Zum Inhalt springen

Die Hexe von Glaustädt

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
>>>
Autor: Ernst Eckstein
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Hexe von Glaustädt
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 20–37, S. 325–330, 341–347, 357–362, 373–376, 389–394, 409–416, 429–435, 449–455, 469–475, 485–490, 501–507, 528–531, 544–547, 557–560, 576–579, 587–592, 607–611, 623–627
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[325]

Die Hexe von Glaustädt.

Roman von Ernst Eckstein.
1.

Am Ufer der Grossach, die das Glaustädter Weichbild nach Süden und Westen zu einfriedigt, standen ums Jahr 1680 vier oder fünf Landhäuser mit schönen baumreichen Zier- und Gemüsegärten. Das kleinste von diesen Landhäusern war seit vorigem Herbst Eigentum des gelehrten Magisters Doktor Franz Engelbert Leuthold, der, aus Glaustädt gebürtig, lange Zeit als Professor der griechischen und lateinischen Sprache an der Hochschule von Wittenberg Ruhm und Ehren gesammelt hatte, bis eine Meinungsverschiedenheit mit zwei ungestümen Kollegen ihm den Wunsch weckte, die neuerdings dornenvolle akademische Lehrthätigkeit aufzugeben und sich zu stillerem Dienste der Musen in seiner alten unvergessenen Heimat ansässig zu machen. Er wohnte jetzt hier mit seiner einzigen Tochter Hildegard und der ehrsamen Wirtschafterin Gertrud Hegreiner, die noch in Wittenberg zu Lebzeiten seiner verstorbenen Frau als Haushelferin bei ihm dienstbar gewesen und sich dann später an der Erziehung des Kindes redlich und mit gutem Erfolge beteiligt hatte.

Es war gegen Ende Mai, zwischen fünf und sechs Uhr nachmittags. Die braungetäfelte Eckstube des Obergeschosses lag jetzt völlig im Schatten. Auf dem Eichenholzstuhl in der östlichen Fensternische saß die neunzehnjährige Hildegard Leuthold und drehte mit ihren rosigen Fingern den Faden eines lustig schnurrenden Spinnrads. Sie trug ein eng anschließendes hellblaues Wollkleid und eine schmale hellblaue Sammethaube. Unter der Sammethaube quoll reiches, lichtbraunes, welliges Haar hervor, das in zwei langen prächtigen Zöpfen schwer über den Rücken fiel. Glaustädt wußte noch nichts von der phantastischen Unnatur, die jenseit der Reichsgrenze jetzt eben anfing, in turmhohen Frisuren, panzerähnlichen Miedern und bauschigen Reifröcken zu schwelgen. Dank der unnachsichtlich gehandhabten Kleiderordnung des Magistrats herrschte in Glaustädt auf diesem Gebiet ein altfränkischer, konservativer Geist, der unzweifelhaft dem Anmutigen und Malerischen zu gute kam.

Um Hildegard Leuthold herum saßen auf niedrigen Holzschemeln drei Kinder im Alter von sechs bis acht Jahren, zwei freundliche flachsblonde Mädchen und ein starker, pausbackiger [326] Knabe mit schwarzem Kraushaar und schalkhaften Blitzaugen. Hildegard hatte sich in den Familien der armen Kleinbürger und Handwerker, denen sie oft genug Gaben der Mildthätigkeit und Barmherzigkeit austeilte, just diese drei Lieblinge gewählt, um sie aus ganz besonderer Gunst und Freundschaft im Rechnen, Lesen und Schreiben zu unterrichten. Das machte ihr großen Spaß, und die Kleinen quälten sich gern und eifrig, da Fräulein Hildegard niemals in Zorn geriet, wohl aber stets nach Schluß der Lektion eine Geschichte dreingab, wundersam und erbaulich zu hören.

Auch jetzt war sie dabei, den Kindern eine „prachtvolle Mär“ zu erzählen und zwar die ewig junge Geschichte von dem verzauberten Dornröschen. Lore, die Tochter des Schuhflickers aus der Weylgasse, hatte den Schemel ganz dicht zu dem Fräulein herangerückt und schmiegte sich selbstvergessen und zutraulich an ihr Knie, während Rottmüllers Dorothea, die Hände im Schoß gefaltet, keinen Blick von dem lieblichen Mund verwandte, der so reizvoll und lebenswahr schilderte. Florian, der Sohn des Waldhüters, war vollends im neunten Himmel. Sein hübsches, offenes Gesicht glühte. Er hielt den Rand seiner Schreibtafel krampfhaft umklammert und lauschte wie ein Verzückter.

Als Hildegard schwieg, that er einen beklommenen Atemzug, legte die Tafel weg und sagte mit seltsam bewegter Stimme:

„So Schönes hast du noch nie erzählt. Das ist hundert mal herrlicher als die Geschichte vom wilden Schwan oder vom Däumling.

Dann fuhr er mit ernsthaft wichtiger Miene fort:

„Weißt du auch, was ich jetzt denke? Das Dornröschen muß genau so ausgesehen haben wie du! Die nämlichen langen Zöpfe, das gleiche liebe Gesicht, und so leuchtende Augen!“

„Ach? Leuchten die wirklich?“ scherzte das Fräulein und strich dem begeisterten Buben über den Lockenkopf.

„Wundervoll!“ beteuerte Florian.

„Nun, das macht wohl die Freude. Ich freue mich nämlich über die Maßen, wenn ihr so aufmerksam zuhört und so verständig lernt. Fahrt nur so fort! Dann erzähl’ ich euch nächstens was ganz Absonderliches, die Geschichte von der Entdeckung Amerikas.

„Die kenn ich!“ versetzte Lore, die Tochter des Schuhflickers. „Aber das macht nichts! Wenn du was erzählst, dann klingt das viel schöner als von dem alten Großohm. Der hustet immer und weiß manchmal auch nicht weiter.

Rottmüllers Dorothea und der lebhafte Florian bestürmten jetzt Hildegard mit allerlei Fragen: Wie war das mit den zwölf weisen Frauen? Wohnten die auch in der Stadt, wo der König mit seiner Gemahlin wohnte? Oder lebten sie über den Wolken, wie manchmal die wunderthätigen Feen in andern Geschichten? Gab es denn überhaupt Feen? Der alte Großohm der Schuhflickers-Lore hatte gesagt, das wär’ heidnischer Unsinn und man erzählte das nur zum Spaß, aber Frau Rottmüller, die Mutter der kleinen Dorothea, meinte, dergleichen wäre doch ganz wohl möglich, so gut wie es Hexen und böse Zauberer gäbe … Und das mit dem hundertjährigen Schlaf? Könnte so was in Wirklichkeit vorkommen? Und die dreizehnte Fee? Das war wohl eine richtige Unholdin, die einen Pakt mit dem Teufel hatte?

Hildegard mühte sich, der eifrigen Wißbegier der kleinen Gesellschaft thunlichst gerecht zu werden. Das war nicht ganz leicht. Jede Antwort erzeugte hier eine Gegenfrage, die mitunter auf ein ganz anderes Gebiet übersprang. Hildegard aber verstand es, die wirr durcheinander fliegenden Einfälle immer wieder zu ordnen.

Sie hatte bis jetzt mit kurzen Unterbrechungen weitergesponnen. Nun aber schob sie das Spinnrad beiseite. Die Spindel war voll, und das immer lebhafter werdende Frage- und Antwortspiel mit den Kindern nahm sie ausschließlich in Anspruch. Die Schuhflickerstochter aus der Weylgasse kletterte ihr auf den Schoß und legte ihr zärtlich den rechten Arm um den Hals, was Florian, der Sohn des Waldhüters, von seinem Holzschemel aus nicht ganz ohne Neid beobachtete. Rottmüllers Dorothea hatte sich gleichfalls erhoben und schwatzte nun von den dreien am lautesten.

Mitten in dieses bewegliche Hin und Her trat urplötzlich die kurze, beleibte Gestalt der Wirtschafterin Gertrud Hegreiner. Sie trug eine schneeweiße Flügelhaube, die nur einen schmalen Streifen des dünnen Haupthaars freiließ, ein schwarzbraunes, nicht sehr kleidsames Gewand und am Gürtel einen schwerklirrenden Schlüsselring.

„Verzeiht!“ sprach sie zu Hildegard. „Viermal hab ich gepocht. Aber die Kinder da machen so einen Sündenlärm! Schlimmer als im Zigeunerlager!“

Die sonst so gutmütige Gertrud Hegreiner warf dem schwatzhaften jungen Volk, das sich so keck und vertraulich zu dem Fräulein herandrängte, einen recht feindseligen Blick zu. Sie konnte die drei nicht leiden. Denn erstens liebte sie selber die Tochter ihres würdigen Brotherrn abgöttisch und witterte mit leichtverletzlicher Eifersucht überall Nebenbuhler. Zweitens war sie der kleinlichen Ansicht, die vornehme Hildegard mit ihrem adligen Auftreten und ihrer glänzenden Bildung vergebe sich was, wenn sie den Kindern so untergeordneter Leute Unterricht im Schreiben und Lesen erteile. Und drittens schien ihr wenigstens Florian, der blitzäugige Bube des Waldhüters, dringend verdächtig, ein Schalk und ein nichtsnutziger Spötter zu sein, der vor dem Anblick der schneeigen Flügelhaube und dem Geklirre des Schlüsselbundes nicht den wünschenswerten Respekt fühlte. Ihr Mißtrauen hatte sich namhaft gesteigert, seit sie letzthin beim Schlafengehen auf der Matratze ihres jungfräulichen Lagers steinharte Erbsen entdeckt hatte, die nur Florian dort heimtückischerweise versteckt haben konnte. Gertrud Hegreiner begriff nicht, daß Hildegard Leuthold gerade an diesem gottlosen Bengel ein so großes Gefallen fand. Er lernte ja leicht, das stand so weit richtig, und behielt sogar die schwerem lateinischen Wörter, die ihn Hildegard neuerdings probeweise gelehrt hatte, aber das wog doch nicht den Mangel an Erziehung und die arge Respektlosigkeit auf, die schon am Ausdruck seines ewig lachenden und manchmal recht perfid blinzelnden Angesichts lag. Bei diesem garstigen Buben konnte sich Gertrud auf noch weit Schlimmeres gefaßt machen, als auf steinharte Erbsen.

Die ehrsame Wirtschafterin hatte also in etwas gereiztem Tone den Sündenlärm der drei Kinder mit dem wüsten Getreibe eines Zigeunerlagers verglichen. Hildegard aber nahm sich sofort ihrer Schützlinge an.

„I, was wollt Ihr?“ sagte sie lächelnd. „Daran müßt Ihr Euch halt gewöhnen! Die kleinen Schelme sind hier ja nicht im Kloster! Mich für mein Teil freut’s, wenn sie alles recht lebhaft und frisch auffassen. Und Ihr selbst seid ja doch sonst keine Kopfhängerin!“

„Wohl! Aber alles mit Maß und Ziel! Ich denke so manchmal, ob’s den Herrn Vater nicht stört, wenn er da drüben bei seinen Folianten sitzt?“

„Ach, die Kinderstimmen! Die dringen doch nicht bis hinüber ins Arbeitszimmer! Geht, liebe Gertrud! Ihr habt wohl vergessen, wie laut wir beide zusammen gesungen haben, als ich noch klein war. ‚Komm, Trost der Nacht, o Nachtigall’ und ‚Brause, du Sturm!’ und zwanzigerlei an einem Vormittag!“

„Ja, damals …“

„Streiten wir nicht! Sagt, was es giebt! Denn Ihr wolltet doch was?“

„Freilich. Die Fronbäuerin ist da, die von Lynndorf. Ihr hättet sie herbestellt. Zwar auf gestern. Aber da konnte sie nicht, wegen der Heuernte.“

„Gut. Laßt sie nur eintreten! Ihr Kinder, lebt denn für heute wohl! Das nächste Mal, wenn ihr hübsch fleißig gewesen seid, erzähl’ ich euch wieder Was!“

Sie schob das Spinnrad mit dem rosenfarbig umbänderten Wocken beiseite, zog jedes der Kinder zu sich heran und küßte es auf die Wange. Als sie den Knaben umschlang, barg er sein aufglühendes Antlitz an ihrer Schulter und raunte voll Zärtlichkeit:

„Ach, du herzige Hildegard! Ich hab’ dich so lieb, ich möchte dich gleich zehntausendmal auf den Mund küssen!“

„Das wär’ wohl ein bißchen viel!“ sagte sie freundlich und küßte ihn noch einmal.

Die Kinder, die schon zu Anfang der Unterrichtsstunde gevespert hatten, bekamen noch jedes eine große Glaustädter Rundsemmel mit auf den Weg und wünschten nun auch der alten Wirtschafterin einen glücklichen Abend, wobei Florian eine recht sonderbare Verbeugung machte. Dann schlichen sie leise die Treppe hinunter. Hildegard hatte ihnen das oft genug eingeschärft. [327] Da draußen durften sie weder hart auftreten, noch gar schwatzen und lachen, der Herr Magister studierte! Und sie nahmen gern Rücksicht auf den Vater ihrer geliebten Hildegard, auch ohne daß Gertrud Hegreiner den drohenden Finger zu heben brauchte. Während sie froh und frisch auf die Grossachstraße hinauseilten, nahm die Wirtschafterin, immer noch etwas verstimmt, ihren Weg nach der Küche und zankte zu ihrer Erleichterung mit der Dienstmagd Therese.

Inzwischen trat die Fronbäuerin von Lynndorf schon knixend zu Hildegard in die Stube. Die etwa dreißigjährige Frau, die aber aussah wie fünfzigjährig, trug die wenig kleidsame Landestracht, den miederartigen Mutzen und die fünf oder sechs übereinandergeschachtelten Faltenröcke, die kaum bis über das Knie reichten.

„Grüß Gott, und da wär’ ich!“ sagte die Bäuerin. „Nichts für ungut!“

Sie trippelte vor, beugte sich nochmals tief und wollte Hildegards Hand küssen. Das Fräulein aber entzog sie ihr, klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter und sagte wohlwollend: „Stürzt Euch nicht weiter in Unkosten Lieselott! Und setzt Euch derweile! Ich hol’ Euch die Sachen!“

Die Bäuerin stammelte etwas wie „Schönsten Dank“, rückte sich einen der Holzschemel zurecht, ließ sich schwerfällig nieder und stützte das Kinn auf die Hand. Ihre Blicke hatten etwas Unruhiges, Angstvolles. Sie seufzte ein paarmal und griff sich dann nach dem Kopf, dessen spärlicher Haarwuchs in der Mitte des Wirbels fast nach Indianerart zusammengeflochten war. Die Glaustädter Volkssprache nannte dies rundliche Flechtwerk das Nest.

Nach kurzer Frist kam das Fräulein zurück. Sie brachte der Fronbäuerin die sich sofort erhob, ein kleines Paket, das in Leinwand geschlagen und mit hellrotem Bande verschnürt war. Das Antlitz Hildegards strahlte, wie sie der Bäuerin das Versprochene behändigte.

„Hier, Lieselott!“ sprach sie mit herzgewinnender Freundlichkeit. „Nein, bleibt nur ein Weilchen noch rasten! Der Tag ist warm, und Ihr seid wohl ermüdet. Eh’ Ihr dann geht, eßt Ihr noch drunten am Küchentisch ein Süpplein oder ein Stück Lammbraten vom Mittag. Den Pack hier laßt Ihr hübsch zu, bis Ihr daheim seid. Es sind ein paar Jäckchen darin für Euer Jüngstes – selbst genäht, Lieselott – und ein Sonntagswams für den Großen. Dazu säuberlich eingewickelt etliche Weiß-Pfennige!

„Gott verlohn’s Euch vieltausendmal! stammelte Lieselott. Sie kriegte nun wirklich die Hand des Fräuleins zu fassen und preßte sie ungestüm an die Lippen. Dann seufzte sie wieder und blickte zaghaft zu Boden.

„Was fehlt Euch nur?“ frug Hildegard teilnehmend. „Ihr gehabt Euch so merkwürdig, Lieselott!“

„Glaub’s wohl!“ versetzte die Bäuerin. „Ist mir ein schöner Schreck in die Glieder gefahren! Seit mein Jörg selig damals vom Baum fiel und das Genick brach, hat’s mich nicht wieder so angepackt und so weidlich geschüttelt!“

„Ihr macht mir ja ordentlich bange. Was gab’s denn?“

„Ach, mein gütiges Fräulein, das ist grausig zu sagen! Gestern beim Heumachen auf der Gusecker Wiese … ich zittere noch, wenn ich nur daran denke. Wir waren zu dreien – die Hampacher Käth’ und ich und der Kleinweiler. Ihr wißt doch, der Kleinweiler, das ist der Ehewirt meiner Muhme.“

„Ja, ja, Ihr habt mir von ihm erzählt.“

„Gut also! Wir drei schafften dort auf der Gusecker Wiese. Und die Hitze war schwer, und wir hatten uns abgeschanzt von früh morgens um drei und waren schier kreuzlahm. Da mag’s ja wohl sein, daß dem Kleinweiler die Geschichte zu sauer ward, noch dazu es ja Fronarbeit war und nicht für ihn selbst. Aber deswegen brauchte er doch nicht … Freilich, das war ja schon längst … Und nun bei diesem verfänglichen Anlaß ist es herausgekommen! Gott der Barmherzige steh’ uns in Gnaden bei und helfe uns allen zu einem seligen Ende! Amen!“

„Ich verstehe Euch nicht. Was that denn der Kleinweiler?“ Lieselott blickte verstört auf.

„Gotteslästerliche und sündhafte Reden hat er geführt und schandbar geflucht und wütend hinausgeschrieen: ‚Der Teufel hole das Heu!‘ Und wie das nun kaum über die Lippen war, da erhob sich ein Windstoß und führte das Heu weit hinweg in den Gusecker Bach, so daß die Hampacher Käth’ und ich dastanden wie vom Donner gerührt. Und war doch kein Wölkchen am Himmel zu sehen, und kein Sturm, weder vorher noch nachher. Da ward uns denn offenbar, daß der Kleinweiler, wie’s schon lang’ im Gerede ist, einen Pakt mit dem Bösen hat. Und diesmal hat ihn der Böse unklug verraten! Das meinte denn auch der Flurhüter, der just des Weges daher kam. Es war wie auf Kommando, der üble Wunsch – und augenblicklich das Heu fort! Der Kleinweiler selbst machte ein stierdummes Gesicht und glotzte uns an wie das leibhaftige böse Gewissen. Und der Flurhüter hat ihn denn richtig beim Glaustädter Malefikantengericht angezeigt. Heute bei grauendem Tag ist der Kleinweiler abgeholt und ins Stockhaus gebracht worden. Ach, mein gütiges Fräulein, ich sag’ Euch, die ganze Nacht über hab’ ich kein Auge zugethan! Wir sind doch mit ihm verschwägert, wenn auch nur weitläufig. So was fällt ja leider Gottes auf alle zurück, die zur Sippschaft gehören. Aber ich hab’ ihm nie recht getraut, dem Kleinweiler! Er war ja fleißig und manches gedieh ihm besser als allen Nachbarn. Jetzt weiß man’s, wem er sein Glück verdankt hat. Gott der Herr bewahre uns vor allen höllischen Anfechtungen.“

Lieselott mußte sich setzen. Die Kniee wankten ihr vor Erregung. Das Antlitz senkend, legte sie ihre bräunlichen Hände fest ineinander und murmelte ein kurzes Gebet.

Hildegard Leuthold war außerordentlich ernst geworden. Im regen Verkehr mit ihrem wackeren, verstandesscharfen und überall klarblickenden Vater hatte sie frühzeitig gelernt, den unseligen Zauberer- und Hexenwahn, der noch immer die Mehrheit der Zeitgenossen beherrschte, für das zu halten, was er in Wirklichkeit war – für ein trauriges Hirngespinst, das mit seinen uralt heidnischen Vorstellungen ebensosehr der gesunden Vernunft widersprach wie den Lehren und Anschauungen eines geläuterten Christentums. Gleichzeitig aber war sie auch zu der Erkenntnis gelangt, daß es bei der gegenwärtigen Lage der Dinge äußerst gefährlich und überdies nutzlos sei, diese Meinung in Worte zu kleiden zumal hier, unter dem Scepter des Landgrafen Otto von Glaustädt-Lich, der sich vollständig im Bann dieser verderblichen Zeitkrankheit befand und, von dem Hofmarschall Benno von Treysa und dem Geheimsekretär Schenck von der Wehlen beeinflußt, das Gelübde gethan hatte, das Hexen- und Zauberwesen in seinem Lande um jeden Preis mit Stumpf und Stiel auszurotten. Dies Bestreben des ehrlichen, aber beschränkten Fürsten war seit etwa sechs Monaten für Glaustädt – das größte Gemeinwesen der Landgrafschaft, das die landgräfliche Residenz Lich an Ausdehnung weit übertraf – ganz besonders lebhaft zu Tage getreten. Während bis dahin die einschlägigen Fälle vor dem gewöhnlichen Tribunal, dem Glaustädter Stadtgericht, zur Verhandlung gekommen waren, hatte der Landgraf seit vorigem Spätherbst einen bereits in anderen Staaten vielfach erprobten Hexenverfolger, den weit und breit gefürchteten Balthasar Noß, beauftragt, in Glaustädt einen besonderen Malefikantengerichtshof ins Dasein zu rufen. Dieser Gerichtshof, mit allen erdenklichen Machtvollkommenheiten und Privilegien ausgerüstet, arbeitete so streng und so grausam, daß man nachgerade von einer Art Schreckensherrschaft des Balthasar Noß reden konnte. Jedenfalls war es nicht ratsam, die Maßnahmen und Urteile des Blutgerichtes irgendwie zu bemängeln oder auch nur im allgemeinen die leisesten Zweifel an der Berechtigung des Hexenprozesses zu äußern. Beides hätte unfehlbar die peinlichsten Folgen nach sich gezogen. Man entsetzte sich nur im engsten Kreise, tadelte, wo man der Gleichgesinntheit und der strengsten Verschwiegenheit unbedingt sicher war, und hielt im übrigen an dem Grundsatz fest, im Zwiegespräch mit Fremden und Fernerstehenden die hier einschlägigen Fragen niemals zu streifen.

So unmittelbar wie jetzt war der Irrwahn des Zauber- und Hexenwesens niemals an Hildegard Leuthold herangetreten. Eine Sekunde lang kämpfte sie. Schon lag ihr ein Wort auf der Zunge, das die thörichte Fronbäuerin wahrscheinlich mit zagendem Grausen erfüllt haben würde. Aber zur rechten Zeit noch besann sie sich. Aendern konnte sie an dem Verhängnis, das den Kleinweiler so jählings ereilt hatte, doch nichts. Es wäre sonach der barste Wahnwitz gewesen, diesem abergläubischen [328] Weiblein gegenüber Anschauungen zu offenbaren, die möglicherweise auf dem geradesten Wege vors Tribunal führen konnten. Sie erinnerte sich der Mahnsprüche ihres Vaters, der oft genug am Schluß einer bewegten Erörterung gesagt hattet „Wahre dich, Hildegard, und hüte dir allzeit die Zunge! Noch ist der Tag nicht gekommen, da unsereins frei reden darf, wie’s ihm zu Mute ist! Aber die Morgenröte wird aufdämmern trotz aller Finsternis. Bis dahin heißt es dulden und harren!

„Lieselott,“ sagte sie endlich, „Ihr müßt nicht gleich so das Schlimmste denken! Vielleicht stellt sich trotz allem heraus, daß der Kleinweiler in der Hauptsache unschuldig ist. Die Redensart, die er gebraucht hat, widerspricht wohl dem zweiten Gebot, aber, du lieber Himmel, wir sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms … Deshalb muß er noch lange kein Zauberer und Verleugner des Herrn sein. Die Ungeduld und der Zorn reißen den besten Menschen oft hin …“

„Aber das mit dem Windstoß! Das mit dem Windstoß! Ich sag’ Euch, mein herzliebes Fräulein, wie auf Kommando!“

„Ja, das ist wohl befremdlich und mag Euch von Grund auf verblüfft haben. Indessen – wenn sonst nichts wider ihn vorliegt … Der Zufall spielt ja im Leben oft wunderbar. Vielleicht war es auch eine Fügung des Himmels, der Euch und dem Kleinweiler zeigen wollte, solch übles Gefluche sei ihm allwege ein Greuel. Hört nur jetzt beileibe nicht gar zu viel auf das, was die Leute reden! Wenn einer im Unglück ist, nachher giebt’s immer Kluge und Ueberkluge die alles voraus gewußt haben.“

„Das kann ja wohl sein,“ versetzte die Fronbäuerin nachdenklich.

„Und wenn Ihr befragt werdet,“ fügte das Fräulein hinzu, „dann dürft Ihr erst recht nichts aussagen, was Ihr nicht ganz bestimmt wißt. Haltet nur streng an der einfachen Wahrheit fest und vertraut auf Gott. Wer weiß, wie bald sie den Mann wieder herausgeben? Kopf hoch, Lieselott!“

Hildegard, von dem Bedürfnis gedrängt, der Fronbäuerin etwas Mut einzusprechen, redete eigentlich neben dem Herzen her. Sie glaubte selbst nicht daran, daß der Prozeß vor dem Glaustädter Malefikantengericht die Schuldlosigkeit des verhafteten Bauern ergeben würde. Seit Balthasar Noß hier den Vorsitz führte, war eine Freisprechung oder gar eine Entlassung beim ersten Verhör noch nicht vorgekommen. Die gräßliche Praxis der Folter, die nirgends so zur Vollendung gediehen war wie bei den Hexenprozessen, sorgte dafür, daß die Gepeinigten alles, auch das Absurdeste, eingestanden, was die Blutrichter den unglücklichen Opfern aufhalsten. Und wenn wirklich einmal eine heldenhafte Natur von übermenschlicher Seelenstärke der unsäglichen Qual widerstand, so war es der Teufel, der dem Gemarterten diese Kraft verlieh, und gerade die Standhaftigkeit galt nun als Schuldbeweis. Verurteilt wurde auf jeden Fall, der Bußfertige wie der Unbußfertige, nur mit dem Unterschiede, daß Balthasar Noß die Bußfertigen erst mit dem Schwerte richten und dann verbrennen, die Unbußfertigen aber lebendig dem Holzstoße überantworten oder, wie der fachmännische Ausdruck lautete, einäschern ließ.

Lieselott spürte bei dem freundlichen Zuspruch Hildegards wirklich eine Art von Erleichterung. Man konnte nicht wissen … Gestern freilich hätte sie drauf geschworen … Und das war zu merkwürdig mit dem plötzlich daherbrausenden Windstoß. Indessen, was ein so vornehmes, kluges, gelehrtes Fräulein sagte, das schwebte doch wohl auch nicht so ganz in der Luft. Lieselott wollte jedenfalls abwarten, eh’ sie sich vollständig ihrem Gram überließ. Dazu war immer noch Zeit, und jetzt hatte sie vorläufig auch an sich selber zu denken, an die Schulden, die sie bezahlen, an die Kinder, die sie neu kleiden wollte. Für beides hatte das Fräulein so grundgütig gesorgt. Ach ja, das war ein leibhaftiger Engel, dem man sein Leid nur zu klagen brauchte, dann schaffte sie Abhilfe. Und so einfach war sie dabei, so natürlich und freundschaftlich, als wären die armen Fronbauern von Lynndorf recht ihresgleichen!

„Gott segne Euch!“ sagte das Weiblein und nahm ihren Pack unter den Arm. „Auch für die schönen tröstlichen Worte von wegen des Kleinweiler. Und nun will ich Euch weiter nicht aufhalten.“

„Gehabt Euch wohl! Und geht zur Theres’ in die Küche, die weiß schon Bescheid! Auf glückliches Wiedersehen!“

Während die Bäuerin nach dem Erdgeschoß trippelte, um sich vom Küchenmädchen den zugesagten Imbiß reichen zu lassen, stand Hildegard einen Augenblick nachdenklich am Fenster. Vom Turm der alten Marienkirche bliesen die Stadtpfeifer und Zinkenisten jetzt eben in langgezogenen Tönen feierlich den Sechsuhrchoral, die schöne Weise des Lutherschen Kernliedes: „Ein’ feste Burg ist unser Gott.“ Das Unheil, das dem fleißigen, braven Kleinweiler widerfahren war, und die gemeinsame Not aller Bürger von Glaustädt, wie sie in diesem einzelnen schier unglaublichen Falle so vorbildlich zum Ausdruck gelangte, hatte das weiche Gemüt des jungen Mädchens schwermütig gestimmt. Aber der Mensch gewöhnt sich an alles, auch an den Jammer einer bedrohlichen Schreckensherrschaft. Das Alltägliche stumpft uns ab. Auch Hildegard Leuthold hing nicht lange den Kopf. Sie war neunzehn Jahre alt und blühend und lebenslustig. Als die Klänge des schönen Chorals verstummt waren, holte sie tief Atem und zuckte die Achseln. Wie Gott will! dachte sie mit der frohen Leichtblütigkeit der Jugend. Und wieder entsann sie sich der Trostesworte ihres geliebten Vaters: „Die Morgenröte wird aufdämmern, trotz aller Finsternis“. Sollte sie sich bis dahin ihr junges Leben vergällen lassen durch Dinge, die sie mit aller Kraft ihres Willens nicht bessern konnte?

2.

Als die Fronbäuerin, die sich vom Hausmädchen ihr Stücklein Braten hatte einwickeln lassen, rüstig über die Grossachbrücke dahinschritt, um jenseit des Flusses ihr heimatliches Dorf zu erreichen, nahm Hildegard aus der bläuliche Thonvase am Fensterbrett einige Maiblumen, steckte sie vor den Busen und ging dann hinüber nach dem Studiergemach, wo der weiland kursächsische Hochschullehrer Magister und Doktor Franz Engelbert Leuthold vor seinem wuchtigen Schreibtisch saß und, über ein stattliches Druckwerk in Großquart gebeugt, mit der sonst knirschenden Gänsefeder allerlei wissenschaftliche Auszüge und Notizen schrieb. Es war eine holländische Prachtausgabe des Marcus Valerius Martialis, die von kurzem in Leyden erschienen war und wegen verschiedener textlicher Ungenauigkeiten das kritische Mißvergnügen des Herrn Magisters herausforderte. Er selbst plante für nächstes Jahr eine gereinigte Neuausgabe des geistvollen Epigrammendichters und wollte in seiner lateinischen Vorrede dem wohlmeinenden Leser scharf auseinandersetzen, wie handgreiflich die so prunkvoll auftretende Leydner Ausgabe geirrt und somit eigentlich den Zweck einer derartigen Publikation miserabiliter verfehlt habe.

Hildegard klinkte vorsichtig auf, spähte hinein und wartete ein paar Augenblicke, ob der vertiefte Schreiber da in dem gerundeten Lehnstuhl sich nicht etwa umschauen würde. Da er sich aber nicht rührte, trat sie behutsam näher und fragte mit ihrer helltönigen Schmeichelstimme: „Macht Ihr nicht bald ein Ende, Vater? Der Abend ist herrlich.“

Franz Engelbert Leuthold wandte den Kopf.

„Nein, Kind,“ versetzte er freundlich. „Diesmal mußt du dich schon mit der Gertrud Hegreinerin begnügen.“

Hildegard umschlang ihren Vater zärtlich und strich ihm das halb schon ergraute Haar aus der Stirn.

„Wirklich? Hat es denn gar solche Eile mit Eurem garstigen Epigrammendichter, den ein sittsames junges Mädchen nicht einmal lesen darf? Geht! Reißt Euch für heute doch los!“

„Unmöglich, mein Liebling! Ich bin jetzt gerade so mitten drin – und überdies einem Problem auf der Spur – ich sage dir, äußerst merkwürdig! Wenn ich da erst mal den Faden verliere … Was man nicht gleich beim Schopf nimmt, das entschwindet uns oft für immer. Geh’ in den Garten, Liebling! Oder auch meinetwegen ein Stückchen nach Grossheim zu. Die Landstraße ist ja noch leidlich belebt.“

„Wie schade!“ rief sie, die Lippen ein wenig aufwerfend. „Ich geh’ nun so über die Maßen gerne mit Euch! Die Gertrud langweilt mich bei all’ ihrer Güte, und das Alleinlaufen … Aber Ihr sollt’s noch einsehn, Vater, Ihr thut Euch zu viel!“

„Ich fürchte das nicht. Diese Ausgabe des Martialis macht mir die größte Freude. Und was der Mensch so mit voller Lust thut, das geht wie von selbst. So, nun laß mich allein! Heut abend plaudern wir noch ein Stündchen. Ich erzähl’ dir dann [330] wieder etwas von der schier ergötzlichen Dummheit meines Leydner Kollegen!“

„Ich freu’ mich darauf,“ lachte das junge Mädchen. „Und seid mir nicht böse, wenn ich Euch jetzt in die Quere kam!“

„Böse? Kann man dir böse sein? Das wär’ ja nicht anders, als wollt’ ich dem Sonnenschein zürnen, der mir ins Zimmer lugt! Du hast’s gut gemeint, diesmal wie immer! Uebrigens – laß dich ’mal anschauen! Das blaue Gewand steht dir entzückend. Und hier die Maiblumen! Du hast recht, wenn du dich hübsch machst! Wäre ich ein Jüngling im sechsten Lustrum, und nicht dein alter vierundfünfzigjähriger Vater …“

„Ihr verderbt mich noch!“ rief sie errötend. „Also auf Wiedersehn! Das wird wohl heute ein spätes Nachtmahl?“

„Kann sein, Kind! Wartet nur nicht auf mich! Denn, wie gesagt …“

„O, ich warte, und wenn’s bis Neun dauert! Ohne Euch schmeckt mir ja doch kein Bissen! Mag die Gertrud allein essen!“

Sie drückte ihm einen flüchtigen Kuß auf die Stirn und überließ ihn dann wieder seinem römischen Epigrammatiker. Franz Leuthold blickte ihr glückstrahlenden Auges nach und murmelte traumverloren:

„Ganz die selige Mutter! So lieb, so klug – und so edel, schön an Seele und Leib! Gott der Allgütige nehme sie immerdar in seinen gnädigen Schutz!“

Eine Weile noch sann er. Es war, als ob die Wehmut einer teuren Erinnerung ihn überwältigt hätte. Nur zögernd beugte der ernste, mildfreundliche Kopf mit dem stattlichen dunklen Bart sich über das Buch und das halb schon beschriebene Blatt, bis dann endlich Marcus Valerius Martialis über die weichherzigen Anwandlungen des Augenblickes den Sieg davontrug.

Inzwischen war Hildegard leichten Fußes die breite Holztreppe hinuntergeeilt. Wie sie ins Freie trat, schien sie noch unschlüssig. Der gepflasterte Weg vor dem Hauseingang führte links nach dem Garten, rechts auf die Grossachstraße. Ein schweres schmiedeeisernes Thor schloß hier das Grundstück ab. Nach kurzem Besinnen wandte sich Hildegard rechts und drehte dies Thor in den Angeln.

Die Straße war staubig. Hier und da stiegen im leichten Wind grauqualmende Wirbel empor. Das lockte nicht sehr. Weiter draußen war das vielleicht noch schlimmer.

Eben wollte das Fräulein wieder das Thor schließen und kehrt machen, als ein stattlicher junger Mann in schwarzer Gelehrtentracht des Weges daher kam und mit ehrerbietigem Gruß sein sammetenes Barett lüpfte. Der junge Mann war Doktor Gustav Ambrosius, ein Glaustädter von Geburt wie Hildegards Vater. Im vorigen Jahr, kurz vor der Wiederansiedlung des Magisters, hatte er sich in Glaustädt als Arzt niedergelassen, nachdem er zu Heidelberg und Bologna mit Auszeichnung seine Examina absolviert hatte. Als Sohn einer altangesehnen Familie – von der übrigens außer ihm selbst niemand am Leben war – hatte er bei den sogenannten Geschlechtern Glaustädts, den Patriziern, Ratsherren und Großkaufleuten rasch Eingang gefunden, zumal sich der sechzigjährige Honoratiorenmedicus am Lynndorfer Steinweg mehr und mehr von der Praxis zurückhielt.

Die Beziehung zu Leutholds fußte freilich auf anderer Grundlage. Der erste Stadtpfarrer von Glaustädt, Herr Melchers, ein Jugendfreund des Magisters und gleichzeitig ein guter Bekannter des Hauses Ambrosius, hatte den jungen Arzt aus rein geselligen Gründen bei Franz Engelbert Leuthold eingeführt, weil er voraussetzte, daß die beiden klassisch gebildeten, dabei aber einem heiteren Lebensgenuß keineswegs abholden Männer trotz der Verschiedenheit ihres Alters ganz besonders einander zusagen würden. An den Verkehr mit Hildegard hatte der ernste, oft von weltflüchtigen Anwandlungen heimgesuchte Stadtpfarrer bei dieser Einführung nicht gedacht. Um so angenehmer empfand Doktor Ambrosius die unerwartete reizvolle Zugabe.

[341] Der junge Arzt kam aus dem Nachbarhaus, dem altertümlichen, burgähnlichen Bau mit dem runden Turm und dem stattlichen Wehrgang. Hier wohnte seit etlichen Jahren der Tuchkramer und Ratsherr Henrich Lotefend, der reichste Mann in der ganzen Landgrafschaft Glaustädt-Lich. Henrich Lotefend hatte sich letzthin ein Fieber geholt, das ihn mehrere Tage bettlägerig machte und anderthalb Wochen hindurch an die Stube fesselte. Jetzt war der Patient wieder so gut wie hergestellt. Doktor Ambrosius hatte ihm nur noch ein paar Verhaltungsmaßregeln für die nächste Zukunft erteilt und dann auf dem rebenumwachsenen Altan einen Krug Aßmannshäuser mit ihm auf sein ferneres Wohlergehen geleert.

Hildegard nahm es nicht unhold auf, daß Doktor Gustav Ambrosius sie ansprach und während der fünf Minuten, die er so plaudernd am Thor verblieb, das von Herrn Lotefend und mancherlei anderes erzählte. Der junge Mann, der niemals die Form verletzte und doch etwas ungewöhnlich Freies und Frisches besaß, war ihr vom ersten Tag an sympathisch gewesen. Und so stand sie ihm freundlich Rede und zierte sich nicht, obschon die rein zufällige Begegnung am Thore leicht von üblen Gevattersleuten hätte mißdeutet und verklatscht werden können.

Endlich sagte sie doch mit artigem Kopfneigen:

„Aber ich halte Euch auf. Eure Zeit ist gemessen …“

„Zu deutsch: Ihr entlaßt mich!“ scherzte der Arzt. „Ich [342] muß recht sehr um Entschuldigung bitten. Ich hätte das sehen sollen, Ihr wart im Begriff, einen Gang zu machen.“

„Anfangs, ja,“ entgegnete Hildegard. „Ich dachte ein Stücklein hinauszuwandern bis zum Grossheimer Forste. Aber wie ich den Staub sah, hab’ ich mich anders besonnen. Und wenn ich von Eurer gemessenen Zeit sprach, mein’ ich’s im Ernste. Ganz Glaustädt weiß ja, daß Ihr jetzt schier überlastet seid.“

„Freilich. Aber man gönnt sich doch auch bei Gelegenheit einen Ausspann. Nun, der heutige Tag hat allerdings noch mehrfache Anforderungen. Der Fieberfall des Herrn Lotefend ist nicht der einzige. Es liegt so was in der Luft. Darf ich Euch bitten, vielehrsame Jungfrau, mich Eurem werten Herrn Vater freundschaftlichst zu empfehlen? Und nun – ich grüße Euch!“

Er lüpfte von neuem sein dunkles Sammetbarett und bot ihr die Hand. Hildegard Leuthold schlug ohne Zimperlichkeit ein, sagte: „Vergnügten Abend!“ und drückte das schmiedeeiserne Thor langsam ins Schloß. Während Ambrosius brennenden Angesichtes stadteinwärts ging, nahm sie ihr blaues Gewand zierlich empor und schritt an der Hausthüre vorbei nach dem Garten.

Dieser Garten, zum Teil aus Nutzbeeten, zum Teil aus Parkanlagen im Stil von Versailles bestehend, umfaßte vier oder fünf Morgen Landes zwischen dem Haus und der Grossach. In seiner Mitte befand sich ein kleines Granitbecken mit zahllosen Goldfischen. Ueber die Hecke am Südrand sah man hinüber in die ähnlich hergerichteten Nachbargärten.

Dort oben auf dem rebenumrankten Altan saß noch immer der steinreiche Tuchkramer und Ratsherr Henrich Lotefend. Er grüßte herunter. Hildegard Leuthold verneigte sich. Die Leutholds hielten mit Henrich Lotefend und seiner Gattin Mechthildis freundnachbarlichen Verkehr. Hildegard fand den sechsundvierzigjährigen Mann, der so überaus launig von seinen Fahrten und Abenteuern in Frankreich, Italien und Oesterreich zu erzählen wußte, sehr unterhaltsam und fühlte sich von seiner väterlich wohlwollenden Art recht angezogen. Mehr als einmal, wenn sie den Goldfischen Futter gab oder bei ihren Beeten zu thun hatte, war der immer noch stattliche Herr langsam zur Weißdornhecke getreten, hatte ihr eine Weile nachdenklich zugeschaut und dann ein Gespräch mit ihr angeknüpft, in dessen Verlauf sie wohl ihre augenblickliche Arbeit vergaß und zutraulich näher kam. Henrich Lotefend kümmerte sich schon längst nicht mehr um sein großartig blühendes Tuchgeschäft. Er hatte nur noch den Hauptanteil am Erträgnis und lebte im übrigen ganz seinen Liebhabereien, besonders der Alchimie und der Erdkunde. Auch trieb er ausgiebige Blumenzucht, wie er denn überhaupt ein großer Freund der Natur war. Hildegard bedauerte jetzt im stillen daß der lebhafte, warmherzige Mann, der im Winter so eifrig für das Erwachen des Frühlings geschwärmt hatte, bei so herrlichem Maiwetter zur freudlosen Haft in der Krankenstube verurteilt gewesen. Eigentlich mußte sie doch den Aermsten zu seiner Wiedergenesung beglückwünschen. Jetzt eben wollte sie ihm ein artiges Wort hinaufrufen. Aber da war er bereits im Innern des Hauses verschwunden. Nun, dann morgen vielleicht!

Der halb unbewußte Entschluß, den Hildegard Leuthold vorhin schon gefaßt hatte, als sie den wirbelnden Staub der Landstraße wahrnahm, wurde jetzt ohne Verzug ausgeführt. Wenn sie hier auf der Borkenbank saß oder dort unter den Laub-Arkaden, dann konnte sie fest darauf rechnen, daß in kürzester Frist Gertrud Hegreiner mit ihrem rothbraunen Gartenspinnrad neben ihr Platz nehmen und ihr allerlei vorjammern würde über die Ungeschicklichkeit des Hausmädchens Therese oder die jüngsten Streiche des kleinen Florian. Hildegard hatte die brave Wirtschafterin ja herzlich gern, aber seit einiger Zeit war sie gegen den merkwürdigen Hauch von Kleinlichkeit und Poesielosigkeit, den Gertrud ausströmte, empfindlicher als sonst. Sie fühlte bestimmt, Gertrud Hegreiner paßte nicht recht in die Stimmung dieses wonnigen Maiabends.

Hildegard Leuthold schritt also geradeswegs auf das Ufer der Grossach zu. Die schwarzgrün gestrichene Lattenthür öffnend, stieg sie die unregelmäßigen Stufen einer bemoosten Steintreppe hinab. Hier lag an dem eisernen Ringe der Strandmauer ein zierliches Boot. Hildegard zog das Fahrzeug her, sprang elastisch hinein und löste die Kette. Dann ergriff sie die Ruder. Mit sicherer Hand trieb sie die kleine Gondel an den Landhausgärten vorüber, dem Lynndorfer Gehölz zu, wo sich die Grossach, in östlicher Richtung abbiegend, zwischen den hochragenden Stämmen uralter Eichen, Buchen und Linden verlor.

Hildegard schwelgte bei dem geruhigen Gleiten auf den hellblinkenden Flußwellen. Die Häuser da links, vom Goldglanz einer funkelnden Sonne bestrahlt, zogen dahin wie flammende Traumbilder. Hier und dort hing über die leuchtenden Strandmauern ein märchenhaft flimmernder Birkenzweig oder das üppige Blattwerk vorquellender Weinranken, die bis hinab in die Flut tauchten. Aus dem letzten der Gärten scholl fröhlicher Kinderlärm und leise Musik. Dann allmählich ward eine tiefe, heilige Stille ringsum. Es war wie die Vorahnung der nahen Waldeinsamkeit. Und nun legten sich breit die ersten Baumschatten über den Fluß. Der Forst that sich auf mit seinen hehren domartigen Wölbungen. Rechts und links wogten die Binsen oder blühten zu vielen Tausenden die Vergißmeinnichtblumen.

Durch eine Lichtung am Südufer sah man die fernen Ziegel- und Strohdächer von Lynndorf. Bläulicher Rauch kräuselte sich über den Schornsteinen. Das lag so schmuck und traulich im Sonnenschein, als gäbe es dort weder Sorge noch Elend. Hildegard dachte des unglücklichen Fronbauern, der so unerwartet sein Dörfchen am Waldesrand mit dem Kerker des Stockhauses vertauscht hatte. Tiefes Mitleid erfaßte sie und ein bängliches Weh. Dann aber schob sich das hundertjährige Eichengehölz wieder vor … mit Gewalt riß sich ihr starkes Herz von den trüben Gedanken los. Hier draußen herrschte der wahre himmlische Gottesfriede. Fort also mit aller Trübseligkeit! Der Mai war so kurz, und kurz wie der Mai war die Jugend, ja das ganze menschliche Dasein. Vita nostra brevis est – kurz ist unsre Lebenszeit – hieß es in dem schönen Studentenlied, das man dem Vater beim Abschied von Wittenberg unter den Fenstern gesungen. Sie ruderte frisch weiter, doch ohne sich anzustrengen. Das Wasser plätscherte kaum vernehmlich am Kiel, einschläfernd wie ein leise gesummtes Wiegenlied. Die Maiblumen an ihrem Busen dufteten süß, obgleich sie schon etwas die Kelche senkten. Zwei Rehe traten äsend zwischen den Hochstämmen des Ufers hervor. Beim Nahen der Gondel hoben sie langsam die feinen Köpfe und äugten wie neugierig nach dem schönen Mädchen da in dem gleitenden Fahrzeug. Aber sie flüchteten nicht.

Jetzt war Hildegard an die schönste Stelle des ganzen Flußlaufes gelangt. Die Grossach beschrieb hier abermals eine Wendung und sah daher aus wie ein stiller weltabgeschiedener Teich, vom Walde umfriedet wie eine Edelperle von ihrer Muschel. Der Platz lud unwiderstehlich zum Schwärmen und Träumen ein.

Das war heute zum erstenmal, daß Hildegard so weit ins Gehölz vordrang. Ganz hingerissen von diesem wunderherrlichen Bilde, entschloß sie sich, hier eine Weile zu rasten. Sie trieb ihren Kahn mit einem kräftigen Anprall seitwärts, so daß die Kielspitze weit am niedrigen Ufer hinanfuhr. Nachdem sie zum Ueberfluß noch die eiserne Kette um den Strunk einer abgebrochenen Weide geschlungen, streckte sie sich in der vorderen Hälfte der Gondel behaglich aus, legte die Hände unter das blaue Sammethäubchen und überließ sich im Anblick der leise bewegten Wipfel einem unsäglichen Wohlgefühl.

Zehn Minuten hatte sie so geruht, als der gedämpfte Schall heraneilender Schritte sie aus ihrer Versunkenheit aufschreckte. Sie kannte zwar keine Furcht. Wertsachen trug sie nicht bei sich. Ihr einziger Schmuck war die Handvoll Maiblumen, die ihr am Mieder dufteten. Auch galt die Umgebung Glaustädts ja seit Vernichtung der großen Räuberbande im Vogelsberg für vollständig sicher. Dennoch fuhr Hildegard Leuthold zusammen. Es kam ihr erst jetzt zum Bewußtsein, wie außerordentlich einsam es hier an den Ufern des Flüßchens war, und wie es doch immerhin möglich blieb, daß irgend ein Landstreicher diese Einsamkeit ausnutzte, um ihr mit einer trotzigen Bettelei aufdringlich zu werden. Die Verbindungsstraße der nächsten Dörfer lag weiter südwärts jenseit der Grossach, die Spaziergänger aber [343] hielten sich mehr nach der Stadt zu, im nördlichen Teil des Gehölzes, wo es gut angelegte Fußwege und ein beliebtes Wirtshaus, die sogenannte Waldschenke, gab.

Hildegard Leuthold hatte sich aufgerichtet, um nötigenfalls rasch die Kahnkette lösen und vom Ufer abstoßen zu können. Da gewahrte sie über dem Erlengebüsch den Kopf und die Brust eines vornehm gekleideten Mannes, den sie sofort als ihren Hausnachbar, den reichen Tuchkramer und Ratsherrn Henrich Lotefend erkannte. Die wohlgewachsene, breitschultrige Gestalt kam weitausschreitend daher und bekundete beim Anblick Hildegards eine freudige Ueberraschung. Lotefend trug ein kostbares violettrotes Wams vom feinsten flandrischen Tuch, mit allerlei modischen Bändern besteckt, dazu Kniehosen von dem nämlichen Stoff und blanke, schnallengeschmückte Halbschuhe. Er verbeugte sich tief, nahm den breitkrämpigen Ratsherrnhut von der Stirn und rief mit gutmütig klingendem Baß:

„Gott sei Dank, daß ich Euch endlich einhole, vielehrsames Fräulein! Von meinem Laboratorium aus gewahrte ich, wie Ihr pfeilschnell dahinfuhrt, konnte Euch aber mit Worten nicht mehr erreichen. So bin ich Euch nachgegangen. Verzeiht, aber Ihr scheint mir unvorsichtig!“

Die Art des Mannes hatte bei dieser Ansprache etwas merkwürdig Gewinnendes und Vertrauenerweckendes.

„Unvorsichtig? Weshalb?“ frug Hildegard Leuthold, ein wenig verblüfft.

„Nun, fürchtet Ihr nicht – Ihr, ein zartes und hilfloses Mägdlein – daß irgend ein Strolch und Gaudieb Euch übel zusetzen möchte, wenn Ihr so schutzlos in diese Wildnis hinausrudert? Ich weiß, Ihr liebt diese Strecke, und bisher mocht’ es auch angeh’n. Neuerdings aber zeigt sich in der Gegend von Lynndorf wieder allerlei fahrendes Volk. Zumal eine Rotte Zigeuner. Dergleichen Gesindel ist von unglaublicher Frechheit. Und Ihr, meine junge Freundin, seid nicht bewaffnet wie ich.

Er wies ihr den Griff einer schwedischen Reiterpistole, die er links in der Brusttasche trug.

Hildegard fuhr zusammen. Der Anblick der silberbeschlagenen Schußwaffe wirkte sofort auf ihre Einbildungskraft.

„Im Ernst?“ fragte sie stammelnd. „Davon wußte ich nichts.“

„Nun, der Rat macht eben kein Aufhebens davon, da die Spitzbuben noch nicht diesseit der Grossach aufgetaucht sind. Man will die Gemüter in Glaustädt nicht vor der Zeit beunruhigen. Vielleicht auch packt man sie ehestens und schiebt sie ins Dernburgsche ab. Immerhin droht Euch hier unleugbar ernste Gefahr. Bedenkt doch, wie nah’ ’s zum Gebirg ist. Wenn Euch sonst gar nichts geschähe, als daß man Euch fortschleppte, um von Eurem Herrn Vater ein tüchtiges Lösegeld zu erpressen …“

Henrich Lotefend übertrieb. Es hatte sich allerdings letzthin bei Lynndorf und Königslautern ein Trupp Zigeuner gezeigt, aber die Leute hatten den Bauern nur im Vorbeigehen etliche Hühner gestohlen und waren dann aus wohlbegründeter Furcht vor der Strenge der Glaustädter Hermandad weiter gezogen über die nahe Grenze. Nur ein sechzig- bis siebzigjähriger Nachzügler war gestern ertappt worden, wie er den Inhaber eines Gehöfts unweit von Koßwig um einen Trunk anging. Hildegard Leuthold indessen war ängstlich geworden. Seltsame Abenteuer fielen ihr bei, die Gertrud Hegreiner in der Kinderstube zu Wittenberg ihr erzählt hatte, und die lebhafte Phantasie des jungen Mädchens spann sich mit einem Male die buntesten Möglichkeiten zurecht. Es war doch ehrlich und wacker von diesem Herrn Lotefend, daß er sich ihrer Unklugheit so freundschaftlich annahm.

„Wenn ich Euch raten soll,“ fuhr der Tuchkramer nach einer Pause fort, „so bedient Ihr Euch jetzt meiner Begleitung.“

„Ja? Wollt Ihr zu mir in den Kahn?“

„Dergleichen darf ich nun leider Gottes nicht wagen. Der Arzt verbietet’s. Doktor Ambrosius hat Euch ja wohl gesagt was ich mir letzthin zugezogen. Ein bösartiges Fieber. Und abends steigen vom Wasser hier allerlei Dünste empor. Denen setzt sich ein eben Geheilter nicht so ungestraft aus. Aber Ihr könntet ja Euern Kahn getrost hier an dem Baum lassen und mit mir zu Fuß gehen. Heimlich entwendet wird Euch das Boot nicht. Das wäre doch keinem zu Nutz’. Der Dieb, der es dann führe, wäre gar leicht gegriffen.“

Der Zufall wollte, daß jetzt ein geller Pfiff durch die Luft scholl, wie wenn aus der Ferne ein Thunichtgut seinem lauernden Spießgefährten ein Zeichen giebt. Es war vielleicht ein harmloser Fuhrknecht unweit der Waldschenke, oder ein Fischer drunten am Einfluß des Glaubaches. Für Hildegard aber entschied dieser Pfiff, der ihr seltsam beängstigend auf die erregten Nerven fiel. Sie nagte ein wenig die Lippe, faßte den Weidenstumpf bei dem obersten Knorren und sprang kurz entschlossen ans Ufer.

„Ich dank’ Euch, Herr Lotefend!“ sagte sie atemholend. „Ihr mögt ja schon recht haben; wenn das Schicksal es wollte, wär’ ich da auf dem schmalen Fluß, der nicht einmal tief ist, kaum vor Angriffen sicher. Morgen schick’ ich den Gärtner und lasse das Boot heimholen. Bis dahin ruht’s ja wohl sicher. Aber das ist doch bedauerlich, daß man dies üble Vagantenvolk nicht besser im Zaume hält. Ich rudre so gern!“

„Ist auch ein wundervolles Vergnügen, zumal in der Sommerszeit. Hätt’ ich nicht mein verwünschtes Fieber gehabt …“

„Das nächste Mal fahr’ ich der alten Haardt zu. Da ist man im freien Feld, zwischen den Aeckern und Wiesen.“

„Ihr werdet wohl daran thun. Freilich, so schön wie im Lynndorfer Hochwald ist’s ja da draußen nicht. Aber das Sprichwort hat recht: Besser bewahrt als beklagt.

Hildegard schlang die Kette noch fester und schob dann die Maiblumen zurecht, die sich bei ihrem Bücken ein wenig gelöst hatten. Nun glättete sie ihr lichtblaues Gewand, hob es ein wenig und schickte sich an, dem freundlich dreinschauenden Ratsherrn zu folgen.

3.

Eine Minute lang gingen die Zwei auf dem grasüberwachsenen Uferweg nebeneinander her, ohne zu reden. Hildegard Leuthold schwieg, weil sie ernsthaft darüber nachsann, wie rasch doch in menschlichen Dingen der Umschwung eintrete. Kaum erst die schöne, vertrauensselige Ausfahrt und dann plötzlich das schnöde Gefühl der Unsicherheit und das Bewußtsein, leichtsinnig und thöricht gehandelt zu haben. Henrich Lotefend schwieg, weil ihn die Nähe des herrlichen jungen Mädchens hier in der stillen Waldeinsamkeit unwiderstehlich berauschte. Wenn Hildegard ihn besser beobachtet hätte, sie würde bemerkt haben, wie seine Faust die den langen goldknöpfigen Stock hielten, leise erbebte und nur allmählich fester und sicherer ward.

Nach einer Weile begann Herr Lotefend mit warmer, tieftöniger Stimme:

„Es ist lange schon her, vielehrsame Jungfrau, daß wir beide uns nicht gesehen haben. Ich preise es hoch, daß mich der erste Ausgang alsbald mit Euch, meiner liebwerten Freundin, zusammenführt.“

„Bin ich das wirklich?“ fragte das junge Mädchen aufblickend. „Habt Ihr Freundschaft für mich?“

„Aus tiefstem Herzen!“ beteuerte Lotefend. „Irgend ein Wesen muß doch der werbliche Mensch haben, dem er in echten selbstloser Teilnahme anhängt.“

„Wie gütig von Euch, daß Ihr mir so verschwenderisch Eure Gunst schenkt! Ich weiß gar nicht, womit ich das alles verdient habe. Indes – auch ich darf Euch bekennen, Ihr seid mir ein werter Freund und Nachbar, dem ich von Grund aus wohl will. Ja, wie soll ich nur sagen …? Ihr habt so eine kurzweilige, frische Art. Nicht so schwer und geschraubt wie andere Männer von Eurer Stellung und Eurem Lebensalter. Ich glaube, das kommt daher, weil Ihr so klug seid und so manches geschaut habt.“

„Ihr schmeichelt mir,“ sagte der Ratsherr. „Ich dünke Euch frischer und kraftvoller als andere – nicht, weil ich klüger oder erfahrener bin, sondern weil ich mir allzeit ein warmes, empfängliches Herz bewahrt habe. Die Jugendlichkeit hängt nicht von den Jahren ab. In mir lebt etwas, teure Hildegard, was mit Eurem Wesen verwandt ist. Wenn ich Euch sehe und höre, fühl’ ich mich ganz und gar wie ein junggrüner fünfundzwanzigjähriger Fant. Und – ehrlich gesagt – ich glaube jetzt fast, ich habe mich deshalb so jung erhalten, weil ich doch eigentlich niemals recht jung gewesen bin.“

Hildegard schaute verwundert in sein aufglühendes Antlitz. [346] Er schien ihr seltsam verwandelt. Die schwarzbraunen, langbewimperten Augen sprühten und funkelten.

„Ich verstehe Euch nicht“, sagte sie treuherzig.

Der Ratsherr ließ den Kopf schwer auf die Brust sinken. Bei all seiner echten und tiefen Erregung lag etwas Schauspielerisches in dieser Gebärde, eine Absichtlichkeit, die selbst der ahnungslosen Hildegard fremdartig bedünkte.

„Ja, ja“, sagte er trübselig, „Ihr kennt mich noch nicht. Weder mich, noch mein Schicksal. Ach, was gäb’ ich darum, Euch endlich einmal dies Schicksal erzählen zu dürfen! Wahrheitsgetreu, nicht so wie es die Bosheit der Neidlinge und Verleumder entstellt“.

Der Weg hatte sich einige Ellen weit von dem Flußlauf entfernt. Rechts im Dickicht lag ein gefällter Eichenstamm.

„Ich bin doch etwas ermüdet,“ fuhr der Tuchkrämer fort. „So es Euch recht ist, ruh’n wir uns hier ein paar Minuten lang aus. Wir kommen ja immer noch reichlich vor Dunkel heim.

