Zermatt und der Gornergrat
Zermatt und der Gornergrat.
Nirgends steigen die Berge höher auf als im Wallis, seine Spitzen bilden die silberne Krone Europas. Im Innenraum, den die Zinken und Zacken umschließen, liegt tief eingegraben das Rhonethal. Städtchen mit südlichen Silhouetten, Weinberge, wallende Fruchtfelder, malerische Kastanien- und Feigenbäume, die sich auf die Hütten neigen, selbst die Linien der Landschaft atmen, im unteren und mittleren Teil des Thales wenigstens, eine mehr italienische als schweizerische Stimmung. Plötzlich aber und unvermittelt schaut durch grüne Waldeinschnitte ein fernes, in traumhafter Schönheit aufglänzendes Schneehaupt in die Ueppigkeit herein, bald hier, bald dort eines, und die rauschenden, emsigen Bäche, die nach der Rhone hervorbrechen, reden von stillen Seitenthälern, die unter dem Donner der Lawinen liegen.
Nur eines dieser tief in den Kranz der Schneeberge vordringenden Thäler ist der internationalen Touristenwelt als Reiseziel geläufig, das von Zermatt, das sich bei Visp öffnet. Nicht unverdient, denn es ist einzig und ohnegleichen, es ist der überwältigende Sammelausdruck alles dessen, was das Gebirge an Kraft und Ernst, an Erhabenheit und Schrecken besitzt, eine Zusammenfassung ohne mildernde oder ausfüllende Züge. Das Berneroberland, ja selbst Chamonnix sind Idyllen gegenüber der wilden grotesken Schönheit Zermatts, denn dort giebt es neben dem Großen Hübsches, Anmutiges und Liebliches genug, in Zermatt aber redet alles im Pathos, trägt alles den Charakter einer Uebernatur; es ist der letzte höchste, in wenigen großen Elementen zusammengefaßte Triumph des Hochgebirges. Vom romantischen Flecken Visp führt seit einigen Jahren eine Bergbahn nach Zermatt, und bereits die Fahrt dahin ist ein unvergeßlicher Genuß.
Zuerst wundert man sich, wie es überhaupt möglich sei, daß die Bahn sechsunddreißig Kilometer tief in das Gebirge eindringe, scheint es sich doch gleich hinter dem Ort zu einer ununterbrochenen Mauer zu schließen. Allein sie findet den Weg durch die Engschlucht des Zermatter Thalwassers, der Visp, die in gewaltigen Sprüngen über die Felsen hinuntersetzt und schneekühlen Staub bis an die Wagenfenster emporwirbelt. Die Lokomotive klettert nach dem Dörfchen Stalden empor, das wie ein Schwalbennest über den in blauen Dust getauchten Niederungen der Rhone schwebt. Eine schneeweiße zierliche Kirche und rebenumsponnene, braune, niedrige Häuschen aus Lärchenholz bilden den sonnigen Ort. Ein kühner blendendblanker Brückenbogen über die Visp verleiht ihm eine eigenartige Romantik, als wäre es das Werk eines leichtsinnigen italienischen Malers, der einen italienischen Traum in Farben festhalten wollte.
