoff hiermit nicht erschöpfen. Denn es giebt eine noch weit größere Anzahl von Wohnungen, in denen es an und für sich nicht an Licht und Luft fehlen würde; erst durch die Uebervölkerung mit Frauen und Kindern, Schlafburschen und Aftermietern wird darin der auf jeden Bewohner entfallende Luftraum auf ein so gesundheitmörderisch kleines Maß herabgedrückt. Aber auch jene Dach- und Kellerwohnungen zeigen, wenngleich sie nicht die Regel bilden, welche unglaublichen Zustände in den Großstädten herrschen; wir erhalten als Beispiel ein wahrhaft abschreckendes Bild einer Kellerwohnung, wie sie von den maßgebenden Behörden nicht geduldet werden sollte. Daß sie wegen der sehr niedrigen Fenster dunkel ist, muß man leider bei den meisten Kellerwohnungen als unvermeidlich hinnehmen; daß in den Räumen – Stube, Kammer und Küche – eine dumpfe Luft alles zum Stocken bringt, ist schlimm. Weit schlimmer aber sind folgende Besonderheiten: in schrägem Winkel zum Kammerfenster steht auf dem Hofe der Asch- und Müllkasten; daraus kriechen im Sommer massenweise Maden in die Wohnung. Nicht weit von den Fenstern ist ein Pferdestall gebaut; bei Regenwetter mischen sich Jauche und Wasser und fließen zu den tiefliegenden Fenstern hinab. Unter den Fensterbrettern im Innern wachsen von Zeit zu Zeit Pilze und an den Wänden ist der Schwamm. Lange war die Wasserleitung schadhaft; da trotz wiederholter Bitten die durchlöcherten Röhren nicht ausgebessert wurden, so suchte man sich, so gut es ging, zu helfen, indem man die Röhren mit Lappen umwickelte. Ist es da zu verwundern, daß die Dielen vor dem Ausguß verfaulten und große Löcher zeigten? Und hier hauste eine Familie von neun Köpfen, Mann und Frau nebst sieben Kindern! Solche Wohnungen sind menschenunwürdig; es muß immer wieder darauf hingewiesen werden, damit die Wohlfahrtspolizei Hand ans Werk legt und solche entsetzlichen Mißstände beseitigt.
Uebrigens ist in Hessen mit dem 1. Oktober v. J. ein Gesetz über die polizeiliche Beaufsichtigung der Mietswohnungen und Schlafstätten in Kraft getreten. Zur Durchführung einer wirksamen Kontrole der Mietswohnungen haben die Gesundheitsbeamten und Polizeibehörden die Befugnis, Mietswohnungen und Schlafstellen daraufhin zu untersuchen, ob aus der Benutzung Nachteile für die Gesundheit oder Sittlichkeit zu besorgen sind. Für die Städte werden besondere Wohnungsinspektoren bestellt. In allen Gemeinden über 5000 Seelen sind neu zur Vermietung kommende Wohnungen anzumelden, wenn sie, einschließlich der Küche, aus weniger als vier Räumen bestehen oder im Kellergeschoß liegen, bezw. wenn sie nicht unterkellerte Räume enthalten, deren Fußboden nicht mindestens 25 cm über der Erde liegt, oder wenn unmittelbar unter dem Dach befindliche Räume zum Wohnen dienen sollen. Vermieter möblierter Wohnungen sind von der Anzeige befreit, wenn der Mietpreis für das Zimmer 8 Mark monatlich übersteigt. Noch genauer werden Schlafstellen überwacht, bei denen die Anmeldepflicht allgemein – unabhängig von der Einwohnerzahl – gilt. Die Polizeibehörde kann innerhalb zweier Wochen nach der Anzeige die Benutzung einer Wohnung wegen Gesundheitsschädlichkeit untersagen, das Vermieten von Schlafstellen [164] aber jederzeit, wenn Thatsachen vorliegen, welche die Annahme rechtfertigen, daß die Aufnahme von Schläfern zu Unsittlichkeiten führen würde. Um auch gegen die Nachteile der Ueberfüllung Sorge zu tragen, kann durch Polizeiverordnung für Mietwohnungen und Schlafstellen ein Mindestmaß von Luftraum für jede Person vorgeschrieben werden.