„Wenn Ihr meint …“

„Ich wär’ Euch zu Dank verpflichtet. Das böse Fieber nimmt auch den Rüstigsten mit. Und heut’ ist mein erster Ausgang.“

Sie setzten sich.

„Ja, vielteure Freundin,“ hub Lotefend an, „ich muß Euch von neuem betonen, wie es mir wohlthut, endlich einmal wieder Euch nahe zu sein. Ihr habt mich ja schier versterben lassen, ohne Euch um den Siechen zu kümmern.“

„Da irrt Ihr Euch nun. Mehrfach hat man zu Euch hinübergeschickt und sich erkundigt. Auch hörten wir ja von Doktor Ambrosius, daß Ihr nach kurzer Frist außer Gefahr kamt. Uebrigens hätt’ ich Eurer liebwerten Gemahlin gern einmal selbst aufgewartet, aber mein Vater verbot es. Ihm bangte vor der Möglichkeit einer Ansteckung. Ihr wißt ja, wie zärtlich er für sein Kind sorgt!“

„Das bedachte ich nicht. Euer verehrungswürdiger Vater hat recht, wenn er ein solches Kleinod hütet wie seinen Augapfel. Hätt’ ich das Glück, eine Tochter wie Euch zu besitzen oder gar solch’ ein Eheweib, ich wäre genau so.

Schweigend blickte er eine Zeit lang zu Boden, während die staunende Hildegard mit dem halbdürren Laub eines heruntergebrochenen Astes spielte. Dann plötzlich fuhr er mit unheimlich raunender Stimme fort.

„Wie Ihr mich seht, Hildegard, bin ich der trostloseste Mensch unter der Sonne.“

„Sprecht Ihr im Ernste?“

„Wie sonst? Warum fragt Ihr?“

„Nun, bis jetzt hatte ich just den entgegengesetzten Eindruck. Ich sagt’ Euch ja schon vorhin, allezeit fand ich Euch fröhlich und aufgeräumt.“

„Ja, bei Euch, im Haus Eures Herrn Vaters oder sonst in Gesellschaft. Das hindert nicht, daß ich daheim in meinen vier Pfählen tiefunglücklich bin. Teure Hildegard! Ihr seid jung wie ein Maitag, und die Welt steht Euch offen. Ihr ahnt nicht, was das heißen will, ein ödes, verfehltes Leben.“

„Aber ich bitte Euch! Ihr, Ihr hättet Euer Leben verfehlt? Der reichste und angesehenste Kramer von Glaustädt, dem alles auf Erden vollauf nach Wunsch gediehen, der einflußreiche, geachtete Ratsherr …“

„Das Aeußere thut’s nicht allein. Ich gleiche dem Vogel im vergoldeten Käfig. Die innere Qual übersteigt jede Beschreibung.“

Hildegard fühlte sich merkwürdig beklommen. Der Ton, in dem dieser Mann sprach, schien mit voller Naturgewalt aus der Tiefe eines todwunden Herzens zu quellen. Und dennoch, wenn sie erwog, wie daseinsfreudig und kernhaft er sonst gewesen ….

„Aber was fehlt Euch denn?“ platzte sie endlich heraus.

„Selbstverschuldetes Elend!“ sagte er leise. „Habt Ihr das nie gemerkt, trotz aller Mühe, die ich mir gab, es geheim zu halten? Freilich, Ihr seid erst neunzehnjährig und ahnt noch nichts vom Jammer der Menschheit. Glaubt mir, es ist die Hölle auf Erden, einem Weib anzugehören das man nicht liebt!“

„Ich begreife Euch nicht. Eure Ehe mit Frau Mechthildis wäre nicht glücklich? Aber bis jetzt hörte ich immer das Gegenteil. Und weshalb, ich bitt’ Euch, erzählt Ihr das alles mir, einer Jungfrau, die noch so wenig erfahren ist?“

„Weil ich zu Euch ein unbegrenztes Vertrauen habe. Weil ich … Aber nun laßt mich zuvor erklären, wie es denn möglich war, daß ich mich dieser Frau anvermählte …“

„Muß ich das hören?“

„Ja, teuerste Hildegard! Gönnt mir’s – das wird mir das Herz erleichtern. Und ich hoffe, Ihr werdet mich nicht verurteilen.“

„Nun denn, sprecht! Aber ich weiß wirklich nicht..“

„Laßt nur – und hört! Es ist ja mit zwei Worten gesagt. Die Sache kam so. Ich war ein blutjunger und blutarmer Bursche, der ganz allein in der Welt stand und gar nicht wußte, was Liebe ist – weder Kindes- und Elternliebe, noch gar die andere, höhere … Aber ehrgeizig bin ich gewesen bis zur Verrücktheit und von wahnwitziger Gier nach Reichtum und Macht erfüllt. Als Knabe hatt’ ich gedarbt und gehungert und war von abscheulichen Menschen grausam geknechtet worden. Da entsteht so was! Nun kam ich ins Haus des reichen Tuchkramers Löhnert als ein schlecht besoldeter Buchhalter. Mechthildis war seine einzige Tochter – etwas älter als ich, aber nicht unangenehm, auch nicht häßlich von Antlitz. Nach kurzer Frist merkte ich, was sich da anspann. Und das hab’ ich dann aufgegriffen und rüstig zu Ende geführt. Mechthildis that einen heiligen Schwur, lieber zu sterben als von mir abzulassen. Da sagte der Vater denn Ja. Geliebt aber hab’ ich sie keine Sekunde! Mich lockte die Freiheit, die Selbständigkeit, die Aussicht, emporzukommen. Ich wußte noch nicht, daß der Mensch nicht vom Brote allein lebt. Und wenn mir’s dann später zuweilen öde und leer war, da hab’ ich die Pein gewaltsam zurückgedrängt, mir’s eingeschärft, daß ich zur Klage kein Recht hätte. Gold und Güter hab’ ich gesammelt, der reichste Großhändler auf weit hinaus bin ich geworden und Ratsherr dazu mit Wissenschaften hab’ ich mich abgegeben, den Erdball studiert und im qualmenden Laboratorium den Stein der Weisen gesucht – alles umsonst! Mein glänzendes Heim, die Pracht meiner Blumen, der Duft meiner Edelweine blieb ebenso wirkungslos wie der Reiz einer bunten Geselligkeit. Es mangelt eben das Eine, was erst das Leben zum Leben macht!“

„Armer Freund!“ sprach Hildegard mitleidig, als er geendet hatte. „Es mag ja sein, daß niemand zur Liebe sich zwingen kann. Aber schrecklich ist’s für die arme Frau, wenn sie nun einsieht, daß ihr das Höchste versagt blieb. Und sie muß es doch fühlen …

„Zweifellos. Mechthildis weiß seit geraumer Zeit, daß zwischen ihr und mir keinerlei innere Gemeinschaft ist. Wir leben so schlecht und recht nebeneinander her wie zwei wohlwollende Hausgenossen, die aufeinander höfliche Rücksicht nehmen. Und Mechthildis entbehrt nichts. Die Liebe, die einst so stark in ihr war, ist rasch verflogen an ihre Stelle trat eine brünstige Frömmigkeit. Mechthildis betet zu allen Tagesstunden, sie versäumt keine Predigt, sie übt sich in guten Werken bei jeder Gelegenheit. Nun gründet sie gar ein Spital für Kinder und eine Heimstätte für einsame alternde Jungfrauen. Ich aber, ich verschmachte, Hildegard! Je älter ich werde, um so freudloser grinst mich der Widersinn dieser unlieben Existenz an. Und ich will nun ein Ende machen!“

„Wie das?“ frug Hildegard.

„Der richtige Weg wird sich schon finden. Unsere Landgrafschaft kennt nicht die Gesetze des Katholicismus. Auch eine langjährige Ehe kann hier gelöst werden. Man muß die Sache nur klug anfangen.

„Um Himmels willen, was denkt Ihr? Sofern mir recht ist, Herr Lotefend, steht Ihr doch fast vor der Silbernen Hochzeit?“

„In drittehalb Jahren wäre das fällig, ja! Aber ich schwör’ Euch, daß ich der traurigen Feier noch rechtzeitig aus dem Weg gehe. So oder anders, Hildegard! Endlich einmal will ich mein Glück suchen.“

„Wenn Ihr Euch nur nicht täuscht! Die lange Gewohnheit ist ja wohl auch ein Band, das zwei Menschen zusammenschmiedet. Dergleichen zerreißt man nicht straflos. Ihr würdet Euch einsam fühlen, unsäglich einsam.

„Mit Gottes Hilfe könnt’ ich schon finden, was mich der Einsamkeit überhöbe. Ein Weib, das ich wirklich gluterfüllt in mein Herz schlösse. Ein junges, wonniges, warmfühlendes Wesen. Ein Weib wie Ihr, teuerste Hildegard!“

Im Drang seiner Verliebtheit nahm er sie sehnsuchtsvoll [347] bei der Hand. Erschreckt fuhr sie auf und wollte sich losmachen. Aber er hielt sie trotz ihres Widerstrebens gefangen.

„Hildegard,“ raunte er, hochrot vor Leidenschaft, „ahnt Ihr denn nicht, daß Ihr es selber seid, für die ich entbrannt bin? Ich liebe Euch maßlos! O, und ich weiß, auch Ihr seid mir nicht abhold! Euer teilnehmender Blick, Euer freundliches Lächeln hat nur so oft Balsam auf diese Wunden geträuft! Mit Leib und Seele gehört Ihr zu mir, trotz allem und allem, was uns zu trennen scheint. Wehrt Euch nicht, vergötterte Hildegard! Ich verlange nichts Unziemliches von Euch, noch Strafbares. Ihr sollt mir nur einen Funken von Hoffnung geben! Ein einziges Wort! Ein kurzes, flüchtiges Kopfnicken!“

„Laßt mich!“ versetzte sie streng. „Nein, ich dulde das nicht!“

Sie warf ihm einen geringschätzigen Blick zu und riß sich dann endlich frei.

„Was kommt Euch bei,“ fuhr sie mit wachsendem Unwillen fort, „mir so gewaltsam die Finger hier festzuschrauben? Im übrigen was Ihr da alles gesagt habt, ist ja der reinste Wahnwitz. Meint Ihr denn wirklich, jemals im Leben würde ich einen Mann heiraten, der einer andern so schmachvoll sein Wort bricht? Nie! Selbst dann nicht, wenn ich Euch lieb hätte, was ja doch, Gott sei Dank, nicht der Fall ist! Und niemals der Fall sein wird! Das merkt Euch, Herr Lotefend!“

Auch der Tuchkramer war jetzt aufgestanden. Er senkte das Haupt wie ein Schuldbewußter.

„Verzeiht, wenn ich zu ungestüm war! Ihr wißt nicht, mein teures Fräulein, wie einem Halbverstörten zu Sinne ist. An Mechthildis thu’ ich kein Unrecht, wenn ich sie aufgebe. Von ihr aber war es ein Unrecht, daß sie nicht gleich gemerkt hat, wie’s um mich stand, und wie ich im Grund meines Herzens –“

„Nur an ihr Geld dachte“, ergänzte Hildegard spöttisch. „Wahrlich, Ihr treibt es weit! Nun macht Ihr der armen Frau noch Eure Habgier zum Vorwurf!“

Lotefend sah ihr verzweiflungsvoll in die Augen.

„Hildegard! Ach, wie wenig habt Ihr mein Schicksal verstanden! Dieser grausame Hohn! Und so etwas muß ich von Euch hören, von Euch, für die ich mit Freuden stracks in den Tod ginge!“

„Beruhigt Euch, Herr Lotefend!“ sagte sie, fast erschreckt über den Ausdruck von Seelenqual, der um seinen zuckenden Mund spielte. „Es scheint, das Fieber hat Euch wirklich die Nerven geschwächt, so daß Ihr alle Vernunft und Selbstbeherrschung verliert. Ihr müßt doch einsehen, das alles übersteigt das Erlaubte! Gott, mein Gott, warum nur seid Ihr auf diesen schrecklichen Einfall geraten, der die ganze Harmlosigkeit unseres Verkehrs über den Haufen wirft? Es war doch manchmal so hübsch und behaglich am Herdfeuer oder am Rand unserer Weißdornhecke!“

Der Tuchkramer begriff, daß seine Rolle als Liebhaber hier vorläufig ausgespielt war. Um nicht für immer alle Beziehungen zu dem Gegenstand seiner Leidenschaft einzubüßen, mußte er klüglich einlenken. Noch gab er die Hoffnung nicht auf, daß eine fortgesetzte stille Umwerbung nach und nach das störrische Eis schmelzen würde.

Einstweilen wollte er sich in Geduld fassen und die Erschreckte so rasch als möglich wieder in Sicherheit wiegen.

„Kommt!“ sagte er plötzlich und schritt voraus. „Ihr habt recht, vielehrsame Jungfrau, mein Verlangen ist Wahnsinn. Ach, vergeßt, was ich in seliger Trunkenheit so dahin geredet! Ich will den Versuch machen, auch ohne das Glück, das ich so himmlisch mir ausgemalt, ruhig weiter zu leben. Nur eins müßt Ihr mir jetzt gewähren, falls Ihr nicht wünscht, daß ich mir augenblicklich ein Leids anthue! Grollt mir nicht, Hildegard, und versprecht mir, daß Ihr auch ferner mit mir verkehren wollt! Es ist ja so einfach! Ihr thut, als sei nicht das Geringste vorgefallen! Auch ich will dann mit keinem Wort mehr darauf zurückkommen. Weigert Ihr Euch …“

Er zog mit der Linken die schwedische Reiterpistole und setzte den blauschimmernden Lauf an die Stirn.

„Es kostet Euch nur ein Wort, Hildegard, und die Bleikugel zerschmettert mir das Gehirn.

„Frevelt nicht!“ bat sie erbleichend. „Ich bin ja nicht böse.“

„Ich will ganz gewiß … Nein, nein, es soll alles so zwischen uns bleiben, wie’s war! Thut nur um Gottes willen die furchtbare Waffe weg!

Gebt mir die Hand darauf! Bei Eurer Ehre und Seligkeit.“

Er ließ die Pistole sinken und hielt ihr die Rechte hin.

Mit einem bänglichen Seufzer legte Hildegard ihre Hand in die seine und murmelte halblaut:

„Ja, ich versprech’ es Euch. Bei meiner Ehre und Seligkeit.“

„Ich danke Euch! Ihr macht mich froher und trostvoller als ich verdiene. Und es versteht sich von selbst, Ihr schweigt – gegen jedermann! Vor allem auch laßt Euren wackern Herrn Vater nichts merken. Das wäre mir schrecklich! Obgleich ja im Grunde –“

„Seid unbesorgt! Wie brächte ich das wohl je über die Lippen!“

Nun gingen die Zwei rasch, und ohne mehr als ein paar gleichgültige Reden zu wechseln, über den Wolfsbühl zur Grossachstraße.

Am Hause des Tuchkramers trennten sie sich. Es war von seiten Hildegards ein kühl höflicher, von seiten Lotefends ein fast demütiger Abschied. Das junge Mädchen beschloß, von dem Zurücklassen des Kahns und dem Heimweg mit Lotefend vorläufig überhaupt nichts zu erzählen. Ihr Vater hätte das doch vielleicht seltsam gefunden. Kam es dann später trotzdem zur Sprache, so würde sie schon irgend was auftreiben, um dies Schweigen zu rechtfertigen. Sie konnte ja sagen, sie habe ihm nichts von der Unsicherheit im Lynndorfer Wald mitteilen wollen, um ihn nicht zwecklos zu ängstigen.

Hildegard traf den Magister noch bei der Arbeit. Es dämmerte schon. Gertrud Hegreiner war außer sich. Die schöne Sauerampfersuppe, sein Lieblingsgericht, drohte schier einzukochen, denn Gertrud meinte, das ewige Wasserzugießen verderbe den Wohlgeschmack und das feine Aroma.

„Wo wart Ihr nur?“ fragte sie vorwurfsvoll, da Hildegard nach dem Studierzimmer schritt. „Ihr, sein Liebling, hättet ihn stören dürfen. Mich aber weist er natürlich hinaus wie ein Bettelweib. Es ist ein Kreuz mit den Gelehrten!“

„Seid nicht unwirsch, allzu gestrenge Hegreinerin! Ich wußte ja schon, heute dauert’s ein bißchen lang’, deshalb komm’ ich so spät. Ich war draußen im Grünen. Uebrigens muß er jetzt unbedingt aufhören. Der liebe Mann überarbeitet sich. Letzthin hat er auch unruhig geschlafen.“

So trat sie ein.

„Waffenstillstand!“ rief sie mit heller Stimme. „Der Abend sinkt und Ihr verderbt Euch die Augen. Kommt, Vater!“

Er schob den Quartband zurück, da er jetzt wirklich kaum noch sehen konnte.

„Bring’ mir die Lampe, Kind!“ sagte er freundlich. „Nur noch ein halbes Stündchen …“

„Eh’ Ihr gegessen habt? Wahrlich, da müßt’ ich eine recht unkluge Tochter sein und herzlos wie die schandbare Tullia. Nein, liebster Herr Vater! Erst wird gespeist und gerastet. Gertrud lauert auf Euch wie ein Luchs. Wenn Ihr dann wirklich noch weiterstudieren wollt – obgleich Ihr Euch schon den ganzen Tag über den Schreibtisch beugt …“

Lächelnd erhob er sich.

„Ich war just mitten im Buch der Saturnaliengeschenke. Das hätt’ ich noch gern ausgelesen. Weißt du, ich kam zuletzt auf den Standpunkt, alle Kritik aufzustecken und mich nur an den Stoff zu halten. Diese Einzelheiten aus dem altrömischen Leben haben für mich immer wieder unendlichen Reiz. Man spürt hier mehr als etwa bei Tacitus oder bei Cicero, daß die Menschheit sich im Lauf der Jahrhunderte wenig verändert hat … Und so war diese letzte Stunde auch nicht sonderlich anstrengend für mich.“

„Um so besser! Nun wird Euch das Mahl schmecken! Und danach gehn wir noch ein paar Schritte im Garten. Ihr müßt heraus, Vater! Es ist meine Pflicht, über Eurer Gesundheit zu wachem Der alte Valerius Martialis läuft Euch nicht fort. Nicht wahr, Ihr versprecht mir’s?“

„Ich muß ja wohl! Dir kleinen Despotin widerstrebe ein anderer!

[357]
4.

Doktor Gustav Ambrosius wohnte am Marktplatz. Er hatte im zweiten Geschoß des Schreiners und Zunftmeisters Karl Wedekind etliche Stuben gemietet und sie teilweise mit seinem eigenen Mobiliar ausgestattet. Eine Wirtschafterin hielt er nicht. Die Wedekinds lieferten ihm das erste Frühstück und, wenn er nicht draußen blieb, ein schmackhaftes Abendbrot. Zu Mittag speiste er drüben im „Goldnen Schwan“.

Es war in der ersten Woche des Juni, acht Tage vielleicht nach dem Erlebnis Hildegards mit dem Tuchkramer. Die Stadtpfeifer und Zinkenisten hatten vor mehr als anderthalb Stunden schon ihren Abendchoral von der Steinbrüstung des alten Marienturms in die Gemarkung geblasen. Elma Wedekind, des Schreiners und Zunftobermeisters fünfzehnjähriges Töchterlein, stand in der Mittelstube des Doktor Ambrosius und deckte mit Eifer und Umsicht den viereckigen Eichenholztisch. Sie hatte ein schneeweißes, blaugerändertes Linnen darüber gebreitet und setzte nun Glaustädter Milchsemmeln, Lynndorfer Landbrot, Rauchfleisch, Salz und sonstiges Zubehör in zierlicher Anordnung auf die Tafel. Auch ein Spitzbecher aus meergrünem Muranglas prangte bei Messer und Gabel, und ein blitzblanker Zinnkrug, der im benachbarten Rathauskeller jetzt eben mit leichtem Glaustädter Wein gefüllt worden war.

Nachdem sie das alles mit Sorgfalt zurecht gerückt, stieg Elma Wedekind eilig ins Erdgeschoß, wo sie ein schwarzblaues Thongefäß mit köstlichen Frührosen von dem Gesims neben der Küche nahm. Dies Thongefäß trug sie hinauf in die Mittelstube, setzte es neben den funkelnden Zinnkrug und freute sich, wie die hochroten Kelche und das frischgrüne Blattwerk dem sauber gedeckten Tisch etwas geradezu Festliches gaben.

„Er braucht’s und verdient’s!“ sagte sie bei sich selbst. „Traurig genug, daß er nun hier so allein Imbiß hält! Von morgens bis abends opfert er sich für die andern, und wenn er dann heimkehrt, hat er nicht einmal wen, der ihm in Freundschaft zuspricht! Gar nun heute, bei diesem herrlichen Wetter! Da fühlt man sich doppelt einsam.“

Plötzlich kam es ihr dumpfig und schwül vor in dem niederen Gemach, obgleich das eine der beiden Fenster weit aufstand. Sie trat hinzu und öffnete auch das zweite. Wie schön da jenseit des Marktbrunnens die Dächer und Giebel glänzten im Glührot des Abends! Die Dachtraufen, die Wolfs- und Lindwurmköpfe der Wasserspeier, die Wetterfahnen und Erkerverzierungen, alles schien wie verwandelt. Die mächtige Sonnenuhr am Gasthof zum „Goldnen Schwan“ lag schon im Dunkeln. Nun mußte er gleich um die Ecke biegen, da rechts von der Haingasse her. Heute [358] den ganzen Spätnachmittag hatte er im Gusecker Viertel und am Nordgraben zu thun.

Inzwischen kam Doktor Ambrosius von links, über den Klottheimer Weg. Elma, die sich erwartungsvoll aus dem Fenster bog und ihren Blick auf die Ecke der Haingasse richtete, nahm ihn nicht wahr.

Der junge Arzt, ab und zu einen Gruß tauschend, wandelte eilfertig über das holprige Pflaster und machte erst unmittelbar an der Hausthüre Halt. Hier sah er nämlich, hinter den kleinen Blankscheiben der Wohnstube das kernhafte Gesicht Karl Wedekinds, der wie in tiefe Gedanken versunken hinausschaute in das bunte Gewimmel des Marktplatzes. Auf dem wohlgescheuerten Fensterbrett lag die Bibel. Dem Schreinersmann gegenüber saß Brigitta, sein treues Weib. Selber des Lesens unkundig, hatte sich Frau Brigitta von ihrem Ehewirt nach genossener Abendsuppe ein Stück aus dem Gotteswort vorlesen lassen. Jetzt schien sie in stiller, freudiger Andacht über den Text, den sie gehört hatte, nachzusinnen. Doktor Ambrosius kannte die allabendlich wiederkehrende fromme Gepflogenheit des redlichen Paares und hatte auch sonst nicht ohne Rührung beobachtet, wie diese tiefgläubige Frau ihren sonst leicht etwas überschäumenden Eheherrn freundlich in Schranken hielt. Karl Wedekind, obgleich seiner Ehehälfte an Wissen und scharfer Einsicht weit überlegen, hegte vor ihrem sanftgütigen Wesen eine Art ehrfürchtiger Scheu und liebte sie zärtlich; denn Brigitta eiferte nicht, sondern lenkte ihn ganz unmerklich wie an geheimen Fäden, war auch nicht kopfhängerisch, sondern allezeit frisch und vergnügt und zu jeder erlaubten Kurzweil gern aufgelegt. Doktor Ambrosius nickte den beiden vertraulich zu. Die Hausfrau bemerkte es nicht. Meister Wedekind aber erwiderte die Begrüßung mit franker Herzlichkeit.

Nun schritt Doktor Ambrosius über die Thorschwelle und durcheilte den halbhellen Treppenflur. Je drei Stufen zugleich nehmend, sprang er die steile Holzstiege hinan. Er öffnete das Mittelgemach und warf sein dunkles Barett auf die Ofenbank. In der gleichen Sekunde fuhr die ausschauhaltende Elma purpurglühend herum.

„Verzeiht!“ sprach sie verwirrt und zupfte an ihrem hellroten Schürzchen. „Ich hatte Euch gar nicht gehört. Ich hatte … Hier steht Euer Abendbrot.“

So wollte sie fort. Er aber faßte sie gutkameradschaftlich bei der Hand.

„Bleib’ doch ein wenig!“ sagte er zuthulich. „Gönn’ mir deine liebe Gesellschaft! Nein, schau, wie hübsch du das wieder da aufgebaut hast! Blühende Rosen! Weiß Gott, du verwöhnst mich, Elma!“

Sie lachte. „Die paar Blumen sind auch der Rede wert! Ob die da drunten im Hausgärtchen verwelken oder hier droben – das bleibt sich gleich.“

„Ach, du mußt nicht so dein Geschenk entwerten. Die Rosen sind wundervoll!“

„Nun ja. Weil Ihr doch gestern sagtet, daß Ihr sie gern hättet … Es macht mir halt Spaß … Aber ich will Euch nun weiter nicht stören. Ihr werdet wohl hungrig sein. Und Ihr müßt ja auch gleich wieder fort.“

„Freilich, Kind. Gegen halb Neun. Und ein wichtiger Gang zu einem Todsiechen. Doch so arg brennt’s noch nicht auf dem Nagel. Die Londoner Uhr da zeigt ja noch lange nicht Acht. Erzähl’ mir etwas, während ich hier zu Nacht speise! Oder iß hübsch mit! Dann schmeckt’s noch einmal so gut.“

„Ich dank’ Euch, Herr Doktor Ambrosius. Gegessen hab’ ich, und drunten giebt’s noch manches für mich zu thun.“

„So spät noch?“

„Ja. Und dann möcht’ ich auch noch auf ein Stündchen zu meiner Spielfreundin drüben im Bäckerhaus. Der hab’ ich’s versprochen.“

„Dann freilich … Also noch einmal; Dank für die Rosen! Kleine Elma, du hast eine Art …! Ganz allerliebst! Du wirst einmal eine prächtige Hausfrau.“

Wiederum stieg ihr das helle Blut bis in die Haarwurzeln.

„Ich? Nie!“

„Und warum nicht?“

„Weil ich im Leben nicht heirate!“

„Wie alt bist, du jetzt?“

„Fünfzehn war ich zu Ostern …“

„Da hör’ mir einer das weltmüde Persönchen! Will nicht heiraten oder verzweifelt daran. Eins ist ja genau so drollig wie’s andre! Nicht wahr, die Männer taugen heutzutag’ alle nichts? Nein, so was Urkomisches!“

„Ihr lacht mich aus, aber ich bleibe dabei. Nie, nie! Und das ist garstig von Euch, daß Ihr so Euer Gespött mit mir treibt. Gott befohlen!“

Halb weinend rannte sie weg.

„Elma! Kind! Du verstehst mich ja falsch! Bleib’ doch! Ich meinte ja nur …“

Elma hörte nicht mehr.

„Nun,“ dachte er achselzuckend, „ich kann’s nicht ändern. Vielleicht hab’ ich ihr Selbstgefühl unterschätzt. Fünfzehn Jahre! Da glaubt heutzutage ein Jungfräulein bereits mitreden zu können. Und ich behandle sie immer wie dreizehn. Ja, so sieht sie auch aus. Klein, zierlich, kaum flügge … Aber ein gutes Geschöpf! Nicht sonderlich hübsch, auch im Verkehr ab und zu etwas launisch, und dennoch von Herzen gut. So treue große leuchtende Augen …“ Diese Augen waren das schönste an ihr. Sie erinnerten fast an die Augen Hildegard Leutholds.

Doktor Ambrosius machte sich nun etwas zerstreut über sein Mahl her. Stirnrunzelnd füllte er das meergrüne Spitzglas trank es auf einen Zug leer und goß sich von neuem ein. Der Becher schien heute das einzige, was ihm mundete. Obgleich er Hunger verspürte, brachte er doch nur mühsam etliche Bissen Fleisch über die Lippen. Das Brot rührte er überhaupt nicht an. Es lag offenbar ein bänglicher Druck auf seinem Gemüt. Was er für heute abend vorhatte, das schien so gar nicht zu der goldrosigen Hoffnung zu passen, die seit einiger Zeit der Hauptinhalt seines glückseligen Daseins war. Er liebte die wonnige Hildegard Leuthold mit aller Glut seines unverdorbenen jungfrischen Mannesherzens und hatte Grund zu der Annahme, daß auch sie ihm nicht gram sei. Die Sehnsucht drängte ihn ungestüm zur Erklärung, zur Werbung. Und nun gab es da noch was anderes, Aelteres, Tod-Ernstes, was ihn eben so nachhaltig in Anspruch nahm; was von der Minne und ihren Lenzträumen weit ablag und trotzdem nicht versäumt werden durfte; denn sein Wort und seine Mannesehre waren hier unwiderruflich verpfändet; ein feierlich geleisteter Schwur band ihn und das heiligste Pflichtgefühl. Was er zu Elma von dem schwerkranken Patienten gesagt hatte, der noch spät seinen Besuch heische, war nur Ausrede gewesen. Ja, es handelte sich um einen Schwerkranken; aber dieser Patient lag nicht auf den Pfühlen des Siechbettes. Der Schwerkranke war das Gemeinwesen von Glaustädt, die leidende, im innersten Mark verwundete Heimat.

Nicht als ob Doktor Ambrosius seine Verpflichtung bereut hätte. Es fiel ihm nur schwer auf die Seele, daß sein beginnender Liebesfrühling gerade mit der Gefahr jener Anforderungen zusammentraf. Keine Sekunde lang war er im Zweifel darüber, daß er die gute Sache unter keiner Bedingung im Stich lassen würde. Nach kurzer Frist schob er den Teller zurück, leerte noch einmal den Glasbecher und trat, schwer atmend, zu dem geöffneten Fenster.

Das war ein belebtes, farbenprächtiges Bild da drunten. Spielende Kinder erfüllten die laue Luft mit ihrem schallenden Jauchzen. Bälle flogen und fröhliche Ringelreihen wurden getanzt. Auf den Steinbänken vor den Thüren saßen die Ehepaare. Jungfrauen und Jünglinge wanderten plaudernd über das Pflaster oder umstanden den alten Granitbrunnen, wo auf gedrungenem Sockel der heilige Georg den schweifringelnden Drachen erschlug. In der Richtung des Klottheimer Thores strömten noch immer zahlreiche Menschen nach auswärts, um den Glaustädter Bürgergarten oder die Wiesen des Gusecker Thals zu erreichen. Es war bis gegen Abend außerordentlich schwül gewesen. Jetzt erst wehte ein leichter Ostwind.

Beim Anblick der heiteren, buntbewegten Gruppen da unten stieg in der Seele des jungen Arztes eine plötzliche Bitternis auf. Er empfand es wie eine Schmach, daß der Mensch mit der Zeit so schlaff wird und so jämmerlich abgestumpft. Da wandelten sie leicht und arglos umher, als ob nicht stündlich die Faust des Henkers über jedem von diesen Häuptern schwebte! Es waren zumeist Handwerker und wohlhabende Kleinbürger, die jetzt mit ihren Familien den breiten Marktplatz füllten. In diesen Gesellschaftskreisen kürte sich Balthasar Noß, der Blutrichter, [359] erfahrungsgemäß am häufigsten seine Opfer. Und doch schien keiner jetzt an das Stockhaus und seine verzweifelten Insassen, keiner an den Böhlauer Trieb und die lodernden Scheiterhaufen zu denken. Es war wie im vierzehnten Jahrhundert beim Wüten des Schwarzen Todes, von dem die Chroniken so Schauderhaftes und kaum Begreifliches überliefert haben. Ganze Dörfer und Städte waren damals entvölkert worden; aber je länger die Pest währte, um so gleichgültiger sah ihr die Menschheit ins Angesicht.

Nun, vielleicht that man auch diesem und jenem Unrecht, Wenn man ihn für mattherzig und abgestumpft hielt. Es bedurfte nur eines machtvollen Anreizes, um ihn zum thatkräftigen Zorn und zum Widerstand zu entflammen. Der Aberglaube war leicht besiegt, wenn die Angst um das eigne Leben die Aufklärerin spielte. Es mußte den Leuten nur recht zum Bewußtsein kommen, daß keine Untadligkeit des Lebenswandels, kein Ansehen und keine christliche Tugend vor dem Blutrichter schützte; daß der Wahnwitz der Malefikantenverfolgung ebenso wahllos traf wie der Schwarze Tod, unbekümmert um den himmelschreiendsten Mangel an Ueberführungsmomenten.

Doktor Ambrosius strich sich mit der Hand über die Stirn. Der furchtbare Widersinn des ganzen Verfahrens packte ihn wie mit Geierkrallen. Sein Kopf schmerzte.

Da ging plötzlich ein sonderbares Wogen und Wallen durch die abendfeiernden Menschen da drunten. Die Leute auf den Steinbänken erhoben sich und reckten die Hälse. Die Paare am Brunnenrand unterbrachen ihr Zwiegespräch. Viele von denen, die schwatzend umhergeschlendert, machten erschrocken Halt oder strömten halb neugierig, halb teilnahmsvoll dem Hause zu, aus dessen Obergeschoß Doktor Ambrosius eben jetzt herab auf den Markt sah. Die Wahrnehmung berührte ihn peinlich. Er beugte sich vor, um die Ursache der seltsamen Bewegung ausfindig zu machen. Nicht lange blieb er im unklaren. „Die Rutenknechte!“ scholl es von Mund zu Munde. „Die Häscher des Malefikantengerichts!“ Ab und zu geriet ein zaghaftes Stocken in die heranströmende Menge. Dann aber drängte man wieder vor, bis die Schar, die sich da vor der Thüre des Zunftobermeisters versammelt hatte, nach etlichen Hunderten zählte.

Die Rutenknechte! Die Söldlinge des Balthasar Noß! Was führte diese Vermaledeiten hierher in das friedliche Heim des Schreiners, zur frommen Brigitta, zur stillen, harmlosen Elma? Oder galt ihr Besuch gar ihm, dem Bewohner des Obergeschosses? Unter dem Blutregiment des Noß war alles denkbar, wenngleich ja die Wahrscheinlichkeit nicht dafür sprach, daß man so ohne jeglichen Anhaltspunkt den beliebtesten und deshalb auch einflußreichsten Arzt des Gemeinwesens behelligen wurde.

Doktor Ambrosius ergriff sein Barett und stieg eilends die Treppe hinab. Da tönte ein lautes, herzzerreißendes Angstgeschrei an sein Ohr. Die da so jammerte, war die Ehewirtin des Zunftobermeisters. Zwei von den Stockhausknechten hielten sie straff bei den Händen gepackt. Zwei andere Häscher zeigten dem Hausherrn die Spitzen der Hellebarden. Sie schienen zu fürchten, der Mann möchte in seiner Verzweiflung Gewalt brauchen. Aber Karl Wedekind, der sonst wahrlich keiner der Feigsten war, stand beim Anblick dieses furchtbaren Ereignisses wie gelähmt. Nur sein Kinn schlotterte unaufhörlich und die Fäuste zuckten ihm krampfhaft an den schlapp herniederhängenden Armen. Die kleine Elma lag ohnmächtig auf den Steinfliesen.

„Glaubt’s nicht, glaubt’s nicht!“ wimmerte Frau Brigitta, während die Knechte sie ungestüm nach der offenstehenden Hausthür zerrten. „Gott der Allmächtige weiß, daß ich nur ihm in herzlicher Treue gedient habe, seit ich am Leben bin. Ich eine Hexe! Ich eine Buhlin des Teufels! O du meine geliebte Mutter unter der Erden, hilf mir und rette mich! O du mein teurer Heiland, Herr Jesus Christus, deck’ mich in Gnaden mit deinem Mantel!“

„Schweigt und widersetzt Euch nicht länger!“ brüllte der Obmann der Häscher. „Wenn Ihr unschuldig seid, so wird sich’s ja ausweisen.“

In diesem Augenblick kam Doktor Ambrosius herzu. Obschon er sich der Gefahr seiner Handlungsweise vollauf bewußt war, drängte ihn doch sein ehrliches Herz, ein gutes Wort für die Beschuldigte einzulegen und sie wenigstens hier vor Tätlichkeiten zu schützen. „Verzeiht!“ wandte er sich mit heimlich zitternder Stimme zum Obmann. „Irrt Ihr Euch nicht am Ende in der Person? Diese ehrsame Frau ist die Gattin des Zunftobermeisters Karl Wedekind und in ganz Glaustädt bekannt als eine fromme, gerechte und gottwohlgefällige Christin.“

Der Obmann, ein schwarzhaariger Kerl mit blöder, zurückfliegender Stirne, grinste dem jungen Arzt höhnisch ins Angesicht.

„Ihr meint’s wohl gut,“ sagte er achselzuckend, „aber Ihr täuscht Euch. Wartet nur den Prozeß ab, dann werdet Ihr Augen machen. Freilich ist sie das Weib des Schreiners, aber der gute Thor’ ahnt nicht, wie’s die Verruchte getrieben hat. Der Kleinweiler, wißt Ihr, der Lynndorfer, der jetzt verurteilt ist, hat auf der Folter bekannt, daß auch die Wedekindin letzte Walpurgisnacht auf dem Herforder Steinhügel war.“

„Unmöglich!“ fuhr Doktor Ambrosius heraus.

„Unmöglich? Es steht ja im Protokoll.“

„Dieser Lynndorfer Bauer hat rein den Verstand verloren! Frau Wedekind steht ja fast im Geruche der Heiligkeit! Jeden Sonntag, den Gott werden läßt, geht sie zum Abendmahl.“

„Ja, das sind so die alten Kniffe,“ lachte der Obmann. „Je verderbter die Hexe, um so frömmer nach außen hin. Der Böse selbst rät seinen Schützlingen solche Verstellung und freut sich diebisch, wenn dann die guten Christen getäuscht werden. Uns aber prellt man nicht wie das leichtgläubige Volk. Herr Balthasar Noß versteht sich darauf, das muß ihm der Neid lassen!“

„Würdet Ihr nicht die Frau gegen Bürgschaft frei geben? Ich bin fest überzeugt, daß hier gleichwohl ein Irrtum vorliegt. Laßt mich für die Beschuldigte gut sagen! Der Rat dieser Stadt kennt mich. Doktor Gustav Ambrosius zählt nicht zu denen, die etwa geneigt wären, einer Verbrecherin Vorschub zu leisten! Glaubt mir, die Sache wird sich schon aufklären!“

„Thut mir leid! Zu alledem hab’ ich kein Recht. Meinen Befehl muß ich ausführen. Denkt Ihr, daß es was helfen wird, gut, so wendet Euch an Herrn Balthasar Noß. Aber ich fürchte sehr, daß Ihr umsonst lauft.“

Während Ambrosius sprach, hatte Frau Wedekind ihr entsetzliches Wimmern und Wehklagen eingestellt und mattleuchtenden Blickes ihm zugehört. Jetzt, da der junge Arzt traurig zurücktrat, hub sie von neuem an.

„Nein, nein, nein!“ schrie sie verzweifelt. „Bei Gott dem Allwissenden, ich hab’ keinen Teil daran! O, ihr Lästerzungen! Wie sollt’ ich wohl meinen Herrn und Heiland dahingeben für den abscheulichen Satan und meine Himmelskindschaft gegen die ewige Pestilenz! O du meine herzliebe Mutter unter der Erden! Ach, ich vergehe! Erbarm’ dich meiner, du treuer Jesus, der du am Kreuze für uns gestorben bist! Rette mich, allgütiger Heiland, um deines vielteueren Blutes willen!“

Die Rutenknechte schoben die unglückliche Frau nun trotz ihres Wimmerns und Sträubens derb über die Schwelle.

„Faßt Euch!“ rief Doktor Ambrosius der Unglücklichen nach. „Es soll für Euch alles geschehen, was möglich ist! Und betet zu Gott, daß er Euch Standhaftigkeit verleihe! Die Wahrheit soll und wird an den Tag kommen.“

Er glaubte das selbst nicht. Er wußte, wie höchst geringe Aussichten der Malefikantenprozeß überhaupt bot. Vollends nun hier vor den Schranken des unerbittlichen Balthasar Noß! Unter dem Vorsitz dieses berüchtigten Tribunalsherrn war in Glaustädt noch niemals eine Freisprechung erfolgt, geschweige denn eine Entlassung.

Ein großer Volkshaufe schloß sich dem traurigen Zug an, teils müßige Gaffer, die selbst da noch Befriedigung spüren, wo den Mitmenschen das Elend ereilt, teils Leute, denen der Vorfall wirklich nahe ging. Etliche, die von der Schuldlosigkeit der Verhafteten überzeugt waren und sich der Furcht überließen, das gleiche Unheil könne demnächst bei ihnen selbst anpochen, seufzten im stillen und bäumten sich heimlich auf gegen die Obmacht des Blutrichters. Viele aber, zumal die Weiber, stießen die heftigsten Schimpfreden aus, warfen der „Unholdin“ zahllose Missethaten und höllische Tücken vor und gebärdeten sich im Kundgeben ihres plötzlich erwachten Zornes schlimmer als der boshafteste Inquirent.

Brigitta Wedekind hörte unter dem Anprall dieser Feindseligkeiten zu klagen auf. Bis dahin hatte sie, wie sie glaubte, in ihrer Vaterstadt nur Freunde gehabt. Jetzt mit einem Mal [362] umbrandete sie der blindwütige Haß. War sie denn wirklich so über Nacht eine andere geworden? Der Umschwung machte sie starr. Selbst die Abschiedsworte des jungen Arztes, die ihr so labend aufs Herz gefallen, übten jetzt keine Wirkung mehr. In dumpfer, lichtloser Verzweiflung schritt sie dahin, den Kopf gesenkt, die Augen glasig und vorquellend, als ging es schon jetzt hinaus nach dem Böhlauer Trieb, wo Balthasar Noß die Scheiterhaufen errichtete im Namen des Landgrafen …

Inzwischen war Doktor Ambrosius ins Haus zurückgetreten, um sich des Schreiners und dessen Töchterchens Elma anzunehmen. Er fand beide regungslos in der Wohnstube. Ruhloff, der Altgeselle, hatte das Kind vorsichtig auf die Polsterbank ausgestreckt. Da war sie zu sich gekommen und saß nun blaß wie ein Leintuch gegen die Wand gelehnt, während ihr Vater wortlos an der gebeizten Holztruhe stand und von den gutgemeinten Trostreden des Altgesellen ebensowenig berührt wurde wie von der mitleiderweckenden Haltlosigkeit Elmas. Auch Doktor Ambrosius merkte sehr bald, daß jedes Wort hier vergeblich sei. Karl Wedekind wußte so gut wie er selbst, was die Festnahme einer Beschuldigten unter der Schreckensherrschaft des Balthasar Noß bedeutete. Er dankte mit rauher, klangloser Stimme – kurz, abgerissen – und hatte dabei nur eine einzige krampfhafte Gebärde, das Spreizen und Wiederzusammenballen der Finger. Elma schwieg wie das Grab. Ihr Blick hatte sich forschend in das Antlitz des Mannes gebohrt, den sie im stillen so heiß verehrte, von dessen wirkender Kraft sie die höchste Vorstellung hatte. Aber die tiefe Trauer und Hilflosigkeit, die sich jetzt in den sonst so freundlichen, selbstbewußten und thatkräftigen Zügen malte, nahm ihr sofort jeden Zweifel. Sie sah es wohl, auch er konnte nicht helfen, trotz seiner zahlreichen Verbindungen, seiner großen Beliebtheit, seiner echt männlichen Tapferkeit. Diese furchtbare Erkenntnis gab ihrer letzten Hoffnung den Todesstoß. Und der Schmerz um die einzig geliebte Mutter, die nun einem so furchtbaren Schicksal entgegenging, lähmte sie vollständig.

Als sich der junge Arzt, den jetzt andre Verpflichtungen wegriefen, aus der Wohnstube entfernt hatte, zugleich mit dem Altgesellen – denn auch der sah nun ein, daß jede Mühe hier vorläufig umsonst sei – da warf sich Karl Wedekind plötzlich vor der Polsterbank, wo seine Elma saß, auf den Boden und stieß ein wildes Geheul aus. Sein verzerrtes Gesicht hob sich noch einmal zu Elma empor und schlug dann hart wie im gierigen Drange der Selbstvernichtung auf die sandüberstreute Diele. So blieb er stumm und ohne Bewegung ausgestreckt. Nur ab und zu ging ein flüchtiges Zucken durch seine breiten Rückenmuskeln.

Und Elma raufte ihr Haar, daß ihr die dunklen Strähnen wild um die Stirne hingen, und grub sich die Fingernägel tief in den Hals, wie eine, die sich erwürgen will. Das helle Blut floß ihr über die Hand. Die Sanftmut, das Erbteil der Mutter, schien untergegangen in der tobenden Kraft, die sie, trotz ihres zarten, schmächtigen Körpers, vom Vater hatte. Sie wagte es nicht, den wortlosen Schmerz des Verzweifelten, der da vor ihr am Boden lag, durch ihren Zuspruch zu stören. Endlich erhob sie sich. Es war schon vollständig Nacht. „Wollt Ihr nicht schlafen gehn, Vater?“

Der Mann richtete sich langsam auf. „Du noch da, Elma? Geh! Du bist ja doch krank! Wie könnt’ ich vergessen …“

Er fand jetzt in der Sorge um sein geliebtes Kind eine Ablenkung von der eignen unermeßlichen Qual.

„Komm, ich bring’ dich hinüber,“ stammelte er. „Du armes, armes, armes Geschöpf!“

Er stand vor ihr. Ein banger Seufzer hüben und drüben. Dann hielten sich Vater und Tochter laut aufschluchzend umfaßt und weinten zum Herzbrechen.

[373]
5.

Der dreißigjährige Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck hatte am Gusecker Steinweg, unweit der Stadtmauer, ein altes, schwarzgraues, verwittertes Bauwerk als Wohnung inne. Das hohe, viereckige Haus mit den schwer überhängenden Erkern und den plumpen Voluten hatte vor langen Jahrzehnten einem wohlhabenden Großkaufmanne gehört, der es zum Teil als Kornspeicher benutzt hatte. Als dieser Eigentümer ohne Rechtsnachfolger mit Tod abging, war es in den Besitz der Stadt übergegangen. Seit mehreren Jahren leerstehend, sollte es schließlich wegen Baufälligkeit auf Abbruch versteigert werden. Der Ratsarchitekt Woldemar Eimbeck jedoch, der an solcherlei Werken aus Urväterzeit sonderliches Gefallen fand, hatte die Kornburg, wie sie im Volke hieß, um ein Billiges angekauft und sich beim Rat die Erlaubnis erwirkt, den zerfallenen Bau stützen und wiederherstellen zu dürfen. Das kostete freilich Mühe und Geld genug, aber nun war auch etwas ganz Tüchtiges draus geworden, ein Mittelding zwischen kernhaftem Bürgerhaus und trotzigem Adelsschloß, wie es dem etwas phantastischen Sinn des jungen Baumeisters zusagte. Nur die Front schien wenig verändert; das war noch immer die halbvermorschte abenteuerlich düstere Kornburg von ehedem.

Woldemar Eimbeck hauste hier ganz allein mit seiner braven, schwerhörigen Haushälterin, die sich des Vormittags für das Gröbste eine halbwüchsige Zuspringerin hielt. Eimbeck hatte sich die drei Frontstuben des Erdgeschosses als Wohn- und Schlafzimmer, die darübergelegenen zwei als Kunstwerkstatt sehr behäbig, aber gleichfalls im Stile der Vorzeit hergerichtet. Nach dem Hof zu wohnte die Haushälterin. Die oberen Stockwerke, wo früher die Kornsäcke lagerten, um durch die Kettenwinde unter der Giebelspitze je nach Bedarf herunterbefördert zu werden, standen jetzt vollständig leer.

Nachdem Doktor Ambrosius tief bekümmerten Herzens das Unglückshaus am Marktplatz verlassen hatte, wandte er sich durch die Haingasse nach dem nordöstlichen Stadtviertel und erreichte in zehn Minuten den Gusecker Steinweg. Das mächtige Dach der Kornburg schimmerte noch ein wenig im sterbenden Abendschein. Die Gasse selbst lag schon im Halbdunkel.

Doktor Ambrosius trat vor das verschlossene Eichenthor, hob den schweren glattgescheuerten kupfernen Reif, der zwischen den Eckzähnen des Löwenmauls hing, und schlug dreimal fest wider die kleine Metallplatte. Es währte nicht lange, bis drinnen der eiserne Riegel klang und der wuchtige Thorflügel sich in den Angeln drehte. Woldemar Eimbeck öffnete seinem Freund in eigener Person.

„Gott zum Gruß!“ sagte der Ratsbaumeister. „Du kommst spät.“

In der gepflasterten Vorhalle brannte bereits die Wandlampe. Bei dem Luftzug der durch das Oeffnen des Thores entstand, warf sie unruhige Lichter auf die eingemauerten Steinplatten mit den altfränkisch rohen Reliefschilderungen. Die Ritter- und Frauengestalten mit den verwaschenen Zügen und den verstümmelten Händen gewannen ein unheimlich gespenstisches Leben.

„Bin ich der letzte?“ fragte Doktor Ambrosius, als Woldemar Eimbeck die Thür wieder geschlossen hatte. Im eigentlich [374] bewegten Ton seiner Stimme klang die kaum erst verwundene Aufregung wieder.

„Jetzt eben traf der rothaarige Hauptmann ein,“ versetzte Woldemar Eimbeck. „Ihr zwei seid die letzten. Aber was hast du? Gott’s Donner, du siehst ja aus wie der Tod! Rede doch! Du erschreckst mich! Ist uns irgend ein schleichender Schuft hinterrücks auf die Spur gekommen?“ Woldemar Eimbeck hatte die Schlußfrage kaum hörbar geflüstert.

„Gott sei Dank, nein!“ murmelte Doktor Ambrosius ebenso leise. „Aber Entsetzliches hab’ ich erlebt – die Neueste Großthat des Bluthundes … Ich bin rein wie zerschlagen …“

„Wir sollten das doch nachgerade gewöhnt sein! Wer ist denn das Opfer?“

„Die Ehewirtin des Zunftobermeisters Wedekind, bei dem ich wohne. Die frommste und tüchtigste Handwerkersfrau der Gemeinde.“

„Unglaublich! Auch die! Wo soll das enden? Aber nun laß uns hinauf! Was zögerst du noch?“

„Ich dachte nur so …“ raunte Doktor Ambrosius, „ob nicht doch vielleicht deine Haushälterin mit der Zeit stutzig wird? Ich weiß nicht, Woldemar, aber ich habe so das Gefühl …“

Der Ratsbaumeister schüttelte zuversichtlich den blonden Kopf.

„Das macht die Frau Wedekind! Solch ein Erlebnis fährt einem gleich in die Glieder. Aber der Mensch muß sich nicht werfen lassen. Meine gute Jakoba ist vollständig ohne Argwohn. Sie glaubt heute wie vor drei Wochen an das harmloseste Zechgelage. Sie hat mir auch diesmal ein Fäßlein Bacharacher besorgt und geht jetzt eben frohmütig zur Ruhe. Du weißt, sie ist abends müde zum Umfallen, da sie schon mit den Hühnern aufsteht und sich des Tags über keine Minute zum Sitzen gönnt. Uebrigens – wenn sie auch wach bliebe! – die Mauern und Wölbungen der Kornburg sind mächtig genug. Und obendrein ist sie schwerhörig …“

„Gerade wenn man so recht bestimmt auf die Schwerhörigkeit rechnet, schärft sie sich mitunter zur Leichthörigkeit. Denk’ nur an die Geschichte vom Winkelkrug! Besser man übertreibt die Vorsicht als umgekehrt!“

„Das thun wir ja. Und nun sei nicht verzagt, Gustav! Je toller sich dieser Bube gebärdet, um so besser für die gerechte Sache. Sein Maß wird in den Augen der Glaustädter um so eher voll.“

So stiegen die beiden Freunde Hand in Hand die schwarzen Basaltstufen hinan zum Obergeschoß.

In dem größeren der zwei Frontzimmer, die sich Woldemar Eimbeck als Kunstwerkstatt eingerichtet, saßen acht Männer sehr verschiedenen Alters und Aussehens um den breiten, viereckigen Tisch herum. Die Pläne und Zeichnungen, die sonst des Tages über hier lagen, hatte der Ratsbaumeister hinübergeschafft in die Stube der beiden Hilfsarbeiter. Der Bacharacher, in vier große Steinkrüge abgezapft, stand bereits auf der Tafel; jedermann bediente sich selbst. Der Anblick des Raumes wie der Versammlung bot nichts Auffallendes. Nur die Gesichter waren nicht ganz so fröhlich und strahlend, wie dies bei deutschen Zechgelagen sonst wohl die Regel ist. Uebrigens wirkte auch hier die seltsame Lichtmischung. Durch die zwei gotischen Fenster strömte noch eine gelbgraue Dämmerung herein, während auf dem eisernen Leuchterkranz mit dem phantastischen Leuchterweibchen schon die zwölf mächtigen Talgkerzen brannten.

„Glück und Heil!“ sagte Ambrosius und nahm sein Barett ab. „Entschuldigt, vieledle Herren, daß ich euch warten ließ! Aber es ging nicht anders. Das schmachvolle Begebnis, das mich zurückhielt, geht aus der nämlichen Tonart wie die gesamte himmelschreiende Unbill, die uns hierhergeführt.“

„Redet! Erzählt!“ klang es von allen Seiten.

Mit kurzen Worten teilte Ambrosius mit, was sich im Hause des Schreiners Wedekind zugetragen.

„Unerhört!“ rief Jansen, der Buchdrucker, ein Vierziger mit rotviolettem Gesicht, der aussah, als müßte ihn jede Minute der Schlag rühren. „Nun hat’s geschellt, Kameraden! Der Kerl haut jeder Vernunft – selbst von seinem Standpunkte aus geredet – ins Angesicht. Sein Korn reift schneller als ich’ gedacht hätte.“

„Das sage ich auch!“ bestätigte Eimbeck. „Je blödsinniger seine Unthaten, um so leichter für uns Anhänger zu gewinnen …“

„Aber der unglücklichen Frau hilft das nichts,“ meinte Ambrosius. „Balthasar Noß reitet verflucht schnell. Eh’ wir zum Streich ausholen, wird auch dieses schuldlose Opfer längst hingemordet sein …“

„Ja, Ihr habt recht!“ knurrte der Buchdrucker. „Und ich begreife auch, daß es Euch nahe geht. Wenn man so mit den Leuten das gleiche Haus bewohnt … Und eine tüchtige, wackere Person ist ja die Wedekindin allzeit gewesen …“

„Das Urbild einer ehrbaren deutschen Handwerkersfrau!“ rief Doktor Ambrosius warmherzig. „Wer ihr nur in die Augen sah, den überkam’s wie der Friede des Herrn, so gottselig schaute sie drein und so gütig und schlicht. Es bleibt mir unfaßlich! Bis jetzt hielt sich der Blutrichter doch vornehmlich an Minderwertige oder doch Gleichgültige. Nun aber greift seine Bosheit um sich wie die Pest, die gleich schonungslos dem Starken und den Schwachen dahinmäht. Ehvorgestern der reiche Schankwirt; heut die Brigitta Wedekind; morgen vielleicht …“

„Auch der Zunftobermeister Wedekind soll ja begütert sein,“ lächelte Woldemar Eimbeck.

„Natürlich!“ donnerte Jansen, der Buchdrucker. „Immer klarer tritt’s nun zu Tage, wo der ganze verruchte Unfug hinaus will.“

„Alte Geschichte!“ klang’s von den Lippen des Rechtsgelehrten Theodor Welcker, der zu der heutigen Sitzung des Freiheitsausschusses eigens von Dernburg, der Haupt- und Residenzstadt des benachbarten Fürstentums, herübergekommen war und sich jetzt wohlgefällig den langen, halb schon ergrauten Bart strich. „Uralte Geschichte! Unser erlauchter Fürst hat die Hexenverfolgung schon vor zwei Decennien als die Kunst bezeichnet, aus menschlichem Blut Gold zu machen. Bei weitem die Mehrheit dieser berufsmäßigen Malefikantenrichter besteht aus ehrlosen Spekulanten, die sich die Gutgläubigkeit ihrer Helfer und Helfershelfer pfiffig zu nutz’ machen. Die Vermögenseinziehung ist nicht umsonst mit in den Strafcodex aufgenommen. Und je mehr Balthasar Noß geschluckt hat, um so riesiger wächst sein Hunger. Man kennt das ja aus seiner früheren Thätigkeit!“

„Sehr wahr!“ versetzte Doktor Ambrosius. „Anderwärts hat er’s getrieben bis zur Erschöpfung. Ich glaube, vielteure Genossen, wenn ihr die Stadt retten wollt, eh’ sie verödet und ausgeraubt ist, wird es allmählich Zeit.“

Der rothaarige Hauptmann Fridolin Geißmar, der bei den letzten Worten eifrig genickt hatte, sprang jetzt in seiner ganzen Länge empor und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß Krüge und Becher klirrten. Er sah etwas abenteuerlich aus in seiner verschabten Kriegstracht, die an gewisse Typen aus dem Lager des Herzogs von Friedland erinnerte, bis auf die Aermel und den fehlenden Schulterkragen. Fridolin Geißmar hatte vor sechs Jahren im Niederländischen gegen Frankreich Dienste gethan und sich in etlichen Schlachten so ausgezeichnet, daß Glaustädt dem invalid gewordenen Helden ein Amt bei der Forstverwaltung und Fischerei übertrug, außerdem aber genehmigte, daß er nun auch im städtischen Dienst den Waffenrock weiter trage, der so überaus reich war an ehrenvollen Erinnerungen.

„Mir aus der Seele gesprochen!“ rief er mit seiner schnarrenden Stimme. „Das sind unerträgliche Zustände. Laßt uns ein Ende machen – um jeden Preis!“

„Gemach, Hauptmann,“ sagte Herr Theodor Welcker, der langbärtige Rechtsgelehrte aus Dernburg. „Nichts übereilen! Festina lente! Euch steckt noch der wilde Pfiff Eures niederländischen Feldzuges im Kehlkopf. Ihr vergeßt nur, daß wir kein Heer haben wie Ihr dazumal gegen die Welschen. Daher wir den Mangel an Söldlingen durch sorgsame Vorbereitung ersetzen müssen. Was hülfe es uns, wenn wir schon jetzt hinaus auf die Gasse stürzten unter dem Kampfgeschrei: ‚Nieder mit Balthasar Noß!‘ … ? Ihr sagtet schon neulich, daß Ihr Euch fest überzeugt hieltet, Hunderte von entrüsteten Männern aus allen Berufsklassen würden uns augenblicks zuströmen. Aber das glaubt nur ja nicht! Eh’ sich die schwerfällige Masse zu einer That entschließt, muß bereits eine erste That vorliegen. Nur dem Vollendeten gegenüber finden sie die Kraft des Entschlusses. Fahren wir also fort wie bisher, jeder in seinem Kreis Anhänger zu werben, die im gegebenen Falle entschlossen zur Hand sind und vor keiner Fährnis zurückschrecken. Sind wir [375] nicht zahlreich genug, so werden die Stadtsoldaten und die Knechte des Blutgerichtes allein mit uns fertig.“

Fridolin Geißmar hatte sich wieder gesetzt. Sein hageres Antlitz unter dem brandroten Stirnhaar drückte Verstimmung und Trotz aus. „Oho!“ rief er, da Theodor Welcker jetzt innehielt. „Das käm’ auf die Probe an!“

„Wir wollen doch diese Probe nicht wagen,“ meinte der Rechtsgelehrte aus Dernburg mit freundlich überlegener Ruhe. „Bedenkt doch, mein werter Freund, daß wir nicht alle wie Ihr geschulte Kriegsleute sind! Uebrigens – wozu streiten wir lang’? Ich sehe, die Mehrheit, ja sämtliche Anwesende mit der einzigen Ausnahme von Euch, Herr Hauptmann, stimmen der Meinung Eures gehorsamen Dieners zu. Ihr aber seid ehrlich und pflichttreu genug, Euch zu fügen. Erörtern wir also nicht Dinge, die noch verfrüht sind!“

„Herr Theodor Welcker hat recht! Die Zeit ist kostbar! Es geht auf Zehn. Prüfen wir lieber ohne Verzug die Listen!“

Es waren die Namensverzeichnisse derjenigen Glaustädter Bürger gemeint, die jeder aus der Zahl seiner Bekannten aufgestellt hatte, mit der Vermutung, daß die Vermerkten bereit sein würden, sich der Agitation wider das Malefikantengericht anzuschließen. Es war schon vorher vereinbart worden, daß die zehn Mitglieder des Freiheitsausschusses bei ihrem Eide gehalten sein sollten, keinem der etwa zu werbenden Teilnehmer kund zu thun, wer diesem Ausschuß angehöre. Wenn das Unglück bei dieser Werbethätigkeit eine Entdeckung herbeiführte, war dann doch immer nur grade der eine Verschworene bloßgestellt, ohne Gefährdung des Centralbundes. Die heutige Sitzung hatte der Ratsbaumeister vornehmlich zu dem Zweck anberaumt, jeden der aufgestellten Bürger einer Besprechung zu unterziehen. Nur, wenn die Versammlung seine Anwerbung einstimmig guthieß, sollte der Vorschlagende in möglichst unauffälliger Art den Versuch machen, auf den Genehmigten einzuwirken.