Allein gleich hinter Stalden ist der Traum des Südens aus. Tief im Hintergrund der Gebirgsspalte leuchten über schwarzen Waldwänden die Firnenkronen des „Doms“ einerseits, des Weißhorns anderseits. Ihnen braust der Zug entgegen, bald durch ebenen Thalgrund, bald an Halden empor, aber immer der treue Nachbar der in Stromschnellen brüllenden, stäubenden Visp. Von der Gewalt des Wassers und dem Charakter des Thals giebt das kamekesche Bild auf S. 457 eine lebendige Vorstellung; es ist vor dem Bau der Bahn entstanden, die jetzt auf der rechten Uferseite des Baches – links im Bild – hinläuft. Von Zeit zu Zeit grüßt der Pfiff der Lokomotive eine weiße Kirche, um die sich ein dunkles Bergdorf schart. Kleiner werden von Dorf zu Dorf die Hütten, niedriger die Fenster, und der Obstbaumwald, der es umgiebt, lichtet sich. In einem Dorf hat die Jugend noch einen Herbst mit Aepfeln und Birnen, im folgenden nur noch einen mit Kirschen, mit kleinen saftigen Kirschen. Sie werden gepflückt, wenn die Winzer draußen im Rhonethal unter Jauchzen die Trauben schneiden. Die nächsten Dörfchen haben keine Kirschbäume mehr, aber in kleinen Aeckern, die zwischen großen Steinen an der Sonne liegen, schmeicheln sie in zwei Sommern der schwarzen Krume die blaßgoldenen Garben ab. Manchmal genügen die zwei Sommer nicht, um das Getreide zur Reife zu bringen, es muß noch halbgrün geschnitten und an Holzgerüsten getrocknet werden.
Endlich sieht man auf beiden Flanken des Thales nur noch lichten, von Lawinenzügen durchfurchten Lärchenwald, Altmännerwald mit meterdicken Stämmen und hängenden Aesten, von denen graue Flechtenbärte niederfluten. Ueber dem Wald stehen die rauhen Felsen, an denen milchweiße Bäche niederflattern, über den Felsen leuchten die Gletscher mit blauschillernden Brüchen, über den Gletschern die weißen Schneefelder und Firnkuppen. Und in kühlen Stößen, die uns am heißesten Tag durchschauern, fährt der Bergwind thalaufwärts.
Aus entlegener Höhe tönt ein einförmiges Klopfen wie das Schlagen der Spechte in die Stille des Thales. Das sind die Werkhämmer der „Wässerwasserfuhren“. Die Bewohner der wallisischen Thäler fassen das Gletscherwasser, das mit fruchtbarem Steinstaub vermischt ist, in hölzerne Kanäle, führen es, um es zu erwärmen, an sonnigen Halden entlang und in vielen Verzweigungen stundenweit auf ihre Felder, damit ein nährendes Tröpfchen zu jedem Halm und Kraut gelangt. Die Kanäle sind aber häufig durch Steinschlag gefährdet. Die Werkhämmer nun,
[457][458] die von kleinen in die Kanäle eingeschalteten Wasserrädern getrieben werden, verraten den Leuten im Thal durch ihr Klopfen, daß die Fuhre in Ordnung ist. Sobald es aufhört, steigen die Männer des Gebirges an den Felswänden hinauf oder in die Schluchten hinab, um den Schaden auszubessern, und nehmen dazu gleich den Priester mit, auf daß er mit den Sacramenten zur Stelle sei, wenn einer von ihnen bei der gefährlichen Arbeit stürzt. Keine Ueberlieferung oder Sage meldet, wer die „Wässerwasserfuhren“, die wegen ihrer geschickten Anlage von den Technikern viel bewundert werden, im Wallis eingeführt hat, genug, daß sie vom Volk in heiligen Ehren gehalten werden.
Höher und höher steigen die Firnberge zur Rechten und Linken hinan, jetzt biegt der Zug um, das Thal erweitert sich zu einem grünen Grund – die Lokomotive schrillt – vor uns liegt Zermatt.
Nein – vor uns steht das Matterhorn.
Nichts sieht man, nichts als es. Mit blitzenden Rändern, scharfkantig wie aus Erz getrieben hebt es sich fast einsam im westlichen Sehkreis vom blauen Sammet des Himmels ab. Was für ein maßlos kühner entzückend graziöser Berg, vor dem selbst die mächtigen Nachbarn scheu zurückweichen. Auge und Sinn werden von ihm emporgezogen, es ist im ersten Augenblick, als fliege es nach oben.
Nur nach und nach lösen sich die Blicke, die Gedanken von ihm, und dann sehen wir, daß auch Bahnhof und Dorf Zermatt vor uns stehen.