Schneller als man vorausgesetzt hatte, war diese Prüfung erledigt. Die meisten Vorgeschlagenen, deren Aufstellung ja ohnedies von den einzelnen Mitgliedern erst nach reiflichster Ueberlegung erfolgt war, fanden die einstimmige Billigung der Versammlung. Wer die betreffenden Bürger nicht kannte, wie dies mehrfach bei Herrn Theodor Welcker, hier und da auch einmal bei den andern der Fall war, der enthielt sich einfach der Abstimmung. Nur dem Hauptmann Fridolin Geißmar strich die Majorität vier Namen als wenig aussichtsvoll oder verdächtig, was Herr Geißmar übrigens merkwürdigerweise durchaus nicht übelnahm. Er sah jetzt, die Sache ging vorwärts, und das wirkte äußerst wohlthätig auf seine Gemütsverfassung.

Nachdem diese Angelegenheit zur vollen Befriedigung aller geordnet war, füllte man von neuem die Becher, erhob sich und stieß auf gutes Gelingen an.

„Die Freiheit Glaustädts!“ klang es im Chore. „Ein schallendes Pereat dem Balthasar Noß!“

„Und dem Hofmarschall Benno von Treysa!“ rief Woldemar Eimbeck nachdrücklich. „Der ist der Urgrund alles Verderbens. Der hat den Landgrafen erst in diesen Wahnwitz hineingehetzt. Pereat!“

„Aber vergeßt mir nicht den Geheimsekretär Schenck von der Wehlen!“ setzte Herr Theodor Welcker hinzu. „Auch diesem Spitzbuben töne ein Pereat ersten Ranges! Der ist schlimmer als Treysa! Der Schurke hat von Balthasar Noß Prozente. Eine einzige Hexenverbrennung trägt ihm vielleicht mehr Weißpfennige als ein ehrsamer Handwerker Zeit seines Lebens verdient. Pereat!“

Man setzte sich wieder. Herr Theodor Welcker zog ein Schriftstück aus der Brusttasche und warf dem Ratsbaumeister einen fragenden Blick zu, den dieser mit höflichem Kopfnicken beantwortete.

„Liebwerte Genossen,“ begann der Rechtsgelehrte, „vergönnt mir jetzt noch die Mitteilung eines nicht unwichtigen Dokumentes. Das Aktenstücks dessen wörtliches Duplikat ich hier bei mir führe, liefert uns den Beweis, daß man doch endlich höheren Ortes beginnt, die barbarischen Ausschreitungen des Malefikantenprozesses nicht mehr so ganz gleichmütig hinzunehmen wie bis vor kurzem. Es handelt sich um ein Mandat des Reichskammergerichtes gegen den Zentgrafen und die Schöffen des Malefikantengerichts zu Fulda. Bis jetzt waren Beschwerden, die von Angeklagten im Hexenprozeß bei dem obersten Tribunal zu Wetzlar versucht wurden, immer erfolglos. Ihr wißt ja, die Zauberei gilt als crimen exceptum, als Ausnahmeverbrechen, auf das alle sonst wirksamen Rechtsgrundsätze kaum eine Anwendung finden. Dieser Tage jedoch hat das Reichskammergericht – wie es heißt, unter dem Einfluß eines neu kreierten menschenfreundlichen Mitgliedes, das unterdes leider plötzlich verstorben ist – eine Rechtsmeinung von sich gegeben, die offenbar eine Wendung zum Besseren bedeutet. Große Hoffnungen darf man ja freilich an diesen vereinzelten Fall nicht knüpfen. Immerhin zeigt er, daß die Wetzlarer Richter den Vorstellungen der Billigkeit und der gesunden Vernunft nicht so vollständig unzugänglich sind, wie bis dahin geglaubt wurde. Ich will noch bemerken, daß die Beschwerdeführerin allerdings einen sehr gewichtigen Fürsprecher in der Person ihres Beichtvaters hatte.“

Theodor Welcker entfaltete nun das graugelbe Folioblatt und las den Text des Mandates vor.

Das Aktenstück wiederholte dem Fuldaer Tribunal, zuerst die beeidigte Aussage dieses Beichtigers, eines im Rufe besonderer Heiligkeit stehenden fünfundsechzigjährigen Priesters, der seinem Beichtkind rückhaltlos das eifrigste Lob zollte und ausdrücklich erklärte, daß er den Abfall der Beschuldigten von Gott und der Kirche für einfach unmöglich halte.

Dann hieß es wörtlich wie folgt:

„Dies alles hintangesetzt, habt Ihr, Zentgraf, Schöffen und Richter, die Inkulpatin ohne jeglichen Grund für eine Hexe erklärt – bloß weil drei der nämlichen Unthat beschuldigte Weiber sie dafür angesehen haben sollen. Ohne weitere Erkundigungen habt Ihr sie aufgegriffen und in den Hundestall neben dem Backhaus des Fuldaer Schlosses einsperren lassen. Ihr habt sie an Händen und Füßen in der grausamsten Weise gefesselt und sie gezwungen, in dem engsten Gelaß zu verweilen, wo sie gekrümmt und gebückt sich weder bewegen noch regen kann. Obwohl nun außer dem Zeugnisse der drei heillosen Weiber nicht die geringsten Indicia der Zauberei gegen sie vorliegen und ihr Ehewirt sich erbeut, ihre Unschuld in Rechten darzuthun, auch um Erleichterung ihrer Haft und um Zeit zur Verteidigung nachsucht, habt Ihr, Zentgraf, Schöffen, und Richter, diese gerechtfertigte Bitte rundweg abgeschlagen. Die Beschwerdeführerin hat sonach zu erwarten, daß Ihr zu unerträglicher Tortur fortschreiten und ihr demnächst einen schmach- und qualvollen Tod anthun werdet. Derohalb erlassen wir andurch den strengsten Befehl, bei Pön von zehn Mark lötigen Goldes der Beschwerdeführerin augenblicks ein mildes, leidliches Gefängnis zu geben, sie ohne wesentliche Indicia nicht zu foltern und dem Verteidiger, der zu ihrer Verantwortung nötig ist, unweigerlich Eintritt in ihre Haft zu gestatten.

So geschehen Wetzlar am einundzwanzigsten Maji, Anno Domini Eintausendsechshundertundachtzig.“

Als der Vorleser schwieg, entstand ein vieldeutiges Murmeln, bei dem die Entrüstung über das Fuldaer Stadtgericht offenbar einen größeren Anteil hatte als die Genugthuung über die unerwartete Aufgeklärtheit und Intelligenz des Reichskammergerichts. Der rothaarige Hauptmann Fridolin Geißmar hatte während der Vorlesung mehrfach heftig genickt. Jetzt rief er mit schneidendem Hohn, als freue er sich, dem Rechtsgelehrten von Dernburg hier etwas heim zu zahlen:

„Fürtrefflich! Wenn das Reichskammergericht nur nicht leider Gottes das Reichskammergericht wäre! Ich kenne den Fall! Der Beichtvater dieser Unglücklichen war ein Jugendfreund meines Vaters und ihm getreulich zugethan, trotz der Verschiedenheit im Bekenntnis. Als ich ein Kind war und Philipp Von-Zehl noch Kurat in Guseck – dort giebts ja noch eine Handvoll Katholische – da hab’ ich wie hundertmal auf seinem Knie geritten und ihn von Herzen gern gehabt. Wir stehen heut’ noch im Briefwechsel. Und just vorgestern, zu meinem Geburtstag, schrieb er mir – wir schreiben uns alle Jahr zweimal – und erzählte mir auch von dem Wetzlarer Mandat, das Ihr, mein gelehrter Herr, jetzt eben da vorgetragen. Aber er fügte hinzu, was Ihr offenbar nicht wißt, daß die Herren vom Reichskammergericht nach ihrer alten Gewohnheit wieder, post festum kamen. Als das Wetzlarer Mandat eintraf, war die Beschuldigte nicht nur bereits torquiert, sondern auch rechtskräftig verurteilt, nach dem Richtplatz geschleppt und bei lebendigem Leibe verbrannt.“

[376] „Himmel und Hölle!“ riefen zwei, drei Stimmen zugleich.

„So ist’s, liebwerte Genossen! Die Zentgrafen und Malefikantenrichter stehen ja überall unter dem starken Schutz ihrer Landesherren und erachten sich für souverän. Die pfeifen aufs Reich! Und um Kniffe zur Rechtfertigung ihres Verfahrens, falls überhaupt sowas verlangt wird, sind die Schufte nicht sehr verlegen. Wär’ ja auch schade, wenn’s ihnen quer ginge.“

„Das ist freilich ein trübseliger Nachsatz zu meinem Vordersatz,“ meinte Herr Theodor Welcker.

Der Hauptmann lachte. „Fürwahr, ein mordstrübseliger! Und nun hat gar, wie Ihr vermeldet, der geistige Urheber dieses Mandats nach kurzem Walten das Zeitliche gesegnet. Da wird’s mit ähnlichen, verheißungsvollen Symptomen wohl gute Wege haben. Gotts Donner, ich sag’ Euch, mir zuckt immer wieder das Schwert in der Scheide!“

Jetzt erhob sich ein stiller, unscheinbarer Geselle, der bis dahin kaum noch geredet hatte, Kunz Noll, Mitglied der ehrsamen Reißer- und Malerzunft.

„Darf ich …?“ wandte er sich blitzenden Auges an Woldemar Eimbeck, der die Verhandlungen bis dahin geleitet hatte.

„Kunz Noll hat das Wort! Das ist ja ein seltenes Ereignis! Liebwerte Genossen, ich bitt’ euch: Silentium für unseren weltklugen Schweiger!“

Alles verstummte. Der Maler und Zeichner mit dem fahlen Gesicht und den spitz hervorstehenden Backenknochen war von jeher bekannt dafür, daß er nur wenig sprach, aber fast immer Gescheites und Selbständiges.

„Ihr Herren,“ begann Kunz Noll, „ich habe erst abgewartet, bis ihr mit euren Beratungen glücklich zu Ende, kamt. Das lag uns am nächsten. Was ich jetzt mitteilen will, bezieht sich auf eine fernere Zukunft. Es ist ein bloßer Gedanke, ein vielleicht seltsamer Einfall. Mir allerdings erscheint er nicht unzweckmäßig.“

Er hielt einen Augenblick inne.

„Sprecht!“ klang es von allen Seiten.

„Sofort. Erst aber möcht’ ich eine Frage vorlegen. Seid ihr mit mir überzeugt, daß es schwieriger ist, gegen den Landgrafen die Befreiung zu unternehmen als mit dem Landgrafen?“

„Gewiß! Ohne Zweifel! Das versteht sich von selbst. Aber was soll, das?“

„Ihr werdet das gleich hören. Ich bitte euch nur, weist meine Idee nicht ungestüm von der Hand, falls sie im ersten Augenblick euch zu tollkühn erscheint. Die Rebellion in den Straßen von Glaustädt ist auch kein Kinderspiel und führt möglicherweise zu Schlimmerem. Besser dünkt mich ein mutiger Griff in den Kern als das Benagen der Peripherie.“

„Was meint Ihr damit? Ihr sprecht ja in Rätseln!“

„Wir müssen den Landgrafen von seinen elenden Ratgebern befreien und ihm persönlich den vollsten Einblick in das Getreibe des Tribunals verschaffen. Nötigenfalls mit Gewalt. Der Landgraf ist von Natur edel und gutherzig. Nur die Ruchlosigkeit der andern bethört ihn. Einmal zerrissen, wird der Schleier der Bosheit ihn nicht wieder einhüllen. Aber das Wie? ruft ihr voll Ungeduld. Ich bin eben daran, euch dies Wie auseinanderzusetzen. Laßt mich nur ausreden!“

Silentium für den Reißer und Maler!“ rief Doktor Ambrosius, dem die sichere, thatkräftige Art des Mannes gar wohl gefiel.

„Ihr wißt, Freunde,“ hub der Künstler wiederum an, während sein fahles Gesicht über den spitz hervorstehenden Backenknochen sich rötete, „ihr wißt, daß der Landgraf Otto alljährlich zu Anfang Oktober in den Stauffheimer Waldungen Jagd hält, und zwar mit ganz kleinem Gefolge. Außer dem Dienstvolk begleiten ihn kaum drei oder vier Edelleute; darunter jedoch unweigerlich die zwei Hauptfrevler, die ihn umgarnt halten, der Geheimsekretär Schenck von der Wehlen und der fluchwürdige Hofmarschall Benno von Treysa. Wenn es uns nun gelänge, im Dunkel des Stauffheimer Forstes die ganze glorreiche Jagdgesellschaft mit Einschluß des allergnädigsten Landgrafen dingfest zu machen …“

„Großartig!“ rief der rothaarige Hauptmann und schlug mit der Faust auf den Schwertgriff.

Auch Herr Theodor Welcker strich sich bewegt den ergrauenden Bart und nickte, als ob ihm der tollkühne Plan einleuchte. Der geistvolle Dernburger Rechtsgelehrte, der scheinbar so selbstlos die Glaustädter bei ihrem höchst gefahrvollen Werk unterstützte, war nicht ganz ohne Hintergedanken. Er wirkte insgeheim für seinen aufgeklärten, aber politisch ehrgeizigen Souverän, den Fürsten von Dernburg, der ihm ein unbegrenztes Vertrauen schenkte und von den Anzettelungen in Glaustädt Kenntnis hatte. Nur Woldemar Eimbeck wußte um diesen Sachverhalt. Er selbst hatte Herrn Theodor Welcker, mit dem er verwandt war, eingeweiht und herangezogen, und zwar in der Hoffnung, Fürst Maximilian von Dernburg werde im Notfall sich der bedrängten Glaustädter annehmen. Der staatskluge Theodor Welcker sah sofort ein, daß sich hier für die Dernburger Dynastie eine Aussicht bot, die nicht abgelehnt werden durfte. Wo der Ratsbaumeister die uneigennützigste Hingabe an die großen Ideen des Rechts und der Humanität voraussetzte, war zum erheblichen Teil der politische Egoismus im Spiele, der nun einmal, so lange die Welt steht, allenthalben das große Wort führt. Und die Berechnungen Theodor Welckers und seines erlauchten Herrn schwebten durchaus nicht schemenhaft in der Luft. Es war schon etlichemal vorgekommen, daß eine Landschaft sich wider den Territorialherrscher empört hatte und daß nachträglich der Kaiser den Aufrührern recht gab. Das Land wurde alsdann unter kaiserliche Verwaltung genommen und dem vertriebenen Territorialherrscher wieder zuerteilt, nachdem er bei seinem Eide gelobt hatte, sämtliche Mißstände, um die es sich handelte, von Grund aus abzustellen. Ein besonders störrischer Fürst hatte dreißig Jahre lang nur ein einziges Amt seines Gebietes zum Unterhalt angewiesen bekommen, bis er dann endlich nach Verlauf eines Menschenalters wieder vom Kaiser in die Regierung eingesetzt wurde. In anderen Fällen war von der Kaiserlichen Majestät ein noch strengeres Verfahren beliebt worden. Man hatte den Territorialherrscher einfach entsetzt und sein Land mit dem eines benachbarten Fürsten vereinigt. Etwas Derartiges konnte mit Glaustädt-Lich um so leichter geschehen, als Glaustädt noch zu Anfang des Dreißigjährigen Krieges eine reichsunmittelbare Stadt gewesen, ebenso frei wie Augsburg und Frankfurt und die nordischen Hansastädte. Es kam jetzt nur darauf an, außer den Uebergriffen der Malefikantenverfolgung noch etliche andere Rechtswidrigkeiten und Ausschreitungen der Glaustädt-Licher Verwaltung nachzuweisen, und das konnte nicht schwer halten, da der Hofmarschall Benno von Treysa und der Geheimsekretär Schenck von der Wehlen so ziemlich auf allen Gebieten des Staatslebens ihren verderblichen Einfluß übten.

Auch die übrigen Mitverschworenen zollten dem Plan des Reißers und Malers Beifall. Kunz Noll entwickelte nun die Einzelheiten. Er kannte die Oertlichkeit des Stauffheimer Waldes hinlänglich. Im letzten und vorletzten Oktober bereits war ihm die landgräfliche Jagdgesellschaft begegnet, wie er am Rotfelsen dicht bei der Stauffheimer Burgruine den herbstlichen Baumschlag abkonterfeite. Zufällig hätte er mit dem Führer der kleinen Meute ein paar Worte gewechselt. Das nahm jedes Jahr ganz den gleichen Verlauf. Die Stauffheimer Burgruine mit ihrer unterirdischen Wölbung bot einen ausgezeichneten Schlupfwinkel für sechs Dutzend Bewaffnete. Man konnte dort gleich im dunklen Versteck den Landgrafen auf die Bibel schwören lassen, daß er die beiden Gaudiebe fortjagen, die schier verzweifelte Bürgerschaft freundlich anhören und niemand wegen der Mitwirkung bei diesem Handstreich jemals verfolgen wolle. Im äußersten Fall, wenn der Landgraf sich weigerte, blieb ja dann immer noch, was man bisher geplant: die gewaltsame Aktion im Innern der Stadtmauern. Und dann war es unleugbar ein Vorteil, wenn man den Landgrafen und seine Hauptratgeber in sicherem Gewahrsam hatte. Die Regierung zu Lich war so von vornherein lahmgelegt. Ein Wagnis blieb das alles ja zweifellos, aber besser der ehrliche Mannestod mit dem Stahl in der Faust als die fortwährende Unsicherheit, bei der kein Bürger der Landgrafschaft wußte, ob er nicht schon die folgende Nacht hinter den Gittern des Stockhauses verbringen würde.

Kurz vor Mitternacht trennte man sich. Nur der Rechtsgelehrte aus Dernburg blieb noch bis gegen Eins mit Woldemar aufsitzen. Er hatte beim Ratsbaumeister für die paar Tage seines Glaustädter Aufenthaltes Wohnung genommen und brannte vor Eifer, die Erörterungen des Reißers Und Malers noch einmal unter vier Augen durchzusprechen.

[389]
6.

Das Glaustädter Malefikantengericht war bis auf den Vorsitzer nur eine Abzweigung des schon vorher auf diesem Gebiet kompetent gewesenen Stadtgerichts. Balthasar Noß, vom Landgrafen mit der Konstituierung beauftragt, hatte die Beisitzer und Schöffen selbst ausgewählt und hier, wie in so vielen Maßnahmen seines Berufs, keinen alltäglichen Scharfblick gezeigt. Der eine Beisitzer, Wolfgang Holzheuer, und die drei Schöffen waren gefügige Werkzeuge in der Hand ihres Meisters und beugten sich stets ohne Widerspruch seiner geistigen Ueberlegenheit. Auch mochte bei ihnen die Furcht vor dem Schreckensmanne, der mit so unbeschränkten Vollmachten ausgerüstet war und frei über sämtliche Rutenknechte und Stadtsoldaten verfügte, alle Skrupel ersticken, zumal sie so von dem wüsten Treiben des Noß ihrerseits klingenden Vorteil zogen. Der andere Beisitzer, Doktor Adam Xylander, hatte zwar keinerlei Scheu, selbst mit Balthasar Noß in Meinungsverschiedenheit zu geraten, wo es die Sache verlangt hätte, aber er war das Urbild eines beschränkten Fanatikers, tief durchdrungen von der Notwendigkeit, das gottverhaßte, seelenmordende Hexen- und Zauberwesen mit Feuer und Schwert auszurotten um jeden Preis. Der „Hexenhammer“, dieses berüchtigte Denkmal traurigster Geistes- und Herzensverirrung, stand ihm an zwingender Logik turmhoch über jedem anderen Gesetzbuch. Während Balthasar Noß aller Wahrscheinlichkeit nach lediglich aus gemeinstem Eigennutz handelte, hielt Herr Adam Xylander in diesem Punkt seine Hand vollständig rein und verschmähte alle Gebühren und Anteile, die ihm nach der Gepflogenheit der Malefikantengerichte aus dem Verfahren erwachsen wären. Seine Besoldung dünkte ihm ausreichend.

Doktor Adam Xylander führte im Gegensatz zu dem schwelgerischen und ausschweifenden Balthasar Noß ein fleißiges, schlichtes, untadeliges Privatleben. Er war unter sämtlichen Blutrichtern der einzige, der die Prozeßakten oft bis spät in die Nacht hinein mit gewissenhaftester Gründlichkeit studierte und sich in seiner beschränkten Art redlich abmühte, die Wahrheit herauszufinden. So vollständig aber steckte er in seinen gräßlichen Vorurteilen, daß er jeder Thatsache, die zu entlasten schien, gleich von vornherein mißtrauisch gegenüberstand. [390] Die Furcht, der Satan möchte ihn blenden und ihm den klaren Verstand wirren, quälte ihn wie eine fixe Idee. So kam es, daß er oft gerade da, wo die Beschuldigten am geringsten belastet waren, mit ganz besonderer Heftigkeit und Strenge ins Zeug ging.

Doktor Adam Xylander bewohnte ein enges, niedriges Haus in der Kreuzgasse. Bertha, die schon ältliche Tochter seines verstorbenen Bruders, führte dem alten Hagestolz hier seit Jahren die Wirtschaft. Für die Umwohner war das graugelbe Häuschen mit dem stark überbauten Obergeschoß und dem windschiefen Giebel schon vor der Einsetzung des Malefikantengerichts ein Gegenstand heimlicher Scheu gewesen. Wenn sich da droben das winzige Fenster aufthat und das lederfarbige Geiergesicht Adam Xylanders erschien, um einen Augenblick Luft zu schöpfen, dann hörten die Kinder der Kreuzgasse mitten im Spiel auf und zeigten sich voll ängstlichen Staunens den Mann, der da im Rufe stand, niemals zu lachen, niemals Wein oder Bier zu trinken und keine Seele aus Gottes Welt lieb zu haben. Es machte dann wirklich den Eindruck, als luge ein scharfgeschnäbelter Raubvogel aus seinem Horste herab. Um dieser Aehnlichkeit willen hieß das unschöne Häuschen mit der armslangen kreischenden Wetterfahne in ganz Glaustädt das Geierhäuschen.

Am sechsten Juni lag Doktor Adam Xylander noch bei vorgerückter Tagesstunde zu Bett. Er hatte sich bei dem hochmögenden Vorsitzer Balthasar Noß für heute entschuldigen lassen. Die Ursache war ein unerklärlicher Angstanfall mit stoßartig auftretendem Herzklopfen und häufigem Zittern. Sein starkes Pflichtgefühl trieb ihn zwar zur gewohnten Stunde vom Lager, aber beim Ankleiden war sein Befinden wesentlich schlimmer geworden. Obgleich er sich nun wieder hinlegte und auf Anraten seiner verständigen Bruderstocher etliche Tassen Fliederthee zu sich nahm, wollte der Anfall nicht ebben. Im Gegenteil, die Herzstöße wurden jetzt häufiger, kalter Schweiß trat ihm auf Stirn und Nase und das merkwürdige Angstgefühl, das so gegenstandslos und doch so grauenhaft war, steigerte sich von Stunde zu Stunde. Zuletzt schrie der Patient gell auf, stöhnte, warf sich verzweifelt herum und klapperte mit den Zähnen wie beim heiligsten Schüttelfrost.

So schickte denn Bertha Xylander, trotz des Widerspruchs des Erkrankten, zu Doktor Ambrosius. Der Liebling des Glaustädter Patriziats war ihr von Ansehen bekannt und flößte ihr, sie wußte selbst nicht warum, ein unbegrenztes Vertrauen ein.

Das Laufmädchen, das Bertha Xylander in die Wohnung des Arztes schickte, ward von Rudloff, dem Altgesellen, der gerade mit Elma Wedekind auf der Treppe stand, nach dem Gasthof zum Goldnen Schwan gewiesen. Dort in dem kleinen Gastzimmer pflegte Ambrosius um diese Zeit mit etlichen Tischgenossen das Mittagsmahl einzunehmen.

Im ersten Augenblick war Doktor Ambrosius von der unerwarteten Kundschaft wenig erbaut. Dann aber ließ er vermelden, sobald er gespeist habe, stehe er dem Herrn Beisitzer gern zur Verfügung. Ein unbestimmtes Gefühl war in ihm aufgetaucht, daß er den ärztlichen Besuch bei Xylander möglicherweise zu gunsten der armen Brigitta Wedekind ausnutzen könnte. Unmittelbar ein gutes Wort für sie einzulegen, das war allerdings bei dem ewig lauernden Mißtrauen des starren Fanatikers nicht nur zwecklos, sondern auch lebensgefährlich. Doktor Xylander hätte sofort in dem Fürsprecher einen Satansgenossen gewittert, denn wer Hexen und Zauberer beschützt – so ging ja die Rede, der zählt ebenso zu dem Spießgesinde des Bösen wie der Beschützte selbst. Irgendwie aber ließ sich doch vielleicht anknüpfen. Die Macht des Arztes über den Kranken ist groß, und nach dem kurzen Berichte des Laufmädchens schien der Fall Doktor Xylanders für eine solche Beeinflussung nicht gerade ungeeignet.

In bester Stimmung verzehrte Ambrosius den Nürnberger Goldkrapfen, den die Wirtin vom Goldnen Schwan ganz besonders schmackhaft bereitete. Zum erstenmal seit dem furchtbaren Schicksalstage, der die Familie des Schreiners betroffen, aß er jetzt mit wirklichem Appetit. Obschon er ja zu den Wedekinds, streng genommen, nur ganz äußerliche Beziehungen hatte, war ihm die Sache doch wider alle Vernunft nahe gegangen. Besonders auch um der kleinen Elma willen, die wie verstört umherschlich, mit ihren großen forschenden Augen überall in die Ecken und Winkel spähte und nirgend mehr Rast fand. Diese fiebrische Unruhe wirkte auf Doktor Ambrosius noch peinvoller als die erkünstelte Starrheit des Schreiners, der, von der Erfolglosigkeit aller Bemühungen fest überzeugt, gleichmäßig weiterschaffte und lange über Feierabend hinaus Hobel und Säge handhabte. Doktor Ambrosius sah nun endlich, nach dem fruchtlosen Hin- und Hersinnen der letzten Tage, die freilich noch immer sehr unklare Hoffnung aufdämmern, durch eine klug berechnete Wendung, die ihm der Augenblick eingeben mußte, das Unheil Brigittas um einige Tage oder gar Wochen hinauszuschieben. Und Zeit gewinnen, hieß immerhin doch etwas gewinnen. Man konnte nicht wissen, was für das Treiben des Malefikantengerichts im Schoße der Zukunft schlief.

Er winkte der schmucken Kellnerin, zahlte und schenkte ihr einen Glaustädter Batzen. Für die wackere Frau Wirtin, die jetzt gerade vorbeikam, hatte er ein artiges Wort betreffs der Nürnberger Goldkrapfen. Dann leerte er sein bauchiges Glas und bot den drei Tischgenossen, die gleichfalls aufstanden, freundlich die Hand. „Gott befohlen!“ sagte Herr Jansen, der Buchdrucker. Sein Antlitz war heute schier violett, so tapfer hatte er in den Kalbsnierenbraten und den wohlgeölten Salat, ganz besonders auch in die Goldkrapfen eingehauen. Dann mit gedämpfter Stimme. „Nehmt Euch in acht, herzlieber Doktor, auf daß Euch bei dem gestrengen Adam ja kein unbesonnenes Wörtlein entschlüpfe! Ihr lacht vielleicht, aber es ist mal so. Ins Geierhäuschen ging’ ich Euch nicht für schweres Geld.

„Hol’s der Henker!“ murmelte Fridolin Geißmar, der rothaarige Hauptmann. „Es heißt von eh’: mit großen Herren ist nicht gut Kirschen essen. Geschweige denn gar mit so einem. Da dächt’ ich schon gleich, der Kerl müßte beim ersten Blinzeln Verdacht schöpfen.“

„Unbesorgt! Werde das Leitseil nicht fahren lassen. Herr Kunz Noll, begleitet Ihr mich ein Stück? Wir haben den nämlichen Weg.“

„Bis an die Mauthgasse, gern!“

Der Reißer und Maler mit dem blassen Gesicht und den spitz vorstehenden Backenknochen hatte sich schon beim Eintreten des Laufmädchens vorgenommen, die Gelegenheit zu benutzen, um Herrn Doktor Ambrosius ein kurzes Wort unter vier Augen zu sagen. Es handelte sich um eine wichtige Einzelheit in dem kühnen Entwurf, den Herr Noll jüngst dem Woldemar Eimbeck erörtert hatte. Es drängte den Künstler, ein ruhiges, unbeeinflußtes Urteil zu hören. Doktor Ambrosius besaß vor allen übrigen Mitverschwornen sein volles Vertrauen. Dem leicht erregbaren Hauptmann und dem cholerischen Buchdrucker wollte er vorläufig keine Mitteilung machen, da er die Ansicht der beiden in derartigen Fällen für wenig maßgebend hielt.

Die Sache war bald erledigt. Am Rande des Marktbrunnens, der um diese Zeit völlig verwaist stand, lehnte Herr Kunz Noll eine Minute lang mit Gustav Ambrosius wie in stiller Betrachtung des heiligen Georg und seines giftspeienden Drachen. Breit lächelnd flüsterte er dem jungen Arzt eine bedeutsame Aenderung des letzthin entwickelte Planes zu und erbat sich ein offnes Urteil. Doktor Ambrosius war höchlich erstaunt über diesen neuen Beweis von außergewöhnlichem Scharfsinn und feinster Berechnung.

„Mustergültig!“ raunte er leise. „Aber nun still! Da kommt einer quer über den Platz. Reden wir von was anderm!“

Sie wandelten weiter.

„Ich begleite Euch nur bis dort um die Ecke,“ sagte Kunz Noll. „Dann muß ich nach links ab zur Marienkirche. Noch ist die Ausbesserung der Tabula in der Gusecker Seitenkapelle nicht fertig. Mancherlei kam uns dazwischen.“

„Ihr seid fleißig! Ueberall habt Ihr die Hände im Spiel.“

„Wie man’s nimmt. Vieles und doch nichts rechtes. Ist ja heutzutage in Glaustädt nicht viel Seide zu spinnen! Wenigstens nicht mit der wahren Kunst, die aus dem Herzen kommt. Handwerksarbeit, Herr Doktor!“

„Nicht so ganz, Ihr verzeiht! Ich bin kein Fachmann, aber ein Liebhaber, der sogar manchmal selber den Pinsel führt. Was ich da kürzlich im Hause des Bürgermeisters gesehn – die zwei Frauenbildnisse und die Herbstlandschaft …“

„Ja, das stammt noch aus meiner guten Zeit. Da konnt’ ich noch was. Nach und nach verliert man die Lust. Wenn [391] man so sieht, was die Glaustädter Geschlechterfamilien bevorzugen … Der Bürgermeister ist eine große Ausnahme. Der kümmert sich ja in der That manchmal mehr um die Kunst als um sein Amt. Doch dieser eine Herr Kunhardt macht uns die Suppe nicht fett.

Noch ein paar Schritte, und der merkwürdige Mensch bog mit höflichem Gruß in die Kirchgasse. Doktor Ambrosius schaute ihm kopfschüttelnd, aber nicht unfreundlich nach. Der Mann dünkte ihm der verkörperte Widerspruch. Unzufrieden mit sich und der Menschheit, wortkarg und mürrisch, aber bei alledem selbstlos, warmherzig und begeisterungsfähig im rechten Augenblick, von starker Beredsamkeit; jetzt ein weltflüchtiger Schwärmer und jetzt ein Mann der verblüffenden Klugheit und Energie – das war Kunz Noll, der Reißer und Maler zu Glaustädt.

Doktor Ambrosius beschleunigte nun seine Schritte. Nach fünf Minuten stand er vor dem windschiefen Häuschen des Malefikantenrichters. Trotz der weißglühenden Sonne des Junitages war’s in dem engen Hausflur beinahe finster. Die Holztreppe mit dem unfesten Geländer krachte und wackelte, wie sich Ambrosius mühsam hinauftastete. Dann, mit einem Male, ward es da droben hell. Eine vierschrötige Wasch- und Putzfrau, die sich die Hände an ihrer groben Leinenschürze abtrocknete, hatte die Kammerthür aufgerissen. Gleich danach ging eine zweite Thür auf. Bertha erschien, die dreißigjährige Nichte Xylanders, und hieß den Arzt mit etwas hochtöniger Stimme willkommen.

Doktor Ambrosius trat in die sauber gehaltene, aber unendlich freudlose, nüchterne Wohnstube. Er sah sich einem Geschöpf gegenüber, das zu dieser Wohnstube paßte. Hager und schmalwangig, die Nasenspitze ein wenig gerötet, trug diese Bertha Xylander ein Hausgewand von unerhörter Geschmacklosigkeit. Und doch verriet das sorgfältig gescheitelte Haar und die frisch-blühende Rose am Gürtel den Wunsch, zu gefallen.

„Verzeiht,“ sprach sie, die bläulichen Augen zu Boden gesenkt, „daß ich Euch vielbeschäftigten Mann stören mußte, da Ihr bei Tisch saßet. Aber Not kennt kein Gebot, wie Ihr ja wißt.“

„Ich bitte das Fräulein, sich derohalb keinerlei Vorwurf zu machen. Der Arzt ist jedermanns Diener und soll stündlich bereit sein, wenn es das Wohl seiner Mitmenschen gilt.“

„Wollt Ihr nicht Platz nehmen?“ fragte sie lächelnd und wies auf einen Stuhl in der Fensternische. „Ihr habt vielleicht zuvörderst den Wunsch, etwas von mir über den Kranken zu hören …“

„Ich danke Euch sehr. Aber ich glaube, es wäre doch zweckmäßiger, wenn ich den Herrn Patienten gleich persönlich in Augenschein nähme. Der Laie wird in derartigen Fällen gar häufig getäuscht. Ohne Eure Beobachtungsgabe irgend bezweifeln zu wollen.“

„Jawohl, Bertha!“ erklang jetzt die dumpfe Stimme des Malefikantenrichters aus dem anstoßenden Schlafzimmer. „Führe nur den Herrn Medicus ohne Umschweif herein! Ich lechze danach … Allgütiger Gott, nun kommt’s mit verdoppelter Wut! Dieser entsetzliche Alpdruck! Helft mir, Herr Doktor, bei allem, was heilig ist! Schnell, schnell!“

„Da bin ich schon!“ sagte Doktor Ambrosius. Er verneigte sich ehrerbietig. „Gern zu Euren Diensten, mein werter und hochgelahrter Herr Stadtrichter! Wo fehlt’s denn? Was? Und laßt Euch vor allen Dingen mal anschauen! Oder thut das grelle Tageslicht Euren Augen weh?“

Xylander verneinte. Der junge Arzt ging zum Fenster und schob den grauwollenen Vorhang zurück.

„Das ist nur der leidige Einfall meiner allzuvorsichtigen Bruderstochter, stöhnte Xylander. „Wenn ihr der Kopf schmerzt, dann vergräbt sie sich allemal in das schwärzeste Dunkel. Nun meint sie, das müsse auch mir helfen. Aber im Gegenteil! Ich bitt’ Euch, Herr Doktor, öffnet sogar die Fensterflügel! Ich lechze nach Luft. Jetzt weiß ich erst, was mir die ganze Zeit so todschwer über der Brust liegt.

Doktor Ambrosius öffnete beide Flügel, während die hagere Bertha schüchtern davonschlich. Es schmerzte sie, daß ihre Maßregel in Gegenwart des Doktor Ambrosius als leidig und allzu sorglich bezeichnet wurde. Diesem Mann gegenüber hätte sie lieber den Eindruck jugendlicher Leichtlebigkeit und Kühnheit gemacht. Uebrigens konnte sie ja wohl ohnedies bei der ärztlichen Untersuchung des Oheims nicht anwesend bleiben. Sie schloß die Thür und setzte sich seufzend an ihr mehrfach geleimtes Spinnrad.

Ein leichter Luftzug ging durch das niedrige Schlafzimmer Adam Xylanders, frisch und erquickend trotz der warmen Junitemperatur. Von der Seite her fiel ein goldheller Sonnenstrahl bis an die Bettstatt.

Der Kranke auf dem künstlich erhöhten Pfühl sah zum Entsetzen aus. Die winzigen Augen, die in äußerster Hilflosigkeit zu Doktor Ambrosius emporschauten, lagen ihm tief in den Höhlen. Die Nase schien größer als sonst. Um die blutlosen Lippen, die sonst so starr und so willenskräftig geschlossen waren, spielte ein fortwährendes Zucken.

„Fühlt Ihr Euch nun minder beengt, Herr Stadtrichter?“ fragte der Arzt.

„Ja … das heißt … nicht sehr wesentlich …“

„Schnürt’s Euch die Kehle?“

„Nein. Die Kehle ist frei. Es ist … Wie soll ich das nur beschreiben? Als ob sich mir da links auf die Brust eine steinerne Faust legte. Und wenn ich die Augen schließe, dann seh’ ich allerlei furchtbare Gestalten, riesige Schlangen und Lindwürmer. Die wälzen sich näher und näher und fauchen mich an mit ihrem giftigen Atem. Er stieß einen gräßlichen Schrei aus und zog die Decke zu sich herauf, wie einer, der friert. Im nächsten Augenblick begann er, zu schlottern.

Doktor Ambrosius ergriff die Hand des Patienten, um seinen Puls zu fühlen. Das war bei diesem stürmisch erregten Zustand unmöglich. Dann beugte er sich über den Mann her und lauschte den Schlägen des wild pochenden Herzens. Mit einem Male hörten die Zuckungen auf. Der Kranke atmete ruhiger und regelmäßiger. Es machte den Eindruck, als wollte sich eine tiefe Ohnmacht oder ein wohlthätiger Schlaf einstellen.

Der Arzt ging in das Nebenzimmer und dann in das Treppenhaus, um die jählings entschwundene Bertha zu holen. Sie hatte die Kammerthür offen gelassen und stürzte eiligst herbei.

„Ich bitt’ Euch,“ sagte Ambrosius leise, „gebt mir Papier und Schreibzeug!“

„Das steht alles bereit,“ flüsterte Bertha. „Hier auf dem Ecktisch.“ Auch sie hatte unwillkürlich die Stimme abgedämpft. Doktor Ambrosius ergriff die Feder und riß einen handbreiten Zettel ab. Mit seiner kernigen Rundschrift warf er ein paar lateinische Buchstaben auf das Blatt, nahm die Streubüchse und schüttete Sand darüber. Bertha beobachtete ihn, wie der frommgläubige Wallfahrer ein wunderthätiges Bild beobachtet.

„So! Habt nun die Güte, sofort zum Engel-Apothecarius zu schicken. Die Herstellung dieses Medikaments erfordert nur zwei Minuten. Ich möchte die Wirkung der ersten Dosis noch abwarten. Solang’ bleibe ich hier.“

Er setzte sich auf den gebeizten Stuhl, den ihm Bertha Xylander vorhin schon gewiesen hatte, ohne daß er der Einladung gefolgt wäre. Mit sanftem Erröten, das den Kontrast zwischen der Nasenspitze und dem übrigen Antlitz erheblich milderte, nahm sie ihm gegenüber Platz und suchte aus ihm herauszubekommen was dem verehrten Oheim eigentlich fehle. Doktor Ambrosius aber zeigte sich sehr zurückhaltend, ohne doch gerade die Höflichkeit zu verletzen. Er fühlte, daß diese Bertha Xylander um so lebhafter für ihn zu schwärmen begann, je weniger er geneigt schien, ihrer altjüngferlichen Begeisterung entgegenzukommen. Diese plötzlich erwachte Verehrung jedoch konnte bei dem offenkundigen Einfluß Berthas auf ihren Oheim irgendwie von Belang sein. Man mußte den Vorteil benutzen.

Der Malefikantenrichter hatte inzwischen bewußtlos dagelegen, ob im Schlaf der Erschöpfung, blieb unentschieden. Manche Symptome sprachen für eine Ohnmacht. Jetzt, mit einem Male, schrie er wiederum gell auf. Doktor Ambrosius und Bertha Xylander traten ins Krankenzimmer, um dem Gepeinigten hilfreiche Hand zu leisten. Er ward aufgerichtet, so daß er nun beinahe vollständig saß. Darauf erschien das kleine Laufmädchen und brachte das Medikament. Es war eine Glasphiole mit hellbrauner Flüssigkeit. Bertha füllte auf das Geheiß des Arztes eine thönerne Trinkschale mit frischem Wasser. Doktor Ambrosius schüttete etwa ein Sechstel vom Inhalt der Glasphiole hinein und hieß den Kranken die Thonschale ausschlürfen. Adam Xylander genoß den säuerlich schmeckenden Trank mit unverkennbarer Gier. Dann legte er sich wieder zurück auf den erhöhten Wollpfühl.

„Ruht Euch jetzt eine Weile!“ sagte Ambrosius. „Dann [392] reden wir eingehend. Von neuem begab er sich mit der hageren Bertha hinüber ins Wohnzimmer.

„Ihr seid sein Retter!“ stammelte sie verzückt und ergriff seine Hand.

„Vieledle Jungfrau, ich thue hier nur meine Pflicht! Auch sind wir ja längst noch nicht über den Bergrücken.“

„Nicht?“ raunte sie zweifelnd. „Ich dachte, sobald er das Heilmittel getrunken hätte …“

„Ihr überschätzt meine Kunst. Euer Herr Oheim ist offenbar schon seit geraumer Zeit aus dem Geleise. Er denkt und grübelt zu viel. Die ganze Ernährung ist mangelhaft … Was aber Wochen und Monate hier verdorben und ausgerenkt haben, das kann der Arzt nicht so im Handumdrehn wieder einrenken.“

„Mein armer vortrefflicher Oheim!“ flüsterte Bertha tieftraurig. „Ja, es ist wahr, er grübelt zu viel und hat wohl zu wenig Schlaf. Sein aufreibendes Amt stört ihm die Nachtruhe. Und seit einiger Zeit schmeckt’s ihm auch nicht wie sonst. Guter Gott, wenn ihm nur nichts Bedenkliches zustößt! Ach, Ihr glaubt ja nicht, wie sich mein Herz um ihn bangt! Außer ihm hab’ ich auf Gottes weiter Welt keine menschliche Seele.“

Und nun erzählte sie mit wachsender Lebhaftigkeit, wie sie von Kindheit an verwaist und verlassen sei. Oheim Xylander hatte ja eigentlich etwas Strenges und Kaltes, aber er war doch der einzige Mensch, der sie was anging. Und brav war er auch und fleißig vor allem Uebrigen, und neben den Tagespflichten machte er noch zum Heile der Menschheit die schwerwiegenden Studien im „Hexenhammer“, die ihn wohl nachgerade so überreizt hatten. Sie hing nun einmal an ihm, sie verehrte ihn, obwohl sie ja wußte, daß er in Glaustädt wenig beliebt war und selber kein großes Bedürfnis hatte, sich anzuschließen.

Doktor Ambrosius hörte ihr schweigend zu. Mehr und mehr fühlte er wirkliche Teilnahme für dies arme Geschöpf, dessen letzter Freund und Verwandter ein so verödeter, blindfanatischer Mensch war. Als sie geendet hatte, sagte er ihr ein gutherziges Wort. Da ging es über ihr unschönes Antlitz wie Sonnenschein. Bei diesem Aufleuchten vergaß man beinahe, wie reizlos und ältlich sie war.

Nach Verlauf einer Viertelstunde begab sich der Arzt wieder ins Krankenzimmer. Er fand den Patienten leidlich beruhigt, aber doch sehr niedergeschlagen und kleinmütig. Ambrosius setzte sich zu ihm aufs Bett und fragte ihn mit vertrauenerweckender Freundlichkeit aus. Dann faßte er sein Urteil zusammen wie folgt. „Euer Zustand, Herr Stadtrichter scheint nicht eben gefahrvoll, wenn auch ängstliche Schonung not thut. Ihr seid stark überarbeitet. Und – das möcht’ ich betonen – just die Art Eurer Beschäftigung hat Euch so zugesetzt. Eure Stellung als Malefikantenrichter läßt Euch fortwährend Einblicke thun in die trostlosesten Abgründe des Lebens. Das regt Euch fortwährend auf. Dazu kommt Euer starkentwickeltes Pflichtgefühl und das Bewußtsein der ungeheuren Verantwortlichkeit, die auf Euch lastet. Kurz, Herr Stadtrichter, wenn Ihr nicht ernstlich erkranken wollt, müßt Ihr Euch unbedingt eine Zeit lang ausspannen.“

„Das geht nicht!“ rief Xylander, sich aufsetzend. „Ich darf wohl sagen, ich bin die Seele des ganzen Gerichtshofs. Natürlich abgesehen von unserm Herrn Vorsitzer, dessen Verdienste ich gewiß nicht verkleinern will. Aber auch er überläßt mir vieles zur selbständigen Vorbereitung. So wieder jüngst den furchtbaren, schier unglaublichen Fall der Wedekindin.“

Doktor Ambrosius erbebte ein wenig. Rasch gefaßt aber sagte er wie aus tiefernster Erwägung heraus:

„Ich weiß nicht, was man der Frau schuld giebt. Da Ihr den Fall jedoch als schier unglaublich bezeichnet, so darf ich schließen, daß er Euch ganz besonders erregt hat. Der heutige Anfall hängt vielleicht mit dieser Sache zusammen. Habt Ihr wohl gar in eigener Person das Verhör geleitet?“

„Das versteht sich von selbst. Ich sagte ja schon, daß Herr Balthasar Noß den Fall zunächst mir überantwortet hat.“

„Und die Einzelheiten dieses Verhörs waren erschütternd?“

„Die Einzelheiten des kurzen Verhörs? Nein. Das währte kaum fünf Minuten. Erst später, wenn ich die Angeklagte torquieren lasse, dauert das länger. Aber die wachsende Fülle der Zeugenaussagen! Ihr glaubt nicht, was da für krasse Entsetzlichkeiten zu Tage kamen! Ich darf mich hier nicht weiter darüber aussprechen, die Amtspflicht verwehrt mir’s. So viel jedoch kann ich Euch sagen, nie bis jetzt hab’ ich etwas von gleicher Abscheulichkeit und Fürchterlichkeit erlebt.

„Ich dachte mir’s wohl. Und just weil Euch der Fall der Wedekindin so scharf an die Seele faßt und Euch so sichtbarlich Schaden thut, müßt Ihr einstweilen ihm fern bleiben. Ihm und den Obliegenheiten des Amtes überhaupt! Das allerdings möchte ich Euch beileibe nicht raten, just diesen Prozeß, der Euch so unwiderstehlich gepackt hat, um der fünf oder sechs Wochen willen ganz aus der Hand zu geben. Fünf oder sechs Wochen braucht Ihr nämlich als das Mindeste für Eure Erholung …“

„Unmöglich!“

„Es ist so! Und ich rechne dabei noch außerordentlich knapp. Also – was ich bemerken wollte. Ihr braucht Euch ja die Arbeit der Untersuchung deshalb nicht nehmen zu lassen. So sehr brennt doch die Sache nicht auf dem Nagel. Ich fürchte, es möcht’ Euch beunruhigen und Euch später wohl gar noch Zweifel und arge Gewissensskrupel verursachen, wenn Ihr zurückträtet, wo es sich um so schwerwiegende Dinge handelt.“

„Da habt Ihr recht. Den Prozeß der Wedekindin muß ich zu Ende führen, und zwar schleunigst!“

„Sobald Ihr könnt. Behaltet Euch den Prozeß vor und zieht anderthalb Monate aufs Land. Herr Noß wird Euch wohl keinerlei Schwierigkeit machen. Ihr aber geht binnen acht Tagen zu Grunde, wenn Ihr nicht vollständig rastet.“

„So schlimm steht es mit mir?“

Doktor Ambrosius zuckte die Achseln: „Nicht gerade hoffnungslos, wenn Ihr vernünftig seid, aber doch schlimm genug, um äußerste Vorsicht nötig zu machen. Habt Ihr schon wieder vergessen, wie’s Euch gepackt und geschüttelt hat?“

„Freilich …“ stammelte Adam Xylander. „Und ich weiß nicht – jetzt, wo Ihr’s erwähnt, hebt’s auch schon wieder an …“

„Nein. Das ist Einbildung. Der Anfall wird heute nicht wieder kommen. Zur Nacht trinkt Ihr die zweite Dosis von diesem wohlthätigen Medikament da und schlaft bei geöffnetem Fenster. Morgen in aller Frühe verlaßt Ihr die Stadt. In Lynndorf oder in Königslautern findet Ihr unschwer ein Bauernhaus, wo man für Geld und gute Worte Euch aufnimmt. Eure Bruderstochter, natürlich, begleitet Euch. Und nichts von Akten oder dergleichen wird mitgeschleppt! Auch kein ‚Hexenhammer‘. Höchstens ein hübscher Kalender mit Schnurren und Reiseberichten, oder das Rollwagenbüchlein. Ob Ihr das kennt oder nicht, ist gleichgültig. Ihr dürft Euch sogar beim Lesen ein bißchen langweilen. Und dann treibt Euch soviel wie möglich im Wald herum, trinkt frische Milch und eßt, was Euch mundet! Auch ein Brettspiel mag Euch die Nichte einpacken. Dergleichen ist Euch gesünder als das wortlose Kauern und Trübsalblasen. Ich werde dem Fräulein das alles nochmals genau einschärfen. Und nun, Herr Stadtrichter, wünsch’ ich den besten Erfolg. Thut Ihr was ich hier anrate, so werden wir schon mit Gottes Hilfe Eures unleidlichen Uebels Meister werden.

Adam Xylander seufzte. Je länger Doktor Ambrosius zu ihm gesprochen hatte, um so mehr stand der Patient unter dem Banne des Arztes, der ihn so klar beurteilte und mit so kraftvoller Hand aus der bisherigen aufreibenden Lebensweise herausriß.

„Es kommt mich hart an,“ sagte Xylander, „aber ich sehe nun selbst, daß es sein muß. Inzwischen dank’ ich von Herzen für Eure Bemühungen. Könntet Ihr auch da draußen in Lynndorf bei mir sein! Ich weiß nicht, Eure Nähe schon wirkt beruhigend.

„Ich besuch’ Euch einmal. Gehabt Euch wohl!“ Doktor Ambrosius verneigte sich. Fünf Minuten noch sprach er im Nebengemach mit Bertha und wiederholte ihr alles, was er dem Kranken verordnet hatte. Besonders verweilte er auch bei der Notwendigkeit, die Sache der Wedekindin für den Beisitzer aufzubehalten. Er deutete an, daß Adam Xylander in dieser Beziehung von einer Wahnvorstellung gequält werde, auf die man ernstliche Rücksicht zu nehmen habe, wenn sie nicht ausarten solle.

Bertha schäumte von Erkenntlichkeit über. Sie hätte ihm beinahe die Hand geküßt.

„Verlaßt Euch darauf, Eure Anordnungen sollen mir heilig [394] sein bis auf das letzte Jota. Augenblicks schreib’ ich dem Vorsitzer. Oder noch besser, ich gehe selbst hin. Das mit der Wedekindin läßt sich ja besser mündlich erklären. Ich will’s ihm schon dringend machen. Ja, und das übrige … Ihr werdet ja sehn! Ihr sollt mich loben, Herr Doktor.“

„Das thu’ ich schon jetzt,“ sagte Ambrosius, der mit Genugthuung wahrnahm, daß er die Nichte fast noch stärker beeinflußte als den erkrankten Oheim. „Ich seh’ es mit Freuden, Ihr seid die geborene Pflegerin.“

Er bot ihr die Hand und ging. Bertha Xylander beugte sich aus dem Fenster, ihm nachzuschauen. Wie stolz und hoheitsvoll er die Gasse durchschritt, das schwarze Barett über dem tiefbraunen Haar, den Kopf in den Nacken gelegt wie einer, der am taufrischen Morgen hinauswandert in die knospende Frühlingswelt. Der armen verblühten Bertha ward es mit einem Male ganz eigen ums Herz. Sie hätte laut aufweinen und doch wieder jubeln und jauchzen mögen. Welch ein Glück für den Oheim, daß sie ihrer Eingebung gefolgt war und zu diesem vorzüglichen Meister geschickt hatte, obgleich er ja leider Gottes im Hause der Wedekinds wohnte! Adam Xylander wußte das nicht! Er lebte in vollster Unkenntnis aller Verhältnisse, die ihn nicht unmittelbar berührten. Und vorläufig brauchte er’s auch nicht zu erfahren. Bei seiner Ueberempfindlichkeit konnte man nicht voraussehen, ob er das nicht etwa als ungünstiges Omen betrachten und sich deshalb erregen würde. Wenn er erst wieder gesund war, gut, so lagen die Dinge anders. Dann würde er nicht mehr nach bloßen Eindrücken und Stimmungen urteilen. Ja, Doktor Ambrosius hatte, wie überall, so auch in diesem Punkt vollständig recht!

Sie setzte das Laufmädchen ins Wohnzimmer für den Fall, daß der Patient etwas benötigen sollte, und machte sich auf, den Vorsitzer des Malefikantengerichts, Herrn Balthasar Noß, der von Eins bis halb Vier speiste und ruhte, in seiner Privatwohnung aufzusuchen.

[409]
7.

Doktor Ambrosius war für den Nachmittag zu dem Hochschulmagister Franz Engelbert Leuthold gebeten, der im Kreis etlicher Freunde seinen Geburtstag feierte. Die Stunde, die Leutholds Wirtschafterin Gertrud in ihrer Einladung festgesetzt hatte, rückte schon hart heran, als Doktor Ambrosius noch mit der Nichte des Beisitzers verhandelte. Im Hinblick auf diese Einladung hatte er die notwendigsten Gänge vor Tisch erledigt und sich für die übrige Tageszeit frei gemacht. Nun drängte es ihn, so rasch wie möglich hinaus in die Grossachstraße, wo er von Hildegards Nähe ein paar glückselige Stunden erhoffte. Ohnedies war er jetzt in der rosigsten Laune. Was ihm noch unklar vorschwebte, als er dem Laufmädchen den gewünschten Besuch im Geierhaus zusagte, das hatte sich über jedes Verhoffen günstig gestaltet. Das drohende Unheil Brigitta Wedekinds schien doch einstweilen mehr in die Ferne gerückt. Er durfte zufrieden sein.

Da fiel ihm bei, welch’ ein erheblicher Trost es für den Zunftobermeister und die trauernde Elma sein würde, wenn sie sogleich etwas von dieser unerwarteten Wendung erführen. Er konnte ja die Mitteilung in die zweckdienliche Form kleiden, damit sie nicht etwa den Eindruck empfingen, als habe er, Doktor Ambrosius, die Entschließung des Malefikantenrichters künstlich hervorgerufen. Obgleich er also in seiner Wohnung nichts mehr zu suchen hatte und recht sehr darauf brannte, die Verspätung im Geierhäuschen durch verdoppelte Eile wett zu [410] machen, scheute er doch nicht den Umweg über den Markt, um den beiden zu melden, daß vorläufig der Verhafteten nichts Uebles geschehen werde.

Er trat in den Hausflur und klopfte dreimal wider die Thür der Wohnstube. Da kam die Tochter des Zunftobermeisters von der Küche her auf ihn zu. Sie war jetzt eben mit Aufwaschen fertig geworden und band sich ein kurzes, rotlinnenes Hausschürzchen vor.

„Elma,“ sagte der junge Arzt, „ich möchte dir und dem Vater etwas berichten, was euch wohl freuen wird.“

„Freuen?“ wiederholte sie wehmütig. „Was könnte das sein?“

„Nicht viel, aber doch mehr als zu hoffen stand. Ihr werdet ja hören. Geh’ in die Werkstatt und ruf’ mir den Hausherrn!“

„Der Vater ist ausgegangen. Der liefert jetzt alles persönlich ab, weil er die Kunden warm halten will.“

„Wieso?“

„Nun, die springen ja leider Gottes schon da und dort ab, wegen des Unglücks, das uns betroffen hat. Und wenn der Vater nicht unausgesetzt schafft von morgens bis abends, dann packt’s ihn wie heller Wahnsinn. Aber Ihr könnt mir’s allein sagen. Ich will’s ihm schon ausrichten. Kommt hier ins Gärtchen! Da ist’s schattig und kühl – Und jetzt blühn auch die Moosrosen, die Ihr so gern habt!

Sie machte die schmale Flurtür auf und ging langsam voran. Es lag ein beklemmender Hauch von Trübseligkeit und Schlaffheit über der einst so lebhaften und beweglichen Fünfzehnjährigen. Die Augen blickten halb müde, halb angstvoll. Die Stimme klang eigentümlich gedämpft. Und doch hatte sich in ihr bei den Worten des Arztes etwas wie Hoffnung geregt. Ihr Herz sträubte sich nur, diese Anwandlung aufkommen zu lassen, da ihr vor der Wahrscheinlichkeit der Enttäuschung grauste.

Sie setzten sich in die rankenumwucherte Geißblattlaube. „Doktor Ambrosius!“ schluchzte sie leise. Dann, zu ihm aufschauend. „O, ich verstehe Euch wohl! Euch allein ist dieser Aufschub zu danken. Ihr vermögt, was Ihr wollt. Ihr lenkt Gesunde wie Kranke mit einem einzigen Blick!“

„Aber ich sage dir …“

Elma Wedekind ließ sich nicht irre machen.

„Ich danke Euch,“ sagte sie inbrünstig, „daß Ihr Euch meiner geliebten Mutter so gutherzig annehmt. Streitet’s nicht ab! Und fürchtet nicht, daß Ihr etwa durch mich ins Gerede kommt! Ich spreche kein Wort. Nicht einmal zu dem Vater. Dem sag’ ich nur, daß die Mutter einstweilen verschont bleibt. O, man wird vorsichtig, wenn man zu leiden hat! Und Ihr glaubt, daß mit der Vertagung etwas gewonnen ist?

„Unzweifelhaft. Wir haben ja Zeit, über die Mittel und Wege nachzudenken … Beweismittel zu schaffen … Verbindungen anzuknüpfen … Was kann sich nicht alles in fünf, sechs Wochen ereignen! Der Aufenthalt in den Kerkern des Stockhauses ist freilich an sich schon furchtbar … Aber vielleicht …“

Er unterbrach sich und fügte bewegt hinzu:

„Deine Mutter ist ja ein starkes Gemüt und voll ernsthaften Gottvertrauens. Ein frommgläubiger Christ überwindet alles.“

Dann, als wollte er ihre Gedanken von dieser Trübsal weglenken, rühmte er ihre Blumen, den buschigen Flieder, der noch nicht völlig abgeblüht war, die schönen Levkojen und vor allem die herrlichen Rosen, die auf den beiden Rabatten des Mittelwegs hier und da schon die prächtigsten Farben zeigten.

„Das alles ist mir jetzt öde geworden und gleichgültig,“ murmelte Elma. „Kaum, daß ich sie noch begieße – aus alter Gewohnheit. Am besten wär’s, die stünden auf meinem Grab.“

„Du armes Ding!“ sagte Ambrosius erschüttert. Er strich ihr freundlich über das dunkle Haar. „Du bist selbst so ein junges, knospendes Röslein und sprichst hier vom Sterben! Ja, es begreift sich! Wem’s in der Seele so weh ist … Aber der Mensch soll dem Geschick Trotz bieten. Kopf hoch, kleine Elma! Noch ist nicht alles verloren! Und was auch geschehen mag, vergiß nicht, daß du in mir einen Freund hast, auf den du vertrauen kannst!“

„Wirklich?“ fragte sie zögernd. „Manchmal glaub’ ich’s, manchmal auch nicht … Das heißt … Ach, vergebt! Ich rede da Thorheit! Hört nicht darauf! Ich weiß ja, Ihr meint es von Herzen gut … Das habt Ihr auch jetzt wieder gezeigt.“

Doktor Ambrosius war aufgestanden. Die letzten Worte hatte er kaum gehört. „Leb’ wohl, Kind!“ sagte er freundlich… „Ich muß jetzt fort.“

„Habt Ihr so große Eile?“

„Die allergrößte. Eigentlich war ich schon auf dem Wege zu guten Freunden, die mich seit drei Uhr erwarten. Aber ich wollte doch nicht verabsäumen, dir vorher noch die Nachricht zu bringen.

„Wo geht Ihr hin?“ fuhr Elma heraus. „Nach der Grossachstraße?“

„Wie kommst du darauf?“

„Nun, ich meinte nur …“

„Ja, nach der Grossachstraße. Du scheinst ja recht bewandert in meinen gesellschaftlichen Beziehungen.“

Elma errötete. „Wenn man so herzlich Anteil nimmt …“, stotterte sie und blickte zu Boden. „Der Gärtner, der mir den Brief gab, sagte doch auch, er käme von der Wirtschafterin des Magisters Leuthold …“

„So ist’s. Der Mann hat heute Geburtstag. Und was ich noch sagen wollte, vergiß nicht, was du versprochen hast! Sei in Worten und Werken scheu gegen jedermann! Du wirst jetzt beobachtet.“

„Unbesorgt! Ich will schon auf meiner Hut sein. Noch was: ich dank’ Euch von Herzen! Und seid recht froh und vergnügt heute! Es ist gerade genug, wenn mein Vater und ich uns abhärmen. Euch darf das nicht weiter die Laune stören. Die schöne Tochter des Herrn Magisters würde ja wohl auch wenig erbaut sein, wenn Ihr etwas von unsrer Qual mit in ihr sonniges Heim brächtet.

Doktor Ambrosius drückte ihr seufzend die Hand. „Ich will’s versuchen, das Schwere und Traurige für ein paar Stunden hintan zu halten! Das Leben ist hart, man muß mit den Augenblicken der Lust geizen. Zumal wir Aerzte, die wir tagtäglich, auch ohne besondre Ereignisse, Jammer und Not sehen.“

Elma nickte. Schweigend gab sie ihm das Geleit bis zum Ausgang. Als die Thür hinter dem rasch Enteilenden sich geschlossen hatte, blieb sie ein Weilchen stehen und musterte traumverloren den kleinen Pfirsichbaum, der dicht neben der Schwelle aus einem halbrunden, steinumfriedigten Beet emporwuchs und mit Eisendraht und Nägeln an der Hausmauer befestigt war. Das Bäumchen war ihr besonderer Schützling. Es hatte zum Lohn für die eifrige Pflege, die sie ihm widmete, ganz wunderherrlich geblüht und zahlreiche Früchte angesetzt. Nun war ihr der Liebling von einst so gleichgültig geworden. Sie hatte ihn gestern nicht einmal, wie sonst, mit Brunnenwasser getränkt. Die Erde da hinter den spitzen Randsteinen war staubgrau und wollen. Elma staunte nicht sehr. Heut’ gegen Abend wollte sie’s nachholen – wenn sie’s im Bann ihres Kummers nicht auch heute vergaß.

Schwer atmend machte sie kehrt, schlich ein paarmal den Mittelweg auf und ab, schob gedankenlos hier und da einen Rosenschößling zurecht und setzte sich wieder auf die jetzt eben verlassene Bank in der Geißblattlaube.

Es war ihr todtraurig ums Herz, trotz der verheißenden Botschaft des Doktor Ambrosius. Daß er, schon auf dem Weg nach der Grossachstraße, hier noch einmal bei ihr vorsprach, um einen Tropfen Balsam in ihre brennenden Wunden zu träufeln, rührte sie tief. Seit er jedoch von ihr Abschied genommen, sank ihr völlig der Mut. Es war, als sei ihre kaum erwachte Hoffnung mit ihm davongewichen. Was half es auch, wenn ihre Mutter jetzt einige Wochen im Kerker schmachtete, ohne verhört zu werden? Sobald Doktor Xylander von seinem Aufenthalte in Lynndorf oder in Königslautern zurückkehrte, mußte die Sache ja doch mit verdreifachter Schnelligkeit ihren Lauf nehmen! Und was auf Gottes weiter Welt sollte sich wohl inzwischen ereignen? Ja, wenn der Himmel einstürzte und die Erde begrub, dann war alles zu Ende! Oder wenn Gott der Allmächtige ihre Mutter hinaufberief in sein ewiges Paradies, eh’ noch ein Folterknecht sie berühren konnte!

Elma stützte das Kinn mit der Handfläche und starrte [411] hinaus auf die hochragende Mauer, die das Gärtchen nach der Prohnsgasse hin abschloß. Hier hatte ursprünglich ein ziegelgedeckter Schuppen für Nutzholz gestanden. Der Zunftobermeister hatte den unschönen Bau abgebrochen und nur die Rückwand stehen lassen, die sich dann zwischen den rechts und links anstoßenden Fachwerkhäusern ein wenig kahl ausnahm. So ward sie denn von Mannshöhe ab mit einer grellfarbigen Landschaft bemalt, unten am Fuß aber mit allerlei Buschwerk bepflanzt, das einen hübschen, die Täuschung verstärkenden Vordergrund abgab. Es war kein großes Talent, das sich in Saftgrün und Waschblau hier so verschwenderisch ausgelebt. Dennoch hatte sich Elma Wedekind oft genug vor dem Bild in Ekstase geträumt. Ein wahres Eden für die ungeschulte Lebhaftigkeit einer schwärmenden Phantasie. Zur Linken schön bewaldete Hügel. Rechts eine turmreiche Hafenstadt. Dahinter das Meer. Fern am äußersten Himmelsrand zog ein dustgrauer Dreimaster seine Bahn durch das hellschimmernde Wasser – mit Segeln, die sich aufbauschten wie die Wangen eines Posaunenengels. Dieser mächtige Dreimaster war für Elma von je der Gegenstand ganz besonderen Interesses gewesen. Sie hatte noch nie ein wirkliches Schiff gesehen, auf der Grossach, die noch unterhalb Glaustädts von Mühlwehren durchkreuzt war, ruderten nur ganz wenige Lustboote. Jetzt, wie ihr halbverschleierter Blick von der Bank in der Laube aus den Segler da an der bemalten Wand streifte, überkam sie der stürmische Drang einer fast qualvollen Sehnsucht ins Weite. Glaustädt erschien ihr mit einem Male wie der Inbegriff alles Dumpfen und Schrecklichen. Hätte sie doch ihre Lieben am fernsten Strand einschiffen und mit ihnen gemeinsam über die See nach einem unbekannten glücklichen Land steuern dürfen, wo man vom Elend dieser Verfolgung nichts wußte, wo’s keinen Balthasar Noß gab und keinen blindwütigen Adam Xylander!

Freilich, auch drüben in Dernburg, unter dem Scepter des Fürsten Maximilian, gab es ja längst keine Malefikantengerichte mehr. Etliche Glaustädter waren schon ins Fürstentum ausgewandert. Elma jedoch hätte sich, wie sie jetzt meinte, so in der Nähe der Glaustädter Grenze nicht sicher gefühlt. Eine maßlose Angst überkam sie. Die wenigen Tage seit der Verhaftung der Mutter hatten ihr kindliches Gemüt vollständig ausgereift. Ehedem war ihr die mitleidslose Verfolgung des Hexenwesens notwendig und verdienstlich erschienen. Jetzt fühlte sie, daß all’ dies schreckhafte Treiben nur die Frucht eines entsetzlichen Irrtums war. Mit dieser Erkenntnis schwand ihr die letzte Sicherheit. Nun war alles denkbar und alles möglich! Hätte ihr der Allmächtige doch früher die Augen geöffnet! Elma entsann sich, daß vor drittehalb Jahren vielleicht, oder auch länger, in Glaustädt ein wohlhabender Fremdling aufgetaucht war… Der reiste im Namen des Königs von England und machte den Glaustädter Bürgern große Versprechungen, falls sie die Heimat aufgäben und über das Weltmeer führen. Ackerland sollten die Leute bekommen, so viel sie begehrten, und die eine Kunst verstünden oder ein Handwerk, die würden da drüben Tausende ernten, wo sie in Glaustädt nur Hunderte einheimsten. Aber der Vater war bei dem Grundsatz verharrt: Bleibe im Lande und nähre dich redlich! Auch wurde der Fremdling trotz seiner Ansehnlichkeit sehr bald vom Glaustädter Rat aus der Stadt verwiesen. – Hätte man damals geahnt, wie es noch kommen würde! Ach, welch ein himmlisches Glück, wenn sich der Kerker jetzt aufthäte und sie dann alle hinauszögen in die Sorglosigkeit und Freiheit, der Vater, die herzliebe Mutter, sie selbst und etliche nahe Freunde, auf daß man nicht gar so einsam wäre da drüben, jenseit des großen Wassers!

Vielleicht auch Doktor Ambrosius …?

Aber nein! Was fragte der wohl nach ihr und den einfachen Schreinersleuten! Der betrat jetzt mit stillem Behagen das vornehme, stattliche Haus in der Grossachstraße und saß dann plaudernd und scherzend bei der entzückenden Hildegard. Ja, entzückend! Das war sie trotz allem und allem! Es frommte ja nichts, wenn man’s in kleinlichen Neid vor sich selbst abstritt. Man brauchte sie nur daherwandeln zu sehen in ihrer anmutig edlen Art, mit dem schlanken, biegsamen Wuchs und dem süßen lichtstrahlenden Antlitz, um zu begreifen, daß Doktor Ambrosius ihr voll Zärtlichkeit anhängen mußte. Es war so natürlich.

Und sie paßten so gut zu einander, er, der kluge, herrliche, kraftvolle Mann – und sie, die schönste minnigste Jungfrau der ganzen Stadt, die treueste Tochter, die allgeliebte Wohlthäterin der Armen und Kranken. Elma Wedekind gönnte ihr diesen Liebsten. Und auch ihm gönnte sie das holdselige Mädchen, das einzige hier im Glaustädter Weichbild, das gut genug für ihn war. Nur hätte auch sie, Elma, neben Hildegard Leuthold ein stilles, bescheidenes Plätzchen in seinem Herzen einnehmen mögen, die Stelle vielleicht einer treusorgenden Schwester, einer ehrfürchtig dankbaren Freundin, irgend was sonst, was da nicht zugab, daß er sich ganz und gar von ihr lostrennte. Ach, weshalb nur war sie so unbedeutend, so einfältig! Hätte sie wenigstens als seine Magd immerdar um ihn sein dürfen! Es war schon beglückend, seiner volltönigen Stimme zu lauschen!

Plötzlich schrak sie empor. Der Altgeselle Rudloff, der jetzt eben gevespert hatte und nun, das Vorrecht seines Altgesellentums ausnutzend, für eine kurze Erholungsfrist heraus in den Garten kam, stand an der Geißblattlaube und rief die Haustochter treuherzig beim Namen. „Fehlt Euch etwas, Jungfräulein?“ fügte er teilnehmend hinzu.

„Nein, Rudloff. Nichts, was Ihr nicht wüßtet.“

„Ihr seht so krank aus! Oder macht das die Laube mit ihrem Wiederschein?“

„Ist der Vater zurück?“ fragte sie ausweichend.

„Noch nicht. Aber bei Gott, Ihr macht mich besorgt! Ihr zittert ja!“

„Das macht, weil Ihr so jählings hereinkamt.“

„O verzeiht! Ich dachte nichts Böses. Aber die Schreckhaftigkeit ist auch eine Krankheit. Wahrlich, vielehrsames Jungfräulein, Ihr solltet mehr für Euch thun! Ihr habt Euch all’ die Tage her wahnwitzig aufgeregt. Das kann der kräftigste Mensch nicht ertragen. Und Ihr seid nicht die Stärkste. Man muß auch einmal der Trauer den Weg verlegen. Weiß Gott, ich könnte gleich losheulen, wenn ich so zusehe, wie Ihr vor Gram Euch verzehrt! Und es hilft doch nichts!“

„Freilich – es hilft nichts.“

„Glaubt mir, wenn es in meiner Macht läge …! Ich ließe mir ja mit Freuden die rechte Hand abhacken. Und wolltet Ihr nur auf ein gutmeinendes Wort hören! Aber Ihr seid so starr und so finster, und ich merk’ es ja wohl, ich gelte Euch nichts!“

Ein feuchter Glanz trat ihm in die ehrlichen Augen. Elma Wedekind fühlte zum erstenmal, wie es um Rudloff bestellt war. Daß er sie gern mochte – ja, das wußte sie längst. Nun aber sah sie, daß es sich hier um mehr handelte. Und sie stand ja nun auch im sechzehnten Lebensjahr. Da schien’s ja am Ende nicht unerhört …

Wäre das früher gekommen, ehe der junge Arzt in die Wohnung zog, sie hätte vielleicht die versteckte Werbung als ein schätzbares Glück betrachtet. Gerade bei dem unendlichen Leid, das die Familie heimsuchte, mußte die Neigung, die sich hier offenbarte, an Wert gewinnen. Und Rudloff war ein so guter, vortrefflicher Mensch und ein so tüchtiger Arbeiter. Auch Erscheinung und Wesen hatten etwas nicht ganz Alltägliches. Wie er so dastand in dem blaugeränderten Werkstattshemd und dem zackigen braungelben Schurzfell, das lockige Haar ein wenig über die wohlgebildete Stirn hängend, da konnte er’s mit jedem Glaustädter Zunftgenossen getrost aufnehmen. Aber im Herzen Elmas ward für den liebeheischenden Ton, den Rudloff angeschlagen, leider kein Echo wach. Seit sie mit Doktor Ambrosius unter dem nämlichen Dach hauste, war diese Möglichkeit ausgeschlossen.

Wenn ihr gleichwohl die Sache nicht unlieb war und ihr sogar ein stilles Gefühl der Dankbarkeit gegen Rudloff einflößte, so hatte dies einen Grund, der den ehrlichen Altgesellen, falls er darum gewußt hätte, tief hätte schmerzen müssen, tiefer selbst als eine schroffe Zurückweisung. Es gewährte ihr nämlich eine wahre Genugthuung, daß ein so ansehnlicher und hochachtbarer Mensch wie Rudloff, der doch die Wahl hatte unter den Hübschesten, sie, die unbedeutende Elma Wedekind, begehrenswert fand. Das stärkte ihr durstiges Selbstgefühl. Unbewußt sagte sie sich, nun sei es am Ende ja doch möglich, daß Doktor Ambrosius … Sie wagte es nicht, diesen tollkühnen Gedanken vor sich selber in Worte zu kleiden.

Und wärmer als je zuvor drückte sie dem treuherzige Rudloff [414] die Hand, beteuerte ihm die Aufrichtigkeit ihrer Freundschaft und eilte dann zurück in das Haus, zum erstenmal seit der Verhaftung der Mutter nicht völlig unter dem Bann ihrer Trostlosigkeit. Rudloff pflückte sich unweit der Geißblattlaube eine tiefbraune Levkoje. Er steckte die köstlich duftende Blume oben ins Schurzfell. Das sollte ihm jetzt während der Arbeit eine liebe Erinnerung sein an die freundlichen Worte des Mädchens und an den vielverheißenden wonnigen Händedruck. Sie war ja noch gar so knospenjung! Und dazu jetzt das quälende Leid! Er schalt sich fast, der gute, zartfühlende Mensch, daß er zu unrechter Stunde so deutlich gewesen. Man durfte hier nichts übereilen!

8.

Es war beinahe vier Uhr, als Doktor Ambrosius das schmiedeeiserne Thor am Leutholdschen Grundstück öffnete. Die Einladung hatte auf einen fröhlichen Trunk im Rebengange am Ufer der Grossach gelautet. Doktor Ambrosius schritt daher geradeswegs in den Garten.

Unter den saftgrünen Weinranken saß hier eine bunte Gesellschaft, die nächsten Freunde des Jubilars. Die Wirtschafterin Gertrud Hegreiner hatte aus vier aneinandergeschobenen kreuzfüßigen Gartentischen eine Festtafel hergestellt, die mit rotkantigen Leintüchern überdeckt und reichlich mit Blumen geziert war.

Obenan saß der Magister. Sein hochlehniger Stuhl prangte im Schmuck waldfrischen Eichenlaubs und purpurner Feldblüten. Rechts neben ihm lachte und schwatzte Frau Ada Melchers, die vierzigjährige Gattin des ersten Stadtpfarrers. Dann folgte der Pastor selbst, ein ruhiger, vornehm dreinschauender Herr, auf dessen mild freundlichen Zügen etwas wie heimliche Trauer lag.

Zur Linken des Jubilars thronte im vollen Staat seiner Amtstracht Herr Georg Kunhardt, der Bürgermeister – gleich dem Pastor ein Jugendfreund des Magisters, ein paar Jahre älter als beide, rundlich, behäbig und breitstrahlend vor Lebensfreude und sorglosem Daseinsgenuß. Der Bürgermeister Georg Kunhardt war nicht nur – wie dies der Maler und Reißer Noll auf dem Weg nach der Marienkirche betont hatte – einer der wenigen Kunstfreunde, deren sich Glaustädt rühmen durfte, sondern vor allem auch die bewährteste Weinzunge auf zehn Meilen im Umkreis. Hätte der wohlwollende, gutartige Mann halb so viel Kraft und Entschlossenheit im Bekämpfen widriger Zeitströmungen und schwerlastender Mißstände gezeigt als im Vertilgen des Rüdesheimers und Aßmannshäusers, er wäre das Musterbild eines vortrefflichen Stadtoberhauptes gewesen.

Georg Kunhardt war jetzt eifrig am Werk, seiner Tischnachbarin zur Linken die Vorzüge des Weingenusses vor dem überhandnehmenden Biergenuß zu erörtern, der den Leib träger und schwerfälliger mache. Diese Nachbarin war die sanfte, stille Mechthildis Lotefend, die Ehewirtin des reichen Tuchkramers. Denn auch die Lotefends hatte die kluge Hildegard nach einigem Zögern für heute nachmittag herbitten lassen da sich ihr Vater über das Wegbleiben dieser Nachbarn und Hausfreunde doch wohl gewundert hätte. Uebrigens war ja Herr Lotefend bis zur Stunde seinem Versprechen treu geblieben. Er hatte mit keiner Silbe versucht, da wieder anzuknüpfen, wo er im Lynndorfer Gehölz aufgehört.

An den Herrn Stadtpfarrer Melchers und die schweigsame Frau Mechthildis reihten sich dann hüben und drüben noch je fünf oder sechs Personen. Darunter der Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck, die beiden rotblonden Töchter des Bürgermeisters – Elsbeth und Dorothea – und die schwarzlockige Tochter des Pastors, Margret Melchers, ein zierliches, reizendes Mädchen, das von dem Vater die Feinheit der Züge, von der Frau Pastorin das frische, lebendige Temperament und den niemals versiegenden guten Humor geerbt hatte.

Ziemlich weit von dem Magister weg, inmitten der Jugend, saß der Gatte der Frau Mechthildis, Henrich Lotefend, der Sechsundvierzigjährige mit dem lodernden Herzen. Er trug wieder ein kostbares flandrisches Kleid, mit farbigen Bändern geschmückt, und machte den Eindruck, als ob er sich hier unter den frisch blühenden Mädchen völlig am Platz fühle.

Ihm gegenüber, neben dem Ratsbaumeister, hatte der Gegenstand seiner heimlichen Sehnsucht, Hildegard Leuthold, sich niedergelassen. Daß Henrich Lotefend ihr so unmittelbar in die Nähe kam, war das Ergebnis einer gut bemäntelten Absicht. Bei der Verteilung der Sitze, die aus dem Stegreif erfolgte, hatte der Tuchkramer sich bescheidentlich abseits gehalten, bis die Stühle da droben alle besetzt waren. Er wandte sich dann rasch zu der rotblonden Elsbeth Kunhardt und trug ihr mit einem artigen Scherzwort seine Nachbarschaft an. –

Die Gesellschaft befand sich in fröhlichster Laune. Man trank aus großen venezianischen Kelchgläsern einen blumigen Ahrwein. In mächtigen Zinnschüsseln dufteten goldbrauner Bologna-Reiskuchen und Glaustädter Salzbrot. Die Herren, mit der einzigen Ausnahme des Tuchkramers, rauchten aus langen Thonpfeifen sächsischen Tabak, den ein alter Hochschulkamerad zu Wittenberg dem „leider Gottes von hinnen gezogenen Mitforscher zum Geburtstag collegialiter dediziert“ hatte.

„Seht da!“ rief der Magister plötzlich. „Dort kommt unser Doktor Ambrosius!“

„Endlich!“ sagte der weinfrohe Bürgermeister. Es klang, als sei es ihm rätselhaft, daß ein ehrlicher deutscher Mann bei solcher Gelegenheit nicht mit dem Glockenschlag antrete.

Die Blicke Aller wandten sich nun der Stelle zu, wo Doktor Ambrosius eben zwischen zwei hochragenden Fliederbäumen hinter dem Steinbecken auftauchte. Nur Hildegard Leuthold sah wie unbeteiligt auf ihren Teller. Sie war von den Tischgenossen, die das Haus und den Garten im Rücken hatten, die einzige, die sich nicht umkehrte. Sie spielte ein wenig am Tafeltuch und führte dann mit einer sonderbaren Geziertheit, die man sonst nie an ihr wahrgenommen, ihr volles Glas an die Lippen.

Henrich Lotefend spürte in seiner linken Brust einen krampfartigen Schmerz. Das verwirrte Gebahren Hildegards, so unscheinbar die Symptome auch sein mochten, gab ihm volle Gewißheit über die Sachlage, die er einstweilen doch nur vermutet hatte. Wenn er bis jetzt Wort gehalten, ja die Gesellschaft Hildegards beinahe gemieden hatte, so war dies keineswegs gleichbedeutend mit einer Abtötung seiner Leidenschaft. Im Gegenteil, gerade die stumme Entfernung, die er sich aufzwang, steigerte diese Leidenschaft bis zum Wahnwitz. Seit dem Begebnis im Lynndorfer Gehölz war er nicht mehr wie einst, wenn er sie zwischen den Beeten gewahrte, hinab in den Garten geeilt, er hatte nicht mehr versucht, über die Weißdornhecke hinweg ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen. Wohl aber stand er häufig genug hinter den Weinranken seines Altans, dicht an der Hausmauer, wo er sie sehen konnte, ohne daß sie selbst ihn bemerkt hätte. Während die arglose Frau Mechthildis wähnte, er suche hier draußen Erholung von seinen alchimistischen Experimenten oder beschäftige sich in Gedanken mit neuen weitschichtigen Problemen, hatte er stundenlang auf Hildegard Leuthold hinuntergestiert und jede Linie ihres jungblühenden Leibes, jede Bewegung mit heißhungrigen Blicken nachgezeichnet, bis ihm das Herz hoch hinauf in die Kehle schlug. Mehr und mehr war er so zu der Erkenntnis gelangt, daß er ohne Hildegard Leuthold nicht mehr imstande sei, dies elende Dasein weiter zu schleppen. Dann fragte er sich, was ihm denn hier so unüberwindlich den Weg verlege. Die Antwort lautete mit immer größerer Bestimmtheit, offenbar sei ihm ein glücklicher Nebenbuhler in der Eroberung dieses jungfräulichen Herzens zuvorgekommen. Henrich Lotefend hatte die jungen Männer, die im Haus des Magisters verkehrten – es waren deren nicht allzuviel – rasch gemustert und dann etliche Tage zwischen dem blonden Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck und dem kecken, schwarzäugigen Doktor Ambrosius geschwankt, bis ihm auf Grund einiger unbedeutenden Züge, die er sich nach und nach aus der Erinnerung hervorholte, Doktor Ambrosius wahrscheinlicher vorkam als Woldemar Eimbeck. Immerhin trug er sich noch halbwegs mit der Hoffnung, dies alles könne doch schließlich auf Täuschung beruhen. Es kamen ihm Augenblicke, wo er sich mit der uralten Liebesregel zu trösten suchte: schroffe Ablehnungen bedeuten mitunter ihr Gegenteil. Er hielt sich dann Fälle aus seiner eignen Vergangenheit vor – freilich minder schwerwiegender Art – wo er über schnöde Zurückweisungen durch mannhafte Ausdauer glorreich gesiegt hatte. Jetzt mit einem Male hier an der Festtafel sank ihm der Mut vollständig. Die ganze Haltung des jungen Mädchens, ihr verlegenes Nippen, ihr sichtbarliches Bestreben, gleichgültig zu erscheinen, hatte ihm jeden Zweifel geraubt. Es war keine Täuschung – der Auserwählte hieß Doktor Ambrosius!

[415] Und wie er nun den jugendlich schönen Mann mit den tiefdunklen, geistsprühenden Augen und dem gewinnenden Lächeln in den Laubgang hereintreten und, das Barett in der Hand, auf den freudestrahlenden Jubilar zuschreiten sah, da überkam ihn die niederschmetternde Ueberzeugung, daß ein Kampf mit diesem Rivalen für ihn, den Sechsundvierzigjährigen, trotz aller Vorzüge, deren er sich bewußt war, ein vollständig aussichtsloses Beginnen sei. Haß, Neid und ohnmächtiger Zorn schnürten ihm fast die Gurgel zu. Aber sein Ingrimm wandte sich ungleich stürmischer gegen Hildegard als gegen den jungen Arzt. Doktor Ambrosius hatte vielleicht zu dieser Eroberung kaum einen Finger gerührt. Und wenn selbst, so war das sein gutes Recht. Hildegard aber, die schöne, gleißende Schlange, spielte hier doppeltes Spiel. Nach Doktor Ambrosius warf sie in ernsthafter Absicht die Netze aus, ohne es doch zu verschmähen auch ihn, Lotefend, heimlich schmachten zu lassen. Sie hatte sicher schon längst wahrgenommen, wie er in maßloser Glut sich verzehrte – und doch ihre lockende Freundlichkeit, ihre bethörende Huld nicht abgemindert. Es gewährte ihr eine teuflische Lust, sein zermartertes Herz grausam unter die Füße zu treten. Und daß nun gerade ihm diese klägliche Rolle zufiel, das empfand er wie eine Unthat Hildegards, wie eine strafwürdige Kränkung. Oder war das vielleicht schon der Fluch des beginnenden Greisentumes, das da dem Menschen zuruft: Schweig und dulde?

Mit übermenschlicher Kraft drängte Herr Lotefend alles zurück, was ihm bei diesen Qualgedanken wie ein Ausbruch der Raserei nach den Lippen stieg. Er leerte sein Glas, ohne es abzusetzen.

„Glück und Heil!“ sagte jetzt Doktor Ambrosius.

Magister Leuthold streckte ihm beide Hände entgegen. „Ihr seid spät, lieber Herr Doktor!“

„Mein Beruf hält sich an keine Stunde. Ich war noch in Anspruch genommen. Entschuldigt also! Wenn ich auch hier bei dieser fröhlichen Tafelrunde der letzte bin, so bin ich’s doch ganz gewiß nicht in der Verehrung und Liebe für Euch, mein hochwürdiger Freund! Und dess’ zum Zeichen hab’ ich Euch dies kleine Geschenk verfertigt, das um freundlichen Willkomm bittet.“

Er zog etwas aus der linken Brusttasche, was wie ein dünnes, in Leder gebundenes Büchlein aussah. Als er den Deckel zurückschlug, gewahrte man auf schwarzblauer Seide eine ovale Elfenbeinplatte. Diese Elfenbeinplatte trug in frisch leuchtenden Farben das wohlgetroffene Konterfei Hildegards.

„Was?“ rief der Magister. „Solche Talente besitzt Ihr? Aber Ihr seid ja ein Künstler!“

„Nicht so sehr wie Ihr glaubt. Seht doch genauer zu! Es ist kein Bild nach dem Original, sondern nur die verkleinerte Nachahmung des trefflichen Oelgemäldes, das bis vor kurzem in Eurem Studiergemach hing. Dort haben wir’s weggeholt, die Gertrud Hegreiner und ich, unter dem Vorwand, daß etwas am Rahmen zu bessern sei.“

„Fürwahr, ein frommer Betrug, der den Kranz verdient! Prächtig! Ganz allerliebst!“

„Dafür reicht meine Kunst noch allenfalls hin!“ meinte Doktor Ambrosius. „An die Natur würd’ ich mich kaum gewagt haben. Und auch so läßt’s ja vielleicht zu wünschen übrig. Gleichwohl erscheint’s mir nicht unähnlich. Und auf den Einfall thu’ ich mir wirklich etwas zu gute. Ihr könnt so das Liebste, was Ihr auf Erden habt, allezeit mit Euch führen wie ein glückbringendes Vademecum. Ich weiß ja doch, Herr Magister, was für ein zärtlicher Vater Ihr seid.“

Doktor Ambrosius verschwieg, daß er bei diesem frommen Betrug mit dem entschuldbaren Egoismus des Liebenden mehr noch an sich selber gedacht hatte als an Hildegards Vater. Ja, das Geburtstagsgeschenk war eigentlich nur der Vorwand, der die Wirtschafterin Gertrud Hegreiner für die Sache gewinnen sollte. Doktor Ambrosius hatte das liebe Bild zweimal kopiert und die größere der beiden Kopien heimlich für sich behalten.

Magister Leuthold war aufs tiefste gerührt.

„Da habt Ihr vollkommen recht,“ sagte er mit bewegter Stimme, während die guten ehrlichen Augen sich feuchteten. „Kein lieberes Festgeschenk hättet Ihr bringen können. Wenn’s eine Schwäche ist, sein eignes Töchterlein so feurig ins Herz zu schließen wie ich meine Hildegard, so bin ich ein schwacher Mann, das gesteh’ ich freimütig. Aber sie zahlt mir’s heim! Auch sie kennt ja auf Gottes Welt nichts Lieberes als ihren alten Vater.“

Voll inniger Dankbarkeit schaute er in das glühende Antlitz des jungen Mädchens, das ihm in holder Verwirrung zunickte.

„Freilich,“ fuhr er dann, halb wie im Selbstgespräch, fort, „das gilt nur einstweilen … Ueber kurz oder lang wird wohl die Zeit kommen, wo sich das ändert. Der alte Vater rückt bescheidentlich an die zweite Stelle …“

„Das ist der Lauf der Welt,“ sagte Frau Melchers, die lustige Ehewirtin des Stadtpfarrers, während sie das reizende Miniaturbild über den Tisch weiter gab.

„Von Adam und Eva her!“ meinte der purpurnasige Bürgermeister Georg Kunhardt. „Die Kinder wachsen heran und eh’ sich’s der Mensch versieht, legt Gott Amor den Pfeil auf. Wir haben’s nicht besser gemacht, nicht wahr, Leuthold? So in der ersten Blütezeit, wenn uns der ganze Himmel voll Geigen hängt … Gotts Donner, es ist eine schöne Sache! Und daraufhin thu’ ich jetzt einen tüchtigen Mannesschluck. Möge die tugendsame und liebliche Jungfrau Hildegard Leuthold ihrem Herrn Vater – der, wie es scheint, zu grimmiger Eifersucht neigt – recht bald einen schätzbaren Eidam vorstellen und ihm so zu Gemüt führen, daß diese Welt der glückhoffenden Jugend gehört, während wir Alten nur die Rolle der Beifallsklatscher zu spielen haben. Und da wir nun vollzählig sind, so benutze ich die schöne Gelegenheit zu einem donnernden Trinkspruch auf unser teures Geburtstagskind. Der hochgelahrte Magister Franz Engelbert Leuthold blühe noch manches Jahr in Kraft und Gesundheit! Er wiege Enkel und Urenkel im Schoß! Er halte sich frisch bis zuletzt und bewahr’ uns auch künftighin seine wertvolle Freundschaft! Franz Engelbert Leuthold vivat, vivat, vivat!“

Er war aufgestanden. Sein joviales und trotz der geröteten Nase nicht unedles Antlitz strahlte von urwüchsiger Herzlichkeit.

Inzwischen hatte der Gärtnerbursche, der hier den Dienst als Mundschenk versah, dem Doktor Ambrosius gleichfalls ein Glas gereicht. Doktor Ambrosius stand noch immer neben dem Jubilar. Nun stieß er mit dem Gefeierten an und grüßte ihn ehrfurchtsvoll.

Jetzt trank auch der schalkhafte Bürgermeister dem jungen Arzte vertraulich zu. „Glück auf, mein trefflicher Aeskulap!“ rief er mit vielsagendem Augenzwinkern. „Ihr versteht’s! Ihr seid mir ein schlauer Fuchs! Wohl bekomm’s Euch!“

Georg Kunhardt schlug ein derbes Gelächter an, das Doktor Ambrosius nicht weiter beachtete. Er war von dem Bürgermeister nicht sehr erbaut, trotz dessen liebenswürdig sympathischer Biederkeit. Die Art und Weise, wie der sonst so verständige Mann die kulturfeindlichen Elemente im Glaustädter Rat ohne jedweden Versuch der Abwehr schalten und walten ließ – besonders auch in der Frage des Malefikantengerichts – wirkte auf Doktor Ambrosius ernüchternd. Er konnte nicht glauben, daß dieser feinsinnige Kopf die Anschauungen, zu denen er schwieg, teilte.

Der Gärtner schleppte jetzt einen Stuhl heran und stellte ihn zwischen den Jubilar und das weinfrohe Stadtoberhaupt. Franz Engelbert Leuthold aber wies den Burschen zurück.

„Ich bitt’ Euch, Herr Doktor, setzt Euch dort zu der Jugend!“ sagte er wohlwollend und drückte dem Arzte nochmals innig die Hand. „So lange man noch von Rechts wegen zu ihr gehört, soll man ihr nicht mutwillig aus dem Weg gehen.“

„Hier, Gustav!“ klang es vom Munde des Ratsbaumeisters. „Ich mache dir Platz neben dem Original deines Bildes! Nur keine Umstände! Dir vor allen geziemt diese reizvolle Nachbarschaft, schon zum Lohn für dein Meisterwerk. Nicht wahr, mein verehrtes Fräulein? Uebrigens habt Ihr ja zwei Seiten, und zur Linken sitzt Euch verwerflicherweise ein Mägdlein. Erlaubt mir, daß ich als Trennungsmauer dazwischen fahre.“

Er schob den Stuhl, den der Gärtnerbursche jetzt wieder heruntergeschleppt hatte, scheinbar zögernd zwischen Hildegard Leuthold und Margret Melchers, die Tochter des Stadtpfarrers. Die Gesellschaft rückte ein wenig zusammen. Margret Melchers freute sich unverkennbar. Der Ratsbaumeister sah ihr verständnisvoll in die Augen. Nun konnte er nach Herzenslust mit dem kleinen, übermütigen Dämon schwatzen und streiten, ohne daß ihn Hildegard Leuthold gestört hätte. Sein Zweck war erreicht.

Als Doktor Ambrosius neben ihr Platz nahm, hatte die heimlich bebende Hildegard Leuthold die Selbstbeherrschung, die ihr während der letzten Minuten beinah’ abhanden gekommen war, völlig zurückgewonnen. Sie fühlte, auch ohne ihn anzuschauen, [416] daß Henrich Lotefend jeden Zug ihres Angesichts eifrig beobachtete. Diesem Mann gegenüber wollte sie ihr Geheimnis unter keiner Bedingung bloßstellen. Gerade er sollte nicht nachträglich merken, welch’ einen schmerzhaft wonnigen Stich sie vorhin bei dem seltsamen Trinkspruch des Bürgermeisters verspürt hatte. Henrich Lotefend war ihr jetzt unangenehmer als je. Seit er da vor ihr zwischen den jungen Leuten saß, war sie ein brennendes Mitgefühl mit Frau Mechthildis nicht los geworden. Und dieser Teilnahme für die Betrogene mischte sich Groll und Verachtung gegen den Mann bei, der es so leicht übers Herz brachte, die treue Gefährtin so vieler Jahre um einer augenblicklichen Laune willen rücksichtslos preiszugeben. Hildegard unterschätzte bei weitem die Nachhaltigkeit einer wirklichen Leidenschaft.

Man reichte nun kümmelbestreute Brezeln herum, die frisch vom Backherd kamen, die weitberühmte Muster- und Prunkleistung der Wirtschafterin Gertrud Hegreiner. Mit den Brezeln erschien sie selbst, um sich jetzt endlich der frohen Geburtstagsgesellschaft in scheuer Sittsamkeit anzuschließen. Sie trank mit außerordentlich spitzen Lippen ein ganz winziges Schlückchen, teilte aber der ältesten Tochter des Bürgermeisters, der schlanken Elsbeth, über die lange Tafel hin das Rezept ihres Kümmelgebäcks mit, das mehr noch als der Glaustädter Salzkuchen den Wohlgeschmack des Weines erhöhe und auch sonst äußerst bekömmlich sei. „Dünn auswalzen!“ rief sie. „Das ist die Hauptsache! Der Bürgermeister lachte bei diesen Worten so ungestüm, daß Fräulein Elsbeth ihm einen Blick der Mißbilligung zuwarf. Schon früher hatte sich ihr Herr Vater zuweilen recht unzarte Anspielungen auf Gertrud Hegreiners strotzende Körperfülle erlaubt und einmal sogar buchstäblich vom Auswalzen gesprochen. Das fiel ihm jetzt wieder bei, und so platzte er los, Gutes mit Bösem vergeltend, denn die rundliche Gertrud war doch gerade am Werk, ihm durch die Mitteilung ihres Rezeptes an die kochkundige Elsbeth eine Wohlthat zu erweisen.

Gertrud Hegreiner that ihm nicht den Gefallen, gekränkt zu scheinen. Sie wandte sich, verschmitzt lächelnd, zum Hausherrn und fragte, ihr Vollmondgesicht auf die Schulter geneigt, was denn der Herr Magister zu der reizenden Ueberraschung mit dem Konterfei seines Lieblings gesagt habe.

Die Unterhaltung ward nun mit jeder Minute lebhafter. Franz Engelbert Leuthold zog das Bild aus der Brusttasche und erging sich mit der strahlenden Gertrud in Reminiscenzen aus Hildegards Kindheit. Die Pastorin Melchers flocht allerlei Streiche und Abenteuer ihrer schlimmen Margret ein, die schon mit anderthalb Jahren ein wirklicher Ausbund von Mutwille und Tollheit gewesen. Der Ratsbaumeister neckte sich scharf mit seiner schwarzlockigen Nachbarin, die sich seit jener Epoche des Mutwillens nur wenig verändert zu haben schien. Ihre Schlagfertigkeit ergötzte ihn weidlich.

Auch die übrigen Tischgenossen plauderten frisch drauflos. Sogar der schweigsame Stadtpfarrer Melchers ward jetzt ein wenig redseliger. Nur Herr Lotefend saß wie auf Kohlen und zwang sich hier und da mühsam zu einer kurzen Bemerkung. Die Art, wie Doktor Ambrosius und Hildegard Leuthold miteinander verkehrten, machte dem Tuchkramer das Blut in den Adern kochen. Zwischen dem jungen Arzt und der Haustochter wurde zwar nichts gesprochen, was nicht jedermann hätte hören können; aber die Art, wie sie sprachen, dünkte dem unseligen Manne verräterischer als alle Worte. Es war zum Wahnsinnigwerden! Lotefend schalt sich im stillen den größten Tropf des Jahrhunderts. Wo zum Teufel hatte er nur bisher seine Augen gehabt? Jetzt griff man es ja mit Händen! Und das nun so gleichgültig und still mit ansehen zu müssen! Zeuge zu sein der goldrosigen Hoffnungen, die sich auf dem jugendlich kühnen Antlitz seines bevorzugten Nebenbuhlers ebenso deutlich malte wie in den Augen des glückstrahlenden Mädchens!

Henrich Lotefend bedurfte der Anspannung all seiner Willenskraft, um eine kurze Frage, die Doktor Ambrosius rein der Form halber an ihn richtete, mit gebührender Höflichkeit zu beantworten. Er fühlte, daß ihn der Anblick dieser geheimen und doch für ihn so überaus durchsichtigen Herzensgemeinschaft beinahe zur Raserei brachte. Nach kurzer Frist suchte er einen schicklichen Vorwand, um seinen Platz zu verlassen. Er pflanzte sich für ein paar Augenblicke wie zufällig neben dem Bürgermeister Georg Kunhardt auf, der von der letzten großen Weinprobe im Glaustädter Ratskeller erzählte. Dann setzte er sich auf den freigewordenen Stuhl der Wirtschafterin; die rastlose Gertrud Hegreiner hatte schon wieder im Hause zu thun.

Georg Kunhardt klopfte dem Tuchkramer freundschaftlich auf die Schulter und sagte mit seiner dröhnenden Baßstimme:

„So ist’s recht, Lotefend! Kommt zu uns Alten! Da drunten seid Ihr ja doch nur das fünfte Rad und macht Euch höchstens den Mund wässerig.“

Lotefend lächelte bittersüß. Der Bürgermeister Georg Kunhardt war um zwölf Jahre älter als er. Handelte der nun wirklich in gutem Glauben, wenn er den Sechsundvierzigjährigen so kurzweg zu den Alten rechnete? Oder hatte der pfiffige Spürhund ihn am Ende durchschaut und wollte sich über den seufzenden Liebhaber lustig machen?

Lotefend gab eine launige, etwas gezwungen klingende Antwort. Im Herzen aber schwur er sich hoch und teuer, nun erst recht dem Geschick abzutrotzen, was es zu weigern schien, und um keinen Preis in feiger Selbstunterschätzung von Hildegard abzulassen. Wo ein leidenschaftlicher Wille obwaltete, da mußte es auch einen Weg geben, trotz aller Schwierigkeiten und Hindernisse. Er wollte den Weg finden, und sollte er die Erreichung des Ziels mit dem Tod bezahlen.

[429]
9.

Der Stadtpfarrer Melchers in seinem tiefschwarzen Talar und der großen gestärkten Halskrause stand auf der Kanzel der uralten Marienkirche und hielt die Nachmittagspredigt. Sein kluges, mildfreundliches Antlitz trug heute den Stempel einer besonderen Feierlichkeit und Schwermut. „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!“ Das war das Thema, an das die eindringlichen Worte des Priesters anknüpften, um sich mehr und mehr zu einem warmherzigen Loblied auf die christlichen Tugenden des Wohlwollens, der Nachsicht und der Verführlichkeit auszugestalten. Nicht mit Zorn und Gewalt, sondern mit Güte und teilnehmender Liebe soll der Christ seinem verirrten Bruder entgegenkommen. Er soll nicht eifern und ohne Mitleid verdammen, sondern des Heilands und Welterlösers [430] gedenken, der noch am Kreuze die unvergänglichen Worte sprach: Vater, vergieb ihnen …

Rechts von der Kanzel, in einem der braunrot angedunkelten Kirchenstühle, saß Hildegard Leuthold mit ihrem Vater, dem Herrn Magister. Die Stimme des Geistlichen klang so tief und erbaulich und das Sonnenlicht glänzte nach etlichen trübwolkigen Tagen so wunderherrlich durch die bemalten Scheiben, daß auch ein kälteres Herz als das der frommgläubigen Hildegard zur Andacht gestimmt worden wäre. Seltsam aber und unerhört, zum erstenmal, seit sie den Kinderschuhen entwachsen war, konnte Hildegard Leuthold unter den Wölbungen des Gotteshauses nicht die erwünschte Sammlung finden.

Zweierlei zog’ sie beständig ab, ein lichter Gedankenkreis und ein düsterer.

Der lichte bezog sich auf Doktor Gustav Ambrosius. Bei jener trauten Geburtstagsfeier, die jetzt um anderthalb Wochen zurücklag, war sich Hildegard über den Zustand ihres Gemüts endgültig klar geworden. Sie wußte jetzt, daß ihre lebhafte Sympathie für den jungen Arzt mehr als äußerliches Gefallen, mehr als freundschaftliche Teilnahme war. Ehe er noch damals von dannen ging, fühlte sie, daß ihr Schicksal besiegelt sei, daß sie ihn liebte, liebte mit aller Glut und Kraft ihres jungfräulich reinen Herzens. Und deshalb war eine Zaghaftigkeit über ihr Wesen gekommen, eine bang zweifelnde Scheu, die nur dann sich in Freudigkeit und glückseliges Hoffen löste, wenn der Geliebte ihr nahe war. Zweimal noch hatte sie ihn seit jenem Tage gesehen. Der Ton, in dem er da mit ihr sprach, schien ihr so merkwürdig ernst und bescheiden, beinahe ehrfürchtig, daß es in ihrer Brust jubelte. Auch er hat dich lieb! – Während der Trennung aber geriet dann die fröhliche Zuversicht wieder ins Schwanken. Nach Art aller wirklich liebenden Mädchen war sie voll Demut und hielt ihn, wenn sie einsam darüber nachsann, für bei weitem zu hoch und herrlich, als daß es ihm beifallen könnte, ihr, der Unbedeutenden, je seine dauernde Huld zu schenken. Diese Zaghaftigkeit suchte sie auch jetzt wieder heim und erfüllte ihr Herz mit Bildern und Vorstellungen, die ihr die Andacht störten. Fruchtlos mühte sie sich, den tieftönigen Worten des Priesters zu folgen. Sie hörte nur den Klang, nicht den Sinn. Vor ihrem geistigen Auge stand immer und immer wieder die teure Gestalt des Mannes, der ihre Seele so in Wirrnis gesetzt hatte. Bald sah sie ihn, wie er, das dunkle Barett in der Hand, dem freudig erstaunten Vater ihr Bildnis reichte. Bald, wie er im bunten Gewühl der Haingasse ritterlich grüßend an ihr vorbeischritt. Bald, wie er den Arm auf die Verdachung der Strandmauer stützte und nachdenklich hinabschaute auf das Entgleiten der Grossachwellen. Und seltsam, bei aller Bangigkeit, die sie verspürte, regte sich doch im Grund ihres Herzens ein unendliches Wonnegefühl. Sie kam sich geheiligt vor, wenn sie sich dieser Träumerei überließ; es war ihr zu Mut, als öffnete sich ihr dabei der unendliche Himmel, der so leuchtend und schön durch den geöffneten Oberflügel des Spitzbogenfensters in die freundliche Kirche sah.

Der düstere Gedanke, der ihr zuweilen mitten ins Blau ihrer Verzückung hinein trübselige Schatten warf, bezog sich auf eine ihr gründlich verhaßte Persönlichkeit droben links auf der Empore. Es war ein breitschulteriger vierzigjähriger Mann, gleich dem Verkünder des Gotteswortes in tiefstes Schwarz gekleidet, nur ohne das mildernde Weiß der gestärkten Halskrause. Das runde, blühende Antlitz mit der etwas hervorstehenden Unterlippe, die auf ungewöhnliche Willenskraft hinwies, hatte im Grund etwas Behäbiges, Gutartiges. Nur die Augen mit ihrem stechenden Blick paßten nicht ganz zu diesem Eindruck, immerhin konnte der Blick ebensogut scharfe Beobachtungsgabe und hervorragende Intelligenz wie Mißtrauen und Feindseligkeit bekunden.

Auch für die übrigen Teilnehmer des Gottesdienstes war dies vollblühende Antlitz ein Gegenstand häufigen und aufmerksamen Beschauens – zum Leidwesen des redlichen Stadtpfarrers, der mit Betrübnis wahrnahm, daß seine Gläubigen immer noch nicht gelernt hatten, die Anwesenheit des neuen Gemeindemitglieds wie etwas Selbstverständliches hinzunehmen. Etliche sahen bewundernd, etliche mit heimlichem Grausen, noch andere wenigstens neugierig zu der Empore hinauf und verfolgten minutenlang die Bewegungen dieser festen fleischigen Hände und das Spiel der kraftvollen, manchmal wie im Kauen begriffenen Kinnmuskeln.

Der Mann da droben in dem geschnitzten Lehnstuhl war kein geringerer als der weithin gefürchtete Balthasar Noß, der bevorzugte Günstling des allergnädigsten Landesherrn, der eigens bestellte Zentgraf und erste Vorsitzer des Glaustädter Malefikantengerichts.

Unwillkürlich mußte auch Hildegard Leuthold ab und zu auf diesen üppigen frischroten Mund starren, der mit breitlächelnder Grausamkeit so viele Hunderte schuldloser Menschen den ausgesuchtesten Martern und dem schmachvollsten Tod überantwortet hatte.

Da sie selber nicht an die Hirngespinste des Hexenwahns glaubte, fiel es ihr schwer, bei einem denkenden, wohlunterrichteten Manne die Möglichkeit eines solchen Glaubens vorauszusetzen, obwohl ja zum Beispiel Adam Xylander selbst bei den Gegnern der Sache als ehrlich und überzeugt galt. Für Hildegard war dieser Balthasar Noß einfach der Wüterich, der aus teuflischer Lust an der Qual seiner Mitgeschöpfe und aus berechnendem Eigennutz den furchtbaren Irrtum des Volks und des Landgrafen ausnutzte.

Balthasar Noß machte jetzt eine Kopfwendung, die ihr die ganze Breite seines rundwangigen, faltenlosen Gesichts voll zukehrte. Hildegard schauderte. Im Studiergemach ihres Vaters hatte sie neulich einmal das Bild eines altrömischen Kaisers gesehen, dessen Hauptwonne es war, die christlichen Märtyrer im volksumringten Amphitheater von Löwen und Tigern zerfleischen zu lassen. War es Nero gewesen oder ein Späterer …? Vielleicht Domicianus? An diesen gräßlichen Imperator, der ja auch einen Zug von Behäbigkeit im Gesicht hatte und durchaus nicht der Vorstellung entsprach, die man sich machte, wenn man die Schilderungen der alten Autoren las, gemahnte sie jetzt dieser gesunde, kernig und kraftvoll ausschauende Balthasar Noß. Um seine stark entwickelte Unterlippe spielte sogar ein leises freundliches Lächeln. Und gestern erst hatte der fluchbeladene Mensch wieder nach längerer Pause ein ganzes Dutzend von Opfern zugleich auf dem Böhlauer Trieb teils mit dem Schwert hinrichten, teils lebendig einäschern lassen! Das Wimmern des Armensünderglöckleins tönte der heimlich bebenden Hildegard noch im Ohr und das gespenstische Murmeln der Schaulustigen, die scharenweise über den sonnenglühenden Markt strömten. Vom Besuch eines erkrankten Schützlings heimkehrend, hatte sie selber auf der schwarzen Basaltplatte das Verzeichnis des ‚fünfzehnten Brandes‘ gelesen, den Balthasar Noß zu Ehren der Glaustädter Justiz da draußen vor dem Gusecker Thor anzünden wollte. Sie erinnerte sich einzelner Namen und Zusätze. Da stand in kraus verschnörkelten Buchstaben: Der Dungersleber, ein Spielmann. Die alte Rumin. Des Herrn Mengersdorfers alte Köchin. Des Johann Steinbachs Voigtin. Der Wagner Wunth. Die Zinckel Babel. Der Fronbauer Kleinweiler aus Lynndorf. Und andere Namen.

Der Kleinweiler hatte also doch dran glauben müssen, trotz der scheinbar günstigen Wendung, die sein Prozeß nahm, als sich der Pfarrer von Lynndorf als entlastender Leumundszeuge beim Blutgericht stellte. Es half nichts. Die arme Lieselott! Und die bejammernswürdige Ehefrau!

Was aber Hildegard noch viel tiefer erschüttert hatte als die Nennung des Namens Kleinweiler, das war die Bezeichnung des letzten Opfers, die also lautete. Ein fremd Mägdlein von sieben Jahren. – Den ganzen Tag hatte sie gestern gebraucht, um den furchtbaren Eindruck dieser wenigen und doch so beredten Worte aus ihrer Seele hinwegzutilgen. Jetzt, wie Balthasar Noß ihr sein strotzendes Imperatorengesicht so mit der vollen Breitseite zukehrte, tauchte das Halbvergessene wieder grell und schauerlich vor ihr auf. Ein fremd Mägdlein von sieben Jahren! Ein hilfloses Kind! Das einzige Glück seiner Mutter vielleicht! Ein zartes, armes, unbekanntes Geschöpf, das noch nichts ahnte von Gut und Böse! Und dennoch niedergezwungen durch die rohe Gewalt des Henkers und elend gemordet als Hexe und Satansgenossin!

Inbrünstig faltete Hildegard Leuthold die Hände. Sie sandte im stillen ein heißes Gebet zu Gott empor, er möge doch [431] alle verblendeten Seelen gnädig erleuchten und insbesondere den Landgrafen Otto zu einer klaren Erkenntnis führen, damit er die neue ägyptische Plage der Malefikantenhetze von dem armen geliebten Glaustädt eh’stens hinwegnehme, dem glorreichen Beispiel gemäß, das drüben in Dernburg der kluge hochherzige Fürst Maximilian gegeben!

Der Gottesdienst ging zu Ende. Leider hatte ihm Doktor Ambrosius nicht beigewohnt. Hildegard fand das im höchsten Grade bedauerlich. Man hätte ja gut ein Stückchen Wegs mit ihm gemeinsam zurücklegen können.

Magister Leuthold hängte sich bei seiner Tochter ein. Das war eine alte Lieblingsgewohnheit von ihm, schon aus der Zeit her, da ihm das Kind noch kaum an die Schulter reichte. So schritten sie über den Marktplatz und am Gasthof zum Goldnen Schwan vorbei in die Weststraße. Ab und zu drückte der Vater seinem holdseligen Töchterlein mit liebkosendem Zeigefinger den Arm. Gesprochen ward von den beiden nur wenig.

Zu Haus angekommen, fand der Magister ein Schreiben des Doktor Ambrosius vor, das er in Hildegards Gegenwart aufbrach. Der Brief lautete:

„Hochzuverehrender Herr Magister!
Wertlieber Freund!

Gestattet mir, Euch in geziemender Achtung einen Vorschlag zu unterbreiten. Dafern Ihr und Euer schätzbares Fräulein Hildegard für diesen Nachmittag nicht etwas plant, was Euch lockender scheint, so möchte ich Euch hiermit gehorsamst bitten, Euch etwa um fünf Uhr in der städtischen Waldschenke am Lynndorfer Gehölz einfinden zu wollen. Dort spielt nämlich – wie Ihr vielleicht schon wißt – heute zum erstenmal die fahrende Komödiantentruppe des rühmlichst bekannten Paphnutius Zähler aus Wien. Anfang halb sechs Uhr. Man sitzt im Freien. Doch sind für den Fall unerwarteten Regens dichte Zelttücher gespannt. Leute, die besagte Schauspielerbande früher gesehen haben – zum Exempel Euer gelehrter Freund, der Notarius Weigel, der sie vor sechs oder acht Jahren zu Worms traf – geben mir die Versicherung, daß es der Mühe wert sei.

Ich würde mich glücklich schätzen, hochzuverehrender Herr Magister, Euch und das liebe Fräulein dort anzutreffen. Ich selbst habe noch in der Nähe – auf dem Gertraudenhofe – zu thun, gehe aber zuvor in die Waldschenke, um dort Plätze für uns zu belegen. Solltet Ihr leider behindert sein, so geb’ ich sie leicht wieder ab. Doch hoffe ich, daß Ihr werdet erscheinen können!

In submissester Ehrerbietung
Euer Hochgelahrten allezeit ergebener Diener
     Dr. Gustav Ambrosius.“

Magister Leuthold hatte den Brief halblaut vorgelesen.

„Nun?“ frug Hildegard lebhaft. „Was sagt Ihr dazu? Wir gehen doch, Vater? Nicht wahr? Das erfordert doch schon die Höflichkeit.“

Er klopfte ihr lächelnd die Wange. „Meinst du? Ja, wenn’s die Höflichkeit von uns erheischt, dann giebt’s ja kein Widerstreben! Welche Uhr ist’s jetzt?“

„Halb Vier.“

„Gut! Wir ruhen uns also ein Weilchen aus und machen uns dann aus angeborener Höflichkeit auf den Weg.“ Die Tochter umarmte ihn.

„Ich dank’ Euch, Vater! Ich bin so über die Maßen neugierig! Theaterspielen hab’ ich noch nie gesehen. Ich weiß ja wohl, Ihr setztet Euch lieber still in den Garten und nähmet ein Buch zur Hand. Aber für mich bringt Ihr gern ein Opfer!“

Magister Leuthold wunderte sich, daß Hildegard seine Einwilligung so pathetisch nahm. Wie sich das anhörte. „Ein Opfer!“ Aber er sagte nichts. Seit einiger Zeit kam sie ihm ja überhaupt merkwürdig verändert vor. Sollte sie wirklich …? Nun, wie der Himmel wollte!

10.

Kurz nach vier Uhr waren die beiden marschfertig. Hildegard hatte sich um des weltlichen Zwecks willen artig herausgeputzt. Das ernste blauschwarze Tuchkleid, das sie zum Kirchgang angelegt, schien ihr für den Besuch der Komödie viel zu düster und feierlich. Sie trug sanftschimmerndes Rosa mit ganz neumodisch aufgeschlitzten Puffärmeln, das Lieblingskleid ihres Vaters, dem sie in solchen Dingen trotz seiner Büchergelehrsamkeit einen sehr guten Geschmack zutraute.