Tief wie die Hölle liegt der Ort auf entzückend frischem Wiesenteppich zwischen den Bergen. Lichte Wälder und felsunterbrochene Weiden steigen als Vorwälle des Schneegebirges so hoch auf, daß sie die meisten Gipfel der Umgebung verdecken, nur das Matterhorn steht frei und ohne Vorschranke da, ein dämonisches Weib gleichsam, das uns überall in den Weg tritt, das uns ruft und lockt, um uns zu zerschmettern. Durch die Senken der Vorberge aber kriechen die Gletscher, darunter als die größten der Gorner- und der Findelengletscher, wie riesige Eidechsen die sich sonnen wollen, hervor und langen mit ihren Zungen bis zu den äußersten Hütten des Dorfes.
Zermatt hat einen etwas italienischen Typus. Zwei Kulturen berühren sich, die alte mit einem halben Hundert schwarzgesengter Holzhütten, die von den Zeiten erzählen, da man das Matterthal noch nicht kannte (vgl. Abbildung S. 456), und die neue, die ihren Ausdruck in einem halben Dutzend großer Gailhöfe findet, von denen die meisten der Familie Seiler gehören. Wenn man sich in einem günstigen Winkel zu den schönsten Häusern des Dorfes aufstellt, so macht es fast den Eindruck eines Städtchens. Einige Hütten sind zu reizenden Bazars umgebaut, wo man die Nippsachen der Alpenwelt kaufen kann. Hochgebirgsphotographien, reizende Bilderrähmchen aus getrockneten Alpenblumen, Briefbeschwerer mit Versteinerungen, Kristalle, Erze, Gemälde berühmter und unberühmter Maler, die sich durch die Zermatter Bergwelt treiben; Bergstöcke, Nagelschuhe, Seile, Schleier, das ganze Ausrüstungsinventar für Gletschertouren.
Die einzige Straße, die Zermatt hat, ist noch so holprig wie vor Jahrhunderten, die großen Pflastersteine sind feucht, der Boden zwischen ihnen von den Hufen der vielen Maultiere aufgerissen, die hier durchgetrieben werden. Allein was für ein malerisches und ergötzliches Leben entwickelt sich nicht an diesem Dorfweg, namentlich am Morgen, wenn die Fremden nach den Gletschern und Bergen ausschwärmen, und am Abend, wenn sie wiederkehren und jeder „Eiszapfen“ von Engländerin warm erscheint im Schimmer der Blumen, die sie vor sich auf das Maultier geladen hat!
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Da kommen Fexen des Bergsports, die in einigen Wochen alle Spitzen der Umgegend von Zermatt mit Beil, Seil und Rucksack erklettern. Wie erbarmungswürdig sehen sie aus: geschwollene, mit Blasen bedeckte Gesichter, rotunterlaufene Augen, dicke aufgesprungene Lippen. Einer hat gar ein Antlitz wie Töpferglasur, tiefe Löcher und Narben, so daß man ihn auf den ersten Blick für einen bemalten Cirkusclown halten könnte. So wütet die Hochgebirgssonne in den Gesichtern. Und doch, wer versagt den Gezeichneten des Hochgebirges, die mit versengten Wangen und abgerissenen Kleidern ins Dorf einziehen, während sie neue Pläne für die folgenden Tage aushecken, einen achtungsvollen Gruß?
Am allerwenigsten die Damen, jede schwärmt für die Bergsteiger ihrer Nationalität, die deutsche für die deutschen, die Engländerin für die ihrigen. Und wie reizend entfaltet sich unter der südlichen Sonne, in der prickelnden Luft Zermatts, die auf alle Wangen Rosen zaubert, das Damenleben selbst, wenn ein Reiterinnenzug junger Mädchen mit Bergstöcken, wehenden Schleiern, kirschroten Shawls schäkernd und scherzend herniedersteigt, als kämen sieghafte Amazonen heim von kühnem Zug.
Ebenso merkwürdige Gestalten wie unter den Fremden findet man unter den Bergführern und Trägern von Zermatt. (Vgl. Abbildung S. 456.) Sie lehnen, Edelweiß oder Auerhahnfedern auf den Hüten, an einer niedrigen Gartenmauer und blinzeln gemütlich schlau nach den Touristen, die vorüberwandeln, doch verraten die rotbronzenen schlichten Gesichter mit keinem Zug, was das Herz dabei denkt, im Gegenteil; über dem Bild liegt die Stimmung der Seelenruhe, der Gleichgültigkeit ausgegossen, das Reden und Gebärdenmachen ist nicht die Sache dieses Volksschlages.
Das läßt sich verstehen. Der Erholungsreisende verlebt in Zermatt herrliche, auflachende Tage, denn er hat das tröstliche Bewußtsein, daß er mit dem nächsten besten Zug in die weite Welt hinausfahren kann, wenn ihm Zermatt verleidet ist. Die Eingeborenen aber sind unter der ewigen Drohung der Berge still und ergeben geworden. Gedämpft klingt ihr Lachen, ernst und farblos ihr Wort, es ist, als sei das Leben der Leute auf einer steten Flucht nach innen begriffen, als werde alles zu Religion.
Selten geht ein Zermatter oder eine Zermatterin ohne Aufenthalt an der alten Kirche vorbei, die mit schlankem Turm mitten im Dorfe steht. Ehe der Führer zu Berge steigt, will er ein Ave beten und auf der Heimkehr ist’s nicht anders. Immer liegen vor dem Dorfaltar Andächtige auf den Knieen.
Wo läge aber auch ein Kirchhof, der mit seinen Kränzen und Steinen so schwermütig redete wie der von Zermatt? Da ruhen unter flatternden Rosen und wuchernden Nelken die Opfer des Matterhorns und seiner Nachbarn. Einheimische und Fremde, die mit dem Ruhm des Unglücks in den Jahrbüchern fortleben. Kein Dorf hat eine größere Chronik von Katastrophen als Zermatt. Die Zermatter tragen daran keine Schuld, sie haben vielmehr in einem halben Jahrhundert und in einer Menge von Unglücksfällen den Ruf blank bewahrt, die ersten, treuesten Bergführer der Welt zu sein.
Die Besteigung der Berge von Zermatt ist übrigens unter tüchtiger Führung keineswegs so überaus gefährlich, wie man nach den Unglücksfällen, die den Namen des Thales Jahr um Jahr in die europäische Presse bringen, schließen kann, sondern die meisten jener erschütternden Katastrophen ereignen sich entweder bei führerlosen Unternehmungen oder an jenen tollkühnen Abenteurern, die immer noch neue Wege auf längsterstiegene Gipfel suchen. Und endlich fällt ein nicht kleiner Teil der Opfer von Zermatt auf piemontesische Auswanderer, die ohne Führung den nächsten Weg über die Gletscher nach der Schweiz suchen.
Gewiß ist, daß man in Zermatt, wo getriebene, zum Teil von den Gasthöfen gut unterhaltene Wege bis in die Region ewigen Schnees, bis in Höhen von dreitausend Metern führen, einen ganzen Sommer lang genußvolle Ausflüge unternehmen kann, ohne sich in Gefahr zu begeben.
Der klassische Spaziergang des Dorfes ist der Besuch der Gornerschlucht, der klassische Ausflug eine Fußtour oder ein Ritt auf den Gornergrat.