Als man den großen Baumhof der Waldschenke betrat, herrschte hier schon das bunteste und belebteste Treiben. Unmittelbar am Haus war eine ziemlich umfangreiche Schaubühne aufgeschlagen. Der hochrote Vorhang zeigte in goldfarbigen Rundrahmen die neun Musen mit ihrem leierschlagenden Führer Apollo. Oben am Rand las man die halbverblichene Aufschrift: Theatrum Paphnutii Zaehlerii Vindobonensis. Die rohgezimmerten Bänke und Strohstühle unter den Zelttüchern waren mit Nummern versehen und vielfach bereits von ungeduldigen Zuschauern eingenommen. Der größere Teil des Publikums aber saß noch draußen bei Wein und Bier oder lustwandelte plaudernd im Gang der blühenden Linden. Alle Stände, Berufsklassen und Lebensalter mischten sich hier zwanglos untereinander, Künstler und Ratsherren, Kinder und Greise, Bauern und Städter. Besonders zahlreich waren die Frauen und Mädchen. Die Unterhaltung drehte sich beinahe überall um das gleiche Thema, die bevorstehende Aufführung und die bisherigen Kunsterfolge der Truppe. Jeder wußte etwas Besonderes. Der eine rühmte die glänzende Ausstattung, die guten Vernehmen nach mit den trefflichsten Leistungen der königlichen Theater in Frankreich wetteifern konnte, der andere tischte die Mitteilung auf, Fürst Maximilian von Dernburg habe einmal zu Augsburg erklärt, Paphnutius Zähler sei der großartigste Spaßmacher seiner Epoche. Ein dritter pries den ausgezeichneten Osann, ein vierter die anmutige Demoiselle Haricourt, eine junge Französin aus Nancy, die sich trotz ihres mangelhaften deutschen Accents überall die Herzen im Sturm eroberte. Glaustädt würde an diesen Vorstellungen seine Freude erleben …

Von Doktor Ambrosius war einstweilen noch nichts zu sehen. Wohl aber saß da gleich vorn an dem niedrigen Ecktisch der kunstverständige Freund, den Doktor Ambrosius in seinem Briefe erwähnt hatte, Rolf Weigel, der kleine bucklige Notar. Das feine, geistvolle Gesicht des Verwachsenen leuchtete auf, als er seinen verehrten Studiengenossen Leuthold und die liebliche Hildegard auf sich zukommen sah. Der Notar lebte zwar völlig zurückgezogen und hielt sich von jeden Familienverkehr fern. Er hatte Herrn Leuthold erst ein einziges Mal in seinem Glaustädter Heim aufgesucht. Einladungen lehnte er grundsätzlich ab. Er passe mit seiner spitzkantig verschrobenen Gestalt nicht in den Kreis froher Geselligkeit, noch in die schönen rechtwinkligen Feststuben. Aber er fühlte bei all diesem Sonderlingstum doch eine unverjährbare Anhänglichkeit und freute sich stets, wenn ihn der Zufall irgendwo draußen mit Herrn Leuthold zusammenbrachte.

Rolf Weigel und der Magister begrüßten sich. Vor Hildegard machte der kleine Notar ein etwas schwerfälliges Kompliment. Hiernach bat er die Leutholds mit freundlicher Höflichkeit, an seinem dreibeinigen Ecktisch mit Platz zu nehmen.

„Ihr müßt Euch schon meine glanzlose Nähe gefallen lassen, vieledles Fräulein,“ fügte er lächelnd hinzu. „Aber Ihr seht, ringsum ist alles besetzt! Viel zu viel Publikum für den beschränkten Raum!“

Hildegard sagte ihm etwas Verbindliches. Weigel war ihr trotz seiner unvorteilhaften Erscheinung sympathisch.

Man setzte sich.

Während ihr Vater mit dem Notar ein halblautes Gespräch anknüpfte, ließ Hildegard ein wenig die Blicke umherschweifen. Just in der Tischreihe vor ihr saßen drei allbekannte Glaustädter Patrizier mit ihren reich gekleideten Ehewirtinnen, dazwischen auch etliche junge Leute. Weiter links, vorn in der dritten Reihe, gewahrte sie Elsbeth und Dorothea, die beiden rotblonden Töchter des Bürgermeisters. Die Mädchen weilten hier in Gesellschaft ihres mütterlichen Oheims, des landgräflichen Oberförsters. Der Bürgermeister selbst war nicht anwesend. Elsbeth und Dorothea nickten recht artig herüber und kamen nach fünf Minuten auf Hildegard zu, um der liebwerten Freundin die Hand zu schütteln. Dann aber nahmen sie rasch wieder Abschied. Elsbeth hatte bemerkt, daß sich der Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck dem Tisch ihres Oheims näherte. Den Ratsbaumeister jedoch wollte sie unter keiner Bedingung versäumen. Sie schmeichelte [434] sich immer noch mit dem schönen Gedanken, Woldemar Eimbeck sei von ihrem leuchtenden Rotblond hingerissen, obwohl er bisher doch ganz offenbar die Tochter des Stadtpfarrers, die lustige, lebensprühende Margret Melchers, bevorzugt hatte. In Wirklichkeit war Woldemar Eimbeck so durchaus von den Zwecken und Zielen seines Geheimbundes in Anspruch genommen, daß alles Uebrige, die reizende Margret nicht ausgenommen, zunächst in den Hintergrund trat. Sogar die Berufsarbeiten litten nicht unerheblich. Wenn er jetzt zu dem angesagten Komödienspiel nach der Waldschenke kam, so geschah dies mehr aus Zweckmäßigkeitsgründen als um der Sache willen. Er glaubte, sich ab und zu bei einer derartigen Lustbarkeit zeigen zu müssen, um in den Augen der großen Menge für harmlos und weltfreudig zu gelten. Aus der gleichen Erwägung heraus folgte er mit Vergnügen der Einladung des landgräflichen Oberförsters und setzte sich breit und behaglich zwischen Elsbeth und Dorothea. Die Nachbarschaft der rotblonden Mädchen, als der Sprößlinge des ehrenfesten Stadtoberhauptes, stempelte ihn, für alle ersichtlich, zu einem unverdächtigen Anhänger der bestehenden Ordnung.

Der Magister und der Notar hatten sich durch das Erscheinen der Bürgermeisterstöchter nur ganz flüchtig in ihrem eifrigen Zwiegespräch stören lassen. Dies Zwiegespräch wandte sich jetzt – mehr andeutungsweise als in greifbaren Wendungen – den Zeitläufen und insbesondere den Verhältnissen Glaustädts zu.

„Wär’ ich an Eurer Stelle,“ sagte Rolf Weigel, „ich kehrte dem alten Nest hier schleunigst den Rücken. Ihr, mein Teuerster, könnt doch leben, wo’s Euch beliebt! Ich bin leider Gottes durch meinen Beruf an die Glaustädter Scholle gebunden.

„Freilich,“ versetzte Leuthold, „mir steht ja die Welt offen. Längst schon hätt’ ich vielleicht mein Bündel wieder geschnürt, wenn nicht das neue Besitztum wäre, das mich doch gewissermaßen hier festhält. Trotzdem – ganz unter uns: ich gehe schon mit dem Gedanken um, wenn sich nicht manches in Glaustädt ändert, mein Anwesen zu verkaufen. Bis künftige Weihnacht will ich noch warten. Dann aber … Es fällt mir zwar überaus schwer. Je älter man wird … Kaum hier eingewöhnt, schon wieder Valet sagen! Und die Sehnsucht nach der geliebten Heimat war doch ein Hauptgrund, weshalb ich den Wittenbergern mein Amt vor die Füße warf … Immerhin. Es giebt Zustände …“

„Vorsicht!“ flüsterte Weigel mit einem Blick auf zwei halbwüchsige Burschen, die plumpneugierig hergelauscht hatten.

„In der That …“ lächelte Leuthold. „Reden wir von was anderm!“

Und der Notar wandte sich mit einem artigen Scherzwort an die träumerisch dasitzende Hildegard.

Endlich kam auch Doktor Ambrosius. Im Gertraudenhof hatte man ihn weit länger aufgehalten, als er vorhergesehen. Er bat um Entschuldigung. Einer der Schenkbuben in Lynndorfer Tracht setzte ihm einen Trunk vor.

Bald danach scholl von der Schaubühne her eine Trompetenfanfare, zum Zeichen, daß die Zuschauer ihre Plätze aufsuchen sollten.

Nach zehn geräuschvollen Minuten war alles glücklich untergebracht. Hildegard saß zwischen Doktor Ambrosius und ihrem Vater. Rechts von dem Vater saß der Notar.

Ein Glockensignal. Der Vorhang ging auf. Man spielte einen zugkräftigen Schwank aus dem Französischen. Paphnutin Zähler war in der That zwerchfellerschütternd, während die lebhaft beklatschte Demoiselle Haricourt durch ihre Anmut und Keckheit besonders die Männerwelt in lautes Entzücken versetzte. Am Ende des zweiten Aktes führte sie einen graziös leidenschaftlichen Tanz auf und weckte damit einen wahren Orkan der Begeisterung.

Als der Applaus sich gelegt hatte, vernahm Hildegard Leuthold unmittelbar hinter sich einen halb unterdrückten Ausruf, der wie ein seltsamer Nachzügler dieses tosenden Sturmes klang, wie ein derber Naturlaut, unwillkürlich hervorgequollen aus der Tiefe einer starkfühlenden, mächtig erregten Brust. Sie drehte sich um.

Da fiel ihr Blick in das nämliche breitblühende Antlitz, das ihr vor wenigen Stunden von der Empore des Gotteshauses herab ein so unsagbares Grausen eingeflößt hatte. Es war der Vorsitzer des Malefikantengerichts, Balthasar Noß, dem dies verspätete Beifallsjauchzen entschlüpft war. Der gefürchtete Blutrihter saß hier mitten unter den harmlosen Zuschauern und schwelgte behäbig im Anblick der reizvollen Frauengestalt dort auf der Schaubühne. Balthasar Noß gehörte eben zu den praktischen Weltweisen, die nach gethaner Arbeit dies flüchtige Leben genießen. Seine Vorliebe für eine glänzend besetzte Tafel war stadtbekannt. Ebensosehr aber schwärmte Herr Noß für weibliche Schönheit, obgleich sein Geschmack in dieser Beziehung etwas befremdlich schien. Edle, vornehme Jungfräulichkeit, wie sie zum Beispiel in Hildegard Leuthold verkörpert war, ließ ihn vollständig kalt. Er schätzte nur zwei Extreme: bäuerlich dralle Urwüchsigkeit oder das leichtfertig Frivole. Aus Rücksicht auf seine Stellung suchte er zwar möglichst den Schein zu wahren. Ab und zu drangen jedoch denkwürdige Einzelheiten aus seinen vielfachen Minnefahrten ans Tageslicht. Jetzt hatte er augenscheinlich in Demoiselle Haricourt einen unerwarteten Gegenstand seiner Teilnahme gefunden. Es spann sich hier etwas an, was je nach Umständen auf sehr verschiedene Art enden konnte. War Demoiselle Haricourt willig und freundlich, dann drohte ihr nur die heimliche Gunst des Furchtbaren. Wenn sie jedoch rebellisch war und ohne Verständnis für diese Auszeichnung, dann konnte kein Mensch voraussagen, wie bald sie die Schaubühne da mit einer Zelle im Stockhaus vertausche würde. Die Patrioten des Freiheitsausschusses waren genau davon unterrichtet, daß Balthasar Noß wenigstens früher derartige Bubenstücke mehrfach geleistet hatte.

Hildegard Leuthold riß durch ihr plötzliches Umsehen den Malefikantenrichter aus seiner schönen Beschaulichkeit. Der Schreck, um nicht zu sagen der Abscheu, malte sich ihr so unverkennbar auf dem verstörten Antlitz, daß ihr der davon peinlich berührte Noß einen recht unwirschen Blick zuwarf. Unerhört. Wer war diese anmaßliche Glaustädterin, die sich erdreistete, ihn, den Gewaltigen über Leben und Tod, anzustarren, als möchte sie ihm ehestens Gift in den Wein träufeln? Zum erstenmal in ihrem Leben hatte die liebreizende Hildegard Leuthold Widerwillen und Zorn erregt.

Während des ganzen weiteren Verlaufs der Posse war es dem jungen Mädchen unfroh und bänglich ums Herz. Sie meinte, die grauen, stechenden Augen des Blutrichters wie zwei bohrende Pfeile im Nacken zu spüren. Als der Vorhang gefallen war, horchte sie auf, ob sich der eigentümliche Beifallston aus der Kehle des Noß wiederhole. Aber sie hörte nur unverständliches Stimmengewirr und das Knarren der Sitze. Doktor Ambrosius richtete eine Frage an sie, auf die sie zerstreut antwortete. Im Drang einer unerklärlichen Regung wandte sie nochmals den Kopf. Der Platz des Malefikantenrichters war leer, obgleich noch ein kurzes Nachspiel in Aussicht stand. Die hübsche Französin hatte hierbei allerdings nicht mitzuwirken.

Nach zwanzig Minuten fiel auch über das lustige Nachspiel der Vorhang. Die Bänke und Stuhlreihen leerten sich. Viele der Zuschauer machten sich schon jetzt auf den Heimweg. Die Leutholds aber mit Doktor Ambrosius und dem Notar suchten sich einen Tisch an der äußersten Hofmauer, wo man den Blick über die weite Glaustädter Flur hatte. Hier gönnte man sich einen ländlichen Imbiß und einen faßkühlen Trunk. Es war der entzückendste Sommerabend. Der Tag schien heute nicht enden zu wollen. Die ganze Westseite des Himmels bis zum Zenit flammte in lichtem Rot.

Nach eine Weile kam auch die Mondscheibe hinter den Hügeln herauf und goß ihren milden Schein auf den schlummernden Waldessaum und die reich prangenden Kornfelder. Man sprach über den drolligen Schwank. Der Magister und der Notar, der gleichfalls ein Kenner der altklassischen Litteratur war, zogen Vergleiche zwischen der welschen Komödie und einem Lustspiel des Plautus. Auch Doktor Ambrosius und Hildegard nahmen teil an diesen Erörterungen, bis sie dann, unabhängig von dem Gespräch der andern, auf ein minder kritisches Thema gerieten. Weder sie, noch Weigel und der Magister merkten, daß sich die Waldschenke rasch leerte.

Erst gegen halb Elf gab der Magister das Zeichen zum Aufbruch. Eine tüchtige Strecke weit hatten die vier den [435] gleichen Weg. Zudem bat Gustav Ambrosius um die Erlaubnis, Herrn Leuthold und seine Tochter bis nach der Grossachstraße begleiten zu dürfen. Bei einer solchen Mondespracht im läßlichen Juni sei diese Wanderung an sich schon ein Hochgenuß.

Magister Leuthold und der Notar gingen voraus. Doktor Ambrosius mit Hildegard folgte. Mehr und mehr blieben die zwei zurück. Hildegard dachte schon längst nicht mehr des gräßlichen Blutrichters, dessen aufkeuchender Atem ihr beinahe die Stirn gestreift hatte. Ihr junges Herz war voll zum Zerspringen. Auch Doktor Ambrosius fühlte sich unaufhaltsam ergriffen. Das Haar Hildegards schimmerte unter dem weißen Licht wie ein Heiligenschein. Ihre Augen waren so groß und tief, ihre Lippen so glückverheißend. Ringsumher wogten und rauschten die unnennbaren Stimmen der Sommernacht, mehr geahnt als gehört, ein süß geheimnisvolles Weben und Flüstern, das die Seele zur Seele zwang.

Hingerissen von diesem Zauber, sprach denn Gustav Ambrosius das entscheidende Wort. Der Liebende warb, und Hildegard Leuthold gab sich dem Mann ihrer Wahl glückstrahlend zu eigen.

„Ja,“ klang es dann nochmals von ihrem bebenden Mund, als Doktor Ambrosius auch von ihr ein volles Bekenntnis heischte, „ja, ich habe Euch lieb. Ich will Euch allzeit eine treue Gefährtin sein, bis an mein Ende.“

„Und Euer Vater? Werd’ ich ihm gut genug dünken für sein herrliches Kleinod?“

„Er kennt Euch und liebt Euch. Er weiß, daß ich in Euren Armen wohl aufgehoben bin, jetzt und immerdar.“

Der junge Arzt schwieg. Ein leichtes Frösteln überrieselte ihn. Er gedachte des gefahrvollen Planes, in den er verwickelt war, dem er sich zugeschworen mit Eid und Manneswort. Eine Sekunde lang fragte er sich, ob er die Werbung vor Gott und seinem Gewissen verantworten könne. Er machte das holdselige Mädchen durch seine Annäherung, ja, mit teilhaftig all jener Schrecknisse, die ihm drohten, wenn die Verschwörung mißlang. Gleichviel! Er hatte nicht anders gekonnt! Lieben und sich geliebt fühlen und dann aus kalter Vernunft sich Schweigen gebieten und so vielleicht das geliebte Wesen verlieren, weil es in Zweifel gerät – nein, das überstieg seine Kraft! Und wenn das Geschick es wirklich wollte, daß alles fehlschlug, dann blieb ihm doch in der letzten Not ein himmlischer Trost: er hatte sie einmal wenigstens an sein pochendes Herz gezogen und das Bewußtsein genossen, daß sie mit Seele und Sinn ihm angehörte!

So scheuchte er denn die finstern Gedanken mannhaft hinweg. Er drückte ihr voll zärtlicher Inbrunst die Hand. Und da jetzt bei einer Biegung des Weges hochragendes Weidengebüsch ihn und Hildegard gegen die beiden Männer da vorn deckte, schloß er das aufglühende Mädchen stürmisch an seine Brust und küßte es lange und heiß auf die Lippen.

„Dein – diesseits und jenseits!“

Sie küßte ihn wieder.

„Dein – im Leben und Sterben!“

Als sie dann weiter schritten, hub er mit klarer, gefesteter Stimme an:

„So weit hat uns der Himmel geführt. Unser Bund ist geschlossen. Aber ich muß dir nun etwas mitteilen, was dich vielleicht überrascht. Nicht heute, nicht morgen werd’ ich vor deinen Vater treten, sondern erst nach Verlauf einiger Monate. Ich habe schwerwiegende Gründe hierfür, die ich dir jetzt noch nicht enthüllen kann. Bis dahin laß uns die Sache geheim halten!“

Hildegard sah voll Hingebung zu ihm auf. „Alles geschehe, wie du’s für gut findest!“ sagte sie mild lächelnd.

„Glaube mir,“ fuhr er bewegt fort, „wenn mich die Angst nicht verzehrt hätte, irgend ein anderer könnte mir doch noch zuvorkommen – ich hätte geschwiegen bis zu dem Zeitpunkte, wo ich auch gleich vor der Welt unser Glück offenbaren konnte. Aber es ging nicht länger. Ich mußte Gewißheit haben um jeden Preis!“

Die Gründe, die bei Doktor Ambrosius obwalteten, waren durchaus verständig und ehrenhaft. Einmal wollte er nicht, daß ihm die Stellung eines erklärten Bräutigams gesellschaftliche Verpflichtungen auferlege, die seine ohnehin stark in Anspruch genommene Zeit zum Nachteil des großen Verschwörungsplanes hätten beeinträchtigen können. Dann aber – und das war der Hauptgrund – trug er sich mit der Sorge, im Fall des Mißlingens möchte die öffentlich anerkannte Braut des Verschwörers und ihr Vater – nach der bekannten Logik des Balthasar Noß – mit ins Verderben gerissen und gleich ihm von der Rache der Blutmänner zermalmt werden.

Hildegard Leuthold hatte natürlich von alledem keine Ahnung. Ihr Vertrauen jedoch zu Doktor Ambrosius war so grenzenlos, daß die geringste neugierige Frage ihr ein Verbrechen gedünkt hätte. Mochte er’s mit seiner Brautwerbung halten, wie es ihm zweckmäßig schien! Sie war fest überzeugt, daß er in seiner untadligen Einsicht das Rechte schon treffen werde.

Am nächsten Kreuzweg verabschiedete sich der Notar Rolf Weigel. Doktor Ambrosius ging mit den Leutholds bis an die Wohnung. Hildegard mühte sich ehrlich, den etwas schweigsamen Vater mit ins Gespräch zu ziehen. Sie kam sogar auf das vorhin erwähnte Lustspiel des Plautus zurück und lobte die scharfsinnige Auffassung des kleinen buckligen Mannes, der in der Welt des klassischen Altertums so vollkommen zu Hause war.

Endlich war man am Ziel. Das schmiedeeiserne Thor knarrte.

„Gute Nacht!“

„Glückliche Ruhe!“ So trennte man sich.

Tief nachdenklich wanderte Doktor Ambrosius zurück nach der Stadt, wo ihn der eisgraue Thorwächter gähnend hereinließ. Wortlos behändigte er dem mißvergnügten Beamten das vorschriftsmäßige Geldstück.

Dann suchte er auf mancherlei Umwegen das Haus an dem alten, brunnenrauschenden Marktplatz auf.

Hildegard stand indessen noch geraume Zeit am geöffneten Fenster ihrer freundlichen Schlafkammer und schaute hinaus in die bläulich schimmernde Sommernacht. Der Mond schwebte jetzt hoch über den beiden gotischen Türmen der alten Marienkirche. Rechts drüben lag das Lynndorfer Gehölz – und weit in der Ferne ein mattglänzender Punkt, das Schieferdach der städtischen Waldschenke – alles schweigsam und friedlich und wie gebadet im strömenden Silber des Nachtgestirns. Hildegard preßte die Hand auf ihr klopfendes Herz.

Sie dachte ihrer verewigten Mutter. Das halbverblaßte Erinnerungsbild aus frühster Vergangenheit stand ihr mit einem Mal wie greifbar und neu belebt vor der Seele. Wenn ihre Mutter das mit erlebt hätte – diese unendliche Seligkeit ihres einzigen Kindes! Nun sah sie wohl aus verklärter Höhe auf die Beglückte herab und spendete auf den Schwingen des Mondlichts ihren himmlisch geheiligten Segen!

Nach einer Weile quoll es in Hildegards Brust auf wie unermeßliche Sehnsucht nach dem geliebten Vater, der ihr die Heimgegangene so treulich ersetzt hatte. Sie klinkte die Thür auf. Der Mond und die Kerze erhellten ein wenig das Dunkel des Treppenhauses. Ohne sich über ihr Vorhaben klar zu sein, schlich Hildegard auf den Zehen bis an des Vaters Schlafgemach, legte das Ohr an das Getäfel und lauschte. Auch er schlief noch nicht. Wie gern wäre sie eingetreten, um noch einmal an diesem unsäglich schönen Tage die Hand zu küssen, die so sanft leitete und so stark schützte. Aber sie durfte ja nicht! Der Vater würde sofort alles durchschaut haben. So preßte sie denn voll Inbrunst ihre glühenden Lippen auf das geschnitzte Holzwerk und hauchte unhörbar:

„Schlummere süß, du mein bester Freund! Du und ich und er – das soll uns ein Dasein werden wie ewiger Sonnenschein!“

In ihre Stube zurückgekehrt, sank sie, noch angekleidet, auf ihre Bettstatt und vergoß reichliche Thränen. Sie wußte selbst nicht, um was sie weinte. Aber es war ihr so weich ums Herz und die Tränen thaten ihr wohl. Lang’ erst nach Mitternacht schlief sie ein.

[449]
11.

Abermals war eine Reihe von Tagen ins Land gezogen. Der Tuchkramer Henrich Lotefend hatte sich in seine rasende Leidenschaft bis zur völligen Urteilslosigkeit eingebohrt. Früh und spät sann er über die Mittel nach, um trotz aller Schwierigkeiten und Hindernisse an sein glühend ersehntes Ziel zu gelangen. Je weiter nun das Geburtstagsfest in dem Leutholdschen Rebengange zurücklag, um so hartnäckiger suchte sich Lotefend einzureden, daß er sich doch vielleicht über die Zuneigung Hildegards zu Doktor Ambrosius getäuscht habe. Die Eifersucht – so philosophierte er – war ein schlechter Beobachter. Man wußte, wie zärtlich Hildegard Leuthold an ihrem Vater hing … Die liebenswürdige Aufmerksamkeit, mit der Ambrosius den alten Magister erfreut hatte, wirkte doch ganz natürlich auf das Verhalten der Tochter. Sie wollte dem Urheber dieser reizenden Ueberraschung sich dankbar erweisen. Im übrigen war das alles vielleicht nur harmlose Koketterie und geschmeichelte Eitelkeit … Es kam noch hinzu, daß Hildegard neulich, als Henrich Lotefend sie wieder einmal über die Hecke hinaus mit freundlichem Zuruf begrüßt hatte, zwar heftig errötet war, aber es doch nicht verschmäht hatte, näher zu treten und seine Frage nach ihrem Befinden und nach dem ihres Vaters mit unbefangener Artigkeit zu beantworten. Es lag dabei ein so merkwürdiger Schimmer von Freude und Zuversicht über dem jungen Antlitz und ihre ganze Art schien so frei von Groll und Zurückhaltung, daß Henrich Lotefend beinahe Lust verspürte, auf seine zärtlichen Offenbarungen vom Lynndorfer Walde zurückzukommen. Aber die Sorge, durch ein verfrühtes Wort sie dennoch hinweg zu scheuchen, legte ihm Schweigen auf.

Wie er jetzt – gegen vier Uhr nachmittags – hinter dem rehbraunen Fenstervorhang seines Laboratoriums stand, wo seit Wochen kein Schmelztiegel gebrodelt und keine Retorte gedampft hatte, war Herr Lotefend wirklich schon halb überzeugt, daß seine Aussichten doch nicht so ungünstig seien, wie er sich damals im Leutholdschen Rebengang eingeredet. Durch den Spalt des Gewebes lugte er in das halb geöffnete Fenster des Nachbarhauses, wo Hildegard in Abwesenheit ihres Vaters ein wenig Ordnung in seine Bücher und Briefschaften brachte. Seit Verlauf einer Viertelstunde glitt ihre schlanke [450] Gestalt mit dem lieblich geröteten Antlitz und den herrlichen Zöpfen wohl zum zwanzigstenmal an seinem starrblickenden Auge vorüber und setzte sein Blut mehr und mehr in stürmische Wallung. Mit jeder Sekunde wuchs ihm der Mut und das Selbstvertrauen. Die Weiber sind unergründlich! Wer konnte denn wissen, ob nicht bei dem Benehmen Hildegards damals im Laubgang sogar eine wohlüberlegte Berechnung mitspielte? Selbst den unerfahrensten Jungfrauen ist die Thatsache geläufig, daß die Bevorzugung eines anderen die Liebe des scheinbar Zurückgesetzten wunderbar schürt und belebt! Vorhin erst hatte sich Lotefend in dem großen französischen Langspiegel seines Prunkzimmers unparteiisch gemustert. Ohne sich rühmen zu wollen, durfte er sich das Zeugnis eines noch immer stattlichen, frischen und nicht ganz alltäglichen Mannes geben. Er war allerdings nicht mehr so unerhört jung wie dieser Ambrosius, aber dafür überragte er den Herrn Doktor beinahe um Handbreite. Er, Henrich, besaß noch volles, braunlockiges Haar, das nur an den Schläfen ganz unmerklich ergraut war, und einen prächtigen, tiefschwarzen Vollbart. Der schlankvornehme Wuchs hatte noch kaum gelitten, wenn auch der Sechsundvierzigjährige selbstverständlicherweise stärker und breiter war als der Knabe von achtundzwanzig. Und wie oft hatte man Beispiele erlebt, daß gerade die zartesten und weiblichsten Frauen eine gereifte Männlichkeit dem blühendsten Jünglingsalter unbedingt vorzogen!

Zudem – so bethörte sich Henrich Lotefend weiter – sein Vermögen wog schließlich doch auch etwas! Glanz und Reichtum galten ja einem Geschöpf wie dieser Hildegard Leuthold gewiß nicht alles, aber bei sonst gleichwertigen Sympathien gab das Gold vielleicht doch am Ende den Ausschlag. Wenn sie ihn heiratete, würde Hildegard Leuthold ein Leben führen wie eine Königin. Er wollte ihr ein Daheim gründen, das von Luxus und Pracht überquölle. Die Schönheiten fremder Länder würden sich ihr erschließen wie ein unerschöpfliches Füllhorn. Sie sollte Paris kennenlernen und die Kaiserstadt an der Donau und die gesegneten Flure Italiens. Am Rhein, in der Provence am Strande von Genua wollte er ihr prächtige Schlösser bauen, ausgestattet mit allen Herrlichkeiten der Erde. Schon vor seinem Geständnis im Lynndorfer Wald hatte sich Lotefend zuweilen bei Hildegard in derartige Schwärmereien ergangen. Er hatte ihr ausgemalt, was er beginnen würde, wenn er sein Leben nach eigenem Geschmack einrichte könnte … Frau Mechthildis freilich sei eine aufsässige stille Natur und aller Bewegung feindlich … Die halte an Glaustädt fest und hindere so die Verwirklichung dieser schönen Phantasmen … Die lockenden Bilder, die er vor Hildegard so verschwenderisch ausgerollt, mußten inzwischen nachgewirkt haben. Ihr träumendes Auge hatte ja damals schon aufgeleuchtet …

Henrich Lotefend nahm jetzt wahr, wie die Leutholdsche Wirtschafterin Gertrud Hegreiner den Garten betrat und ihr gelbrotes Spinnrad an die schattigste Stelle des Laubgangs setzte. Die große Flügelhaube schimmerte unter dem Blattgrün herüber wie ein fremdartiger Schmetterling.

Da packte den liebeglühenden Mann plötzlich der Einfall, das ist der rechte Augenblick! Den Vater Hildegards hatte er vor zwanzig Minuten bereits in die Thorstraße nach der Stadt einbiegen sehen. Gertrud Hegreiner war offenbar mit ihren häuslichen Obliegenheiten zu Ende und saß nun hier fest bis zum Abend. Ehe die Kinder kamen, die Hildegard unterrichtete, verging wohl noch eine Stunde. Das Hausmädchen aber, die gute dumme Theres, würde es nicht sehr auffällig finden, wenn ein Freund der Familie, dazu ein Mann seines Alters, auch in Abwesenheit des Magisters vorsprach. Schlimmstenfalls konnte er dieser Bauerngans mit ein paar Weißpfennigen wohl den Mund stopfen.

Kurz entschlossen machte sich Lotefend auf den Weg. Er war in der letzten Zeit immer mit äußerster Sorgfalt gekleidet, sogar im Haus, daher er denn nur nach dem breitkrempigen Hut griff. Auch nahm er nicht erst von Mechthilds Abschied. Die lag ohnehin drüben in ihrer schattigverhängten Kemenate und schlief. Mochte sie weiter schlafen!

Vorsichtig öffnete er das schmiedeeiserne Thor das bei Tage nur eingeklinkt war. Auch die Hausthür stand offen, so daß Lotefend unbemerkt bis an das Zimmer gelangte, wo die nichts ahnende Hildegard so emsig mit Aufräumen beschäftigt war.

Hier machte der fieberisch erregte Mann für einen Augenblick Halt. Das Herz schlug ihm doch hart und wild an die Rippen. Er holte aus tiefster Brust Atem. Fast wäre er umgekehrt.

Endlich warf er sich in die Brust, schalt sich einen verwünschten Feigling und pochte ganz leise. Dann etwas stärker. Hildegard, das graulinnene Hauskleid ein wenig gerafft, eine Staubschürze vorgebunden, öffnete ihm.

„Gott zum Gruß!“ stammelte Lotefend. „Nehmt’s nicht ungut, liebwerte Freundin, wenn ich hier störe! Ich dachte Euren Herrn Vater zu finden.

„Der ist ausgegangen.“

„Schade!“

„Kann ich an seiner Statt Euch gefällig sein …?“

„Tausend Dank! Ihr müßt nämlich wissen … Gestattet Ihr, daß ich eintrete?“

Ohne auf ihre Erlaubnis zu warten, überschritt er die Schwelle und drückte die wuchtige Eichenholzthür langsam ins Schloß.

Hildegard begann stutzig zu werden.

„Ihr seht,“ sprach sie mit ruhiger Höflichkeit, „ich bin leider jetzt auf Besuche nicht eingerichtet.“

Sie wies auf die Staubschürze und die rings herrschende Unordnung.

„O! Zwischen Nachbarsleuten bedarf’s da keiner Entschuldigung!“

„Also; wie kann ich Euch dienen, Herr Nachbar?“

„Indem Ihr freundlich vergönnt … indem Ihr … mich drei Minuten lang ruhig anhört.“

Das Fräulein sah ihn verblüfft an. Seine Unsicherheit und Verlegenheit ließ keinen Zweifel darüber, daß ihn die nämliche Stimmung beseelte, die ihn damals im Lynndorfer Gehölz übermannt hatte.

„Hildegard,“ fuhr er dann fort, heiser vor Aufregung, „ich ertrag’ es nicht mehr! Lieber das Schlimmste, lieber den Tod als diese fortwährende Qual!“

„Aber um Gott, Herr Lotefend …“

„Laßt mich ausreden! Ich will nun endlich ins klare kommen – Hildegard, habt Ihr Euch mein Bekenntnis zurecht gelegt? Habt Ihr bedacht, was es heißt, wenn ein ernster, gereifter Mann auf der Grenzscheide zwischen Alter und Jugend zum erstenmal eine echte, wahrhaftige Liebe fühlt? Ihr müßt das erwogen haben! Und, Hildegard, es ist ja nicht anders möglich, mein ehrfürchtiges Schweigen all die Zeit über, während ich vor brennender Sehnsucht beinah’ verrückt wurde, kann nicht ohne Eindruck auf Euch geblieben sein! Das wäre doch wider alle Natur! Und deshalb komm’ ich nun mit der flehenden Bitte: gebt mir doch wenigstens einen Funken von Hoffnung! Ich kann ja nicht leben und sterben …“

„Herr Lotefend …. Habt Ihr so ganz vergessen …?“

„Nichts hab’ ich vergessen. Ich weiß, daß ich Euch damals gelobte … Aber das war ein falsches Gelöbnis. Das war mir erpreßt durch die Angst, den Verkehr mit Euch aufgeben zu müssen. Wie kann ich geloben, mir aus dem Herzen zu reißen, was doch den Kern meines Lebens ausmacht! Erbarmt Euch meiner, vielteure Hildegard! Wühlt es Euch denn so gar nicht auf, wenn Ihr gewahrt, wie’s mir den Atem raubt?“

„Ihr habt eine Ehewirtin, Herr Lotefend, die Euch von Herzen liebt und der Ihr Treue geschworen habt bis in den Tod.“

„Hildegard! Weshalb verhöhnt Ihr mich noch? Ich hab’ Euch ja schon erzählt, wie’s kam … Und wenn ich damals geirrt habe, soll ich deshalb nun büßen in alle Ewigkeit? Ist’s denn meine Schuld, daß Ihr nicht früher in mein Leben getreten seid – als ich noch frei war und jugendfroh? Aber ich werde die Freiheit jetzt wiedererlangen und eine neue, schönere Jugend soll bei mir Einzug halten! Nur von Euch hängt das ab … Hildegard, Hildegard, ich beschwöre Euch! Rafft Euch empor und bezwingt Eure grundlosen Gewissenszweifel! Goldne Tage sollt Ihr bei mir verleben! Ich will Euch auf Händen tragen und Euch verehren und anbeten wie eine Heilige!“

[451] Trotz ihres peinvollen Unbehagens empfand Hildegard Leuthold nachgerade etwas wie Rührung. Das Bewußtsein, eine wirkliche Leidenschaft entfesselt zu haben, stimmt jedes weibliche Wesen nachsichtig und verändert ein wenig ihr Urteil. So unmöglich es war, diese Leidenschaft zu erhören, so beschloß Hildegard doch, dem unseligen Manne da vor ihr wenigstens ein gütig tröstendes Wort zu sagen.

„Herr Lotefend,“ sprach sie mit sanfter Freundlichkeit, „das ist ja ein rechtes Unglück! Hier … nehmt meine Hand – zum Zeichen, daß ich nicht länger grolle! Euer Verhalten zu Frau Mechthildis kann ich als junges, unerfahrenes Menschenkind wohl nicht ganz nach Gebühr abschätzen. Wenn Ihr Euch von ihr trennen wollt – sei’s darum! Das ist Eure Sache und ihre. Eins nur wollt’ ich Euch mitteilen, was Euch vielleicht noch den Sinn verändert. Um meinetwillen, Herr Lotefend, dürft Ihr Eure Frau nicht verlassen! Wenn Ihr auch zehnmal frei wäret … Eure Neigung ist ja gewiß eine hohe und kaum verdiente Ehre für mich, nur käme sie jetzt um vieles zu spät. Ich bin versagt, Herr Lotefend, mein Herz und mein heiliges Wort gehören einem andern. Nun Ihr das wisset, werdet Ihr hoffentlich einsehen, daß es nicht Feindseligkeit noch Mißachtung ist …“

„Also doch!“ rief der Tuchkramer erbleichend. „Ich hab’s ja geahnt! Ich hab’s ja gewußt! Die grüne, unreife Jugend hat es Euch angethan mit ihrem höfischen Girren und Schmachten! Ihr gehört einem anderen! Wie das so einfach klingt! Aber da irrt Ihr nun, reizende Hildegard, wenn Ihr Euch einbildet, daß ich so leichten Kaufes Euch losgebe. Ich kenne den Glücklichen, der Euch mir abspenstig gemacht. Er soll sich hüten! Wenn es die Fehde um Euch gilt …“

„O, wie wenig versteht Ihr mich und mein Wesen! Ich sagte Euch das – nicht um Euch zu kränken, sondern damit Ihr einsähet … Und glaubt mir doch, das ist nun ewig besiegelt! Wen mein Herz einmal umfangen hält, den wird kein Mensch auf der Erde Gottes mir jemals hinausdrängen.“

„Wer weiß!“ murmelte Lotefend stirnrunzelnd. „Verlaßt Euch darauf, noch geb’ ich den Kampf nicht verloren! Ich ringe um Euch mit allen Künsten und Mitteln – und wär’s mein Verderben diesseits und jenseits!“

Und plötzlich, wie zur Bekräftigung seiner Worte, riß er die schlanke Gestalt wild an sich.

„Der Starke siegt!“ stöhnte er, fast sinnlos vor Liebesglut. „Ihr werdet noch mein, so wahr ein allmächtiger Gott lebt!“

Sein dürstender Mund suchte den ihrigen. Sie aber stemmte die Hand mit so verzweifelter Kraft wider sein Antlitz, daß sich ihm rechts über dem dunklen Vollbart die Nägel eingruben. Ihr Oberkörper bog sich dabei zurück; Herr Lotefend mühte sich fruchtlos.

Draußen erschollen Schritte. Es war das Hausmädchen Theres’, das langsam die Treppe heraufkam.

„Schämt Euch!“ raunte Hildegard dumpf, da er sie endlich freiließ. „Ich hab’ Euch zu gut behandelt. Ich hätte Euch überhaupt nicht anhören dürfen. So geschieht mir schon recht, daß Ihr Euch dieser Unbill erdreistet.“

Er warf ihr einen heiß verzehrenden Blick zu.

„Sagt, was Ihr wollt! Ich schwör’ es Euch nochmals: mein werdet Ihr doch, und wenn der Erdball darüber in Fetzen geht!

So schritt er hinaus, schäumend vor Wut und Bitternis. Daheim angelangt, warf er sich auf sein türkisches Ruhebett. Er preßte die beiden Fäuste starr vor die Augen. Die Einbildungskraft malte ihm die unerträglichsten Dinge aus. Er sah die wonnige Hildegard Leuthold im Hochzeitsgewand, völlig Blume und Licht, und neben ihr den beneidenswürdigen Doktor Ambrosius, wie er mit tollverliebten Augen sie anstarrte. Und dann sah er sich selbst, wie er zitternd und zähneknirschend dem glücklichen Paar nachschaute, vor Neid vergehend.

Henrich Lotefend ächzte. In heller Verzweiflung packte er einen spanischen Dolch, der über dem kostbaren Ruhebett an der Wand hing, und bohrte die Klinge zwei-, dreimal bis auf’s Heft in das buntfarbige Polster.

Hildegard unterdes, noch vor Aufregung zitternd, hatte den Rest ihrer Obliegenheiten so rasch wie möglich erledigt und war dann hinübergeeilt in ihr trauliches Wohnzimmer. Dort schlug sie, um ihre Gedanken auf andere Dinge zu lenken, ein kürzlich erschienenes Prachtwerk auf, die Reisebeschreibung des Vicomte Jean de la Maillerie, der unter großen Gefahren und Abenteuern das mexikanische Hochland durchstreift hatte. Sie nahm sonst ein starkes Interesse an diesen Forschungsreisen, heute jedoch wußte sie kaum, was sie las. Zwischen den Zeilen des Autors kehrten ihre Gedanken immer wieder zu der abscheulichen Scene mit dem Tuchkramer zurück. Endlich schob sie das Buch weg. Die Hände im Schoß gefaltet, überlegte sie, ob sie dem Vater von der Ungebühr Lotefends Mitteilung machen sollte. Nach reiflicher Prüfung kam sie zu dem Ergebnis, Schweigen sei ratsamer. Auch ihrem heimlichen Bräutigam gegenüber. Wenn sie den schmählichen Ueberfall ausposaunte – wozu konnte das führen? Höchstens zu unangenehmen Erörterungen, wenn nicht gar zu einem stadtkundigen Bruch. Nichts aber war ihr entsetzlicher, als ihren Mitmenschen Stoff zu mißlichen Redereien zu liefern. Nein! Jetzt, nachdem sie nun vollständig klar schaute, konnte sie ja Herrn Lotefend jederzeit ausweichen und, falls man sie wieder einmal zufällig allein ließ, Thüre und Thor verriegeln.

Nach einer Weile kamen die Kinder – Lore, die Tochter des Schuhflickers aus der Weylgasse, Rottmüllers Dorothea und Florian, der pausbäckige Junge des Waldhüters. Der Unterricht und das Geplauder mit ihren Lieblingen übte auf Hildegard eine befreiende Wirkung. Zum Schluß erzählte sie wieder mit ihrer goldhellen Stimme ein lustiges Märchen, und zwar diesmal ein mexikanisches, das sie gestern in dem vortrefflichen Reisewerk des Vicomte Jean de la Maillerie aufgespürt und sich für das Verständnis ihrer kleinen Zuhörerschaft etwas zurecht gestutzt hatte.

Wie sie zu Ende war und die Kinder entlassen wollte, fiel es ihr auf, daß die Augen des kleinen Florian etwas verschleiert blickten. Auch hatte der sonst so eßlüsterne Bub’ sein Anteil Herzkirschen und Weißbrot kaum zur Hälfte verzehrt.

„Fehlt dir etwas?“

„Nein,“ sagte das Kind. „Ich bin nur ein bißchen müde. Und dann, wenn ich schlucke, das drückt mich so.“

„Armer Bursch! Du wirst doch nicht krank werden? Geh’ du hübsch früh zu Bett und laß dich gehörig zudecken! Ja, trotzdem wir jetzt Sommer haben! Das schadet nichts. Und halt – noch was!“

Sie griff in die Gürteltasche und gab dem Buben ein Silberstück.

„Nimm das, Florian! Wenn du beim Apotheker vorbeikommst, hol’ dir gleich ein paar Unzen Pfefferminzkraut und laß dir’s von deiner Mutter mit kochendem Wasser ansetzen! Damit gurgelst du dich. Hörst du? Und gieb mir dann morgen früh Nachricht, ob du dich besser fühlst. Darfst du nicht selber gehn, so schickst du die Kleine.“

Florian bedankte sich.

„Alles soll so geschehn, wie du willst,“ sagte er zärtlich. „Und ich werde schon selbst kommen.“

So schritt er hinaus. Lore, die Tochter des Schuhflickers aus der Weylgasse, und Rottmüllers Dorothea folgten, die übrig gebliebenen Kirschen des Waldhütersohnes in kleinen Papiertüten nachschleppend.

Hildegard sah nicht mehr, daß ihr pausbäckiger Liebling draußen im Treppenhaus beide Hände fest wider den Hals drückte und zu der Schuhflickerstochter die Worte sprach. „Du, jetzt sticht’s wie mit Nadeln!“

„Siehst du,“ sagte die Lore. „Geh’ du nicht mehr so oft am Stockhaus vorüber, wo die Unholde und die heillosen Weiber sitzen!“

„Ja,“ bestätigte Rottmüllers Dorothea, „die Hexen, die können’s den Kindern anthun selbst durch armsdicke Mauern hindurch. Frag’ du nur meinen Großvater und die Muhme Ludmilla!“

12.

Mitte Juli kehrte der Beisitzer Adam Xylander mit seiner treusorgenden Nichte Bertha wieder zurück in das windschiefe Geierhäuschen. Der Aufenthalt in dem freundlichen Pfarrdorf [454] Königslautern, wo er auf Anraten des Doktor Ambrosius früh und spät unter freiem Himmel gelebt und eine Milch- und Obstkur durchgemacht hatte, schien ihm leidlich bekommen zu sein. Er sah nicht mehr so aschgrau und hohläugig aus, wenn schon der eigentümliche Druck in der Herzgegend immer noch nicht gänzlich verschwunden war. Doktor Ambrosius hatte ihm – nicht nur, um die Sache der unglücklichen Brigitta hinauszuschleppen, sondern ebensosehr aus vollster ärztlicher Ueberzeugung – angeraten, die Kur noch wenigstens bis zu Anfang September fortzusetzen.

Die Furcht jedoch, seine Abwesenheit könne den Gang der Geschäfte beeinträchtigen, quälte den pflichteifrigen Adam Xylander so ungestüm, daß er beschloß, dem ärztlichen Anspruch zuwider schon jetzt Schicht zu machen. Gerecht wie er war, hielt er es auch für eine zwecklose Grausamkeit, diese Brigitta Wedekind länger in trostloser Ungewißheit schmachten zu lassen. Und er konnte und wollte doch gerade diesen Prozeß um keinen Preis aus der Hand geben! Von Balthasar Noß hatte er sich ausdrücklich die Gunst erwirkt, die Voruntersuchung und Anklage selbst zu führen. Das war ihm beinahe zur fixen Idee geworden. Und mehrmals hatte ihn Bertha murmeln hören: „Es geht nicht anders! Die Wedekindin ruft mich bei Tag und bei Nacht!“ Wie er denn überhaupt öfters darüber klagte, daß ihn mitten im ruhigen Gemach Stimmen belästigten, deren Gemurmel und Zanken er auf übernatürliche Einflüsse zurückführte.

Es war am fünfzehnten, gegen halb elf Uhr früh, als der Beisitzer mit seiner Bruderstochter vor dem unfreundlichen Haus in der Kreuzgasse Halt machte. Der Bauernknecht, der die einspännige Karre gelenkt hatte, trug den mißfarbigen Weidenkorb mit den Habseligkeiten der stark durchrüttelten Fahrgäste breitstolpernd die Treppe hinauf, während ein dienstwilliger Bube sein Klickerspiel unterbrach und den Gaul bei den Zügeln nahm. Der Knecht ward abgelohnt, sagte: „Lebt wohl, Herr!“ und rasselte unter dem neugierigen Gaffen sämtlicher Nachbarsleute fröhlich von dannen.

Adam Xylander und Bertha reinigten sich vom Staub ihrer zweistündigen Fahrt und begaben sich dann ins Wohnzimmer. Kurz nach Elf erwarteten sie den Arzt. Bertha brannte vor Ungeduld, sein Urteil zu hören. Sie bangte ein wenig, Doktor Ambrosius werde ihr Vorwürfe machen, daß sie den Aufbruch von Königslautern nicht hintertrieben habe. Der Arzt kannte ja nicht den unbezwingbaren Eigensinn ihres sonst so gutartigen Oheims.

Schweigend saßen die zwei am Fenster. Bertha fand diese niedrige Wohnstube mit dem verbogenen Querbalken inmitten der rauchschwarzen Decke um so erdrückender, je frischer und reiner da draußen die Waldluft gewesen war und der duftige Hauch der Wiesen und Kleefelder. Das einzige, was sie mit diesem plötzlichen Tausch versöhnte, war das Bewußtsein, daß hier in der sommerlich heißen Stadt der klügste, geistvollste, liebenswürdigste Mann lebte, der jemals ein teilnehmendes Wort an sie gerichtet, Herr Doktor Ambrosius. Sie sträubte sich zwar, aber es half nichts: der sieghafte junge Arzt mit dem schön aufwärts gekräuselten Schnurrbart und den feurigen Augen war und blieb nun einmal seit jener ersten Begegnung das unsterbliche Ideal ihrer verspäteten Träume. Sie verehrte ihn selbstlos. Ohne die leiseste Hoffnung, sein Herz zu rühren, jauchzte sie schon im tiefsten Grund ihrer Seele, wenn sie sich die verzehrende Glut seiner Blicke nur vorstellte.

Doktor Ambrosius kam mit dem Glockenschlag Elf. Adam Xylander begrüßte ihn höflich, aber zurückhaltend. Bertha verbeugte sich ehrfurchtsvoll, nahm seine Hand und schob ihm glückstrahlend den Lehnstuhl heran.

Doktor Ambrosius fand den Patienten nicht annähernd so gebessert, wie Bertha gehofft hatte. Er sah jetzt deutlicher als zuvor, daß hier der Anfang einer geistigen Störung vorlag, die zum Teil wohl ererbt, zum Teil aber auch erworben war. Die schweren Erschütterungen, die der gewissensängstliche Mann in seiner Amtsthätigkeit als Blutrichter fortwährend erlitt, hatten sein psychisches Gleichgewicht offenbar unterwühlt. Doktor Ambrosius, ohne zunächst den vorzeitigen Abbruch der Kur zu tadeln, unterhielt sich mit Adam Xylander wohl dreißig Minuten lang. Spuren von Wahnvorstellungen machten sich in verschiedenen Aeußerungen des Kranken deutlich bemerkbar. Doktor Ambrosius urteilte mit vollkommenster Vorsicht, um nicht etwa die stark verbohrte, aber doch sonst geistig normale Anschauung des Fanatikers mit einer wirklichen Erkrankung des Centralorgans zu verwechseln. Bei größter Sorgfalt der Analyse blieb hier immer ein Rest, der Uebles befürchten ließ.

„Herr Stadtrichter,“ sagte Ambrosius zuletzt, „Ihr habt nicht weise gehandelt. Ihr seid noch stark überreizt. Ihr hättet den Aufenthalt in Königslautern getrost fortsetzen sollen bis in den Herbst! Heut’ noch rat’ ich Euch – wenn Ihr denn wirklich hier in der Stadt bleiben wollt – schont Euch so viel als möglich! Vor allem nehmt unter keiner Bedingung teil an den Sitzungen…“

„Aber ich bitt’ Euch!“ rief der Malefikantenrichter beinahe aufgebracht. „Soll ich denn all die Wochen her mich umsonst kasteit haben? Wofür steck’ ich meine Besoldung ein? Und was frommt mir Geist und Gelehrsamkeit, wenn ich beides nicht zum Wohle der Menschheit aufwenden soll?“

„Gewiß! Das ist edel gesprochen!“ sagte Ambrosius. „Aber wenn Euch der Anfall von neulich nun wiederkommt? Wenn Ihr elend und siech werdet auf Lebenszeit?“

„Das wird die Allweisheit der Vorsehung schon verhüten! Die Pflicht ist die Pflicht.“

„Auch die Pflicht gegen uns selbst hat ihre Ansprüche. Vierzehn Tage lang Ruhe scheint mir das mindeste, was ich beantragen muß! Schon der Luftwechsel regt Euch auf. Kommt nun die geistige Anstrengung hinzu …“

„Und die Wedekindin?“ fuhr Xylander ungeduldig heraus. „Habt Ihr die völlig vergessen? Redet mir nichts, ich beschwör’ Euch! Gott selber hat mir befohlen, die Untersuchung wider dies Weib zu fördern und Befehle des lieben Gottes erfüllt ein gläubiger Christ nicht mit Saumseligkeit.

Doktor Ambrosius erschrak heftig beim Anblick dieser jäh funkelnden Augen.

Er widersprach nicht mehr… Wenn er ihn reizte, konnte der Kranke plötzlich in Tobsucht verfallen.

„Dann freilich …“ meinte er achselzuckend. „Ihr müßt ja wissen, Herr Stadtrichter, was Ihr Euch schuldig seid.“

„Das weiß ich auch,“ versetzte der Mann etwas beruhigter. „Und nun wollt’ ich Euch noch gebeten haben, mir doch in Bälde Eure Liquidation zu senden. Ich hoffe zu Gott, Euch vor der Hand nicht mehr lästig zu fallen.“

„Wie Ihr befehlt.“

„Inzwischen dank’ ich für die geleistete Hilfe.“ Ambrosius nahm Abschied. Als er im Treppenhause mit Bertha Xylander allein war, sagte er flüsternd:

„Hegt und pflegt Euren Oheim nach Möglichkeit! Sucht ihm den übergewaltigen Amtseifer auszureden! Es wäre nicht unzweckmäßig, wenn wir beide uns eingehend über die Sache besprächen … Aber ohne daß er es merkt …“

„Vielleicht wenn er zur Sitzung gegangen ist …?“

„Nicht hier im Hause. Er könnte das nachträglich erfahren und so Verdacht schöpfen. Kranke von seiner Art – Nervenleidende – sind außerordentlich mißtrauisch.. Aber vielleicht morgen um Drei, halb Vier am Brunnen im Bürgergarten …?“

„Mit tausend Freuden! Wenn es sich um das Wohl meines Oheims handelt …“

„Also gut! Zwischen Drei und halb Vier! Lebt wohl!“

So ging er von dannen. Bertha Xylander begleitete ihn bis an die Hausthür. Als er hinaus war, schob sie nach alter Gewohnheit den Riegel vor. Dann lief sie zurück ins Wohnzimmer, um sofort den Versuch zu machen, im Sinne des Arztes auf den Patienten einzuwirken. Adam Xylander jedoch saß bereits in der Bettstube, wo es um diese Zeit kühler und dunkler war. Bertha hielt es für gut, ihn vorläufig allein zu lassen. Vielleicht schlief er ein Stündchen.

Kurz danach pochte es wieder drunten am Hausthürklopfer. Das kleine Laufmädchen öffnete. Es war niemand zu sehen. Wohl aber lag da am Boden ein Brief, den der spurlos verschwundene Ueberbringer unter dem Thürflügel hereingeschoben. Die Magd hob ihn erstaunt auf, brachte ihn nach dem Wohnzimmer und erzählte den Vorfall mit großer Weitschweifigkeit.

[455] Bertha las die Adresse.

„An den hochmögenden und hochgelahrten
Herrn Doctor utriusque juris Adam Xylander,
Beisitzer am hochlöblichen und gestrengen Malefikantengericht zu Glaustädt.“

„Eine seltsame Handschrift,“ meinte sie nachdenklich. „Fast wie gemalt.“

Da ging die Schlafzimmerthür. Adam Xylander mußte das Schwatzen des Laufmädchens gehört haben, obgleich das Kind seine Stimme sorglich gedämpft hatte. Er ließ sich den Brief aushändigen, während die Störerin rasch davoneilte.

Der Mann las. Sein Antlitz verfärbte sich.

„Um Gott, Oheim, was giebt’s?“

Er streckte abwehrend die rechte Hand aus.

„Nichts, nichts! Laß mich! Nein, geh’! Ich muß noch in dieser Minute … Gieb mir den Stock und die Mütze! Und ein besseres Obergewand! Aber so geh’ doch!“

Als sich Bertha entfernt hatte, schlug er sich mit der Hand flach vor die Stirn.

„Wer das geahnt hätte!“ murmelte er wie geistesabwesend. „Ueberall greift die verwerfliche Pest um sich! Straff’ deine Muskeln, heil’ge Gerechtigkeit, oder das Volk ist verloren.“

Er las noch einmal den Brief mit starrer Aufmerksamkeit durch, so daß er in seinem Eifer nicht wahrnahm, wie Bertha ihm jetzt das Verlangte hereintrug und fürsorglich auf den Tisch legte.

Das Schreiben lautete:
„Hochwürdiger, hochgelahrter Herr Richter und Beisitzer!

Dem Verfasser dieser bescheidenen Zeilen ist es zu Ohren gekommen, wie Euer Hochgelehrter während der letzten Wochen von allerlei Weh und Gebrechen heimgesucht worden, Insonderheit von qualvollem Herzdruck, langdauernder Schlaflosigkeit und – wenn so der Schlummer Euch doch einmal überkam – von schreckhaften, widerwärtigen Traumgeschichten. Bei der großen Verderbtheit aller sterblichen Kreatur und der wachsenden Gier, um eitler irdischer Vorteile willen einen Pakt mit dem Bösen zu schließen, ihm gleich einen Gotte zu huldigen und sich die Gunst des Ewigverfluchten dadurch zu sichern, daß man unter den Mitmenschen Uebles und Schändliches auflistet, ist Euch, hochgelahrtester Herr, wohl schon selbst der Gedanke gekommen, es möchte etwa bei diesen obgemeldeten Zuständen teuflische Zaubereien und höllische Tücke im Spiel sein. Wäre ja auch kein Wunder, so sich die Hexen und argen Zauberer mit ihrer Bosheit und ihrem tückischen Haß fürnehmlich auf Eure erlauchte Person stürzten sintemalen Ihr so dem Satanas und seinem Spielgesind ein absonderlich starker Dorn im Auge seid. Auch mögt Ihr schon manchmal geforscht haben, wo denn der Urheber oder die Urheberin solcher abscheulichen Unthat zu finden sei.

Ich, der Briefschreiber – der ich aus achtbaren Gründen ungenannt bleiben will, zumal das hochlöbliche Malefikantengericht ja auch ohnedies die Wahrhaftigkeit meiner Aussage prüfen kann – ich also habe durch allerlei Zufall, dessen Erzählung hier unterbleiben mag, Kunde davon bekommen, wer Euch auf diese boshaftige Art zum Siechthum verholfen hat. Die Verbrecherin ist eine junge Person, die leiblich den begnadeten Engeln des Herrn gleicht, aber vielleicht gerade um deswillen von Beelzebub zum Rüstzeug erwählt worden ist. Lest und staunt! Sie heißt Hildegard Leuthold und ist das einzige Kind des Euch dem Ruf nach sicherlich wohlbekannten Wittenberger Magisters Franz Engelbert Leuthold, der übrigens von der Unseligkeit seiner Tochter nicht das Geringste ahnt. Am Kreuzweg zwischen der alten Haardt und der Grossachbrücke hab’ ich sie selbst beobachtet, wie sie bei Nacht und Nebel allerlei zauberischen Unfug trieb und dabei unter allerhand gräßlichen Formeln Euren Namen hervorstieß.

Um die Stunde kam ich verspätet von Lynndorf und rastete wegmüd’ hinter dem Nußgebüsch. So vernahm ich jegliche Silbe.

Auch den Sohn eines Waldhüters hat die Leuthold behext und mit schmerzhafter Krankheit geschlagen. Sie erteilte dem Knaben Unterricht und war ihm auch anfangs wohlgesinnt, bis ihr der Satan befahl, zur Probe ihrer Ergebenheit dem Liebling ein Leids zu thun. Ihr werdet das unschwer ans Licht bringen. Der Knabe heißt Florian Püttner und wohnt am Klausweg. Viele Tage hindurch lag der Behexte siech und redete irre, und der Hals brannte ihm wie von höllischem Feuer.

Desgleichen ist mir bekannt geworden, daß Hildegard Leuthold – fragt nur die Hexen und Zauberer, die Ihr im Stockhaus habt – die letzte Walpurgisnacht auf dem Herforder Steinhügel den großen teuflische Sabbath in der bekannten schmachvollen Art festlich begangen, die teuflischen Sakramente empfangen und sich durch einen furchtbaren Eidschwur in Beelzebubs linke Hand siebenfältig verpflichtet hat, in der Glaustädter Gemarkung so viel Unheil zu üben, als sie mit Satans Hilfe irgend imstande sei. Die Leuthold vielleicht vor allen übrigen Hexen trägt Schuld daran, daß neuerdings die Gärten des Grossachufers an so verheerendem Raupenfraß leiden, daß in der Gusecker Flur die Obstblüten fast gar nicht angesetzt haben und daß letzthin so furchtbare Hagelschauer über den Klottheimer Gau zogen.

Ich hielt es für meine Gewissenspflicht, ebensosehr um der geschädigten Menschheit willen wie auch mit Rücksicht auf das bedrohte Seelenheil der Verführten, Euch, hochgelahrtester Herr, diese Thatsachen mitzuteilen. Gewiß kommt ihr nach reiflicher Ueberlegung zu dem Entschluß, die Landverderberin schleunigst in Haft zu nehmen, damit ihre Schuld gesühnt werde, der Fiskus aber, der für uns alle zu sorgen hat, ihr mütterliches Vermögen von Gottes und Rechts wegen einziehen. So wird doch wenigstens ein kleiner Teil des freventlich angerichteten Schadens vergütet.

Darf ich, zum Dank für diese notgedrungene Anzeige, noch eine Bitte äußern, so wär es die folgende: Habt die Geneigtheit, Sorge dafür zu tragen, daß die Festnahme der malefica nicht im Hause ihres hochachtbaren und würdigen Vaters geschehe! Hildegard Leuthold macht in den Vormittagsstunden oft genug Einkäufe bei den Handwerksmeistern und Händlern. Es ginge wohl an, sie bei solcher Gelegenheit unauffällig und ohne Starren des Volkes hinweg zu leiten. Und ferner gönnt Ihr nach der Verhaftung etliche Tage Zeit, bußfertig zu werden und ihre Sünde freiwillig und ohne Tortur einzugestehen. Der dies schreibt, hat ein so mitleidiges Herz, daß er selbst einer schweren Verbrecherin zwecklos keinerlei Qual zufügen möchte.

     Eurer Güte vertrauend …“

Und nun kam an Stelle der Unterschrift ein verschnörkelter unkenntlicher Buchstabe, der ebensogut K bedeuten konnte wie B und R.

Der Malefikantenrichter hielt sich nicht lang’ damit auf, das Rätsel des undeutlichen Buchstabens zu lösen. Der richtige Anfangsbuchstabe war es ja unzweifelhaft doch nicht. Und wenn selbst – was lag dem fanatischen Hexenverfolger daran, wer ihm diese Enthüllungen übermittelte? Genug, daß sie ihm hier so bestimmt vorlagen. Sein Antlitz glühte, sein krampfhaft zugekniffener Mund kaute und zuckte. Adam Xylander zweifelte keine Sekunde lang an der Wahrhaftigkeit dieses verlogenen Schriftstücks, das allerdings mit großer Geschicklichkeit die Verhältnisse ausnutzte.

Alles schien nun erklärt, was der unglückliche Mann während der letzten Wochen an widrigen Zuständen durchgemacht hatte; die Angst, die Beklemmungen, das wühlende Herzweh, die unheimlichen Stimmen, die ihm von Zeit zu Zeit wie aus dem Jenseits durch die erschreckte Seele tönten. Nicht die Wedekindin rief ihn beim Namen, sondern die höllische Feindin Hildegard Leuthold, die vor allen übrigen Unholdinnen vom Satan gedungen war, ihn langsam zu Tode zu quälen. Da! War das nicht jetzt wieder ein höhnisches Raunen und Murmeln, als ob die boshafte Hexe ihn schmähe? Unverkennbar klang das wie eine Mädchenstimme, hell und jugendlich, so gedämpft sie auch hörbar wurde.

[469] Daß Hildegard Leuthold in ganz Glaustädt eines ausgezeichneten Rufes genoß, daß sie für eine fromme, verständige, ehrbare Jungfrau, für die beste und zärtlichste Tochter, für die treueste Wohlthäterin der Armen galt, das war dem Blutrichter Xylander zwar nicht unbekannt, denn seine Nichte Bertha hatte ihm jüngst noch während des Aufenthaltes in Königslautern von ihr erzählt. Aber dergleichen sprach dem Verdachte der Hexerei überhaupt nicht mit. Neulich erst hatte man ja einen ähnlichen Fall erlebt mit der Wedekindin. Der ewige Widersacher wählte mit Vorliebe derartige lichte Gefäße für sein teuflisches Gift aus. So betrog er die Menschheit am leichtesten. Auch der Gedanke, daß in dem Brief mit der furchtbaren Bezichtigung ein Akt der Rache und der schnödesten Niedertracht vorliegen könnte, fand nicht Raum in Xylanders blindem Gehirn. Der Unbekannte schrieb ja so weichherzig! Er bat für die Sünderin. Er wollte die gottverfemte Hexe noch schonen.

Gut! Sein Wunsch sollte erfüllt werden! Auch sonst gedachte Herr Adam Xylander so mild und nachsichtig zu verfahren, als es irgend mit seiner Pflicht und seinem Gewissen vereinbar schien. Er selbst war ja geschädigt, um so mehr hieß es, jeder vermeidbaren Härte vorzubeugen. Eins nur blieb ausgeschlossen, und hätte der Landgraf in eigner Person den Fürsprecher gemacht: die Verletzung des Rechts. Auf diesem Gebiet [470] kannte der amtstreue Jurist kein Paktieren. Adam Xylander zog sich in Eile um, setzte die Mütze auf, steckte den Brief in die Brusttasche und machte sich auf den Weg zu Balthasar Noß. Unter dem Hinschreiten übersann er bereits den Fall und den mutmaßlichen Gang der Verhandlungen. Zwischendurch beschäftigte ihn doch auch die Frage, wer diese wohlgesetzte, fachkundige Denunziation verfaßt haben möge. Jedenfalls ein gebildeter, weltkluger Mann, der ihm persönlich wohlwollte. Er riet auf dieses und jenes Mitglied des Rates, zuletzt sogar – wegen der augenscheinlichen Sympathie für den Vater der Inkulpatin – auf das weinfrohe Stadtoberhaupt, Herrn Georg Kunhardt. Den wirklichen Urheber jedoch der schmachvollen Epistel streiften die blitzartigen Einfälle Xylanders durchaus nicht. Keine Persönlichkeit lag ihm ferner als der Hausnachbar der Familie Leuthold, Henrich Lotefend.

In der That war es der reiche Tuchkramer, den die Verzweiflung seiner enttäuschten Leidenschaft zu diesem gräßlichen Schritte verleitet hatte. Er spielte hier ein entsetzlich gewagtes Spiel, aber er glaubte doch immer noch an die Möglichkeit des Gewinnens. Er wollte ja keineswegs die Qual und den Tod Hildegards, seine Berechnung zielte nach wie vor auf ihren Besitz. Nach unsäglichem Hin- und Hergrübeln war er auf den Gedanken verfallen. Jetzt könne ihm nur noch eins die Neigung dieses widerspenstigen Herzens erobern – wenn Hildegard nämlich in eine furchtbare Gefahr käme, aus der seine Findigkeit und Macht sie befreien würde. Um eine solche Gefahr nun heraufzubeschwören, fand er bei allem Erwägen und Forschen nichts Wirksameres als diese heimtückische Denunziation. Jede Möglichkeit hatte er sorgfältig in Betracht gezogen, den ganzen Boden der Sachlage gründlich erforscht und vielerlei mit Eifer und Scharfsinn vorbereitet. Henrich Lotefend verhehlte sich nicht, daß ihm die ganze Berechnung fehlschlagen, daß sich das Netz des Unheils über dem Haupte Hildegards bis zur Unlösbarkeit zuziehen konnte, aber das hielt ihn nicht ab, den einzigen Weg, den er jetzt noch vor Augen sah, rückhaltslos zu beschreiten. Wenn es dann im entscheidenden Augenblick nicht mehr gelang, die rollende Kugel im Laufe zurückzuhalten – – nun, so war es für den tolleifersüchtigen Mann immer noch zehnmal erwünschter, Hildegard ging elend zu Grunde, als daß sie in jauchzender Seligkeit das Weib eines andern wurde.

13.

Balthasar Noß wohnte dicht neben dem Stockhaus. Der hohe steinerne Bau, dessen ganzes Mittelgeschoß man ihm eingeräumt hatte, umfaßte verschiedene Abteilungen des Stadtgerichts und vor allem das furchtbare Tribunal, bei dem Balthasar Noß den Vorsitz führte. Unten zu ebner Erde befand sich die Hauptwache der Stadtsoldaten.

Im Gegensatz zu dem windschiefen Geierhäuschen waren die Wohnräume des Balthasar Noß beinahe verschwenderisch eingerichtet. Persische Teppiche und farbenglühende Ottomanen, Ziertische und kostbare Spiegel, prunkvolle Vasen und schwersilberne Hängelampen verrieten den Wohlstand und die genußfrohe Prachtliebe des Insassen. Herr Noß hatte sich ja im Lauf seiner vieljährigen Thätigkeit als Hexenverfolger ein großes Vermögen gesammelt.

Der gefürchtete Mann saß gerade bei Tisch, als Doktor Xylander keuchend und schweißtriefend ins Haus trat. Ein dralles, üppiges Landmädchen, das Herr Noß scherzenderweise in den blühenden Arm kniff, hatte jetzt eben den Rest einer schmackhaften Schleie von der Tafel genommen und ein köstlich duftendes Brathuhn mit goldgelbem Lattichsalat aufgetragen. Da streckte der Leibdiener sein pfiffiges Gaunergesicht durch den Thürspalt und meldete, daß Herr Adam Xylander in höchst dringlicher Sache Zutritt begehre. Unmittelbar hinter dem Leibdiener stand der Gemeldete selbst.

Balthasar Noß erhob sich.

„Immer herein!“ sprach er mit tief dröhnender Baßstimme. „Gott zum Gruß, Herr Collega! Kaum erst wieder zurück von Eurer Erholungsfahrt – und schon völlig der Alte! Kommt, setzt Euch und erzählt mir in aller Gemütsruhe, was Euch hierherführt! Muß wohl etwas von ganz besonderem Gewicht sein, da Ihr trotz der versengenden Mittagshitze den Weg nicht scheut!“

„Allerdings – von ganz besonderem Gewicht!“

„Redet! Ihr macht mich neugierig! Unterdes gestattet Ihr doch, daß ich dem prächtigen Vogel da mit Klinge und Gabel zu Leib gehe. Wäre doch schade, wenn er mir unter dem Hören kalt würde. Aber da fällt mir ein: vielleicht nehmt auch Ihr ein hübsches, saftiges Stücklein? Was? Ihr habt doch sicher noch nicht gespeist? Ich selber liess’ mir heute um fast eine Stunde früher auftischen als gewöhnlich … Bärbel, rasch ein Gedeck und ein Glas. Und dann troll’ dich! Ich will mit dem Herrn Kollegen allein sein.

Adam Xylander hatte schon bei dem ersten Wort dieser Einladung heftig den Kopf geschüttelt. „Dank Euch“, wehrte er nun mit ängstlichem Eifer. „Ich brächte wahrhaftig keinen Bissen hinab. Und verzeiht nur, daß ich Euch so das Mahl störe! Aber ich bin erregt wie seit lange nicht. Jetzt endlich, Herr Vorsitzer, weiß ich, was mich seit etlichen Wochen so zugerichtet und so verfolgt und gehetzt hat wie der leibhaftige Dämon!“

Er zog den halbzerknitterten Brief aus der Brusttasche.

„Wollt Ihr Euch gütigst die Mühe nehmen …? Doch nein! Wenn Ihr gestattet, werd’ ich Euch dies merkwürdige Dokument vorlesen. Ich gebe dann zwischendurch die Erläuterungen.“

„Schön, Herr Collega! Und ich zerteil’ unterdessen ganz geräuschlos den Braten. Recht so, Bärbel! Schenk’ dem Herrn Beisitzer ein! Und nun …“

Er winkte. Das Mädchen, das trotz der Ablehnung des Adam Xylander ein zweites Gedeck und ein Glas gebracht hatte, ging lachend hinaus.

„Ah!“ schmunzelte Noß, den Duft seines Brathuhns mit wohlig geblähter Nase einsaugend. „Die lahme Susanne ist und bleibt doch die Perle aller Glaustädter Köchinnen! Wartet mit Eurer Vorlesung noch einen Augenblick! Nein, wie schneeig und zart! Kommt! Laßt Euch ein Stücklein gefallen! Besser kriegt Ihr’s kaum bei unserem allergnädigsten Landgrafen! Leider fehlt Euch für kulinarische Freuden das rechte Verständnis … Trotzdem – ich wette, das schmeckt Euch!“

Er legte dem Gast eine Scheibe aus der Mitte der Brust vor und reichte ihm dann die schöne Krystallschale mit dem goldgelben Salat. „In vollem Ernst, Herr Collega,“ fuhr er fort, „ich glaube, Ihr eßt zu wenig! Das mit der Milchkur in Königslautern war ja ein glücklicher Einfall, aber was nutzt’s, wenn Ihr daheim wieder fastet und Euch kasteit wie ein Büßermönch! Unser Beruf hat so viel Angreifendes und man verbraucht dabei so viel gutes Gehirnschmalz, daß man ordentlich futtern muß, will man bei Laune und Kraft bleiben. Ein guter Tisch und ein ehrlicher Trunk – das hält Leib und Seele zusammen! Und jetzt thut mir die Liebe an und sperrt Euch nicht länger! Wir haben ja Zeit … Ich will zwar verreisen, und deshalb speis’ ich so früh, aber ich hab’ mir die Stunden reichlich bemessen, um so nicht gehetzt zu sein.“

„So? Ihr verreist?“

„Ich habe Geschäfte im Kurmainzischen. Nur für zwei oder drei Tage. Wärt Ihr nicht hergekommen, hätt’ ich gleich nach Tisch zu Euch geschickt, um Euch zu bitten, mich zu vertreten. Aber das soll uns nicht weiter abhalten, den Leistungen meiner lahmen Susanne in vollster Gemächlichkeit zuzusprechen. Außer dem Huhn da kommt noch ein warmes Gebäck oder was Aehnliches. Unter drei Gängen thut sie’s nicht, die ehrgeizige Künstlerin. Auch das müßt Ihr versuchen – und dann lest Ihr gewissermaßen als Nachtisch Euer gewichtiges Dokument vor.“

Wohl oder übel mußte Xylander nachgeben. Er begriff nicht, daß dieser vollwangige Epikuräer so äußerst behäbig tafeln konnte, während ihm selbst jeder Puls fieberte. Mit sichtlicher Anstrengung würgte Adam Xylander das köstliche Fleisch und den frisch angemachten Salat hinunter, ohne sich klar zu werden, ob die gerühmte Köchin wirklich das Lob ihres verwöhnten Hausherrn verdiene. Dazwischen that er verschiedentlich einen langsamen Zug aus dem großen Muranglas.

Nachdem das Brathuhn bis auf den Hals und die Knochen vertilgt war, klingelte Balthasar Noß mit der eirunden Tischglocke. Die drallarmige Bärbel erschien, räumte rasch ab, lachte ein wenig und trug dann die Mehlspeise auf. Reiskuchen nach Bergamesischer Art, mit Zucker und Zimmet bestreut. Es war unglaublich, mit welch leuchtendem Eifer Balthasar Noß in dies Lieblingsgericht einhieb, während Xylander gleich von vornherein jede Beteiligung ablehnte. Mit einer Art von Grausen hielt er die Hand über den Teller gespreizt.

„Nein, unmöglich!“ sagte er trüblächelnd. „Wahrhaftig [471] Ihr bringt mich um! Wenn ich so schwelge, dann hat die Bosheit Gewalt über mich! Beim ewigen Himmel, nun spür’ ich schon wieder den eigentümlichen Herzdruck! Und in den Ohren braust mir’s wie fernes Bachrauschen.“

„Das macht der Wein. Ihr seid einen so kräftigen Trunk nicht gewöhnt. Aber das ist’s ja gerade! Ihr müßt Euch nach und nach darauf einrichten. Sonst wird Euch das Blut zu dick. Seht Ihr mein lieber Xylander, Ihr glaubt gar nicht, was so ein gut ausgepichter Magen alles verträgt! Ich speise für dreie und fühle mich grundwohl dabei. Ich hab’ meinen Magen aber auch tüchtig im Stand gehalten und ihm tagtäglich ein stärkendes Tröpflein gegönnt von Jugend auf. Ihr, liebwertester Herr Collega, behandelt den Eurigen wie ein hartherziger Stiefvater. Natürlich steht es Euch da schon bis an die Gurgel, wo ein kernhafter Mensch wie ich nur eben erst anfängt. Wie Ihr wollt! Da Ihr denn leider Gottes nicht eßt, so könnt Ihr meinetwegen jetzt loslegen. Ich bin doch neugierig, was Euch so außer Rand und Band gebracht hat.“

Adam Xylander feuchtete sich nochmals die Lippen. Dann hub er mit dünner, eintöniger Stimme zu lesen an …

Balthasar Noß unterbrach zuweilen für Augenblicke die breitmalmende Thätigkeit seiner Kinnbacken und zeigte auch sonst Spuren einer wachsenden Aufmerksamkeit.

„Hildegard Leuthold!“ murmelte er, als der Vorleser fertig war. „Ich kenne die Jungfrau. Neulich im Baumhof der städtischen Waldschenke, als die Künstlertruppe des Zähler zum erstenmal spielte, saß diese Leuthold unmittelbar vor mir. Ein sonderbares Geschöpf! Bei meinem Anblick ist sie jählings zusammengefahren, wie das leibhaftige böse Gewissen …“

„Seht Ihr’s! Da habt Ihr ein schweres Indicium …“

„So scheint es, liebwerter Kollege. Damals schon fiel mir die Sache auf. Jedenfalls bin ich der Ansicht, daß wir genötigt sind, auf Grund dieser Denunziation zur Verhaftung zu schreiten. Benno von Dreysa – das weiß ich aus zuverlässigster Quelle – hat kürzlich einmal geäußert, es sei doch merkwürdig, daß in der Glaustädter Gemarkung der Satan hauptsächlich mit Bauern und Kleinbürgern paktiere. Aber die Reichen tanzen so gern wie die Armen. Ich betrachte es wirklich als eine Gunst des Schicksals, wenn sich uns hier die Möglichkeit bietet, den heimlichen Vorwurf des Herrn Oberhofmarschalls durch ein schlagendes Beispiel zu widerlegen. Der Magister Franz Engelbert Leuthold stammt aus altem Geschlecht, sein Vater war Bürgermeister, seine Mutter sogar eine Adlige. Ich hoffe, unser allergnädigster Herr soll uns das Zeugnis geben, daß wir vor Rang und Stand nicht zurückschrecken, wenn es die Pflicht gilt und sein allerhöchstes Gebot.

Balthasar Noß überschlug schon im stillen, welche Verurteilungs- und Vollstreckungsgebühren er bei diesem vielverheißenden Falle in Ansatz bringen und was für illegitime Nebenverdienste ihm noch erwachsen könnten. Die blanken Goldgulden und Weißpfennige konnte man immer gebrauchen – besonders, wenn man das Glück hatte, von der übermütigen Schauspielerin Adrienne Haricourt so unwiderstehlich gebrandschatzt zu werden. Der kleine Kobold verstand sich darauf, jeden Kuß mit Anspielungen auf maigrüne Smaragden und rotgoldene Armspangen zu würzen …. Man konnte nicht anders, ihr purpurnes Mündchen lächelte gar zu verführerisch – und ein richtiger Weltmann knausert nicht, wo er in heißen, märchenhaften Entzückungen schwelgt.

Ebensosehr wie über das rein Geschäftliche des bevorstehenden Malefikantenprozesses freute sich Noß über die Thatsache, daß es sich hier seit lange zum erstenmal um ein vornehmes, wahrhaft edel geartetes Menschenkind handelte. Hildegard Leuthold war allerdings für seinen Geschmack durchaus keine Schönheit. Er haßte die mildweibliche Anmut und Sittsamkeit ihrer ganzen Erscheinung wie etwas Unnatürliches, Krankhaftes. Adrienne Haricourt mit ihrem keckwiegenden Gang und ihren schwarzuntermalten Augen, ja die bäuerische Bärbel sogar und ihr plumpsinnliches Lachen, war ihm zehntausendmal lieber. Trotzdem fühlte er, daß diese Hildegard Leuthold ein erlauchtes Geschöpf war, dem sich die Herzen aller Unverdorbenen in zärtlicher Teilnahme zuwenden mußten. Und das weckte in ihm die boshafte Natur der Kröte, die nach dem freundlichen Glanz des Johanniswürmchens ihr schmutziges Gift spritzt. Es lockte ihn teuflisch, gerade dies reine, bevorzugte Wesen unter den Griff zu bekommen und so die Hoheit und Menschenwürde, die sich so hold auf diesem liebreizenden Antlitz ausprägten, mit bestialischer Grausamkeit zu erniedrigen. Das dumpfe Bewußtsein der eignen inneren Gemeinheit wollte sich an dieser drückenden Ueberlegenheit rächen. Nach einer Weile sagte Herr Noß zu dem Beisitzer: „Also, liebwertester Herr Collega, um vier Uhr verreise ich. Längst schon hätte ich diese unumgängliche Fahrt ins Kurmainzische angetreten, aber in Eurer Abwesenheit war ja das leider Gottes nicht möglich. Nun bin ich bei meinen Geschäftsfreunden angemeldet und kann’s nicht mehr rückgängig machen, so gern ich gerade der Leutholdin wegen jetzt hier bliebe. Ihr werdet mich also auch in diesem hochwichtigen Casus vertreten müssen. Vor allem, was die Verhaftung betrifft. Ich habe vorhin schon Befehl erteilt, daß Euren Anordnungen in jeder Beziehung gehorcht wird. Verfügt also ganz nach Belieben!“

„Seid Ihr nicht auch der Ansicht, daß wir der Bitte des Unbekannten billigerweise nachgeben müssen? Ich meine die Schonung, die wir dem Vater und seinem unbescholtenen Hause angedeihen lassen sollen?“

„Ich sehe das offen gestanden nicht ein. Aber ganz wie Ihr wollt. Ich mag hier nicht dreinreden. Nur bin ich erstaunt darüber, daß Ihr just bei der Hildegard Leuthold eine so merkwürdige Rücksicht übt, da sie doch – wie aus dem Briefe ersichtlich – Eure persönliche Feindin ist.“

„Eben deshalb!“ eiferte Adam Xylander. „Soll mir die Welt nachsagen, daß ich aus Rachsucht gehandelt, der ich doch nur Gerechtigkeit will? Als Mensch und Christ verzeih’ ich ihr siebenmal siebenzigmal …“ Der selbstlose Mann erläuterte seinen Standpunkt mit großer Ausführlichkeit.

„Das läßt sich hören“, versetzte Balthasar Noß. „Ihr seid ein biedrer, achtungswerter Charakter, wie Ihr ein großer Jurist seid. Bei nächster Gelegenheit muß ich doch unseren allergnädigsten Landgrafen auf diese Vorzüge nachdrücklich hinweisen. Ihr gleicht dem Veilchen, das im Verborgenen blüht. Aber ich will Euch nun endlich einmal aus dieser Verborgenheit ans helle Tageslicht ziehen. Der Landgraf soll Euch ein Ehrengehalt auswerfen und einen Dank verleihen, der weit hinaus in die deutschen Lande funkelt.“

Xylander schüttelte mattlächelnd den Kopf. „Allzugütig, Herr Zentgraf! Da muß ich schon ausweichen. Für solcherlei irdischen Glanz und Prunk lange ich nicht. Mir genügt’s, wenn ich in Arbeit und Fleiß vor Gott meine Schuldigkeit thue.“

„Ihr seid wahrhaftig ein Sonderling. Mit Euch ist weiter nichts anzufangen, das merk’ ich wohl. Nun, sei es! Leiht mir nur auch fürderhin Eure Geistesschärfe, Euer gewaltiges Wissen und Eure glorreiche Pflichttreue! Jetzt aber – Ihr verzeiht – laßt uns dieses Gespräch enden! Ich bin müde geworden und möchte doch noch ein Stündchen Rast halten, eh’ ich mein Roß besteige. Es geht halt nichts über ein Schläfchen, wenn man gut gespeist und getrunken hat. Da legt der Mensch zu. Ihr solltet das auch so einführen!“

Adam Xylander wünschte dem Vorsitzer glückliche Reise. Er solle sich über den Fall der Hildegard Leuthold nicht weiter den Kopf zerbrechen. Alles werde von ihm, Adam Xylander, klüglich geordnet werden. Das Hauptverhör allerdings verschiebe er, bis Herr Balthasar Noß wieder zurück sei.

Noß brachte den Beisitzer mit kollegialischer Höflichkeit bis an die Thüre. Dann befahl er der hübschen Bärbel, ihn Punkt halb vier Uhr zu wecken, zog sich in das verdunkelte Nebengemach zurück und legte sich langwegs auf den breiten lederbeschlagenen Diwan. Die Hände unter dem stark geröteten Kopf, that er etliche Atemzüge tiefster Erleichterung, schmunzelte und schloß behaglich die Augen – das Urbild eines gesättigten, ruhigen, mit sich und dem Schicksal zufriedenen Menschen.

14.

Am folgenden Tage verließ Hildegard Leuthold frühzeitig das Haus. Zunächst begab sie sich in den Gasthof zum Goldnen Schwanen, dessen Inhaber einen schwunghaften Weinhandel betrieb. Dort beglich sie die jüngst fällig gewordene Halbjahrsrechnung für gelieferten Bacharacher. Von hier über den Markt schreitend, sah sie verstohlen nach den weit geöffneten Fenstern des Doktors Ambrosius hinauf. Ihr Herz schwoll vor Entzücken. Wie lange würde es währen, dann gab Doktor Ambrosius diese [472] Wohnung da auf und suchte für den neu zu gründenden Hausstand ein schöneres Heim, größer, geräumiger … Vielleicht in der Nähe der Grossachstraße … Am hübschesten wär’ es ja freilich gewesen, der Schwiegersohn hätte gleich mit einziehen können in das trauliche Landhaus des Schwiegervaters. Aber das war wohl zu eng – und man konnte nicht wissen, ob sich der Vater nicht doch in seinen Gewohnheiten etwas beeinträchtigt fühlte, wenn da ein junges Paar ihm sozusagen über den Kopf wuchs.

Hildegard malte sich jetzt zum hundertstenmal ihre häusliche Einrichtung und die zukünftige Lebensführung mit den verlockendsten Farben aus. Besonders lebhaft schwebten ihr die behaglichen Sonntage im Winter vor, und wie es dann sein würde, wenn ihr vielteurer Vater bei ihnen zu Gast wäre und mit Gustav seine Partie Schach spielte, während sie selbst mit ihrem kleinen zierlichen Spinnrocken dabei säße und bald auf die Wechselfälle des Spiels achtete, bald auf die klugen, herzlieben Spieler. Im hochsimsigen Kachelofen würden dann die Buchenholzklötze traulich knistern und knattern, während sich draußen der Schnee in sanftwiegenden Flocken über die Dächer und Gassen legte.

Von diesen Bildern erfüllt, hatte sie ihren Schritt auffällig verlangsamt. Nun fiel ihr bei, irgend wer möchte dies schwärmerische Hinaufblinzeln nach den Fenstern des jungen Arztes beobachten und daraus seine Schlüsse ziehen. Heimlich schalt sie sich ungehorsam und unvorsichtig. Gustav Ambrosius hatte doch seine gewichtigen Gründe …

Den Kopf wendend, ließ sie den Blick ein wenig über den Markt schweifen, der ziemlich unbelebt in der Sonne lag. Die Höker und Landleute, die hier im Sommer bis acht Uhr früh ihre Waren feilboten, hatten sich längst entfernt. Am Röhrbrunnen standen etliche Bürgermädchen und füllten die großen messingbeschlagenen Zuber, die sie nach alter Glaustädter Art frei auf dem Kopf trugen. Dort und da ging ein Zünftler oder ein Karrenschieber, der sein plumprädriges Fuhrwerk langsam über das Pflaster rollte. All diese Leute hatten sich um Hildegards träumendes Ausschauen, das heute in der That ein wenig an Selbstverrat grenzte, offenbar nicht gekümmert. Nur ein kleiner geschmeidiger Mensch in rostbrauner Handwerkertracht, der jetzt unweit der wasserholenden Jungfern am Röhrbrunnen stand, schien ihr eine versteckte Aufmerksamkeit zu widmen. Er gaffte sie an, wie ein bewundernder Kavalier, kehrte jedoch sofort den Blick wieder ab und trat zu dem Röhrbrunnen, um wie gedankenverloren in die ewig erneuten Kreise des Beckens zu starren.

Hildegard war dergleichen gewöhnt. Dieser rostbraune Bursch da – augenscheinlich ein Werkstattgehilfe – wußte wohl kaum, wer sie war. Ohne eitel zu sein, hatte sie doch die Erfahrung gemacht, daß sie auf hoch und niedrig leicht den Eindruck einer gewissen Fremdartigkeit und Vornehmheit machte. Du lieber Himmel! Wenn man jung war und von schlanker Gestalt und sich zu kleiden verstand, einfach und doch nicht ärmlich – da war das am Ende kein Wunder! Jetzt zumal, wo sie gewiß nicht menschenfeindlich und freudlos dreinsah!

Eiliger als bisher schritt sie weiter. Beim Einbiegen in den Klottheimer Weg begegnete ihr der blondbärtige Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck, der sie ehrfurchtsvoll grüßte.

Ob das wohl auch etwas werden würde mit dem und der hübschen, lustigen Margret? – Die Tochter des Stadtpfarrers – das wußte Hildegard von ihr selbst – war Herrn Woldemar Eimbeck herzlich gewogen. Er aber schien seit einiger Zeit kühler, gedankenvoller, zerstreuter als sonst. Vielleicht ging ihm die Sache doch nicht so tief, wie Margret Melchers gehofft hatte! Obschon er ja ganz gewiß nicht zu den abscheulichen Flatterhaften gehörte, die heut’ die Susanne lieben und morgen die Hanne. Hildegard Leuthold in ihrem tiefen und reinen Glück hätte so gern auch die niedliche Margret am Ziel ihrer Wünsche gewußt. Seit sie mit Gustav Ambrosius eins war, schien es ihr überhaupt ungerecht, daß nicht die ganze Welt einer so himmlischen Seelenfreude teilhaftig wurde.

An der Ecke des Klottheimer Weges und des Neuplatzes betrat sie die flämische Weberei von Thormissen. Sie hatte hier vor etlichen Monaten selbstgesponnenes Garn abgeliefert und fragte jetzt nach, ob das bestellte Tafeltuch, mit dem sie den Vater schon zum Geburtstagsfest überraschen wollte, jetzt endlich vom Webstuhl gekommen sei. Der Weber entschuldigte sich mit dem unerwarteten Abspringen dreier Gehilfen bei längst schon vorliegenden älteren Anforderungen, verhieß aber nun baldigste Fertigstellung und zeigte dem Fräulein dann mehrere neue Muster, auf deren Erfindung der fleißige und talentvolle Mann sich etwas zu gute that. Hildegard lobte die Muster, sprach im geheimen Hinblick auf ihre Heirat die Hoffnung aus, dem Webermeister demnächst einen größeren Auftrag erteilen zu können, und wandte sich dann zum Gehen. Thormissen gab ihr mit vielen Beteuerungen seiner Dienstwilligkeit das Geleit bis auf die Straße.

Beim Heraustreten prallte sie mit dem kleinen geschmeidigen Menschen in rostbrauner Handwerkertracht zusammen, der sie vorhin schon am Markt so merkwürdig – halb scheu, halb zudringlich – angestiert hatte. Daß der seltsame Mensch ihr nun bis an die Weberei gefolgt war, schien ihr schon etwas befremdlicher als das neugierige Gaffen vom Röhrbrunnen her. Immerhin maß sie der Angelegenheit keinen Wert bei. Der Mann entschuldigte sich und lächelte beinahe verschämt, wie ein ertappter Nachläufer, wenn er den Gegenstand seiner Sehnsucht plötzlich aus nächster Nähe zu schauen bekommt. Dann schritt er gemächlich weiter, während Hildegard Leuthold rasch und ohne sich umzusehen über den Platz eilte. Sie war viel zu sehr mit ihren goldrosigen Zukunftsbildern beschäftigt, als daß sie Zeit gehabt hätte, sich um einen so unbedeutenden Zwischenfall den Kopf zu zerbrechen. Sie hatte nicht wahrgenommen, daß der rostbraun Gekleidete sie bereits von ihrer Wohnung an heimlich verfolgt hatte. Noch weniger ahnte sie, daß dieser Mensch ein Späher des Malefikantengerichts, ein Spion vom Geheimdienst war. Fünfzig Schritt hinter dem kleinen Kerl ging ein langbeiniger, großer. Beide waren von Doktor Adam Xylander bevollmächtigt, Hildegard Leuthold unter Beobachtung gewisser Vorsichtsmaßregeln festzunehmen und nach dem Stockhaus zu bringen.

Jenseit des Neuplatzes that sich ein enges Gewirre von Gassen und Gäßchen auf. Zuletzt führte die schmale Weylgasse bis an die Stadtmauer. Hier wohnten fast nur Leute von ganz dürftiger Lebensstellung. Flickschuster und Packträger, arme Wäscherinnen und Nähfrauen, die gegen Kost und etliche Heller bar in die Bürgerfamilien auf Arbeit gingen, Strohflechter und kleine Korbmacher. Die Häuser in dieser Gasse waren zum Teil Hütten. Besonders die in der Nähe des Stadtwalls. Hildegard Leuthold hatte hier einige Pfleglinge wohnen, denen sie ab und zu nicht nur Geld und leibliche Nahrung, sondern auch Trost und menschenfreundliche Teilnahme zutrug.

Da war zunächst ein altes Mütterchen, halb schon erblindet und vollständig verarmt, das ehedem bessere Tage geschaut hatte, jetzt aber mit dem gelähmten Sohn traurig und hilflos zwischen den Kalkwänden eines vermorschenden Kuhstalls hauste.

Hildegard pochte wider die wacklige Tannenholzthür und trat auf den lauten Anruf des Sohnes grüßend herein. Das Mütterchen, das gerade am Herd stand, um eine Suppe zu kochen, wischte sich die runzligen Hände eilfertig an dem geflickten Vortuch ab und ging der Besucherin freudig entgegen.

„Gott sei gelobt, daß Ihr kommt!“ stammelte sie mit zahnlosen Kiefern. „All die Zeit her hab’ ich an Euch gedacht, wie voll Heimweh. Und auch Ephraim hat solche Sehnsucht nach Euch gehabt! Es will und will ja nicht besser werden, das klag’ ich dem lieben Gott. Aber wenn Ihr Euch zeigt, mein gütiges Fräulein, dann ist’s doch wie ein Sonnenstrahl, und wir tragen dann leichter. Nicht wahr, Ephraim?“

Hildegard strich der alten Frau liebreich über die sorgengefurchte Stirn und wandte sich dann mit bestrickender Herzlichkeit zu dem Gelähmten, der, eine halbfertige Strohmatte auf dem Schoß, wie heilverlangend zu ihr emporsah.

„Habt Ihr’s nicht wieder einmal versucht, Ephraim? Der Wille vermag viel ….“

„Bei mir nicht,“ lächelte Ephraim trübselig. „Das hält mich wie Blei. Wenn nicht die Nachbarsleute mit angriffen, könnt’ ich hier in dem Stuhl übernachten.“

„Ihr solltet vielleicht, trotz der argen Erfahrungen, die Ihr gemacht habt, doch noch einmal einen Arzt fragen.“

„Die Aerzte sind für die Reichen. Ihr wißt nicht, wie sie mir damals den letzten Sparpfennig abgeluxt haben, der Arzt und der Apotheker. Und hinterher war alles umsonst, und die Lähmung ist schlimmer geworden!“

[474] „O, ich wollt’ Euch schon einen schicken, der Euch nichts abnähme, der es aus lauter Freundschaft thäte für mich und Euch.“

„Ich dank’ Euch, mein vielgütiges Fräulein! Aber es fehlt mir halt das Vertrauen, und so mein’ ich, er quält mich nur.“

„Der nicht! Der hat größere Weisheit als die berühmtesten fürstlichen Leibärzte. Und manchem hat er schon aufgeholfen, den die Gescheitesten längst für verloren gaben. Es bleibt dabei, Ephraim, ich schick’ ihn Euch her. Ich hätt’ ihn schon früher geschickt, wenn Ihr Euch minder absprechend über die Heilkunst geäußert hättet.“

„Wie Ihr wollt,“ flüsterte Ephraim treuherzig. „Was Ihr thut, ist gewiß allemal wohlgethan. Und fast will mich bedünken, wenn er von Euch kommt, muß ihm schon irgendwie eine heilige Kraft und Mächtigkeit innewohnen …“

Das Mütterchen kochte die Suppe fertig, während sich Hildegard, auf einer gichtbrüchigen Bank sitzend, noch eine Weile mit dem Sohn unterhielt, der unterdes eifrig weiterflocht.

„Wie prächtig Ihr das versteht!“ rief Hildegard. „So schön und so ebenmäßig!“

„Ist ja leider das Einzige, was ich so spät noch hab’ lernen können! Wer von Kind an gepflügt und gesät hat, der ist übel dran, wenn ihn auf einmal das Unheil so auf den Stuhl nagelt.“

„Faßt Euch nur in Geduld, Ephraim, und hofft noch ein wenig auf Doktor Ambrosius! So heißt nämlich der ausgezeichnete Arzt, der Euch mit Gottes Hilfe noch heilen soll …“

Sie ward blutrot, als sie den Namen aussprach. „Aber ich muß jetzt fort,“ fügte sie rasch hinzu und erhob sich.

„Ach? Wollt Ihr schon gehn?“ fragte das Mütterchen. Auch der Sohn warf ihr einen flehenden Blick zu.

„Ich komme schon bald einmal wieder. Für jetzt hab’ ich noch mancherlei vor. Zunächst gleich da drüben beim Flickschuster, dem Gott ehvorgestern das vierte Kind geschenkt hat. Und niemand im Haus, der sich der armen Frau annimmt! Nun will ich halt sehn was sich da raten und thun läßt.“

„O, drüben beim Flickschuster ist wohl alles in guter Ordnung. Vorhin erst war für ein Augenblickchen die Lore hier, um sich ein Waschfaß zu leihen. Die war munter und froh und sagte, die Mutter stünde schon bald wieder auf. Der Lore ihr einziger Jammer war, daß sie jetzt nicht von Haus fort kann und so die Lernstunden bei Euch versäumt.

„Das kleine eifrige Ding!“ lächelte Hildegard. „Ja, sie ist auffallend geweckt, viel klüger als Rottmüllers Dorothea. Nun, sie solls nachholen, sobald sie daheim wieder entbehrlich ist.“ Sie griff in die Tasche und legte zwei Glaustädter Gulden aufs Fensterbrett. „Wenig, aber mit Liebe!“ sagte sie mild. „Die Zeiten sind teuer! Pflegt Euch, Ephraim, und, wie gesagt: nächstens –!“

Die alte Frau weinte vor Dankbarkeit. Der lahme Sohn ergriff Hildegards Hand und küßte sie mit leidenschaftlicher Inbrunst. „Ach, Ihr seid wie ein Engel des Herrn!“ sprach er gerührt. „Gott der Allmächtige schirme und segne Euch! Und lasse Euch jeden Wunsch in Erfüllung gehn!“

„Ein großes Wort, Ephraim! Euch und Eurem treusorgenden Mütterlein wünsch’ ich dasselbe.“

So schritt sie hinaus auf die Gasse.

Inzwischen hatte der kleine, geschmeidige Rostbraune mit seinem langbeinigen Spießgesellen rechts neben dem Ausgang Posto gefaßt. Als Hildegard die wacklige Tannenholzthüre hinter sich zugemacht hatte, traten sie beide vor. Der Große, Dürre verneigte sich und zog halb dreist, halb verschämt seine Tuchkappe.

„Verzeiht uns, vieledles Fräulein,“ sprach er mit breitmäuligem Grinsen, „wenn wir Euch lästig fallen. Wir sind Euch gefolgt bis in die enge Gasse hier, um Euch die Peinlichkeit unsrer Begegnung im hellsten Menschengewühl zu ersparen. Herr Doktor Xylander, Beisitzer des Glaustädter Malefikantengerichts, giebt Euch auf, wie Ihr da geht und steht, vor seinem Stuhl zu erscheinen. Hier ist der Haftbefehl.

Er wies ihr ein schmales, bedrucktes, mit ihrem Namen versehenes Papier vor.

Hildegard Leuthold war blaß geworden. „Ich bitt’ Euch – wer seid Ihr?“

„Diener der Stadt und des Tribunals.“

„Und Ihr wolltet …? Aber was liegt gegen mich vor?“

„Man beschuldigt Euch des Verbrechens der Zauberei und der Teufelsgenossenschaft. Ihr werdet schon wissen, mit welchem Rechte. Wenn ihr nun klug seid, so ergebt Ihr Euch stillschweigend. Am besten geht Ihr voraus. Der Pfad dort links führt hinter Gärten und etlichen Hütten her gradewegs nach dem Stockhaus. So fällt das nicht weiter auf. Sträubt Ihr Euch aber, dann müssen wir leider Gottes ohne Verzug Euch festnehmen. Seht hier die Handschellen!“

So sprechend, ließ er das Ende einer vielgliedrigen Kette aus der Brusttasche hervorlugen.

Hildegard war vor Entsetzen starr. Sie wußte nur zu genau, was eine Anschuldigung vor dem Glaustädter Malefikantengericht zu bedeuten hatte.

„Um Gott – das ist ja unmöglich!“ brachte sie mühsam hervor. „Ich … ich …? Thorheit! Ihr wollt mich erschrecken! Ihr treibt einen Scherz mit mir!“

„Könnt’ uns teuer zu stehn kommen,“ sagte der Rostbraune. „Bei so ernsthaften Dingen spaßt wohl in Glaustädt keiner, am wenigsten wir Geheimboten. Laßt nur alles Geschwätz! Da – schaut! Dort gaffen sie schon zu Dutzenden aus den Thüren und Fenstern heraus! Macht jetzt ein Ende! Oder wollt Ihr vielleicht, daß wir Euch fortschleppen wie ein störrisches Marktweib?“

Dem armen Geschöpf, das noch eben so ganz durchsonnt gewesen von seinen glücklichen Zukunftsträumen, ward es bei dieser fürchterlichen Verwandlung schwarz vor den Augen. So erfüllten sich also die treuen Segenswünsche, die ihr der Kranke da drinnen mit auf den Weg gegeben? Vorgeladen! Vom Blutgerichte des Balthasar Noß in Haft genommen! Der Zauberei und des höllischen Paktes beschuldigt! Lag sie im Fieber – oder war das gräßliche Wirklichkeit?

Hildegard rang die Hände. In ihrer bebenden Todesangst wäre sie fast in die Knie gesunken und hätte laut aufschluchzend um Gnade gefleht. Doch sie besann sich. Aus der Gewalt dieser Schergen war ja doch keine Rettung mehr. Die folgten als fühllose Werkzeuge dem Befehl ihrer Oberen.

Da gewahrte sie in der Thür des Flickschusterhäuschens die kleine flachsblonde Lore. Das kluge, raschbegreifende Kind, das erst scheu und verstört dagestanden, lief jetzt ungestüm auf sie zu und umklammerte angsterfüllt ihre Hüften.

„Hildegard! Herzliebe Hildegard!“

„Vorwärts!“ drängten die Späher.

„Eine Sekunde noch!“ bat sie mit ruhigem Stolz. „Ihr verliert nichts dabei. Laßt mich nur diesem Kind hier ein letztes Wort sagen! Lore, mein Liebling, ich bitte dich, lauf du, so schnell du kannst, zu meinem Vater! Sag’ ihm, was seiner unglücklichen Tochter geschehen ist! Sie führen mich weg! Der Blutrichter Adam Xylander hat’s so befohlen! Sie lügen, ich wär’ eine Hexe! Mein teurer, geliebter Vater soll mir zu Hilfe eilen! Er und alle, die mich als schuldlos und rein kennen! Und du, Lore, bete für mich und für ihn!“

„Genug jetzt!“ rief der Langbeinige Dürre voll Ungeduld. „Mach, daß du fortkommst, Kleine, und bestell’, was du willst! Ihr aber, Leutholdin, habt nun zu wählen: entweder gutwillig … oder …!“- Er wies auf die Handschellen. – „Ich will nicht, daß uns die halbe Weylgasse hier noch Abschiedsbesuche macht!“

Hildegard Leuthold warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Der schroffe, brutale Ton des Knechtes hatte den ganzen Stolz ihrer jungfräulich edlen Natur aufgerüttelt. Die Hände im Schoß gefaltet, schritt sie geruhig und fest um die Hütte herum, aus der sie vorhin so ahnungslos auf die Straße getreten … Da drinnen erscholl unterdrücktes Jammern und Klagen, das Weh des Gelähmten und seiner halbblinden Mutter über das kaum zu fassende Unglück der freundlichen Trösterin. Hildegard aber schien von alledem nichts zu hören. Es galt jetzt, standhaft und gleichmütig zu sein um jeden Preis. Als die Tochter eines so herrlichen Vaters, als die Braut eines so unvergleichlichen Bräutigams stellte sie doppelte Ansprüche an ihre Tapferkeit. Und Gott der Allmächtige würde die Kraft ihres Willens stärken, wenn sie voll kindlicher Gläubigkeit zu ihm aufsah.

„Ein köstlicher Bissen!“ sagte der Rostbraune, als er die wundervolle Mädchengestalt mit den zwei prächtigen Zöpfen so verführerisch vor sich her wandeln sah.

„Eigentlich schade,“ meinte der Langbeinige. „Nun, wer weiß, wie der Hase läuft! Unser Herr Zentgraf, Herr Balthasar Noß, ist ja doch auch nur ein Mensch – und sehr empfänglich [475] für blühende Weiber! Wenn ich einer vom Tribunal wäre, ich ließe hier, glaub’ ich, mal fünf gerade sein. Schöne Frauenspersonen sind rar, schreibt schon der weise Salomo, und vollends ein Püppchen wie die …“

„Einstweilen bin ich zufrieden, wenn uns Adam der Großmütige nach Gebühr ablohnt. Er wird nicht bestreiten können, daß wir die Sache höchst schlau abgepaßt haben.“

„Gewiß nicht. Und wenn ich’s versaufe, gilt mein erster Schluck dieser küßlichen Prachthexe. Himmel und Hölle, ich wollt’, ich könnte die eintauschen gegen die rote Kathrein!“

„Das glaub’ ich dir ungeschworen. Ich bin ja nicht halb so versessen auf hübsche Gesichter wie du. Aber wenn diese Leutholdin schuldig ist, dann muß man dem Teufel nachsagen, daß er einen verwünscht guten Geschmack hat!

[485]
15.

Es schlug halb Elf. Magister Leuthold saß behaglich in seinem bücherumstellten Museum und las die Geschichte der Tantalidin, die der unsägliche Schmerz um den Verlust ihrer Kinder zu Stein verwandelt. Er hatte gelegentlich seiner Martialstudien einen erläuternden Vers des Ovid gebraucht und war dann unwillkürlich von der Lektüre gefesselt worden.

Da kam zitternd und rotglühend vor Aufregung die blonde Flickschusters-Lore ins Haus gerannt. Sie stürzte atemlos nach der Küche, wo die Wirtschafterin Gertrud Hegreiner eben den Braten ansetzte.

„Um Gottes willen, was giebt’s?“ frug Gertrud.

„O, was Schlimmes!“ keuchte die Lore. „Bringt mich zum Herrn Magister! Das Fräulein schickt mich, die liebe, herzige Hildegard! Der geht’s gleich an den Kragen, wenn ihr der Herr Magister nicht hilft. Kommt! Ihr könnt’s ja dann drinnen mit anhören!“ Die Flickschusters-Lore sah so völlig verstört aus, daß Gertrud Hegreiner begriff, es müsse sich hier in der That um Leben und Tod handeln. Sie legte die eiserne Gabel weg und nahm herzklopfend das Kind bei der Hand. So gingen sie nach der Studierstube.

Franz Engelbert Leuthold, ganz vertieft in seinen Ovidius, wollte die Wirtschafterin schon etwas unsanft anlassen. Doch die geisterhaft verängstigten Augen der kleinen Lore verblüfften ihn.

Und das bebende Kind sprach drauf los, ohne zu warten, daß er nach ihrem Begehr fragte.

„Was?“ rief der Magister, aschfahl bis in die Haarwurzeln. „Dir hat wohl geträumt? Unsinn! Erzähl’ mir das noch einmal! Wie war’s und wo?“

Die Flickschusters-Lore wiederholte ihren Bericht mit sämtlichen Einzelheiten. „Ihr sollt ihr helfen – so rasch als möglich, schloß sie die hastig gestammelte Rede. „Die Blutrichter wollen sie umbringen.“

Franz Engelbert Leuthold zuckte mit keiner Wimper. Während der letzten Zeit stark überarbeitet, hatte er oft bei ganz unwichtigen Anlässen große Reizbarkeit an den Tag gelegt. Jetzt beherrschte der Mann sich vollständig. Er fühlte zu tief, wie sehr es hier darauf ankam, daß er nicht die Besonnenheit und den ruhigen Blick verlor. Er schickte zunächst die Wirtschafterin, die laut aufheulte und schrie, mit freundlicher Strenge hinaus.

„Euer Gebahren bringt mich um den Verstand, Gertrud! Was verzagt Ihr so jämmerlich? Gott der Herr wird uns ja beistehen! Geht, geht, Ihr macht mich ja toll! Du, Lore, du bleibst noch! Ich muß dich noch einiges fragen!“

Als sich Gertrud, noch immer wehklagend, entfernt hatte, nahm er das Kind väterlich bei der Hand. „Wer, behauptest du, hat meinen Engel verhaftet? Leute des Adam Xylander?“

„Ja, des Adam Xylander. In seinem Auftrag. Das hat sie ausdrücklich gesagt.“

„Und von wem rührt die Beschuldigung her?“

„Das weiß ich nicht.“ Franz Engelbert Leuthold forschte noch mit scheinbarem Gleichmut nach diesem und jenem, ohne doch Nennenswertes herauszubekommen. Dann strich er dem Kind freundlich über das glühende [486] Antlitz. „Ich danke dir! Das will ich dir nicht vergessen, so lang’ ich lebe! Nun aber laß mich und geh’ in die Küche! Erhol’ dich ein wenig! Du bist so abgejagt wie ein verfolgtes Wild. Ich schreibe jetzt gleich ein paar Zeilen an Doktor Adam Xylander. In das Gerichtsgebäude. Willst du mir die besorgen? Hast du noch Kräfte genug?“

„O ja! Für meine herzliebe Hildegard wollt ich mich auch zu Tod rennen. Aber mir thut’s nichts.“ So ging sie hinaus.

Der Magister nahm seinen dumpf brennenden Kopf zwischen die Hände. Aus tiefster Brust stöhnte er auf. Dann setzte er sich vor den Arbeitstisch, nahm einen großen gelbgrauen Conceptbogen und schrieb ohne zu stocken was folgt:

„Hochwürdiger und gestrenger Herr Stadtrichter!
Hochgelahrtester Herr!

Verzeiht einem geängstigten Vater, wenn er Euch mitten in Eurer Amtstätigkeit schier überfällt. Aber Not kennt, wie Ihr wißt, kein Gebot.

Ist es wahr, daß mein geliebtes, unbescholtenes, ehrbares und gottesfürchtiges Kind Hildegard bei Eurem Gericht als Hexe denunziert worden ist, und daß Ihr, Herr Doktor Adam Xylander, Befehl erteilt habt, die sittsame und arglose Jungfrau in Haft zu nehmen? Man hat sie vor einem Haus in der Weylgasse, wo sie Almosen austeilte und einem Kranken Trost brachte, mit Gewalt fortgeführt. Möglicherweise liegt hier ja eine bloße Verwechslung, ein Mißverständnis oder ein Willkürakt untergeordneter Knechte vor. Ich beschwöre Euch, hochgelahrter Herr Stadtrichter, klärt mich hierüber ohne Verzug auf! Die Ueberbringerin dieser Zeilen könnte mir Eure gütige Antwort gleich mitnehmen. Es bedarf ja keiner langen Erörterung, sondern nur etlicher Silben, zu denen Ihr wohl bei freundlichem Willen die Zeit findet. Ich sage Euch schon im voraus meinen gehorsamsten Dank.

Im Fall, daß Ihr die furchtbare Thatsache einer vorhandenen Denunziation bestätigt, unterbreite ich Euch hier gleich das Ersuchen, mir doch eine sofortige Unterredung mit meinem unglücklichen Kinde wohlgeneigtest gestatten zu wollen. Ich hoffe, daß Ihr mir tiefbekümmertem Manne dies billige und gesetzlich unanfechtbare Verlangen nicht abschlagen werdet.

Die eidliche Aussage eines Vaters gilt im peinlichen Prozeß Euch Männern von der Justiz ja wenig. Aber ich leiste hier dennoch bei dem allwissenden Gott einen heiligen Schwur, daß, wer immer meine geliebte Tochter bei Euch denunziert hat, ein elender, ruchloser, feiger Verleumder und Lügner ist. So wahr mir Gott helfe!

Ich nenne mich
Eurer Hochgelahrten freundwilligen und gehorsamsten Diener
Franz Engelbert Leuthold,
weiland Magister zu Wittenberg.“

Nachdem er dies Schreiben gesiegelt und mit der Aufschrift versehen hatte, trug er es selbst in die Küche und übergab es der Flickschusters-Lore. Das Kind sauste wie ein flatternder Vogel zum Thor hinaus.

Der Brief traf den Malefikantenrichter kurz vor elf Uhr in seinem dumpfigen Eigenraum neben der Haupthalle. Er saß hier vor dem tintenbeklecksten Pult und blätterte in den Akten der Wedekind. Da die Flickschusters-Lore nach Leutholds Weisung dem Gerichtsdiener erklärte, es handle sich um eine höchst persönliche Angelegenheit des Herrn Stadtrichters, so ward sie ohne Verzug vorgelassen.

Adam Xylander empfing das Kind mit staunendem Mißtrauen. Wer unterstand sich, ihn hier unmittelbar vor Ausübung seiner Amtspflicht – Punkt Elf sollte die Sitzung beginnen – mit persönlichen Zuschriften zu belästigen? Suchte man etwa sein von Natur so bewegliches Herz heimlich zu gunsten der Wedekind zu beeinflussen? Ihm etwas recht Erschütterndes vorzujammern? Aber die Welt sollte doch nachgerade davon überzeugt sein, daß ihn die Pflicht und das Rechtsgefühl zum unüberwindlichen Brutus machte! Es war an der Zeit, solche Bestrebungen, die sich während der letzten Monate mehrfach zu ihm herangedrängt hatten, energisch festzunageln und als Begünstigung kriminell zu verfolgen.

Mißmutig und ohne ein Wort zu sprechen, nahm er der kleinen Lore den Brief ab. Er drehte ihn etlichemal zwischen den Fingern, beschaute das Siegel, das er nicht kannte und brach ihn dann mit zögernder Selbstüberwindung auf. Er las – die Lippen fest aufeinandergepreßt. Die schmale, zurückfliegende Stirn über der unruhig schnobernden Geiernase umwölkte sich ihm.

Nach kurzem Bedenken ergriff er die Feder und schrieb.

„Hochwürdiger und hochgelahrtester Herr Magister!

Aus besonderer Gefälligkeit und aus ehrlicher Hochachtung für den schuldlosen Vater, der unter dem Frevel der Tochter nicht über Gebühr leiden soll, gebe ich Euch die gewünschte Auskunft, obschon ja der Ton Eurer schätzbaren Epistel mit der Hoheit und Dignität des Richterkollegii kaum noch verträglich scheint.

Ja, Eure Tochter Hildegard Leuthold ist auf meinen Befehl hier zur Haft gebracht worden. Es liegen schwerwiegende Indicia gegen sie vor, deren Berechtigung sich wohl in kurzem herausstellen wird. Heute noch will ich zum ersten Verhör schreiten. Aus Nachgiebigkeit gegen die Fürbitte dessen, der sie bezichtigt hat, soll dies erste Verhör – selbst für den Fall, daß die Beschuldigte hartnäckig leugnet – ohne Tortur stattfinden. Man wird der Beschuldigten einige Tage Zeit lassen in der Zelle des Stockhauses zur Besinnung zu kommen, auf daß sie demnächst ein reumütiges Geständnis ablegen und sich so nicht nur die sonst unabwendbare Folter erspare, sondern auch eine mildere Form der Urteilsvollstreckung auswirke.

Euer Zeugnis und Euer Eid sind hier allerdings vollständig wertlos. Denn das ist ja die Art und die boshafte List solcher Hexen, daß sie ihre Umgebung durch scheinheiliges Wesen geflissentlich täuschen. – Was Euren Wunsch betrifft, die Verhaftete zu besuchen, so stünde der Sache meinerseits nichts im Wege. Doch möchte ich kein entscheidendes Wort sprechen, ohne zuvor Herrn Balthasar Noß gehört zu haben, der wohl morgen, spätestens übermorgen von seiner Reise zurückkehrt. Bis dahin also geduldet Euch! Und tröstet Euch mit dem Gedanken, daß, wenn auch der irdische Richter mitleidslos gegen die Frevlerin einschreiten muß, hiermit doch eine Sühne geschaffen wird vor Gott dem Allmächtigen, der die Bußfertige und Gezüchtigte im Jenseits begnadigt und sie trotz ihres abscheulichen Paktes eingehen läßt in das Reich seiner ewigen Herrlichkeit.

Tiefschmerzlich bedauernd, daß gerade Euch dies furchtbare Verhängnis beschieden war, nenne ich mich

Euren gehorsamsten Diener
Doktor Adam Xylander,
Beisitzer des Glaustädter Malefikantengerichts.“
Und abermals rannte die kleine Flickschusters-Lore durch die schwer sengende Juliglut nach der Grossachstraße.

Als der Magister das unversiegelte Blatt in Empfang genommen und das erschöpfte Kind wieder hinaus zu Gertrud geschickt hatte, warf er sich, am ganzen Leibe zitternd und bebend, in seinen Lehnstuhl und las. Er starrte auf die unruhig verschnörkelten Schriftzüge des Malefikantenrichters wie auf gräßliche Nachtgespenster. Da hatte er’s schwarz auf weiß – dieser hirnkranke Fanatiker war gleich von vornherein von der Schuld Hildegards fest überzeugt, er ließ die Möglichkeit eines Irrtums gar nicht gelten! Die Missethaten, die man den Unholden und Hexen vorwarf, diese haltlosen, öden Gespinste des Aberglaubens, waren für Adam Xylander so höchst wirklich und thatsächlich, daß er sie auf den leisesten Schimmer einer Verdächtigung hin augenblicklich mit Händen griff! Es war zum Tollwerden!

Und mit zermalmender Wucht überkam den unglücklichen Magister das Peingefühl seiner vollständigen Ohnmacht und Hilflosigkeit. Nein, aus dem Todesnetze der Blutrichter gab es auf Gottes Welt kein Entrinnen. Mit diesen schauerlichen Phantasmen der Bosheit und Finsternis kämpfte die Willenskraft ebenso fruchtlos wie der Geist und die Einsicht.

Fruchtlos! Ohne die mindeste Aussicht! Und gleichwohl mußte irgend etwas geschehen! Er konnte als Vater nicht in müßiger Feigheit die Hände in den Schoß legen, wenn man sein Liebstes zerquälte, zertrümmerte und dem schmachvollen Tod überlieferte! Selbst das Unmögliche mußte gewagt, selbst das Hoffnungsloseste mußte versucht werden.