Die Gornerschlucht liegt ein halbes Stündchen hinter Zermatt bei den Hütten von Aroleid, die
[460]unter den Eisstürzen und Schuttbergen des Gornergletschers liegen. Wild, düster und schwermütig ist die Schlucht. Die grauen Wellen stürzen wild und tobend kopfüber, bäumen sich gegen die Galerien empor, gurgeln und stäuben, und in strömenden Thränen rieselt von den zerspülten Wänden der aufgewirbelte Wasserstaub in den Wildstrom zurück. Treppab, treppauf und reichlich in den Ecken herum schreitet man im Halbdunkel auf schmalen hängenden Stegen (vgl. Abbildung S. 459.), unter denen es stöhnt und dröhnt. Hoch an den Rändern der Schlucht beugen sich Arven und Lärchen mit niedergedrückten Aesten und langen Bärten, die im Luftzug schwanken, über das dämmernde Geheimnis. Ein Seufzen, ein Raunen geht durch die Felsen, als ob verlorene Stimmen uns warnen möchten weiter zu gehen, als ob wir gleich an das dunkle Thor kommen müßten, hinter dem Heulen und Zähneklappern wohnt.
Plötzlich aber jubeln flammende Alpenrosen von der Höhe in den Abgrund, sie gucken in hängenden Büschen so lieb, so leichtsinnig in den Abgrund, daß man ihnen zurufen möchte: „Zurück, Kinderchen!“ Und durch das geöffnete Thor, durch einen Regenbogen, den der Wasserstaub darüber spannt, schaut der sonnenbeleuchtete blauschillernde Gletscher wie ein verzaubertes Stück Welt in die Düsternis.
Auf einer steilen Stiege klimmen wir am rechten Ufer der Visp empor und kehren durch Wald und Wiesen, die in entzückender Blumenpracht strahlen, nach Zermatt zurück.
Nun aber an einem frischen, strahlenden Alpenmorgen auf den Gornergrat, den berühmten Luginsland von Zermatt! Mit seinen 3136 Metern ist er so hoch wie der Urirotstock, der Titlis und manche andere Schneeberge der mittleren Schweiz, allein er ist bis an seine Spitze mit Grün bekleidet und auf sanftem Weg ist seine Besteigung nichts weiter als ein angenehmer Spaziergang (vgl. Abbildung S. 459) Machen wir es uns noch bequemer, reiten wir auf einem der Maultiere, deren oft fünfzig oder hundert, eines die Nüstern am Schweif des andern, sich folgen, den Berg empor! Das ist in einer so lebenslustigen Gesellschaft, wie die, die sich in Zermatt trifft, gar fröhlich und gewährt unterwegs eine Menge drolliger und ergötzlicher Scenen.
Der Lärchenwald schlägt seine Bogen über uns, ein herrlicher alter Wald, der abgelöst wird durch Arvenforste. Man muß sie bewundern, die kraftvollen gedrungenen malerischen Cedern des Hochgebirgs, die ihre Aeste zu wuchtigen Schirmen bauschen, ja eine fast wehmütige Teilnahme widmet man diesen Bäumen. Sie sterben in den Alpen aus, ihre Früchte, die süßen Zirbelnüsse, die sonst ein Leckerbissen für die Jugend der Bergdörfer waren, werden nicht mehr reif und keimen nicht mehr. Zermatt kennt sie nur noch der Sage nach.
An lichten Waldstellen und auf den Matten arbeiten die Zermatter Frauen. Während die Männer mit den Fremden über die Gletscher spazieren, besorgen sie die schwersten Geschäfte. Sie fällen die dicken Lärchen, sie schlitteln das Holz ins Thal, sie zimmern die „Wässerwasserfuhren“, sie mähen das Heu und das Wildheu an den Bergwänden und werfen die Bündel, die sie davon gesammelt haben, über die Felsabsätze ins Thal.
Auf Zickzackwegen reiten wir durch den Wald empor, er lichtet sich, zwischen den Bäumen, deren Kronen der Sturm und der Blitz zersplittert haben, schimmert auf der ersten Terrasse des Berges der Gasthof „Riffelalp“. Grenzenlos tief, doch in scharfer Sonnenbeleuchtung sehen wir unter uns Zermatt in seiner Bergspalte, und in fleckenloser Reinheit ist hinter den Vorbergen der Kranz der Schneegipfel aufgetaucht, ein drängendes Heer, das uns entgegenzukommen scheint, um das kleine Stück grüner Landschaft zu vernichten, das uns geblieben ist.
Der Wald ist unter uns, wir reiten durch einen funkelnden Teppich von Alpenblumen durch einen Farbenjubel zarter Blüten, der Auge und Sinn berauscht, am Gasthof „Riffelberg“ vorbei geht der Ritt, der Blumenfrühling erlischt neben uns, die Winde werden zudringlich und über Felsplatten, wo nur noch die Flechten spinnen, erreichen wir den Grat.
Da stehen wir nun mitten im Kreis der erhabensten Berge des Schweizerlandes. Wie ragen diese Gipfel still und feierlich in den blauen Himmel, wie reden sie von Zeit und Ewigkeit!
Ausgang für jede Betrachtung des weiten Kranzes ist das Matterhorn, das splitternackte Ungeheuer, mit dem man in Zermatt nie fertig wird. Ob sich hundert Schneeberge neben es stellen, es bleibt der Goliath unter den Däumlingen. In der Blöße seines Felsens, der kein grünes Gräschen, aber auch kaum eine klebende Schneeflocke duldet, sagt es trauernd. „Siehst du, wie arm ich bin“ und mit einem dämonischen Lächeln setzt es hinzu. „Und wie schön!“
Zwischen Matterhorn und Breithorn liegt ein breiter, blendend weißer Schneekamm, aus dem nur einige niedrige Berge ragen. Das sind die sagenumwobenen Schneefelder des Theoduls, die sich an der Stelle eines großen Dorfes dahindehnen sollen. Ueber den Theodulpaß zogen in alten Zeiten die Zermatter, um plündernd in die Städte des Piemonts einzufallen und die „Lychenbretter“, helle Felsen, die aus der weiten Schneewüste schimmern, sollen den Ort [461] einer großen Schlacht bezeichnen, wo jahrhundertelang die Gebeine der Erschlagenen dorrten.
Das Breithorn, von dem uns nur der schillernde Eisstrom der unter ihm zusammentreffenden Gletscher trennt, ist ein überaus schöner Berg, er erinnert stark an das Bild, das die „Jungfrau“ von der Wengernalp aus gewährt, auch die benachbarten „Zwillinge“ gefallen durch ihre anmutigen Gestalten; geradezu erschreckend aber wirkt der jähe Lyskamm mit seinen riesigen Eisschründen.
Monterosa, der höchste Berg der Schweiz! – Wenn man es nicht wüßte, vom bloßen Sehen hier erriete man es nicht, und wer ihn in der Morgenfrühe aus dem Marmorwald des Domes zu Mailand gesehen, wie er als duftige Burg der Rosenkönigin in überirdischer Große über einem Meer von Wolken und Nebeln schwebt, der ist enttäuscht über das plumpe, nur durch seine Massigkeit hervorragende Bild, das er vom Gornergrat gewährt. Aber großartig ist der Gornergletscher, der in machtvollem Wogenzug, ein versteinerter Strom, dem versteinerte Nebenströme zufließen von seinen Flanken niederwallt und uns hart zu Füßen zwischen Gornergrat und Breithorn, wo auch der Schwärzegletscher mündet, in das grüne Gelände von Zermatt hinunterfließt. Auf seinem Rücken trägt er den Schutt der Berge, der sich in langen Moränenhügeln sammelt, so daß es aussieht, als wäre ein Riesenpflug durch das Eis gegangen und hätte die Furchen und Hügel gezogen.
Eine gewaltige Kette von Bergen zieht sich vom Monterosa östlich gegen das Rhonethal hinaus, Cima di Jazzi, die Stock-, Strahl-, Rimpfisch- und Mischabelhörner ragen darin auf und drüben im Norden, jenseit des in seine Bergspalte versunkenen Zermatts, leuchtet wieder Gipfel an Gipfel, da streben im schönsten Aufbau Weiß-, Schall-, Trift- und Gabelhorn und die Dent blanche aus der irdischen in die himmlische Welt, und an den Nordpol mag man reisen, bis man unter stechender Sonne wieder solche Landschaften voll Schnee und Schweigen findet.