Zunächst galt es wohl, einen Rechtskundigen ausfindig zu machen, der so viel Mut besaß, für Hildegard als Verteidiger aufzutreten. Die Gewinnung eines Verteidigers hielt schwer unter der Herrschaft der Blutrichter. Gleich von Anfang an hatte sich [487] hier die Praxis herausgebildet, von der Bestellung eines Defensors grundsätzlich abzusehen, da ein crimen exemptum, ein Ausnahmeverbrechen, vorliege, dem die Gegenrede nach Möglichkeit zu erschweren sei. Zudem war nicht mit Unrecht die Meinung verbreitet, jede Bemühung eines Sachwalters zu gunsten des Angeklagten erscheine dem Blutrichter als ein halber Beweis heimlicher Sinnes- und Geistesverwandtschaft. So beschränkte sich denn die gesamte Verteidigung auf die geringfügigen Einwände, die rein der Form wegen im Schoße des Tribunals selbst erhoben, aber vom Zentgrafen augenblicks aus der Welt geschafft wurden.

Trotzdem! Engelbert Leuthold kannte in Glaustädt wenigstens einen Mann, der ihn und seine unglückliche Tochter hier unter keiner Bedingung im Stich lassen würde. Dieser Mann war der kleine bucklige Notar Rolf Weigel, dessen unscheinbare Gestalt einen hochfliegenden, starken Geist barg, der ebensoviel Gesetzeskenntnis als Scharfsinn und Mut besaß und den Greueln der Hexenprozesse in kaum noch zu unterdrückender Feindseligkeit gegenüberstand. Unter den Brauen Leutholds flammte es wie ein Blitz. Ebensoschnell jedoch losch dieser freudige Glanz wieder aus. Es war ja doch nur traurige Selbsttäuschung! In der That bot denn auch die kühnste Beredsamkeit Weigels irgendwie eine Bürgschaft für den Triumph der Wahrheit? Und hätte man selbst die starre Unlogik des Adam Xylander mit Erfolg widerlegt, so bliebe doch immer als Hauptschrecknis der goldgierige, blutdürstige Balthasar Noß. Wen dieser Unmensch erst einmal zwischen den Pranken hielt, den gab er nicht wieder frei! Das Geschäft war zu einträglich, das Herz des Mannes zu roh und verstockt, seine Mordlust zu unersättlich.

Nein! Die Sache war hoffnungslos!

Aber … wie dann …? Wenn Hildegard schuldig befunden, wenn sie verurteilt wurde? Leuthold rannte ein paarmal durch seine Stube wie ein keuchendes Raubtier. Dann, plötzlich stehen bleibend, hob er die Hand empor.

„Gott, allmächtiger Gott! Höre du meinen Eid! Strafe mich, wenn ich ihm untreu werde! Eh’ ich das schweigend mit ansehe – eher stirbt Balthasar Noß und das ganze Gelichter von dieser Faust!“ Er sah sich im Zimmer um wie ein Verzweifelter, der eine Waffe sucht. Mit krallenden Fingern griff er nach rechts und links in die Luft. Ein gräßlicher Aufschrei. Er drehte sich halb um und fiel mit schmetterndem Krach auf den Fußboden.

Als Doktor Ambrosius – selber vollständig haltlos und einem Toten ähnlicher als einem Lebenden – kurz vor zwei Uhr bei dem Magister eintraf, fand er bereits alle Symptome einer Gehirnentzündung. Die Plötzlichkeit dieses furchtbaren Schlages hatte dem längst schon angegriffenen und widerstandsunfähig gewordenen Mann den Rest gegeben. Er lag im Delirium. Von Zeit zu Zeit stieß er mark- und beinerschütternde Angstrufe aus, klagte über die Folterknechte, die ihm die Füße zerbrächen, und wimmerte herzzerreißend. „Hildegard, meine arme, verlorene Hildegard!“

Doktor Ambrosius, dem die Gedanken hinter der heißen Stirn jagten wie glührote Wolken, erteilte die nötigen Anordnungen und verließ dann in fürchterlichster Verfassung das Haus. All seine Patienten vergessend, rannte er ein Stück nach dem Lynndorfer Gehölz zu, um sich halbwegs zu sammeln.

Unter dem Gehen fiel ihm Bertha Xylander ein, die er auf heute zwischen Drei und halb Vier an den Brunnen im Bürgergarten bestellt hatte. Vielleicht war das ein Wink des Schicksals, vielleicht konnte er durch diese leicht zu beeinflussende nervenschwache Person auch zu gunsten Hildegards eine Wirkung auf Adam Xylander ausüben. Was er zu thun hatte und wie er das anfangen sollte, darüber war er sich jetzt nicht klar. Nur soviel begriff er, daß er hier die vollkommenste Selbstbeherrschung zu üben hatte. Bertha Xylander durfte nicht ahnen, wie er mit Hildegard stand und was für ihn von dem Schicksale der Beschuldigten abhing.

Das Herz zerfressen von Weh, zwischen Hoffen und Furcht hin und her geschüttelt und innerlich beinahe erliegend, fand er gleichwohl die Kraft, seine Gemütsbewegung langsam zu meistern. So schritt er in scheinbarer Gelassenheit dem südöstlichen Stadtviertel zu, wo der baumreiche Bürgergarten jetzt stumm und verwaist in der lodernden Sonne des Julitages dahinbrütete.

Bertha Xylander war schon zur Stelle. Sie hatte sich mit ihrem Nähzeug ganz harmlos auf eine schattige Bank in der zweiten Allee gesetzt, so daß die Begegnung, wenn sie beobachtet wurde, den Eindruck vollkommenster Zufälligkeit machen mußte. Auch Doktor Ambrosius schlenderte wie in Gedanken und ohne die mindeste Absicht daher, obgleich hier keine menschliche Seele die Einsamkeit störte.

Bertha Xylander empfing ihn mit dem sanftstrahlenden Blick einer Verklärten. Dann ward sie urplötzlich traurig.

Doktor Ambrosius hatte ihr zur Begrüßung die Hand gereicht. „Setzt Euch!“ bat sie mit einem Seufzer. „Was habt Ihr?“ fragte Ambrosius. „Ach, ich bin unglücklich! Ueber den Oheim! Jetzt, wo ich schon dachte, wir hätten ihn endgültig auf den Weg der Vernunft gebracht, jetzt schreit er mich gräßlich an und schimpft und treibt’s mit der Arbeit toller als je zuvor. Und gestern denkt nur – hat er mir untersagt, Euren Namen irgendwann vor ihm auszusprechen. Er hat eine Antipathie gegen Euch. Er brennt darauf, Euch möglichst schnell das ärztliche Honorar zu behändigen, um ja fürder nichts mehr von Euch zu sehn noch zu hören.“

„Aber weshalb?“

„Weil Ihr im Haus der Malefikantin Wedekind wohnt,“ stotterte Bertha. „Als ich zuerst nach Euch schickte, hat er das nicht gewußt. Erst später – da draußen in Königslautern ist’s ihm bekannt geworden. Da hätt’ er Euch denn am liebsten sofort aufgekündigt …“

„Schlimm!“ sagte Ambrosius.

Er hatte schon neulich etwas von dieser Antipathie verspürt. Jetzt schien sie für allezeit unwiderruflich ausgesprochen. Die Haupthoffnung, die er halb unbewußt an die Begegnung mit Bertha geknüpft hatte, es werde ihm glücken, durch ihren Einfluß erneuten Zutritt ins Haus zu erlangen – schwand ihm so unter den Fingern hinweg.

„Schlimm!“ wiederholte er nachdenklich. „Wo das Vertrauen fehlt, da ist’s freilich am Ende! Nun käme ich nicht, und wenn Ihr mich auf den Knieen drum anflehtet. Nicht, daß ich grollte! Beileibe! Nur weil ich jede Maßnahme, die ich hier treffen möchte, für fruchtlos halte. Inzwischen kann ich nur eins raten. Sorgt dafür, daß er in seiner Amtsthätigkeit nichts übereilt! Er hat ein so zartes, leicht verletztes Gewissen, und diese Feinfühligkeit ist durch die immer noch obwaltende Krankheit derart geschärft worden, daß für ihn alles zu fürchten steht, wenn er einmal nachträglich zu der Erkenntnis käme, daß er zu mitleidslos und grausam geurteilt. Sucht ihm das beizubringen! Mich aber erwähnt ja nicht. Um keinen Preis! Ihr werdet schon wissen, wo und wie er am besten zu packen ist.“

„Ich will sehen, was sich da thun läßt. Wie gütig und liebenswürdig von Euch, mir so die Richtung zu weisen …“

Doktor Ambrosius erhob sich. Er hielt es nicht länger aus, hier den unbeteiligten ärztlichen Freund zu spielen, während das Herz ihm vor heimlicher Angst beinahe in Stücke brach.

„Ich danke Euch noch vieltausendmal!“ stammelte Bertha. „Laßt mich die Unfreundlichkeit meines Oheims ja nicht entgelten!“

„Gewiß nicht!“

So trennten sie sich. Doktor Ambrosius war der Verzweiflung nahe. Jetzt erst kam es dem Hoffnungslosen klar zum Bewußtsein, daß selbst mit einer ernsthaften Beeinflussung Adam Xylanders wenig gewonnen war. Die Seele des Malefikantengerichtes hieß ja Balthasar Noß!

16.

Am Morgen dieses ereignisvollen Tages hatte sich Doktor Adam Xylander gegen halb Zehn nach dem Stadtgerichte begeben und sich vorläufig in seinem Eigenraum aufgehalten, wo ihn dann kurz vor Elf die kleine Flickschusters-Lore mit dem Brief des Magisters antraf. Punkt Elf sollte in der Gerichtshalle die Untersuchung gegen die nun seit Wochen schon im Stockhause schmachtende Ehewirtin des Zunftobermeisters Karl Wedekind stattfinden. Doktor Xylander hätte die nochmalige Durchsicht der Akten ebensogut in seiner Wohnung vornehmen können. Aber es drängte ihn, nach so langer Abwesenheit möglichst frühzeitig dem Schauplatz seiner amtlichen Thätigkeit nahe zu sein. Er würde auch die Sitzung schon auf halb Acht – statt auf Elf [488] anberaumt haben, wäre nicht sein Kollege Holzheuer nebst zwei Schöffen durch eine wichtige Inspektionsfahrt behindert gewesen.

Fünf Minuten nach Elf war das Glaustädter Malefikantengericht bis auf Balthasar Noß vollzählich. Adam Xylander nahm den buckelbeschlagnen Präsidentenstuhl ein. Doktor Holzheuer, das gefügigste Werkzeug des abwesenden Zentgrafen, saß dem Präses zur Rechten, links folgten die beiden Schöffen und der Gerichtsschreiber.

Die Halle des Tribunals war ein nicht sehr umfangreicher, stilloser, schwarzgrau getünchter Raum. Zwei etwas verbogene Querbalken zerlegten die hier und da schon des Bewurfs ermangelnde Decke in drei ungleiche Teile. Im Hintergrund rechts, dem Langtisch des Tribunals schräg gegenüber, lief an der Mauer ein hölzerner Sitz entlang. Hier saßen, bis sie gebraucht wurden, die vornehmlichsten Helfer des damaligen Kriminalprozesses: die Folterknechte. Ihnen zur Seite befand sich ein mannshohes Gestell, das in verschiedenen Fächern die grausigen Apparate und Handwerkszeuge enthielt, mit denen das Malefikantengericht arbeiten ließ. Oben in einem der Querbalken war ein schmiedeeiserner Ring angebracht. In diesem Ring lief ein halbzölliger Strick – zur Bewerkstelligung der sogenannten Expansion oder Elevation, des Aufziehens.

Das Stockhaus, wo die Verhafteten untergebracht wurden, stand mit dem alten Gerichtsgebäude durch einen schmalen gewölbten Gang nach Art der venezianischen Seufzerbrücke unmittelbar in Verbindung. Diesen verrufenen Gang hatte Brigitta Wedekind zu durchschreiten, als sie am siebzehnten Juni auf den Befehl Adam Xylanders von zwei städtischen Hellebardieren in die Halle des Tribunals geführt wurde. Die arme Frau blickte stumpfsinnig vor sich hin. Die lange Haft in der engen, lichtlosen Zelle hatte sie vollständig gebrochen. Sie war kaum noch imstande, sich hier im Angesicht ihrer Peiniger auf den Füßen zu halten.

Nachdem Doktor Xylander ihre Persönlichkeit festgestellt hatte, verlas er die schon vor der Verhaftung protokollierten Zeugenaussagen. Es waren die üblichen hirnverbrannten und doch so vielfach geglaubten Anschuldigungen, deren sich auch der Tuchkramer Henrich Lotefend in seiner Denunziation bedient hatte: der Pakt mit dem Teufel, die ihm gezollte Anbetung und gotteslästerliche Verehrung, die schmachvolle Liebschaft mit ihm, die Schädigung argloser Mitmenschen durch zauberischen Unfug, die abscheulichen Orgien auf dem Herforder Steinhügel. Nur daß hier die Zeugenaussagen mehr ins Einzelne gingen und noch andre Punkte umfaßten, vor allem auch die Bereitung der Hexensalbe aus Wolfswurzel, Eppich und dem geronnenen Herzblut heimlich ermordeter ungetaufter Säuglinge. Als Doktor Adam Xylander zu Ende war, legte er das unglaubliche Aktenstück auf den Gerichtstisch, klappte es zu und stemmte die rechte Hand wie eine Kralle darauf. „Inkulpatin, habt Ihr gegen die Richtigkeit dieser Anschuldigungen irgend was Statthaftes einzuwenden?“

„Gott der Allmächtige steh’ mir in Gnaden bei!“ ächzte Brigitta. „Von alledem ist mir auch nicht das Geringste bewußt. Ich bin stets eine ehrbare Frau gewesen und habe in Treue Gott und meinem Erlöser gedient. Wie sollte mir doch je in den Sinn kommen … Ach, mein hochwürdigster, gnädigster Herr, Ihr müßt ja doch einsehen, daß diese Menschen mich grausam verleumdet haben! Oder die helle Furcht hat sie irre geleitet …“

„Also Ihr leugnet?“

„Wie kann ich bekennen? Da ich doch unschuldig bin …!“

„Das wird sich ausweisen. Noch einmal, Brigitta Wedekind, vermahne ich Euch hier ernst nachdrucksamst: erschwert nicht unsre betrübsame Aufgabe durch Halsstarrigkeit und Lüge!“

„Und wenn Ihr mich gleich auf den Stelle in Stücke reißt – ich kann nichts gestehn! Ich bin schuldlos! Ich weiß nichts von dieser Missethat!“

„Herr Gerichtsschreiber! Eh’ ich zur Folter schreite, habt die Gewogenheit, der hartnäckig leugnenden Inkulpatin die einzelnen Instrumente und ihre Wirkung anschaulich zu erläutern!“

Der Gerichtsschreiber stand auf. Mit großer Geläufigkeit, die eine vielfältige Uebung verriet, setzte er dem unglücklichen Weib auseinander, was die vier Hauptwerkzeuge der Glaustädter Folterkammer bedeuteten. Zunächst beschrieb er den Daumenstock. Dann die eiserne Hand. Hiernach die spanischen Stiefel. Und schließlich Elevation. „Dem Inkulpaten – so hieß es bei der Elevation – „werden die Hände hinter dem Rücken fest zusammengeschnürt. An diese kreuzweis verschnürten Hände knüpfen die Folterknechte ein Seil, mit welchem der Inkulpat durch den Ring an der Decke allmählich emporgezogen wird, bis ihm die Arme verkehrt und verdreht über dem Kopf stehen.“

Halb wahnsinnig vor Entsetzen hatte die Wedekind zugehört. Sie schlotterte, als wäre sie schon in den Händen der Folterknechte.

„Zum letztenmal, bekennt Ihr Euch schuldig?“ fragte die schrilltönige Stimme Adam Xylanders.

Verzweiflungsvoll hob sie die kettenklirrenden Hände.

„Ich kann doch nicht! Gott der Herr hat geboten: Du sollst kein falsch Zeugnis ablegen …“

„Man gebe der Inkulpatin den ersten Grad!“

Zwei von den Folterknechten erhoben sich. Der eine trug zwei stahlblaue rundköpfige Klammern, die berüchtigten Daumenstöcke.

„O du meine herzliebe Mutter unter der Erden!“ wimmerte Frau Brigitta. „Hilf mir und rette mich! O du mein allergnädigster Heiland! Ach, erbarme dich meiner! Ach, hilf und rette mich!“ Gleich danach gellte ein rasender Aufschrei durch die Gerichtshalle ein zweiter, ein dritter. Dann – plötzliche Totenstille. Das Uebermaß der unsäglichen Qual hatte der armen Mißhandelten das Bewußtsein geraubt. Wie eine leblose Masse hing sie in den Armen des Folterknechts.

„Satanas springt ihr bei,“ murmelte Adam Xylander.

Jetzt fing die gepeinigte Frau an, sich wieder zu regen. Ein dumpfes Stöhnen und Röcheln kam aus dem schaumüberdeckten Mund. Alsbald schrie und brüllte sie wieder in mark- und beinerschütternden Jammerlauten.

„Gebt’s ihr gelinder,“ befahl der Malefikantenrichter.

Die Folterknechte lösten die Schrauben um eine halbe Drehung.

„Habt Ihr’s Euch nun überlegt, Wedekindin? Wollt Ihr bekennen?“

„Ja, ja, ja!“ ächzte sie mit gebrochenen Augen. „Um Christi Willen, hört auf! Ach, du mein himmlischer Heiland, hilf! Ach, Ihr gestrengen Herren, hört auf, hört auf!“

Ein Wink Xylanders: die Knechte gaben sie frei. Man schob ihr einen Holzschemel hin, auf dem sie noch immer keuchend und winselnd Platz nahm.

„Ihr räumt ein, daß sämtliche Zeugenaussagen begründet sind?“

„Ja, ja, ja! O meine armen Finger! O du meine herzliebe Mutter unter der Erden, erbarme dich meiner!“

„Herr Gerichtsschreiber, nehmt mir zu Protokoll: ‚Auf den ersten Grad der Folter gebracht und nur mäßig torquieret, gab Inkulpatin zu, daß die vorliegenden Zeugenaussagen durchweg und in allen Punkten der Wahrheit entsprechen.‘ So! Das ist schneller gegangen, als ich vorausgesetzt.“

Gratulor!“ murmelte Doktor Holzheuer mit großer Verbindlichkeit.

„Nun aber giebt’s noch mancherlei drum und dran,“ meinte Xylander, „teils von praktischem Wert, teils von rein theoretischem. Da wir noch Zeit haben, will ich hier etliches schon vorweg nehmen, zumal ja unser Herr Zentgraf mehr auf die Schuld selber zu fahnden pflegt als auf deren historische Genesis. Grade bei dieser Wedekindin möchte sich in puncto der höllischen Kniffe höchst Beachtsames ergeben, dieweilen ja Inkulpatin früherhin thatsächlich eine frommgläubige, gottesfürchtige Christin war, zu deren Berückung der Böse ganz absonderlicher Trugkünste bedurft haben muß.“ Er legte nun der vor Angst und Schmerz beinahe sinnlosen Frau eine Reihe von Fragen vor, die sich – halb andeutend, halb ausführend – darauf bezogen, wann, wo und in welcherlei Art und Gestalt sich ihr der Teufel zuerst genähert habe. Stockend, unsicher und mit vielerlei scheuen Verwahrungen gab ihm die Wedekind Antwort. Ihr Geständnis war zusammengesetzt aus den landläufigen Vorstellungen, die damals mit geringen Verschiedenheiten allenthalben im Schwange waren, und aus den seltsamem Einzelzügen, die Adam Xylander dem Schatz seiner eigenen hirnwütigen Einbildungskraft entnahm und nach bekannter Inquirentenmethode in sie hineinfragte.

Als schmucker Jägersmann, völlig in Grün gekleidet, den Schnurrbart zwirbelnd, daß die Funken strichweise gen Himmel [490] flogen – so hatte der Böse ihr den höllischen Fallstrick gelegt. Er trug ein Hütchen, mit Eppich und Lolch geschmückt. Durch den schwarzgrünen Filz hindurch sah man die Hörner leuchten, zwei an der Stirne und eins am Hinterkopf. Obgleich sie ja wußte, wen sie da vor sich hatte, gefiel ihr der stattliche Jägersmann doch über die Maßen. Er nannte sich Volant, wußte gar süß zu lächeln und noch süßer und verführerischer zu schwatzen.

„Wo war das?“ fragte Xylander. „Wo hat er Euch angesprochen?“

„Nun“ stammelte Frau Brigitta, „es könnte wohl sein … Vielleicht im Lynndorfer Gehölz …“

Hier giebt es kein ‚Vielleicht‘ oder ‚Es könnte wohl sein‘…“ fuhr ihr der Malefikantenrichter streng in die Rede, „sondern ein klares ‚Ist‘ oder ‚War‘.“

Brigitta Wedekind hörte schon wieder im Geiste das Knirschen der entsetzlichen Daumenstöcke. „Verzeiht, hochwürdiger Herr … Ich besinne mich jetzt. Ja, es war im Lynndorfer Gehölz … nah’ bei der Waldschenke …“

„Weiter, weiter! Laßt Euch nicht so jegliche Silbe mühsam herausquetschen. Er ist also plötzlich aus dem Gebüsch getreten, wie Ihr da einsam spazieren ginget, und hat in seiner höllischen Bosheit Euch schön gethan und Euch Gold und die Herrlichkeiten der Erde versprochen, wenn Ihr ihm zu Willen wäret und Euer Christentum abschwören wolltet. Dann hat er verschiedentliche Praktiken gebraucht, über die Ihr uns noch berichten sollt. Und wie Ihr nun vor ihm niedersankt und sein Kleid küßtet, hat er sich den teuflischen Pakt aus der Gurgel gezogen und Euch die Herzgrube geritzt, und mit dem quellenden Blut habt Ihr den Seelenverkauf unterzeichnet. Ist’s so gewesen? Sprecht!“

„Ja, Herr!“

„Wohl! Und dann? Was geschah weiter? Und welcher Art waren diese Praktiken?“

Die Wedekind, längst schon willenlos vor Qual und Entsetzen, durchwühlte ihr armes Gehirn nach den gräßlichen Reminiscenzen aus früher gehörten Zauberer- und Hexengeschichten. Fest überzeugt von der Hoffnungslosigkeit ihrer Lage und sehnsüchtig nach Erlösung schmachtend, ließ sie dabei ihrer angestachelten Phantasie freien Lauf. Zuletzt ward die Unglückliche beinahe beredt. In ihrem wilden Verlangen, sich recht verderbt und schuldig zu zeigen, gab sie jetzt Dinge zu, die selbst für den hexenkundigen Adam Xylander neu und verblüffend waren. Als sie dann schwieg, las der Gerichtsschreiber vor, was er von ihren denkwürdigen Aussagen zu Papier gebracht hatte.

„Inkulpatin,“ fragte Xylander, „habt Ihr etwas gegen den Wortlaut dieser Urkunde einzuwenden?“

Brigitta Wedekind schüttelte hastig den Kopf.

„Und Ihr bereut?“

„Ja von Herzen. Alles, alles bereue ich, was ich jemals gesündigt habe. Laßt mich nur bald sterben, ihr hohen, gestrengen Herrn! Bald, bald! Es ist eine tiefe Qual, so weiter zu leben! Und erspart mir die Einäscherung!

Sie hob die zermarterten Hände.

„Ach, nur nicht die Einäscherung! Nur nicht die Einäscherung!“

„Reuige Malefikantinnen werden zum Schwert begnadigt. Die Einäscherung bei lebendigem Leibe ist nur für die Unbußfertigen. Nun aber noch eins. Bei Euren schmachvollen Zusammenkünften auf dem Herforder Steinhügel seid Ihr natürlich etlichen Glaustädtern und Glaustädterinnen begegnet, die sich der Strafe ihres Verbrechens bis heute entzogen haben. Hierüber werdet Ihr in der nächsten Sitzung des Tribunals durch Herrn Balthasar Noß eingehend verhört werden. Heute beantwortet mir nur die hier folgende Frage: habt Ihr unter den Teilnehmern am Hexensabbath auch die Tochter des wohlachtbaren Magisters Engelbert Leuthold getroffen? Ein schlankes, vornehmes Fräulein mit Namen Hildegard – von bräunlichem Haar und heller, frischer Gesichtsfarbe?“

Die Wedekindin blickte ihm todstarr in die Augen. Nicht genug, daß sie selber verloren war, nun sollte sie auch noch andere mit ins Verderben ziehen! Das überstieg ihre Kräfte.

„Sprecht!“ fuhr Adam Xylander fort. „Als reuige Sünderin habt Ihr die unabweisbare Pflicht, hier keinerlei Mitleid zu üben. Ihr thut ja sogar ein gottwohlgefälliges Werk, wenn Ihr die Leiber der Missethäter dem Gesetz überantwortet, auf daß doch ihre unsterblichen Seelen gerettet werden.

„Ich weiß von nichts,“ murmelte die Gefragte in zitternder Seelenangst.

„Ihr wißt von nichts? Und doch ist uns eidlich bezeugt, daß auch besagte Hildegard Leuthold in verstrichener Walpurgisnacht an den Schandorgien auf dem Herforder Steinhügel emsig beteiligt war. Da Ihr Teufelsgenossen Euch insgesamt kennt, werdet Ihr Euch auch dieser Mitschwester erinnern.“

„Ich weiß von nichts, bei meiner Ehre und Seligkeit!“

Adam Xylander ward hochrot bis an die Haarwurzeln.

„Hier also hört Eure Bußfertigkeit auf? Ihr hofft wohl noch von der Leuthold irgendwie Heil und Hilfe, daß Ihr sie schonen wollt? Eine thörichte Hoffnung! Die Hexe ist längst schon in Haft genommen. Mit Eurem Abstreiten ändert Ihr also nicht das Geringste. Noch einmal frag’ ich in aller Ruhe: was wißt Ihr davon? Wie hat sich die Leuthold auf dem Herforder Steinhügel gebärdet?“

„Ach, mein hoher, gestrenger Herr! Ich kann doch unmöglich … Es wär’ ja die schändlichste Lüge …“

„Gebt ihr den ersten Grad!“ schrie Adam Xylander außer sich.

Brigitta zuckte zusammen. Ihr armer Leib war nicht mehr widerstandsfähig. Und was half es auch, wenn sie von neuem sich foltern ließ? Hildegard Leuthold würde ja doch den Blutmenschen unfehlbar zum Opfer fallen, selbst wenn die Gefolterte ausharrte bis in den Tod. Sie selbst aber fühlte, daß sie beim ersten Anprall der Marterwerkzeuge doch alles einräumen würde, was dieser furchtbare Mann mit dem Geiergesicht von ihr begehrte.

„Nein!“ rief sie in heller Verzweiflung. „Laßt Eure Knechte, hoher, gestrenger Herr! Ich bekenne schon freiwillig!“

„Um so besser für Euch! Also, Ihr saht die Leutholdin auf dem Steinhügel?“

„Ja, ja! Gott verzeih’ mir die Sünde!“

„Habt Ihr die Hildegard Leuthold schon früher gekannt?“

„Ja, mein gestrenger Herr! So von Ansehen.“

„Und sie hat teilgenommen an all den Greueln und Schändlichkeiten des Hexensabbaths?“

„Ja, mein gestrenger Herr! Ach, so erbarmt Euch doch!“

„Antwortet nur – und laßt Euer Gewinsel! Herr Gerichtsschreiber, nehmt das Bekenntnis der Inkulpatin ja recht ausgiebig und klar zum Vermerk! Diese Aussage ist von entscheidender Wichtigkeit für den Prozeß, der uns heut’ nachmittag in seinen ersten Stadien beschäftigen soll. Ein kurzes Verhör ohne Tortur, lediglich vorbereitend, damit Herr Balthasar Noß bei seiner Heimkehr den Boden schon einigermaßen geebnet findet! Also, malefica Wedekind, laßt Euch des näheren aus über die Worte und Thaten der Leuthold auf dem Herforder Steinhügel!“

Die zitternde Frau wußte nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. Sie schwatzte und faselte wieder das unglaublichste Zeug zusammen, mitunter sich widerlegend, hier und da in die schrecklichsten Angstrufe ausbrechend, alles verworren und von haarsträubender Unlogik, aber doch so, daß Adam Xylander in tiefster Befriedigung nickte. Der Herr Gerichtsschreiber hielt eine große Ernte.

Nach Verlesung und Beglaubigung dieser Niederschrift hob Adam Xylander die Sitzung auf. Die Hellebardiere schickten sich an, die tödlich erschöpfte Dulderin wieder ins Stockhaus zurückzubringen. Noch in der Thür, da sich die Richter jetzt eben von ihren Sesseln erhoben, wandte Brigitta sich um und schrie mit losbrechenden Thränen:

„Und das alles ist doch gelogen! O, du mein herzlieber Heiland, verzeih’ mir die Todsünde! Schreibt’s in die Akten! Ich widerrufe! Ihr habt mir das mit Gewalt abgepreßt! Ich bin keine Hexe! Und auch die Leuthold ist schuldlos! Ach, ich verruchte Person! Aus elender Feigheit hab’ ich sie angeschwärzt! Gott der Herr tröste den unglücklichen Vater! Und suche nicht meine Schuld heim an der süßen Elma!

„Führt sie hinweg!“ sagte Xylander gleichmütig. „Die Hölle ist wieder mächtig in ihr. Das nächste Mal wird sich ja zeigen, ob sie auf ihrem Widerrufe besteht! Liebwerteste Collegae, ich wünsche Euch allerseits eine recht gesegnete Mahlzeit!“

[501]
17.

Als sich Herr Adam Xylander kurz vor ein Uhr zu Tisch setzte, war er mit seinen Gedanken schon vollständig bei dem Vorverhör, dem er heut’ nachmittag die Inkulpatin Hildegard Leuthold unterwerfen wollte. Ueberhaupt hatte die Angelegenheit dieser Neuverhafteten das Interesse Xylanders an dem Prozeß der Wedekind stark beeinträchtigt. Er schlürfte die braune Mehlsuppe unter fortwährendem Ueberlegen der Anklagepunkte – besonders der nächtlichen Scene am Kreuzweg zwischen der alten Haardt und der Grossachbrücke, wo der Verfasser des Denunziationsbriefes die Leuthold beobachtet haben wollte, wie sie den Namen Xylander und allerlei gräßliche Fluch- und Zaubersprüche hervorstieß. So lebhaft bohrte er sich in diesen Vorstellungskreis ein, daß ihm die ohnehin schwach entwickelte Eßlust vollends verging. [502] Außer der Mehlsuppe genoß er nur einen kleinen Löffel gedünsteter Mohrrüben. Das Bratfleisch, das Bertha ihm sorgsam vorschnitt, erfüllte ihn mit plötzlichem Widerwillen.

„Ich kann nicht!“ rief er empört und schob klirrend den Teller zurück. „Laß mich doch endlich in Ruhe mit deinen albernen Mästversuchen! Ich trage höheres Verlangen als diese Fütterung, die nur den Grabwürmern zu gute kommt.“

Nun sprang er empor.

„Das war schon wieder die gottverfluchte Stimme der Unholdin!“ rief er entsetzt. „Noch aus der Haft heraus stört mir die Hexe den Frieden und sucht mich irre zu machen an Gott und mir selbst! Ruhig, ganz ruhig! Um keinen Preis darf sich ein ehrlicher Richter je zur Gehässigkeit und Rachsucht verleiten lassen! Aber ich wollte doch, Herr Balthasar Noß wäre zurück, um hier die Führung mir abzunehmen! Ich bin auch nur ein Mensch mit warmem Blut in den Adern!“

Bertha Xylander gab sich die größte Mühe, den angstvoll erregten Mann zu zerstreuen und abzulenken. Aber umsonst. Ihren freundlichen Rat, doch eine Weile zu schlafen, wies er höhnisch zurück.

„Schlaf’ du, wenn dir ein Dämon im Nacken sitzt! Eh’ diese Bosheit nicht aufhört, komm’ ich nicht über das heimliche Zucken und Krampfen hinaus! Das frißt mir schon wieder am Herzen wie eine Giftschlange. Ach, die verwünschte, heimtückische Teufelsbuhlin!“

Schlag halb Drei – kurz bevor seine Nichte das Haus verließ, um sich am Brunnen im Bürgergarten mit Doktor Ambrosius zu treffen, – schritt Adam Xylander fiebernd vor Unrast und Eifer durch das grauschwarze Thor des Gerichtsgebäudes. Obgleich noch Zeit war, ging er nicht erst, wie sonst, in den Eigenraum, sondern betrat ohne Verzug die Haupthalle, wo er in stummer Erwartung auf dem buckelbeschlagenen Präsidentenstuhl Platz nahm.

Fünf Minuten danach kam der Beisitzer Doktor Holzheuer; ihm folgten in kurzen Zwischenräumen die Schöffen und der Gerichtsschreiber. Die Folterknechte waren für diesmal beurlaubt.

Adam Xylander schlug nun dreimal auf die große kupferne Handglocke. Die Thüre der Inkulpatin öffnete sich. Hildegard Leuthold, von zwei Rutenknechten begleitet, trat im Glanz ihrer Jugendschöne, hoheitsvoll und kindlich zugleich, über die Schwelle. Ihr Anblick flößte selbst dem nahezu siebzigjährigen Wolfgang Holzheuer etwas wie aufquellende Wärme und Sympathie ein. Die Schöffen vollends und der Gerichtsschreiber hatten das dunkle Gefühl, als müßten sie aufspringen, um sich in Ritterlichkeit und Demut vor dieser lieblichen Königin ihres Geschlechts zu verneigen. Nur Adam Xylander warf ihr einen tief mißtrauischen und feindseligen Blick zu.

Hildegard Leuthold war jetzt vollständig ruhig. Der erste Schreck war gewichen. Ihr Vertrauen auf das Ansehen und den Einfluß ihres vergötterten Vaters hatte sich nach und nach wieder so sehr gefestigt, daß sie nun kaum noch zweifelte: ehe der Abend sank, würde sie ihre Freiheit zurückerlangt haben. Wie ihr Vater dies Wunder vollbringen sollte, davon hatte sie allerdings keine Vorstellung.

„Ihr seid Hildegard Leuthold, die Tochter des weiland kursächsischen Magisters Franz Engelbert Leuthold?“ begann der Präses in kaltem Geschäftston.

„Die bin ich! Und als die Tochter dieses allgemein geachteten Mannes möchte ich fragen, was Euch veranlaßt, mich in so beschimpfender Art aufgreifen und hierher vor Gericht schleppen zu lassen? Denn ich weiß von den Häschern, daß Ihr, Herr Doktor Xylander, in eigner Person meine Verhaftung befohlen habt.“

„So? Ihr kennt mich?“ gab Xylander zur Antwort. Ein unheimliches Lächeln zuckte um seinen bartlosen Mund. „Das stimmt ja vollständig mit dem überein, was ich selber seit vielen Wochen an mir gespürt habe und was auch sonst Euch unzweideutig zur Last gelegt wird. Ihr kennt mich, Hildegard Leuthold, und habt einen lästerlichen, abscheulichen Haß auf’ mich geworfen, dieweil ich der unversöhnliche Todfeind aller Zauberer und Hexen bin. Doch das beiläufig! Meine Persönlichkeit soll hier ganz und gar außer Betracht bleiben. Dem ehrlichen, schwurtreuen Richter gilt es allein die Sache – und was Ihr in Eurer Tücke mir selber zugefügt habt, ist überhaupt nur der geringere Teil Eures Verbrechens. Was ich hier feststellen will, ist die gewichtige Thatsache, daß auch Ihr mir bekannt seid. Ja, ich erkenne Euch wieder, Hildegard Leuthold! Vor Gott und meinem Gewissen. Ihr seid die boshafte Verfolgerin, die mich fast schon zu Grunde gerichtet hat!“

Er setzte dem Tribunal kurz auseinander, um was es sich handelte. Dann strich er sich mit gespreizten Fingern über das mißfarbige Haar und nickte tief überzeugt vor sich hin. Der halb schon beginnende Irrsinn, der unheimlich hinter den kleinen rastlosen Augen funkelte, hatte ihm eingeredet, die weiche, volltönige Stimme Hildegards sei die nämliche, die ihm bei seinen krankhaften Sinnestäuschungen so gespenstisch im Ohre klang. Das allein schon genügte. Ihm stand es nun unumstößlich fest, daß Hildegard Leuthold all der widersinnigen Unthaten schuldig war, deren sie von dem ungenannten Angeber und der gefolterten Wedekindin bezichtigt wurde.

„Ich verstehe Euch nicht,“ stammelte Hildegard. „Sagt mir, ich bitt’ Euch, in klaren bestimmten Worten, wer mich hier anschuldigt, und was ich sonst noch gethan haben soll! Das mit der Stimme, die Ihr gehört haben wollt, mag wohl auf Siechtum Eures Gehirns beruhen. Am Kreuzweg zwischen der alten Haardt und der Grossachbrücke bin ich im Leben noch nicht gewesen. Stellt mir doch den Verleumder gleich gegenüber! Ich will ihn der Lüge zeihen. Ich will sehen, ob er den Mut hat, mir ins Gesicht seine Verruchtheiten zu wiederholen.“

„Wenn ich Euch raten soll, Inkulpatin, so mäßigt Ihr Euch. Der Beschuldiger ist das erlauchte Tribunal selbst. Aus welcher Quelle es schöpft, danach zu fragen, steht Euch kein Recht zu.

„Kein Recht? Aber ich muß doch wissen …“

„Nichts müßt Ihr wissen, als was ich Euch mitzuteilen für gut finde. Hört jetzt, welcher sonstigen Uebelthaten Ihr auf Grund glaubhafter Zeugnisse dringend verdächtig seid. Zuvor aber ermahne ich Euch, mich durch keinerlei Gegenrede oder sonstige Ungebühr unterbrechen zu wollen! Wenn ich zu Ende bin, dann – aber nicht früher – habt Ihr das Wort! Inzwischen bedenkt Euch, ob Ihr nicht Eure Sache durch ein offenes, reumütiges Geständnis vereinfachen und für Euch hoffnungsvoller gestalten wollt!“

Er las nun mit etlichen Kürzungen die Denunziation vor, sowie das Erforderliche aus dem „Geständnis“ der Wedekind.

Hildegard Leuthold hörte ihm zu wie versteinert. Die Art und Weise des Blutrichters hatte vorhin schon ihre kaum erst erstarkte Zuversicht wieder zum Wanken gebracht. Jetzt vollends, da er mit so unheimlich starrem Ernst diese scheußlichen und dabei doch so lächerlich unsinnigen Dinge gegen sie vorbrachte, stockte ihr fast der Atem.

„Inkulpatin,“ frug Adam Xylander, indem er das Protokoll zuklappte, „bekennt Ihr Euch schuldig? Oder wollt Ihr die Schwere Eures Verbrechens durch Ableugnen erhöhen?“

Hildegard schwieg einen Augenblick. Es schien furchtbar in ihr zu arbeiten.

„Das, das hätte die Wedekind ausgesagt?“ fuhr sie dann plötzlich heraus.

„Hier steht’s in den Akten.“

„So ist sie verrückt – oder Ihr habt diese Unwahrheit in sie hineingefoltert!“

Adam Xylander schmunzelte wie ein Mann, der sich so recht im Gefühl seiner geistigen Ueberlegenheit sonnt. Er strich mit den Fingerspitzen das schmale, bartlose Kinn und sagte von oben herab:

„Weshalb beschränkt Ihr Euch nur auf die Wedekind? Wenn Ihr denn leugnen wollt, warum übergeht Ihr in Eurem Protest die vernichtenden Anklagepunkte, die sich hier aus dem Briefe ergeben?“

„Warum? Weil ich zur Not noch begreifen kann, daß irgend ein boshafter Schurke hinterrücks mich verunglimpft! Aber wie es die fromme Brigitta über das Herz bringen kann, sie, die gute, gläubige Christin, der ich doch nie was zu Leide gethan … O, es ist jammervoll, wie tief Eure Grausamkeit auch die edelsten Menschen erniedrigt!“

[503] „Also – Ihr leugnet.“

Hildegard richtete sich jetzt hoch auf. Noch einmal raffte sie all ihren Stolz, all ihre seelische Kraft zusammen.

„Herr Doktor Xylander,“ sprach sie mit fester Stimme, obgleich es um ihren lieblichen Mund zuckte und flimmerte, „Ihr, ein Mann von so großer Gelehrsamkeit und so vielfältigen Geistesgaben, seht Ihr nicht ein, daß diese ganze schmachvolle Anklage nur die Ausgeburt eines wahnwitzigen Aberglaubens, einer krankhaften Einbildung ist? Wie? Ich, ein menschliches Wesen von gesunder Vernunft, sollte Gott meinen Herrn verleugnen und Jesum Christum, den getreuen Erlöser, der mir die Seligkeit in den Fluren des Paradieses erkauft hat? Verleugnen um irdischen Tandes willen und mit dem klaren Bewußtsein, hierdurch den Mächten der Finsternis und der Verworfenheit anzugehören, zeitlich und ewiglich? Und ich, ein vom Vater treugehütetes Kind von neunzehn Jahren, ich sollte in schandbarer Liebe entbrannt sein für den Abschaum der Hölle, für ein scheußliches, ekelerregendes Ungetüm? Zumal ich doch längst schon im stillen einem höchst ehrbaren, klugen, tapferen, bewunderungswürdigen Manne zugethan bin? Erschreckt Ihr nicht vor dem handgreiflichen Widersinn dieser gräßlichen Anklagen? Das Reich Gottes ist lieblich, und Christo dienen, das lockt jedweden mit unsagbarem Zauber! Gießt man den goldnen Wein fort, um giftgrünes Sumpfwasser zu trinken? Wird eine gute Tochter dem geliebten Vater davonlaufen, um sich dem pestbeuligen Satanas in die Arme zu werfen? O und diese schmutzigen Lustbarkeiten auf dem Herforder Steinhügel! Nur die Verworfenheit selbst kann so Greuliches ausklügeln, in Wahrheit ist das alles einfach unmöglich. Es giebt keine Hexen! Es giebt keine Zauberer!“

„Ihr hört es, liebwerteste Herren Collegae! Inkulpatin leugnet die Wahrheit des Teufelspaktes! Herr Secretarius, vermerkt das, bitte, im Wortlaut! Es giebt keine Hexen! Es giebt keine Zauberer! Diese Ableugnung wiegt schwerer als alles andere! In den Annalen von Glaustädt ist das wohl bis heute nicht vorgekommen.“

„So habt Ihr niemals die Schriften des Friedrich Spee gelesen?“ rief Hildegard mit wachsendem Ueberzeugungseifer. „Hier freilich in Glaustädt sind sie ja längst verboten. Aber in Wittenberg waren sie jedem zur Hand, der ihrer begehrte, und sie haben ein gut Teil dazu beigetragen, den Blinden das Licht zu geben. Ich bitt’ Euch, Herr Malefikantenrichter, lest diese Schriften. Gewiß werdet Ihr dann einsehen, welch traurigem Wahnsinn Ihr so zahlreiche Opfer schlachtet!“

„Ihr beleidigt das Tribunal!“ schrie Adam Xylander außer sich vor Entrüstung. „Hätt’ ich mir nicht gelobt, Euch bis zur Rückkehr unseres hochwürdigen Zentgrafen Balthasar Noß völlig zu schonen, bei Gott dem Allmächtigen, ich ließe Euch krumm schließen! Geht jetzt! Vielleicht kommt Ihr im Dunkel des Kerkers zu besserer Einsicht. Beim Klirren der Ketten erwacht mitunter die Reue. Ihr dürft nicht glauben, daß man Euch glimpflich behandeln wird, bloß weil Ihr die Tochter eines so vornehmen hochgeachteten Mannes seid. Die Gerechtigkeit trägt eine Binde über den Augen, und die Pflicht steht uns höher als jede sonstige Rücksicht. Uebermorgen wird Herr Balthasar Noß zur Stelle sein. Verharrt Ihr dann bei Eurer Verstocktheit, so wird er schon Mittel und Wege finden, Euch mürbe zu machen. Die Folter ist eine Zungenlöserin ersten Ranges.

Hildegard taumelte.

Ihr letzter Mut war bei den unheildrohenden Worten des Malefikantenrichters zu Grabe gegangen. Die Rutenknechte führten sie lautlos ab.

In der Gerichtshalle herrschte für Augenblicke ein tiefes Schweigen.

„Schade um sie!“ murmelte endlich der alte Beisitzer Wolfgang Holzheuer. „Ich sah nie ihresgleichen.“

„Das ist’s ja eben!“ fuhr Adam Xylander auf. „Ich bin fest überzeugt: eh’ sie der Satan verlockte, war sie die Reinheit, Unschuld und Frömmigkeit selbst. Aber je herrlicher seine Opfer, um so tollkühner macht ihn der Sieg. Und wenn so die teuflische Pestilenz um sich greift … O, Zeiten! O, Sitten! Stehen wir fest, liebwerte Collegae! Der allergnädigste Landesherr blickt vertrauend auf uns als die erprobtesten Stützen der Wahrheit und der Gerechtigkeit! Wir dürfen uns nicht durch falsches Mitleid beirren lassen! Und dazu stärke uns Gott! Amen!“

Er faltete seine hageren Hände und schloß die Augen. Ein heißes, ungeheucheltes Flehen stieg aus dieser verfinsterten Seele nach oben und färbte die eingefallenen Wangen mit dem Rot brünstigster Andacht. Der eine der Schöffen seufzte. Der Beisitzer Wolfgang Holzheuer aber nickte in stummer Ergebenheit vor sich hin.

Das Malefikantengericht schritt nunmehr zu einer weiteren Verhandlung, die gleichfalls von Adam Xylander ausgenutzt wurde, um bei dem Angeklagten, einem fahrenden Schüler, schwere Indicien gegen Hildegard Leuthold zu sammeln.

Unterdessen ward Hildegard selbst, die man bei ihrer Einlieferung zunächst in die ziemlich geräumige Wachzelle im Obergeschoß gesperrt hatte, nach dem Kerker der Malefikanten gebracht. Derselbe lag in dem rechten Flügel des Stockhauses und bestand aus einigen dreißig niedrigen Räumen, die zum Teil fast ganz ohne Licht waren. Ein dämmeriger Korridor, der nach dem Treppenbau mit einer starken eisernen Thür verschlossen war, lief zwischen den beiden Gelaßreihen her. Vor diesem Korridor saß bei Tag und bei Nacht ein bewaffneter Kerkermeister, einer von elf Uhr vormittags bis zum Abend, der zweite von elf Uhr abends bis früh. Links befand sich ein kleiner Raum für die Hellebardiere, die sich hier bis zum Schluß der Gerichtssitzung aufhalten mußten, um die Verhaftete je nach den Anordnungen des Tribunals vorzuführen.

Sinnlos vor Aufregung machte Hildegard Leuthold bei der eisernen Thür Halt.

Der Kerkermeister, ein düsterer, langbärtiger Mann von etlichen dreißig Jahren, nahm sie stumm in Empfang. Sein blasses, verschlossenes Gesicht hatte in der fahlen Beleuchtung, die von oben her durch eine Art Schießscharte in den winkligen Raum fiel, etwas Gespenstisches. Wie er Hildegards Namen hörte, blickte er noch verstimmter und mürrischer drein. Er nickte und legte ihr dann, ohne ein Wort zu sprechen, um Füße und Arme die schon bereit gehaltenen stählernen Ketten an. Die Rutenknechte brummten etwas und entfernten sich. Etliche von den Hellebardieren kamen aus ihrem Gelaß hervor, wo sie gewürfelt hatten, und glotzten die Gefesselte neugierig an. Der Kerkermeister schien diese Leute nicht wahrzunehmen. Er packte die halb leblose Hildegard über dem Handgelenk, schloß die eiserne Thür auf und schob sein Opfer hinein. Vom Sims der unregelmäßigen Steinwand holte er eine trüb flackernde Messinglaterne herab, denn der Korridor hatte kein Tageslicht.

„Vorwärts!“ sagte der Mann kurz und geschäftsmäßig.

Das war das erste Wort, das ihm seit Hildegards Ankunft über die Lippen ging.

Von außen bereits hatte das unglückliche Mädchen seltsame Geräusche gehört, die beinahe wie aufbrausendes Sturmgeheul oder entferntes Brüllen und Pfeifen klangen. Jetzt begriff sie, was dieser eigentümliche Lärm war: ein wildes Gemach von Jammern und Weinen und Wimmern, von Fluchen und Beten, das bald emporschwoll und bald in dumpfer Erschöpfung sich legte, das Elend der Eingekerkerten. In den Gelassen da rechts und links stöhnten Dutzende von menschlichen Wesen, einzelne darunter mit grausam zerbrochenen Gliedern, kaum der notwendigsten Pflege teilhaftig, alle von gräßlicher Angst und Seelenqual bis zum Wahnwitz gepeinigt.

Hildegard hatte bei diesen Schreckenslauten den Eindruck als ob ihr das Mark jählings zu Eis gefriere. Jetzt glaubte sie an die Obmacht der Hölle. Die Hölle aber hieß Erde, und die Dämonen, die dort regierten, waren Teufel in Menschengestalt.

Der Kerkermeister brachte sie nach der äußersten Zelle rechts, einem kleinen viereckigen Raum, der – wie der Platz vor der Korridorthür – durch eine schmale vergitterte Maueröffnung unter der Decke ein spärliches Licht bekam. Das war noch ein großer Vorzug; die meisten der Malefikantenzellen hatten nur einen Luftschornstein und blieben selbst bei hochstehender Sonne vollständig dunkel.- Am Boden lag ein Gebund Stroh. Daneben ein schleißender Wollteppich, man konnte nicht recht erkennen, ob grau oder schmutzig. Auf dem dreibeinigen Schemel stand ein mit Wasser gefüllter Krug.

[506] Und nun fiel die schwerwuchtende Eichenthür krachend ins Schloß, die Riegel schoben sich mit mattem Gekreisch vor, die Schritte des Kerkermeisters verhallten.

Hildegard war allein mit ihrer hilflos schauernden Todesangst.

18.

Balthasar Noß war von seiner Geschäftsreise ins Kurmainzische heimgekehrt. Daß diese sogenannte Geschäftsreise nur der leichtfertigen Demoiselle Haricourt galt, die jetzt mit der Zählerschen Truppe in dem kurmainzischen Marktflecken Böhlhausen spielte und dort bessere Gelegenheit fand, sich ihrem neuen Beschützer und Gönner zu widmen, als in Glaustädt, das ahnte nicht einmal die dralle blühende Bärbel, die trotz ihrer ländlich naiven Beschränktheit nicht ohne Scharfblick war, sobald es sich um zärtliche Abenteuer ihres Herrn und Gebieters handelte.

Es war heute Sonntag. Der Ritt aus dem Kurmainzischen her hatte fünf Stunden in Anspruch genommen. Punkt Sechs war Herr Balthasar Noß in Glaustädt eingetroffen, etwas ermüdet zwar, aber doch sonst bei glücklichster Laune. Jetzt, gegen halb Acht, saß er in seinem wohligen Lehnstuhl am weitgeöffneten Fenster und schlürfte behaglich den duftigen schwarzroten Ingelheimer. Die „kalte Küche“, mit der ihn Bärbel empfangen hatte, war ganz vortrefflich gewesen. Die Erinnerung an das Zusammensein mit der bestrickenden Haricourt lag wie ein rosiger Abglanz über dem runden Vollmondsgesicht. Er machte – wie immer nach beendigter Mahlzeit – den Eindruck wunschloser Zufriedenheit und vollkommenster Seelenruhe.

Der Sessel stand etwas erhöht auf einem Tritt von rötlich gebeiztem Kirschbaumholz. Balthasar Noß konnte bequem den dreieckigen Stockhausplatz überblicken, wo jetzt ein frisches, buntfarbiges Treiben herrschte. Am Vormittag hatte es mäßig geregnet. Die Luft war für die Jahreszeit kühl und erquicklich. Aus der Richtung des Gusecker Thors kam eine immer wachsende Schar von Menschen vorüber, heimwärts steuernde Ausflügler und Spaziergänger. Balthasar Noß, die lange Thonpfeife im Mund, schien sich des wechselnden Bildes da drunten aufrichtig zu freuen. Wie er so strahlend und voll gemütlicher Neugier hinabschaute und namentlich die vorbeiwandelnden Frauen und Mädchen musterte, hätte wohl niemand in diesem gutgenährten Spießbürger den allgefürchteten Malefikantenverfolger und Blutrichter vermutet.

Da kam auch Frau Ada, die Ehewirtin des Stadtpfarrers Melchers, mit ihrer schwarzlockigen Tochter Margret. Neben den beiden schritt in kecker, auffallend modischer Tracht der blondbärtige Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck.

„Gotts Donner!“ dachte Herr Noß, „der Fuchs da hat keinen schlechten Geschmack! Er scheint das reizende Lachtäubchen gründlich aufs Korn zu nehmen! Die Frau Mutter lächelt und schmunzelt! Und die hübsche Margret schaut so kreuzverliebt zu ihm auf! Man könnte fast neidisch werden.“

Balthasar Noß ward sich jetzt klar darüber, daß er den hochnäsigen Woldemar Eimbeck nicht leiden konnte. Nur zwei- oder dreimal war ihm der Ratsbaumeister begegnet. Aber der Mensch hatte etwas Unsympathisches, Freches …

Erinnerte übrigens diese Margret Melchers nicht lebhaft an die berauschende Haricourt? Das heißt … natürlich … die Margret Melchers war eine Predigerstochter und eine Kleinstädterin! Aber so um die Augen … Was? Nein! Es fehlte ihr doch das eigentümliche Etwas, der unsagbar verführerische Reiz der Schauspielerin.

Und nochmals schweiften seine Gedanken zu der lustsprühenden, anmutsvollen Französin zurück, die er unter so schwierigen Umständen erobert hatte, denn Glaustädt war doch ein kleines Nest und er, der Zentgraf und Vorsitzer des Malefikantengerichts, durfte sich vor dem Urteil der Welt keine Blöße geben.

Balthasar Noß nickte vergnügt vor sich hin. Im stillen zollte er sich das uneingeschränkteste Lob. Wie meisterhaft er die Sache hier eingefädelt hatte und wie vortrefflich ihm alles gelungen war! Immer selbstzufriedener blickte er drein, immer glückseliger. Und da nun die Pfeife ausgeraucht war, legte er sie vorsichtig neben das halbvolle Glas mit dem schwarzroten Ingelheimer, schloß die Augen, faltete die fettglänzenden kurzfingrigen Hände über dem Bauch und fing leise zu schnarchen an.

Da kam die niedliche, dralle Bärbel und tippte ihn mit ehrfurchtsvoller Vertraulichkeit auf den Rücken. Sie trug ein hochrotes ländliches Mieder, das ihre vollen Arme bis an die Schultern freigab. Wie sie so vor ihm stand, ein bißchen zu klein vielleicht, aber doch kernig und frisch wie eine prächtige Klatschrose, da konnte Balthasar Noß ihr mit dem besten Willen nicht gram sein, obgleich sie ihn mitten aus einer lockenden Traumvision aufgeschreckt hatte.

„Ein vornehmer Herr ist draußen,“ meldete Barbara. „Es eilt, sagt er. Er muß Euch sprechen, Herr Zentgraf.“

„So spät noch?“

„Er läßt sich entschuldigen. Ihr wärt doch vor kurzem erst heimgekehrt. Bis morgen hätt’ er nicht warten können.“

„Hat er nicht seinen Namen genannt?“

„Doch. Aber ich hab’ ihn vergessen. Er ist ein Ratsherr und trägt sich gar fein mit Schleifen. Er sagt, daß er schon öfters mit Euch gesprochen hat.“

„So führ’ ihn herein!“

Balthasar Noß erhob sich. Der da im Rahmen der großen Mittelthüre erschien, war kein anderer als der Tuchkramer Henrich Lotefend.

Die beiden Männer begrüßten sich mit formvollster Höflichkeit.

„Verzeiht,“ hub Lotefend an, „wenn ich Euch lästig falle. Aber die Sache, in der ich komme, ist wichtig genug. Ich weiß nicht, Herr Zentgraf, ob Ihr Euch meiner erinnert. Ich lebe seit einiger Zeit äußerst zurückgezogen.

„Wie sollte ich nicht?“ erwiderte Noß verbindlich, denn die Dukaten des Tuchkramers erfüllten ihn mit aufrichtiger Hochachtung. Einen Mann wie Euch braucht man nicht zweimal zu sehen, um sich seine Persönlichkeit dauernd einzuprägen. Bitte, liebwerter Herr Lotefend!“

Er senkte den Kopf und wies auf den breiten Lehnstuhl, der auf der anderen Seite des Trittes dem seinigen gerade gegenüber stand. Während sich Lotefend setzte, ging Balthasar Noß zu dem kleinen Kredenztisch und holte dem vornehmen Gast eigenhändig ein Spitzglas. Die zweite Flasche, die ihm die sorgliche Bärbel nach Leerung der ersten hingestellt hatte, war noch nicht angebrochen.

Nachdem auch der Wirt Platz genommen, füllte er beide Gläser und sagte weltmännisch lächelnd zu seinem unerwarteten Gast: „Ich halt’ es für selbstverständlich, daß Ihr mir einen guten Schluck nicht von der Hand weist. Ingelheimer Auslese, Herr Ratsherr!“

„Nehme ich dankend an. Die Zunge klebt mir am Gaumen, Euer Hochgelahrter wird das nicht wundern, wenn Ihr erfahrt, in welch aufregender Sache ich hier bin.“

„Redet! Eure Gesundheit, Herr Lotefend!“

Beide Männer führten ihr Glas zum Munde. Der Tuchkramer leerte das seinige mit einem langen durstigen Zug. Während der Zentgraf ihm wieder eingoß, begann Herr Lotefend mit seltsam verschleierter Stimme.

„Ich komme wegen der Hildegard Leuthold. Vielleicht wißt Ihr noch nicht …“

„Doch, doch! Ich fand bei der Rückkehr von meiner Geschäftsreise ein Schreiben Xylanders vor, das mich von ihrer Verhaftung in Kenntnis setzt. Der Fall ist bedauerlich. Niemand zollt dem wackern Magister mehr Teilnahme als ich. Aber was kann ich thun?“

„Viel, Euer Hochgelahrten! Da ich von Eurer Abwesenheit gehört hatte, war ich heut’ vormittag bei Doktor Xylander und später bei Holzheuer. Beide haben mich gleichermaßen an Euch verwiesen …“

„Womit?“

„Nun, mit dem dringenden Ansuchen, das ich dem Tribunal unterbreiten wollte. Selbstverständlich kann es mir nicht im Traume beifallen, irgendwie Nachsicht für das Fräulein zu hoffen, dafern sie schuldig ist. Und nach dem, was ich von Doktor Xylander hörte, scheint ja leider ein fast niederschmetterndes Material gegen sie vorzuliegen. Immerhin könnt Ihr das verzweifelte Los der Unglücklichen milder gestalten und viel Schreckhaftes von ihr abwenden …“

„Wie meint Ihr das?“ frug Balthasar Noß lauernd.