Das ist das Rundpanorama des Gornergrates. Der Blick bleibt ein verlorner Falter, der umsonst eine Blume, ein grünes Plätzchen sucht, um darauf auszuruhen von dem überschwenglichen Glanz und Licht. Eine Lücke in dieser Zackenkrone ist zwar offen, die des Zermattthals, aber an ihrem Horizont leuchten wieder nur Schneeberge, das Berner Hochmassiv mit der Blümlisalp. Nur aus wenigen Farbenelementen besteht also das Bild, aus dem tiefen Blau des südlichen Himmels, aus dem Weiß des ewigen Schnees und dem Schwarz der Felswände, die zu schroff sind, als daß der Schnee daran kleben bliebe, aber es ist feierlich und ergreifend, es ist voll überwältigender Schlummer- und Todespoesie. – Unsere obenstehende Abbildung zeigt uns einen Teil dieser erhabenen Hochgebirgswelt. Links im Vordergrunde sehen wir den Schwärzegletscher, weiter nach rechts erhebt sich das Breithorn, von dem der Breithorngletscher herabfließt. Die Mitte des Bildes nimmt der Theodulpaß ein, von dem links der Untere und rechts der Obere Theodulgletscher herabkommen, noch weiter rechts ragt das Matterhorn empor, während den Abschluß des Bildes die Spitze von Dent blanche bildet.
Die meisten Fremden jubeln auf, wenn sie in dieses Bild schauen, eine Stunde auf dem Gornergrat ist ihnen wie Gottesdienst – der Zermatter aber genießt es still. Gewiß, er liebt seine Berge, aber größer als seine Liebe ist seine scheue Furcht vor ihnen, denn er kennt sie nicht nur im Strahlengeschmeide eines schönen Sommertages, sondern auch im Schrecken ihrer Lawinen.
Die Glocken der Mutterkirche im Thal, die sieben Kapellen auf den Zermatter Alpen hören dann tagelang nicht auf zu wimmern, in Tiefen und Höhen liegt das Volk auf den Knieen und fleht zum Himmel, daß er es nicht untergehen lasse.
Darum kann sich der Zermatter kaum fassen, wenn er in die üppigen mannigfaltigen Thäler der mittleren Schweiz mit ihrer reichen Kultur, mit ihrem frohsinnigen Volksleben gelangt. Auf dem Bürgenstock am Vierwaldstättersee sah ich einen rauhen Zermatter Bergführer weinen. Als man ihn fragte, ob er Bauchgrimmen habe, daß er sich so im Gras wälze, da antwortete er: „Nein, ich heule, weil hier die Welt so schön ist und bei uns so traurig.“
In der That, wer von draußen gekommen ist, der würde es nicht länger als einen Sommer in Zermatt aushalten. Aufschreien müßte er: „Sprengt mir diese Hölle, wälzt mir die Berge von der Brust, gebt mir eine lachende Landschaft, einen weiten Horizont! Aber das ist auch gewiß. wer sich satt gesehen hat an Schweizerbergen, wer sich gewöhnt hat, Rigi und Pilatus als Miniaturwerk zu betrachten, wer die Berge von Grindelwald und Lauterbrunnen nicht mehr hoch genug findet, den ergreift doch noch einmal naives Staunen, ehrfürchtige Bewunderung vor der Erhabenheit des Hochgebirgs, wenn er der unbändigen Wildheit, der gesammelten Kraft der Berge gegenübersteht die wie Raubtiere in Schönheit und Erbarmungslosigkeit das Thal von Zermatt und seine Warte, den Gornergrat, umlauern.
Wir sind hier im Allerheiligsten der Alpen. Auge in Auge mit dem Löwen von Zermatt, mit dem Matterhorn – Größeres kann man in den Schweizerbergen nicht erleben!