„Seht, Herr Zentgraf … seit die Familie Leuthold nach [507] Glaustädt übergesiedelt ist, bin ich – ohne Ruhmredigkeit – wohl der beste und verwandteste Freund des Magisters. Was ich jetzt hier zur Ausführung bringe, das hätte ich ja unter allen Umständen gethan, auch wenn der Vater selbst für sein Kind hätte einstehen können. Nun aber liegt Herr Leuthold seit dem gestrigen Tag am Gehirnfieber ohne Bewußtsein danieder. Jetzt halt’ ich es doppelt für meine Pflicht …“

„Ihr macht mich neugierig.“

„Die Sache ist einfach genug. Natürlich, das Gesetz kennt kein Erbarmen. Die Schuld muß gesühnt werden. Nur möchte ich darauf hinwirken, daß die Beschuldigte nicht über das Maß des Notwendigen hinaus leidet. Ich möchte ihr, wenn es anginge, die Tortur ersparen. Und das glaub’ ich erreichen zu können. Seit ich bei Doktor Xylander war, bin ich ja leider Gottes von ihrer Schuld nahezu überzeugt. Ein offenes und rückhaltsloses Geständnis wird diese Schuld zwar nicht austilgen, aber doch wohl die Folter unnötig machen. Ich habe nun auf das Gemüt dieses Mädchens einen so starken, zwingenden Einfluß, daß ich mich dreist unterfange, ihren störrischen Sinn zu beugen und sie ehestens zur Vernunft und zur Buße zu bringen. Erlaubt mir also, daß ich allein oder doch höchstens im Beisein des Kerkermeisters mit der Verhafteten spreche. Diese Vergünstigung läuft ja den Zwecken des Tribunals durchaus nicht zuwider. Im Gegenteil. Und zum Dank dafür bin ich bereit, hier eine namhafte Summe zu hinterlegen, die Euer Hochgelahrten für irgend ein gutes Werk – vielleicht zur Entschädigung schuldlos torquierter und späterhin freigesprochener Häftlinge – aufwenden wollen.“

Die Stirn des Blutrichters hatte sich flüchtig umwölkt. Es kam ihm doch etwas unverhofft, daß es ein Glaustädter Bürger und Ratsherr wagte, ihn auf so wenig verhüllte Art zu bestechen. Die Phrase von der Entschädigung Schuldloser klang fast wie Hohn, dieweil sich ein Freispruch vor dem Glaustädter Malefikantengericht bisher nicht ereignet hatte. – Als aber Henrich Lotefend gute Frankfurter und Leipziger Wechsel herauszog, deren Betrag ein kleines Vermögen darstellte, löste sich diese kurze Beklemmung in vollste Genugthuung auf.

„Gut!“ sagte Herr Balthasar Noß mit erkünstelter Förmlichkeit. „Euer Verlangen hat nichts, was dem Gesetz widerstrebte. Wenn sich die Inkulpatin schuldig bekennt und alle Fragen reumütig beantwortet, dann waltet für uns allerdings kein Grund ob, zur Torquierung zu schreiten. Und daß Ihr, der Tochter eines verehrten Freundes, die Qual ersparen wollt, ist nur menschlich, edel und christlich. Wieviel Zeit gedenkt Ihr aufwenden zu müssen, um das verstockte Geschöpf mürbe zu machen? Nach den Mitteilungen Doktor Xylanders ist ihm noch keine begegnet, die so schroff und so hochfahrend alles geleugnet hätte wie diese Hildegard Leuthold.“

„Dem strengen Tone des Inquirenten mag sie wohl Trotz entgegengesetzt haben. Mir aber, dem treuen bewährten Freund, vor dem sie nie ein Geheimnis hatte, mir, des bin ich gewiß, widerstrebt sie nicht lange. Wenn Ihr mir zwei, drei Stunden vergönnt … Vielleicht an verschiedenen Tagen … Denn, wie das Sprichwort sagt: der Baum fällt nicht sofort auf den ersten Hieb.“

„Schön! Das soll Euch gewährt sein. Geduldet Euch einen kurzen Moment!“

Er nahm die beträchtlichen Wechsel vom Tisch und ging mit behäbiger Würde ins Nebenzimmer. Nach zwei Minuten kam er zurück und brachte dem Tuchkramer ein rot untersiegeltes Blatt.

„Hier“, sprach er, „da habt Ihr den Einlaß. Den braucht Ihr nur vorzuzeigen, dann öffnet sich Euch das ganze Stockhaus.“

„Auch heute noch?“ frug Henrich Lotefend.

„Zu jeder Zeit, bei Tag und bei Nacht.“

„Ich dank’ Euch, Herr Zentgraf! Gott soll’s wissen, wie mir das Schicksal des unglücklichen Magisters zu Herzen geht! Und das jungrosige Fräulein selbst …! Ein Jammer, daß sich der böse Feind so liebliche Opfer kürt!“

„Freilich, freilich!“ murmelte Balthasar Noß. „Er treibt’s nachgerade zum Schopfausraufen. Jetzt aber – genug! Und trinkt hier noch einen Schluck von dem Ingelheimer! Was hilft es, wenn sich der Mensch in Gram verzehrt? Das Leben ist kurz, und alles Geseufze ändert die Welt nicht!“

„Das sagt Ihr wohl!“ nickte Herr Lotefend. „Wenn man nur immer den Gram und die Sorge so abschütteln könnte!“

Er machte ein tief schwermutsvolles Gesicht.

„Wann hattet Ihr vor, die Beschuldigte aufzusuchen?“ fragte der Blutrichter.

„Eigentlich ohne Verzug. Aber nun fühl’ ich mich, offen gesagt, etwas zu angegriffen. Das kommt jetzt nach. Und dazu noch die Angst, Ihr könntet mich abschlägig bescheiden! So was drückt auf die Nerven. Ich denke, zuvor mach’ ich erst einen kurzen Erholungsgang. Die frische Luft soll mir aufhelfen! Gott, o Gott, was man nicht alles erlebt!

„Ja, ja, die Zeiten sind ernst! Ach, und glaubt mir, Herr Lotefend: keiner steht so mitten darin wie unsereins! Meint Ihr, es wäre für mich ein Leichtes, Tag für Tag in den Schrecknissen des Daseins zu wühlen? ‚Die Obrigkeit trägt das Schwert nicht umsonst!‘ – heißt’s in der Schrift. Dies Wörtlein ‚umsonst‘ hat für mich einen gar eigenartigen Sinn. Leider Gottes geschieht es ja in der That nicht umsonst! Ich verliere dabei mein Bestes: die glückliche Frohnatur und das Vertrauen auf den endgültigen Sieg des Guten. Ich bin ein schwer geprüfter, innerlich kraftloser Mensch, Herr Lotefend, was man auch sonst über mich reden mag! Und seht Ihr, daß ich Euch jetzt in der Sache der Leuthold gefällig sein konnte, ohne doch meine Pflicht zu verletzen, das labt mich und thut mir wohl wie ein Sonnenblick nach langwierigem Unwetter.“

„Elender Heuchler!“ dachte der Tuchkramer. Er selbst, Henrich Lotefend, heuchelte freilich auch, aber er spielte doch nur Komödie um seiner Liebe willen. Mit Balthasar Noß verglichen, kam er sich, trotz seiner selbstsüchtigen Grausamkeit gegen Hildegard, rein, würdig und edel vor.

Nach kurzer Frist nahm Lotefend Abschied. Als seine Schritte verhallt waren, begab sich der Blutrichter nochmals in das Nebengemach, wo er die Frankfurter und Leipziger Wechsel beiseite gelegt hatte. Er zog an dem eisenbeschlagenen Wandschrank die Schublade auf, nahm die bedeutungsvollen Papierstreifen langsam heraus, hielt sie gegen das Licht, prüfte und las, und nickte dann hochbefriedigt.

„Wenn er kein Ratsherr wäre!“ murmelte er mit teuflischem Lächeln.

Der Gedanke zuckte ihm durchs Gehirn, wie höchst ergiebig es sein müßte, diesen steinreichen Herrn Lotefend vor die Schranken des Tribunals zu fordern. Aber der Mann war ein Ratsherr! Allzu straff wollte denn doch selbst Balthasar Noß den Bogen seiner Malefikantenverfolgung nicht spannen!

[528]
19.

Der Tuchkramer verspürte nach der Verhandlung mit Balthasar Noß ein ungestümes Bedürfnis nach frischer Luft. Die Zeit drängte nicht. Der Besuch im Stockhause vollzog sich sogar besser, wenn der Abend um einiges vorgerückt und die Straßen minder belebt waren. Er schritt also durch die vielfach gewundene Cäciliengasse und erreichte das Harracher Thor, das von sämtlichen Stadtthoren den geringsten Verkehr hatte. Ein leicht erklärlicher Drang führte ihn gerade in dieser Richtung. Jenseit des Harracher Thores lag nämlich ein Bauerngehöft, rings von Erlen und Weiden umbuscht, so daß man nur den Schornstein und ein Stückchen des graugelben Strohdaches zwischen dem Laubwerk hervorlugen sah. In diesem Bauerngehöft standen seit vorgestern drei Pferde bereit, eins für Hildegard Leuthold, eins für Herrn Lotefend und eins für den Kerkermeister Hans Godwin, der, seines freudlosen Amtes längst überdrüssig, dem Golde des Tuchkramers nicht lang widerstrebt hatte und nun gewillt war, mit über die Dernburgsche Grenze zu flüchten. Wenn sich im Stockhaus alles nach Wunsch abspielte, konnte man längst vor Mitternacht schon in Sicherheit sein.

Den Blick auf das halbversteckte graugelbe Strohdach gerichtet, schlenderte Lotefend herzklopfend über den schmalen, tiefgeleisigen Ackerweg. Unweit der Holzbrücke, die nordostwärts über die stark strömende Glaubach führte, stand eine roh gezimmerte Bank. Hier machte der Tuchkramer Halt. Er mußte sich ausruhen. Zwar hatte Herr Lotefend an der Bestechlichkeit des Balthasar Noß keine Minute lang ernstlich gezweifelt. Trotzdem war ihm die glatte, geräuschlose Abwicklung wie ein unheimlicher Glücksfall schwer in die Glieder gefahren und das Bewußtsein, daß er dem Ziel seiner Hoffnung jetzt so unmittelbar nahe gerückt war, trieb ihm das Blut stürmisch durch alle Adern.

So verstrich eine Stunde. Von der Glaubach herauf wehte ein feuchtwohliger Dunst, der ihm die brennende Stirn kühlte und ihm die aufschauernden Nerven beschwichtigte. Gegen halb Zehn machte er kehrt. Wie er ans Harracher Thor kam, hatte der Wächter bereits geschlossen. Mit tiefehrfürchtigen Bücklingen ließ er den vornehmen Herrn ein. Unterdes war es vollständig Nacht geworden. Die schmale Cäciliengasse lag schon wie ausgestorben.

Henrich Lotefend kam an das Stockhaus. Schwarz und wuchtig ragten die ungegliederten Steinmassen zum sternklaren Himmel auf. Der oberste Dachfirst glänzte jetzt eben im Schein des aufgehenden Mondes. Vor dem Haupteingang neben der Wandlaterne blinkten die Hellebarden der beiden Schildwachen: „Halt!“ klang es ihm rauh entgegen, als sich der Tuchkramer dem Eingangsthor näherte. „Hier giebt’s keinen Zutritt mehr.“ Henrich Lotefend hielt das Geleitsblatt des Zentgrafen zwischen den Fingern.

„Für mich doch!“ sagte er leichthin. „Kennt Ihr die Unterschrift und das Siegelzeichen des Vorsitzers?“

„Weist her!“ sprach der Soldat. Er nahm den rot untersiegelten Zettel und hob ihn zu der eisernen Windlampe rechts in der Steinblende.

„Wohl! Das Siegel da kenn’ ich. Desgleichen die Unterschrift. Aber möchtet Ihr nicht so gut sein, mir noch einmal genau vorzulesen, was hier geschrieben steht? ’s ist viel Wasser die Grossach ’nunter geflossen, seit ich zu Marburg die Schule besucht habe. Auch trifft es sich heute für mich zum erstenmal, daß hier ein solcher Geleitsschein benutzt wird.“

Lotefend las.

„Dank’ Euch!“ sagte der Stadtsoldat. „War ja im Grunde nicht nötig. Aber für künftige Fälle weiß ich’s nun …“

Er schlug mit dem Schaft seiner Hellebarde wider die Thorplanken. Es dauerte einige Zeit, bis da drinnen der greinende Stahlriegel aus der Kramme gerissen ward. Eine großdochtige Talgkerze goß ihr unruhiges Rotgelb auf das stumpfsinnig breite Bauerngesicht des Pförtners.

„Was giebt’s so spät?“ fragte der Kerl mürrisch.

„Ich komme im Auftrag des Zentgrafen Balthasar Noß,“ versetzte der Tuchkramer. „Ich bitt Euch, führt mich alsbald zum Verwalter!“

Der Pförtner gehorchte mit seufzender Langsamkeit. Die beiden Erdgeschoßfenster links im Hof hatten noch Licht. Dort war es. Die Thür neben dem Regenfaß. Achtung! Da stand eine Waschkufe …

Der Stockhausverwalter war vor kaum einer Viertelstunde erst heimgekommen und saß jetzt bei dem frugalen Nachtmahl, das er an Sonntagen immer verspätet einnahm. Er hatte die einzigen freien Stunden, die ihm während der ganzen Woche vergönnt waren, zu einem Gang nach der Waldschenke und zum Austrinken zahlreicher Schoppen benutzt, die ihn so schläfrig machten, daß er kaum noch imstande war, seine Suppe zu löffeln. Mühsam erhob er sich. Mit schwerblinzelnden Augen prüfte er den Geleitsschein. „Stimmt!“ knurrte er vor sich hin und strich sich mit der knochigen Hand etlichemal über den Kahlkopf. „Gewiß – der Schein ist in Ordnung. Aber – was ich bemerken wollte … ich bin müde zum Hinschlagen. Könntet Ihr nicht morgen bei Tag wiederkommen?“

„Nein!“ erwiderte Lotefend schroff. „Morgen bei Tag soll die Beschuldigte schon verhört werden, und ich habe die zwingendsten Gründe, noch vor diesem Verhör eine Besprechung zu wünschen.“

„Nichts für ungut, Herr Ratsherr! Ich meinte nur … Weil ich so hundsmüde bin. Und weil ich doch gern in eigner Person … Aber es geht ja auch so. Entschuldigt nur! Der verwünschte Glaustädter Blankwein! Neuling, bring’ den Herrn Ratsherrn schleunigst hinaus zur Malefikantenabteilung!“

Die letzten Worte waren an einen halbwüchsigen Burschen gerichtet, der eben damit beschäftigt war, die Sonntagskleider des weinmüden Stockhausverwalters über die Stange zu hängen. Der Knabe nahm eine Handlaterne vom Sims, steckte sie an und schritt dem Ratsherrn voraus. Ueber unregelmäßig gebaute Gänge und Steintreppen gelangte Herr Lotefend nach dem Vorplatz an der eisernen Thür, wo der Kerkermeister in seinem niedrigen spärlich erleuchteten Holzverschlag hauste. Der Raum der Hellebardiere war bereits leer.

„Godwin, schlaft Ihr schon?“ rief der Bursche des Stockhausverwalters und trommelte mit der Faust wider die Bretterbude. „Ihr werdet verlangt, Godwin! Ein Ratsherr will jetzt gleich ins Malefikantengefängnis. Bringt die Laterne mit!“

Mit erkünstelter Langsamkeit kam der bleiche, bartumwucherte Godwin aus dem Verschlag hervor. Sein Herz schlug nicht minder erwartungsvoll als das Lotefends. Nach einem abenteuernden Leben in Frankreich und Norditalien war Hans Godwin [530] endlich in Glaustädt gelandet, um nicht zu sagen gestrandet. Zwischen den armsdicken Mauern des Stockhauses aß er seit vier oder fünf Jahren einförmig und lichtlos dahinlebend sein trauriges Brot. Wenn er nicht Dienst hatte, fehlte ihm alles und jedes, um seine Freiheit halbwegs zu genießen. Die Bezahlung war so erbärmlich als möglich. Nirgendswo sah man ihn gern; die Kinder liefen ihm aus dem Weg wie dem Scharfrichter, kein Mädchen hätte sich je entschlossen, das Schicksal des Hexenbeschließers zu teilen. So war es dem freigebigen Lotefend nicht eben schwer gefallen, Hans Godwin für die Ausführung eines Plans zu gewinnen, der ihm die Möglichkeit bot, sich jenseit der Grenze mit einem Schlage seßhaft zu machen und sich ein frisches, frohes, behäbiges Dasein zu gründen.

„Wer seid Ihr?“ fragte der Kerkermeister im Ton eines verdrossenen Erstaunens,

Henrich Lotefend wies auch ihm den Geleitsschein. Reuling, der Bursche des Stockhausverwalters, wünschte indes gute Verrichtung und wandte sich mit einiger Unsicherheit zum Gehen. „Ich hab’ noch Arbeit“, sagte er wie entschuldigend. „Ihr könnt wohl selber den Herrn da zurückbegleiten.“

„Ja, ja! Troll dich nur, faule Schlafmütze!“

Der junge Mensch rannte spornstreichs von dannen. Als seine Schritte verhallt waren, unterdrückte der Tuchkramer kaum einen Jubelschrei. „Gott sei Dank!“ raunte er aufatmend. „So weit wären wir glücklich! Und nun, Meister Godwin, haltet die Ohren steif, daß uns der Rest gelingt wie der Anfang! Ehe ich hineingehe, sagt, habt Ihr den Schlüssel zur kleinen Turmpforte?“

„Längst! Davon hing ja doch alles ab!“

„Nicht so ganz. Ich war auf das Schlimmste gefaßt. Aber besser ist besser.“

„Und der Wächter am Harracher Stadtthor?“ fragte der Kerkermeister. „Wird uns keinerlei Schwierigkeit machen. Auch sonst alles in schönster Ordnung. Die Pferde sind ausgezeichnet. Und sicher wie Maultiere. Bis an die Grenze brauchen wir kaum dreiviertel Stunden. Noch vor Mitternacht hoff’ ich Euch die zwei Tausend in gutem Papier auszuhändigen.

„Das gebe der liebe Gott! Ich kann’s wahrlich gebrauchen! Längst schon wär’ ich aus diesem Loch ausgekniffen, wenn nicht die leidige Not wäre, die Sorge ums tägliche Brot!“

Lotefend nickte. „Also fehlt uns jetzt zur Ausführung unseres Fluchtplans nur noch Hildegard selbst. Uebrigens dünkt es mir doch zweckmäßig, daß Ihr sie vorbereitet. Geht und tragt die Laterne da in ihre Zelle! Sagt ihr, es komme ein Freund zu ihr, der mit ihr reden wolle! Ja und löst ihr die Ketten!“

Hans Godwin öffnete mit aller Vorsicht die eiserne Thür und trat in den Korridor, wo rechts an der Steinwand eine matt schwelende Lampe hing. Dann begab er sich, fast unhörbar schleichend, in das Verließ Hildegards.

Henrich Lotefend wartete atemlos vor der Zelle. Er hörte die Stimme des glühend geliebten Mädchens, ohne doch zu verstehn, was sie sagte. Es überrieselte ihn vom Wirbel bis zur Zehe.

Hans Godwin setzte seine Laterne auf einen Mauervorsprung. Leise flüsternd nahm er der freudig Erschreckten die Fesseln ab. Hiernach verließ er sie, lehnte die Zellenthüre nur an, gab dem Tuchkramer ein Zeichen und entfernte sich rasch.

Lautlos glitt Henrich Lotefend in das enge Gelaß und zog die Thür voll ahnender Hoffnung hinter sich zu. Er war mit Hildegard Leuthold allein.

Eine Zeit lang standen die beiden einander stumm gegenüber. Hildegard Leuthold war wie niedergedonnert, als sie in dem späten Besucher den Mann erkannte, der sie so gegen alle Vernunft mit seiner aufdringlichen Liebe verfolgt hatte. Sie ahnte, daß ihr diese Begegnung, trotz der vielverheißenden Anspielungen des Kerkermeisters, nichts Gutes bedeute. Lotefend aber schwelgte im Anblick der hinreißend schönen Mädchengestalt, die jetzt so unwiderruflich in seine Hände gegeben war. Der Hauch von Hilflosigkeit und Verstörtheit, der nebelgleich über dem sanft erglühenden Antlitz lag, erhöhte nur ihren Liebreiz. Ihre Augen glänzten so groß und so fremdartig. Niemals war sie ihm so verführerisch holdselig erschienen wie jetzt.

„Hildegard,“ sprach er dann mit verhaltener Leidenschaft, „ich komme, um Euch zu retten.“

„Ihr?“

„Wundert Euch das? Ihr wißt doch, daß Ihr bei Tag und Nacht mein einziger Gedanke seid. Ich liebe Euch bis zum Wahnsinn. Hört mich an, Hildegard! Wenn Ihr mir folgen wollt als mein getreues Weib, so erschließt sich Euch der Weg in die Freiheit. Jetzt – in dieser Minute noch! Wir flüchten nach Dernburg. Jenseit der Grenze winkt uns ein neues glückliches Leben. Ihr sollt mich schon lieben lernen! Ich will Euch auf Händen tragen als Euer opferwilligster Freund! Meine Ehe wird in Bälde getrennt. Alles ist für unser Entweichen vorbereitet. Ihr braucht nur das eine Wort Ja zu sagen.

Hildegard Leuthold starrte ihn weit geöffneten Auges an. Die entsetzliche Angst, die ihr während der letzten Tage so unablässig das Herz zerfleischt hatte, gewann jählings die Oberhand. In diesem Augenblick sah sie nur eins: die Erlösung aus der unmittelbaren Gefahr, die willkommene Befreiung von Elend, Jammer und Tod. Alles andre, was dann späterhin folgen sollte, kam ihr nur ganz schattenhaft ins Bewußtsein.

Vielleicht auch zuckte ihr ein heimlicher Nebengedanke durchs Hirn, die Zuflüsterung einer entschuldbaren Sophistik. Wenn sie jetzt ihre Einwilligung gab, so war diese Zusage ja gewaltsam erpreßt. Was man ihr unter solchen Verhältnissen grausam abnötigte, das brauchte sie nicht zu halten. Wenn sie nur erst einmal glücklich frei war! Jenseit der Grenze, in der Machtsphäre des Fürsten Maximilian, konnte noch alles gut werden! Sie würde dem Griffe Lotefends noch in zwölfter Stunde entfliehen. Vielleicht, wenn sie ihm recht ins Gewissen sprach, stand er sogar aus eigener Entschließung von seinem Begehren ab und ließ sich großmütig an ihrem heißen Danke genügen. Erwiesene Wohlthaten wirkten ja oft veredelnd auf den selbstsüchtigsten Wohlthäter!

Sie atmete schwer. Lotefend aber hatte ihr Mienenspiel mit dem zersetzenden Scharfblick des Mißtrauens beobachtet.

„Wollt Ihr?“ fragte er eindringlich.

Und da sie nicht Nein sagte, fuhr er mit leise zitternder Stimme fort. „Wenn Ihr denn wirklich wollt, so liefert mir den Beweis, daß es Euch mit dieser hingebungsvollen Absicht ernst ist. Eh’ ich nicht Eure Lippen geküßt und Euch glückselig in meine Arme geschlossen habe, eher halt’ ich mich Eurer nicht ausreichend versichert. Erst wenn Ihr durch einen Schwur die Brücke zwischen Euch und dem andern völlig zerstört habt, erst dann vertraue ich Euch.“

Ein unheimliches Feuer blitzte in seinen Augen. Er trat einen Schritt näher. Im nächsten Augenblick hatte er sie voll schauernder Inbrunst an sich gerissen.

Entrüsteter noch als damals im Studiergemach ihres Vaters stieß Hildegard Leuthold den blindwütigen Angreifer zurück.

„Lieber den Tod!“ ächzte sie dumpf, da er sie endlich frei gab. „Um diesen Preis folg’ ich Euch nie! Gott wird mir schon Kraft verleihen, all dieser Schrecknis muterfüllt Trotz zu bieten. Er wird mich sterben lassen im Glauben und ohne Bitternis. Hätte dies Leben denn Wert für mich, wenn ich den einzig geliebten Mann ehrlos verriete?“

„Ihr seid ihm ja doch verloren,“ murmelte Lotefend. „Kommt zur Vernunft, Hildegard! malt Euch aus, was Euch erwartet! Einen Vorschmack des Fürchterlichen habt Ihr genossen. Ihr habt Euch hier in der Zelle gewunden vor Jammer und Todesangst. Aber was ist das im Vergleich mit der Folter und mit der Einäscherung bei lebendigem Leibe! Hildegard Leuthold, Euer Schicksal ist so gut wie besiegelt!“

Hildegard wandte sich stöhnend ab.

„Noch einmal“, fuhr er mit schmeichelnder Inständigkeit fort, „fügt Euch ins Unvermeidliche! Ihr sollt es niemals bereuen, so wahr ein Gott lebt! Und – ich komme nicht wieder, Hildegard! Ich komme nicht wieder! Wenn Ihr Euch jetzt nicht entschließt…“

„Lieber die Folter! Lieber den Feuertod!“

Der Tuchkramer trat etwas zurück. Sein Gesicht trug den Ausdruck erkünstelter Frostigkeit. „Ich warte noch zehn Minuten! Wenn diese zehn Minuten um sind, verlasse ich Euch. Ihr wißt dann, was Euch bevorsteht.“

Hildegard sank zu Boden. Sie rang wortlos die Hände. Dann schleppte sie sich langsam und wie gebrochen zu dem Ratsherrn heran, umklammerte seine Kniee und stöhnte verzweiflungsvoll: [531] „Erbarmen! Da Ihr mich retten könnt, thut es um Christi willen und aus selbstloser Freundschaft! Ach du mein himmlischer Heiland! Fühlt Ihr denn gar kein Mitleid? Ich bin noch so jung! O, und mein armer unglücklicher Vater! Das Herz muß ihm ja in der Brust zerbrechen, wenn er sein einziges Kind so elend verderben sieht!“

„Es steht bei Euch, ihm dies Weh zu ersparen“ murmelte Lotefend. Er sah nicht den Jammer der lieblich edlen Dulderin, die sich hier vor ihm wie eine Sklavin im Staube wand, sondern lediglich das sinnbethörende reizende Weib. Unerschütterlicher als je stand sein Entschluß, sie um nichts in der Welt loszugeben. Wenn sie an dem verhaßten Arzt festhielt, wenn sie es vorzog, um ihres Treuschwurs willen zu sterben, anstatt mit ihm, ihrem Befreier, zu leben, dann mochte sich ihr Unheil erfüllen. Der Gedanke schien ihm erträglicher, daß diese wonnigen Glieder vom Henker zermalmt würden, als daß sie den glücklichen Nebenbuhler in seliger Liebkosung umschlängen.

Hildegard weinte und wimmerte. Ihre haarüberwallte Stirn berührte jetzt beinahe den Fußboden. Lotefend aber blieb stumm und regungslos.

Plötzlich erhob sie sich. Ihr Antlitz glühte. Ein Blick voll der unsäglichsten Geringschätzung flammte unter den braunen Wimpern hervor. „Ich verachte Euch,“ sagte sie stolz. „Ihr seid nicht wert, daß ein ehrliches Weib vor Euch bettelt.“

Und dann hauchte sie fast unhörbar: „Allgütiger Gott, erbarme dich mein in Gnaden! Ach, und vergieb mir, wenn ich dem teuren Vater nun Weh bereite! Du weißt es, ich konnte nicht anders!“

„Das ist Euer letztes Wort?“ fragte der Tuchkramer.

Sie wandte sich ab und schwieg.

Henrich Lotefend ballte die Fäuste. „Ihr habt’s gewollt! Er nahm die Laterne und schritt zornbebend hinaus. Er hatte sich diesen Weggang aus der Malefikantenzelle anders gedacht. Ein dunkler Drang wandelte ihn jetzt an, sich selbst zu verhöhnen. Als er jedoch von drüben Angstschreie und dumpfes Gestöhne vernahm – das Wehklagen verstummte in dieser Abteilung des Stockhauses nie vollständig – da wuchs ihm augenblicklich wieder die Zuversicht. Noch ein paar Tage Haft und Angst vor der Tortur –. das würde die Halsstarrige mürb’ und gefügig machen und ihr die albernen Gefühlsschwärmereien schon austreiben! Man mußte Geduld haben.

„Sie sträubt sich noch,“ flüsterte er, als Godwin ihn fragend anstarrte. „Legt ihr nur einstweilen wieder die Ketten an! Natürlich geb’ ich’s noch lange nicht auf. Ich komme wieder!“

„Schade,“ murmelte Godwin trübselig. „Und wenn sie nun auch das nächste Mal störrisch bleibt?“

„Das wird sie nicht. Die Folterknechte sind gar beredte Fürsprecher.“

„Wer weiß! Man hat da schon merkwürdige Dinge erlebt …“

„Warten wir’s ab!“ versetzte Lotefend hochfahrend.

Der Kerkermeister brachte ihn nach dem Ausgang. Die beiden Speerwächter ließen ihn schweigend vorüber. Auf dem langen Weg durch die nächtliche Stadt nach der Grossachstraße übersann er die Lage. Er schäumte vor Ingrimm. Wie mußte dies wonnevolle Geschöpf den Doktor Ambrosius vergöttern, um selbst da noch ihm Treue zu halten, wo diese Treue gleichbedeutend war mit Tod und Verzweiflung! Henrich Lotefend fragte sich, ob die Schrecknisse der Haft allein ausreichen würden, Hildegards Hartnäckigkeit zu beugen. Es widerstrebte ihm, ihre blühende Schönheit durch die Marterwerkzeuge des Zentgrafen verunglimpfen zu lassen. Aber wenn es kein andres Mittel gab …?

Als er sein prächtiges Wohnhaus betrat, wo die ahnungslose Mechthildis schon längst schlief, war er mit sich im reinen. Noch einmal wollte er – morgen vielleicht oder übermorgen, sein Heil versuchen, ehe man Hildegard peinlich verhört haben würde. Nach allem, was er bis jetzt erlebt hatte, konnte es nicht gerade schwer fallen, den goldgierigen Balthasar Noß derart zu beeinflussen, daß er mit seiner Folter zunächst Maß hielt. Es gab eine Grenze, wo die Verzweiflung anfing, ohne daß doch der Leib ernstlich beschädigt wurde. Wenn dann Hildegard nur voll Hingebung einwilligte, so würde sie immer noch mit dem Schrecken davon kommen.

[544]
20.

Am folgenden Tage bei schon tief stehender Sonne klomm Doktor Ambrosius schweren langsamen Schrittes die Holzstiege nach seiner Wohnung hinan. Er kam vom Siechbett des todkranken Magisters Franz Engelbert Leuthold, der in den wütendsten Phantasien nach seiner herzlieben Hildegard schrie und zwischendurch wehleidig klagte und winselte oder im Fieberwahn längst zurückliegende Scenen seiner Wittenberger Vergangenheit durchlebte, unruhige Auftritte, Verhandlungen mit feindseligen Amtsbrüdern und Vorgesetzten, ein wahres Chaos nie zu schlichtender sinnloser Verwicklungen.

Doktor Ambrosius war jetzt mit seiner Kraft vollständig zu Ende.

Die lang ausgedehnten Besuche bei dem unglücklichen Vater hatten ihn ebenso aufgerieben wie das fruchtlose Nachsinnen über die Rettung der Tochter. Tag und Nacht hatte er unter Vernachlässigung aller sonstigen Pflichten unaufhörlich gegrübelt und Pläne entworfen, ohne sie doch bei näherem Zusehen für ausführbar zu halten. Auch eine dreistündige Unterredung mit dem Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck, der so reich an Ideen war, hatte zu keinem Ergebnis geführt. Ja, wenn sich das alles um etliche Monate später ereignet hätte, dann wär’ es wohl anders gewesen! Ehe der November ins Land zog, war der vielfach erörterte Handstreich wider den Landgrafen Otto möglicherweise geglückt, Balthasar Noß mit seinen furchtbaren Helfershelfern hinweggefegt und Glaustädt als reichsunmittelbares Gemeinwesen anerkannt. Es war nicht zum erstenmal, daß so der Kaiser eine vollendete Thatsache guthieß, wenn sie ihm nur durch beredte Wortführer klar und in der rechten Beleuchtung dargestellt wurde. Die Kerker, die mit den Opfern des Hexenirrwahns gefüllt waren, hätten sich bei einer solchen Wendung ohne Verzug aufgethan. So aber, wie die Dinge jetzt lagen, schien jeder Versuch eines Kampfes mit Balthasar Noß aussichtslos. Die Sache der großen Verschwörung war noch nicht reif, und mit der bloßen Faust konnte selbst der Mut der Verzweiflung die städtischen Wachtposten und die Mauern des Stockhauses nicht über den Haufen werfen.

Völlig niedergedrückt von all diesen Seelenqualen, betrat Doktor Ambrosius gegen halb Acht das zweifenstrige Mittelzimmer. Er setzte sich vor den Eßtisch, warf sich breit mit dem ganzen Oberkörper darüber und brach in lautes, leidenschaftliches Schluchzen aus.

Da fühlte er auf seiner zuckenden Schulter eine sanfte Hand. Emporschauend, blickte er in das blasse Gesicht Elmas.

„Um Gott,“ stammelte sie bewegt, „liebster Herr, was fehlt Euch? Verzeiht nur, daß ich hereinkam! Aber Ihr hörtet nicht. Ihr weint! Jesus, mein Heiland, das ist so herzzerreißend!“

„Du gutes Kind! Selbst leidest du Kummer und Elend genug – und findest noch eine so liebe Art, mich zu trösten!“

„Ach, ich!“ versetzte Elma, indes ihr die Augen feucht wurden. „Wenn mir’s gegeben wäre, Euch wirklichen Trost zu bringen – das wäre wohl für mich selber der größte Trost. Aber was vermag ich? Ich lebe nur so dahin und komme mir vor wie ein sündhaftes Geschöpf, weil ich noch atmen und essen und trinken kann, während doch meine geliebte Mutter …“

Nun hub sie an, stürmisch zu wehklagen und sich rückhaltlos ihrem Jammer zu überlassen. Ihr armes Mütterchen lag ja beinahe im Sterben, so grausam hatten die Blutrichter ihr zugesetzt. Elma wußte es von dem Stockhausarzte, dem die Opfer der Folter überwiesen wurden, wenn sie nicht mehr vernehmungsfähig waren. Ihr armes Mütterchen befand sich jetzt in der Siechenabteilung. Rudloff, der Altgeselle, hatte den Arzt nochmals gefragt, ohne etliche Wochen sorgsamer Behandlung würde sie das nächste Verhör nicht überstehen.

Doktor Ambrosius erhob sich. Beim Anblick dieser hilflosen Verzweiflung vergaß er für kurze Minuten sein eigenes Elend. Er zog das Kind an sich wie ein treusorgender Vater, der sein Töchterchen gegen die Rauheiten des Unwetters in Schutz nehmen will. Ihr Kopf lag wie versunken an seiner Brust, während ein wildes Erschauern den zarten Körper krampfhaft durchschüttelte.

„Ach,“ sagte sie dann, durch ihre Thränen emporlächelnd, „wie thut das wohl, bei einem treuen Freund sich ausweinen zu dürfen! Mein Freund – – das seid Ihr doch? Beim Vater zuck’ ich mit keiner Wimper. Da getrau’ ich mich nicht …“

„Ist denn der Vater so unwirsch?“

„Das nicht. Aber ich meine, wenn er mich trauern sieht, das erhöht nur seine eigene Qual! Und er leidet entsetzlich. Bei Tag freilich – da geht er mitunter einher, als ob gar nichts geschehen wäre. Er arbeitet und spricht mit den Leuten und ordnet an und befiehlt. Obschon ich ja doch merke, daß ihn das Weh keinen Augenblick losläßt. Aber bei Nacht! Das ist nicht zu beschreiben! Ich höre oft stundenlang, wie er sich schlaflos in den Kissen herumwälzt. Und dann betet er laut, und die Zähne schlagen ihm hart wider einander. Oder er stößt Verwünschungen aus und gräßliche Drohungen.

„Drohungen?“

„Ja. Gegen die Blutrichter. Euch kann ich’s ja sagen … Ihr verratet uns nicht.“

Doktor Ambrosius nahm sich vor, den Zunftobermeister, der seit einiger Zeit mit in der großen Verschwörung war, ernstlich zu warnen und ihm schon jetzt durch Elma einen wohlmeinenden Wink zu geben. Die Spione der Blutrichter zählten nach Hunderten. Selbst in den eigenen vier Pfählen und zu nachtschlafender Zeit war niemand recht davor sicher, daß nicht ein unvorsichtiges Wort aufgefangen und heimtückisch hinterbracht wurde.

„Dein armer Vater sollte doch seinen gerechten Zorn meistern. Drohungen, die du sogar im Nebenzimmer verstehst, sind hier lebensgefährlich. Wenn ich du wäre, sagt’ ich ihm das.

Elma brach von neuem in Thränen aus.

„Ich will’s ihm vorhalten,“ meinte sie schluchzend. „Ja, Ihr habt recht. Man kann ja nicht wissen. Gleich über ihm schlafen die drei Gesellen. Gott, ach Gott, wenn ich auch noch den Vater verlöre! Das einzige, was mir auf Gottes Welt bleibt!“

Doktor Ambrosius küßte sie auf die Stirn. „Sei ruhig, mein Kind!“ sagte er liebevoll. „Noch ist ja wohl nichts versehen! Und jetzt weine nicht mehr! Geh! Mach’ wieder ein frohes Gesicht! Freilich, uns beide nimmt das Schicksal hart genug in die Schule … Da verlernt man das Lachen.“

„Uns beide! Ach wohl! Das war’s ja! Ich ging draußen vorbei und wollt’ in die Bodenkammer. Da hört’ ich Euch stöhnen. Und wie ich nun komme, sprech’ ich von meinem eigenen Leid. Und frag’ Euch gar nicht, was Euch so schwer bedrückt, und ob es in meiner Kraft steht, Euch beizuspringen. Aber das ist ja gewiß schon ungebührlich, daß ich nur so was denke. Wie soll ich unkluges, armseliges Ding Euch helfen können?“

Er setzte sich wieder und zog sie freundlich zu sich heran.

„Nein Elma,“ sprach er mit trüber Stimme und legte den Arm liebreich um ihre Schulter, „helfen kannst du mir nicht! Aber es labt und erquickt mich doch, daß du dich so getreulich um deinen Freund härmst! Und obgleich du noch ein so kleines Mädchen bist, sollst du jetzt doch erfahren, was mich zu Grunde richtet. Du bist reif über dein Alter. Gewiß und wahrhaftig, Elma, ich habe hier niemand, dem ich so ganz ohne Rückhalt mein Herz ausschütten möchte wie dir.“

„O, das ist gut von Euch! Ja, Ihr habt recht! Wenn man so furchtbar gelitten hat, ist das genau, als ob man ein paar Jahre länger gelebt hätte. Ich bin jetzt gar nicht mehr die lustige, übermütige Elma von einst. Ich denke so viel an den Tod … Manchmal erschrecke ich über mich selbst. Also erzählt mir nur alles!“

„Kind, zu erzählen giebt es da blutwenig. Es handelt sich nur um ein einziges schwerwiegendes Wort. Und das will ich dir anvertrauen. Du bewahrst es in deinem Herzen als dein tiefstes Geheimnis. Es wäre nicht gut, wenn es die Welt jetzt erführe. Dir aber sag’ ich’s mit Freuden.“

Sie schaute ihm still und erwartungsvoll in das Antlitz. Er beugte sich nahe zu ihrer aufglühenden Wange.

[546] „Du hast schon gehört, Elma, daß über den wackeren Magister Engelbert Leuthold das nämliche Unglück hereingebrochen ist wie über euch. Man hat ihm die Tochter, das liebste, herrlichste Mädchen von ganz Glaustädt, plötzlich ins Stockhaus geschleppt – unter der gleichen Anklage wie deine gute Mutter …“

„Ja, das hab’ ich gehört,“ flüsterte Elma.

„Nun, siehst du, mein Kind, diese Hildegard, dieses himmlisch süße Geschöpf, steht mir so nahe wie niemand sonst … Sie hat sich mir anverlobt. Sie sollte mein Weib werden. Verstehst du nun?“

Elma blieb eine Weile hindurch regungslos. Nur ihre Wimpern tropften wieder von schwer quellenden Thränen. Aber sie schluchzte nicht. Als sie dann wieder aufblickte, lag über ihrem bleichen Gesicht ein merkwürdiger, fremdartiger Glanz.

„Eure Braut also,“ sagte sie traumverloren. „Wie muß sie glückselig sein in all ihrer Not, da Ihr sie doch so von Herzen lieb habt! Ihr aber … Freilich, das ist ein Elend, nicht auszudenken!“ Sie faltete ihre schmalen Hände.

„Herr Doktor Ambrosius, wenn Euch das trösten kann, ich will für sie beten. Mit aller Gewalt will ich’s dem lieben Gott abringen. Nicht wahr, es steht doch geschrieben. Unser Gebet vermag viel, wenn es standhaft ist …? Es gilt ja doch Euer ganzes zukünftiges Glück! Und seht Ihr, für Euch könnt’ ich gleich alles thun, alles! Ja, schaut mich nur an! Es ist so! Ihr seid so gütig gewesen – gleich von der ersten Minute an! Und Ihr habt dem Vater so liebevoll zugesprochen in seiner Trostlosigkeit! Ob Ihr’s nun glaubt oder nicht. Um Euretwillen könnt’ ich zu den Blutrichtern sagen: ‚Hier, nehmt mich anstatt der Hildegard Leuthold! Die ist nicht schuldbefleckter als ich und noch dazu eine junge glückliche Braut!‘ Nicht wahr, Doktor Ambrosius, wenn ich das thäte, und die Richter nähmen das an, und die Hildegard Leuthold würde dann Eure Frau, dann hättet ihr beide mich lieb auch über das Grab hinaus und hieltet mich Aermste in freundlichem Andenken?“

„Du bist eine treue Seele! Ja, ich glaube dir, Elma, daß du einer so rührenden Selbstlosigkeit fähig wärest. Du hast das Herz dazu und den Mut … Aber ich sitze hier und verträume die kostbare Zeit! Wahrhaftig, das Herzeleid ohne Hoffnung macht auch den Tapfersten lässig. Wenn ich nur wüßte, wenn ich nur wüßte …! Irgend etwas muß doch geschehn, und wär’ es selbst die krasseste Thorheit!“

Nun schob er die Kleine sanft von sich weg. Es war ihm ein Einfall gekommen. Im Rechtsstaat hätte ihm dieser Gedanke zuerst auftauchen müssen. Unter dem Druck des Blutrichtertums hatte er ihn als vollständig aussichtslos noch nicht in Betracht gezogen. Auch jetzt drängte sich ihm die Sache nur auf als ein Mittel, um möglicherweise eine Verschleppung herbeizuführen. Dieses letzte Mittel war die Beschreitung des Rechtsweges. Und wenn er auf diesem Wege auch nur halb so viel Zeit gewann wie in dem Fall der Brigitta Wedekind durch die leider jetzt ausgeschlossene Beeinflussung des Doktor Xylander – es mußte versucht werden. Vielleicht gab die Gesetzgebung doch irgend etwas an die Hand, was man bei geschickter Verwertung als Hemmschuh benutzen konnte. Hierzu jedoch bedurfte man eines Rechtskundigen. Sofort dachte er an den kleinen Notar Rolf Weigel. Die Gewandtheit und Schlagfertigkeit des Mannes war stadtbekannt …

Doktor Ambrosius erhob sich. „Leb wohl, Kind! Ich muß noch hinaus, ehe es Nacht wird.“

„Wollt Ihr nicht erst einen Imbiß nehmen?“ fragte ihn Elma fürsorglich. „Es geht schon auf Acht.“

„Nein, ich danke! Höchstens vielleicht einen Tropfen Milch. Wenn du mir den reichen könntest … Oder halt! Gieb mir einen Trunk Wasser! Die Kehle verdorrt mir, aber ich mag nichts, was Nahrung heißt.“

„Da thut Ihr unrecht. Vater genießt auch so entsetzlich wenig. Und er wird hohläugig.“

„Geh nur!“

Während sie ihm drunten am Hofbrunnen den irdenen Krug füllte, trat er ins Nebengemach und nahm einen dreischneidigen Dolch von der Wand, der da in braunlederner Scheide über dem Bett hing. Die Waffe stammte aus seiner Studentenzeit in Bologna, wo er sie bei sich zu tragen pflegte, wenn er Ausflüge ins Gebirg machte. Vorsichtshalber steckte er diesen Dolch zu sich. Der nächste Weg zu dem Notar führte durch ein abseits gelegenes Viertel über den alten Johannisfriedhof, und man konnte nicht wohl voraussagen, wie lange die Unterredung mit Weigel dauern würde. Ambrosius war seit den Vorkommnissen der letzten Tage ängstlich und mißtrauisch. Er witterte überall drohendes Unheil, Angriffe und heimlichen Ueberfall.

Nach zwei Minuten kam Elma wieder die Treppe herauf. Sie bot ihm ein Glas, das er auf einen Zug leer trank.

„So! Und nun fort! Ich nehme den Schlüssel mit – für den Fall, daß es heut’ spät wird. Laß mir nur ja am Hausthor den Riegel auf!“

„O, ich lege mich nicht, eh’ Ihr zurück seid.“

21.

Fiebernd im Drang seiner erneuten Hoffnung rannte Doktor Ambrosius durch die Gassen und Gäßchen des winkligen Hainviertels und dann quer über den längst außer Gebrauch gestellten Johannisfriedhof nach dem Haus des Notars.

Rolf Weigel war jetzt eben von seinem Abendspaziergang heimgekehrt und saß nun allein in der niedrigen Wohnstube, deren schlicht wertvolle Einrichtung den besten Geschmack verriet. Alles war hier gediegen und prunklos – von dem schwerwuchtigen Ebenholzschrank mit den zwei mächtigen Rundsäulen bis zu der vornehmen altenglischen Wanduhr, deren metallene Zeiger durch die bläuliche Dämmerung mattgolden herüberblinkten.

Rolf Weigel, der neulich bei der Lustspielaufführung in der städtischen Waldschenke den jungen Arzt und Hildegard Leuthold beobachtet hatte, wußte sofort, was Doktor Ambrosius wollte. Er führte den Gast höflich in das anstoßende Schreibzimmer, setzte zwei Kerzen in Brand und rückte ihm einen Korbsessel heran, während er selber dicht vor dem Ofen Platz nahm und den graumähnigen Kopf in stummer Erwartung wider die grünlichen Kacheln lehnte. Mit einer artigen Handbewegung lud er den späten Besucher zum Sprechen ein.

„Ich bin der Verzweiflung nahe!“ begann Ambrosius. „Ihr, mein hochwürdigster Herr Notarius, seid meine letzte Zuflucht.“ Rolf Weigel senkte ein wenig die hohe Stirn, aber er sagte nichts. Doktor Ambrosius fuhr in herzklopfender Aufregung fort.

„Ganz Glaustädt weiß, unter welch krasser Beschuldigung die Tochter unseres allverehrten Freundes Engelbert Leuthold ins Stockhaus geschleppt worden ist. Ich kann mich also hier kurz fassen. Alles, was ich zu sagen habe, besteht in der Bitte. Helft! Rettet! Leiht mir Euren juristischen Rat, wie ich dies furchtbare Schicksal bekämpfen soll! – Mir vor allen Glaustädtern kommt es zu, für Hildegard einzutreten, zumal jetzt, wo ihr Vater lebensgefährlich erkrankt ist. Ich mache Euch kein Geheimnis daraus, daß ich im stillen mit Hildegard Leuthold versprochen bin … Und nun dieser gräßliche Eingriff! Teuerster Herr Notar! Giebt es nicht eine Möglichkeit, dem drohenden Unheil hinterrücks in den Arm zu fallen? Irgend ein Glaustädter Landesgesetz, eine halbvergessene Verordnung, eine verwertbare Glosse? Der kleine Notarius schüttelte schwermütig den Kopf. „Ich fürchte, nein!“ sagte er seufzend. „Erwägt nur eins: das Malefikantengericht des Balthasar Noß ist ein Ausnahmetribunal, wie ja die Hexerei überhaupt als crimen exemptum gilt! Das allerhöchste Dekret hat den Zentgrafen mit so ungewöhnlichen Vollmachten ausgerüstet, daß er kühnlich von sich behaupten kann: Ich bin ebenso souverän wie der Landesherr!“

„Aber das widerstrebt doch jeder gesunden Vernunft!“ rief Doktor Ambrosius, außer sich. „Selbst dem Straßenräuber und Mörder wird doch ein Rechtsbeistand zugesellt, der alles zusammenträgt, was seinen Schützling entlasten kann.“

„Freilich, freilich! So will’s schon die peinliche Gerichtsordnung Karls des Fünften. Aber der „Hexenhammer“ und seine Ausleger haben hier eine gar üble Wandlung geschaffen. Im Hexenprozeß gilt jetzt nachgerade der Grundsatz, daß ein Verteidiger die Wahrheit notwendig verdunkeln müsse, dieweil er unmöglich ein guter Christ sein könne. Der Blutrichter läßt sogar die Vermutung gelten, wer als Rechtsbeistand für Zauberer und Hexen eintrete, der liebäugle selber mit Satanas und sei von ihm zum Nachteile der Gerechtigkeit inspiriert.“

„Unglaublich!“

[547] „Der Trugschluß ist allerdings haarsträubend. Aber was wollt Ihr? Einsicht und Logik dürft Ihr ja doch bei den Anhängern dieser abscheulichen Praxis überhaupt nicht voraussetzen. Und nun vollends hier unter der Schreckensherrschaft des Noß! Was frommt ein mattes Beschönigen! Wir sind vollständig rechtlos! Die Vertretung der Stadt läßt uns elend im Stich. Im Rathaus überwiegen die Elemente, die teils vor Noß jämmerlich zittern, teils sein tollwütiges Treiben aus Ueberzeugung begünstigen. Kunhardt, der Bürgermeister, ist zwar ein guter, wohlwollender Mensch, aber ein Schwächling. Kurz, die Zustände sind geradezu himmelschreiend.

Doktor Ambrosius ließ das Kinn schwer auf die Brust sinken. Nach einer Pause hub der Notar wiederum an:

„Das Reichskammergericht zu Wetzlar hat ja neuerdings auf eingelegte Beschwerden hin mehrfach die Verweigerung eines Verteidigers auch beim Hexenprozeß für unstatthaft erklärt. Das Unglück wollte jedoch, daß die Verfügungen des hohen Gerichtshofes immer zu spät kamen. Die Malefikantenrichter – und namentlich unser Balthasar Noß – haben ein sehr schnelles Verfahren, während die Herren zu Wetzlar … Nun, Ihr kennt ja wohl sattsam den Wetzlarer Schneckengang.“

„Ja ums Himmels willen, hat eine solche Beschwerde denn nicht aufschiebende Kraft?“

„Sie sollte es haben – jeder Billigkeit und Vernunft zufolge. Aber da giebt’s ja leider Gottes Winkelzüge und Ausflüchte genug. Besonders in Glaustädt-Lich, wo sich das Tribunal der wärmsten Fürsorge der Landesregierung erfreut. Und das ist ja die uralte Not in Deutschland: die Fürsten der einzelnen Territorien machen sich gerne so frei als möglich von dem lästigen Gängelbande des Reiches. Mit einem Wort – es ist wenig Aussicht vorhanden, die dauernde Beigebung eines Rechtsbeistands durchzusetzen, und noch weniger Aussicht, daß diese Beigebung – wenn sie wirklich erreicht wird – auch von Erfolg gekrönt ist.

Doktor Ambrosius blickte erregt auf. Mit sämtlichen Einzelheiten stand ihm jetzt ein Fall vor der Seele, den ihm vor etlichen Wochen der gelehrte Jurist aus dem Dernburgschen, Herr Theodor Welcker, mitgeteilt hatte. Dem Scharfsinn und der Rastlosigkeit eines Notars zu Fulda sollte es im Vorjahr geglückt sein, den Malefikantenprozeß eines Buchdruckers monatelang hinauszuziehen, bis es dann möglich ward, durch kunstvoll hergestellte Verbindungen die Gnade des Landesherrn anzurufen. So fand auf allerhöchsten Befehl eine ganz neue Beweisaufnahme statt, deren Ergebnis – ein Treffer unter zehntausend Nieten – die vollständige Freisprechung und Wiedereinsetzung in das beschlagnahmte Eigentum war.

Doktor Ambrosius erzählte das. Der kleine Notar hörte ihm schweigend zu. Er drehte sein langes eisernes Lineal zwischen Daumen und Zeigefinger und nickte zuweilen wie einer, der nachsinnt. „Die Sache ist mir bekannt,“ sagte er endlich. „Ein Fall, der schon aus rein technischen Gründen auf unsere Glaustädter Verhältnisse keine Anwendung leidet. Je mehr ich’s bedenke, um so fester bin ich davon überzeugt, diese Methode würde hier gleich im Beginn scheitern. Die Glaustädter Gerichtsverfassung läßt die meisten von Euch erwähnten Kunstgriffe gar nicht zu – ganz abgesehen von der hochfahrenden Willkür der Blutrichter. Nur ein einziges Mittel wüßte ich noch, um Zeit zu gewinnen. Ein Mittel, das allerdings durchaus nicht ohne Bedenken wäre …“

„Sprecht!“ rief Doktor Ambrosius aufatmend.

„Nun, man müßte die Verwahrung an das Reichskammergericht erst nach erfolgter Verurteilung einreichen.“

„Wieso? Nach erfolgter Verurteilung …?“

Die Verwahrung nach Fällung des Urteils hindert nämlich unbedingt die Vollstreckung. Und zwar höchst wahrscheinlich auf lange hinaus. Es sei denn, daß die Blutrichter sich der Gefahr aussetzen wollten, unnachsichtlich an Leib und Leben gebüßt zu werden. Der Notar, der einem Verurteilten diese Verwahrung zum Unterzeichnen vorlegt, steht unmittelbar unter dem Rechtsschutz des Kaisers. Bis das Reichskammergericht entschieden hat, darf der Zentgraf dem Verurteilten nicht ein Haar krümmen. Das wäre Aufruhr und Hochverrat und könnte den Landesherrn in arge Verlegenheit bringen. Wenn Ihr denn also wirklich glaubt, es sei für Euch und die Beschuldigte wertvoll, daß die Sache verschleppt wird …“

„Aber dann müßte doch Hildegard einräumen, was man ihr schuld giebt! Denn sonst …! Was hülfe zuletzt ihre Befreiung, wenn sie vorher …“

Der Gedanke an das fürchterliche Gespenst der Folter ließ ihm das Wort auf der Zunge ersterben.

Rolf Weigel verstand ihn. „Ein Geständnis müßte sie freilich ablegen,“ sagte er langsam. Darüber sind wir doch längst im klaren: ob sie gesteht oder leugnet – für den Ausgang ihres Prozesses bleibt sich das vollkommen gleich. Durch eine rasche Bejahung alles dessen, was ihr das Tribunal vorhält, erspart sie sich nur die grauenhafte Mißhandlung.

Doktor Ambrosius sprang hastig empor. Er stürzte ans Fenster, dessen geöffnete Halbscheibe die taufrische Nachtluft hereinließ. Er war wie betäubt. Sein Kopf glühte. Es brauste ihm grell in den Ohren.

„Aber das ist ja unmöglich!“ rief er, stürmisch zurückkehrend. „Vor allem: wer soll ihr die nötigen Winke erteilen? Ihr anraten, was Ihr da vorschlagt? Und wenn selbst – wird sie der Weisung gehorchen? Nicht vielleicht gar eine Falle darin erblicken? Und dann – Ihr kennt sie ja nicht! Sie ist zwar ein weiches, hingebungsvolles Geschöpf, aber so stolz und stark! Sie hält vielleicht ein unwahres Geständnis für eine Selbsterniedrigung, für einen sündhaften Verrat am Heiligsten!“

„Man muß ihr das eben begreiflich machen! Wir leben in Zeitläufen, die auch das Ungewöhnlichste rechtfertigen. Beruhigt Euch, Herr Doktor! Ich will morgen am Tag den Versuch machen, sie persönlich zu sprechen. Nein, seid nicht gar zu verzweifelt! Ich handle hier nicht nur als Rechtskundiger, sondern als Freund des wackeren Magisters, als Freund Hildegards und – gestattet mir’s! – auch als der Eure. Die mannhaft verständige Art, mit der Ihr den Stab brecht über das ganze fluchwürdige Institut, hat Euch mein Herz gewonnen. Wenn alle Glaustädter Bürger so dächten wie Ihr und ich, dann wäre das Nest dieser scheußlichen Raubvögel bald ausgehoben. Hier meine Hand! Was wäre der Mensch noch wert, wenn nicht das Alter einmal die Todesgefahr mißachten sollte um der frischblühenden Jugend willen! An mir, Herr Doktor, ist nichts weiter gelegen! Ich verspreche Euch also, mit Aufbietung all meiner Kräfte für Euch und Eure Hildegard einzutreten. Ich bin nicht so ganz ohne Einfluß. Ich werde mir Zutritt in ihr Gefängnis verschaffen. Ich werde ihr klar auseinandersetzen, um was es sich handelt und wie Ihr gerechnet habt. Und ebenso übernehme ich’s, ihr demnächst die Verwahrung zu unterbreiten – und müßt’ ich noch auf dem Richtplatz die Henker zur Seite stoßen.

Doktor Ambrosius umarmte den kleinen buckligen Mann unter Thränen.

„Ich dank’ Euch von ganzer Seele,“ sprach er gerührt. „Ich wußt’ es ja gleich, als ich zum erstenmal Euch ins Auge sah, daß wir Gesinnungsgenossen sind und heimliche Waffenbrüder. Hoffentlich kommt noch einmal die Zeit, da wir uns freimütig zu unserer Meinung bekennen dürfen. Bis dahin schweigen und dulden wir!“

„Und ersetzen durch spürende Klugheit die offene That,“ murmelte Weigel.

„Ein schlechter Ersatz! Nun erst fühl’ ich, wie tief Glaustädt gesunken ist! Aber das schwör’ ich Euch beim Grab meines Vaters, wenn unser Plan fehlschlägt“ – (er dachte hierbei halb an den Plan der Verschworenen halb an den Plan des Notars) – „dann soll dieser Bluthund seinen Triumph nicht erleben! Ich steche ihn über den Haufen wo ich ihn finde und wär’s im Gotteshaus, das er durch seine Gegenwart so schmachvoll besudelt! Ich schwör’ es, ich schwör’ es!“

Er streckte wild schüttelnd die Faust empor.

„Mäßigt Euch und verratet Euch nicht!“ mahnte Rolf Weigel. „Auch diesen Landverderber wird einst sein Schicksal ereilen. Gott ist gerecht und allweise, wenn auch die Menschen in Thorheit wandeln.“

Geraume Zeit noch saß Doktor Ambrosius mit Rolf Weigel in flüsterndem Zwiegespräch. Erst kurz vor Elf nahm er von dem Notar Abschied. Ganz zerwühlt von der qualvollen Herzensangst um die Geliebte und zitternd vor Ingrimm über die rohe Gewaltherrschaft des Zentgrafen, schritt er langsam hinaus in die mondklare Sommernacht.

[557] Die Gassen waren schon beinahe menschenleer. Ein verspäteter Zecher stolperte lallend an den Hausthüren vorüber, pochte hier und da an die Fensterläden und verschwand um die Ecke. Dann alles still. Schwarz und phantastisch hoben sich die Drachen- und Hundeköpfe der Dachtraufen gegen das tiefblaue Firmament ab. Die Häuser links glänzten im Mondlicht; rechts ballten sich schwere, undurchdringliche Schatten.

Wenige Minuten, nachdem Doktor Ambrosius schweren Herzens den Doktor Rolf Weigel verlassen hatte, kam er an die thorlose Maueröffnung des Gottesackers. Der alte, verlassene Kirchhof lag stumm und feierlich in der grasüberwucherten Einsamkeit seiner halb schon vermorschten Grabsteine. Hier und dort ragten breitästige Linden empor. Das Mondlicht rann und rieselte wie geschmolzenes Silber um die sanft rauschenden Zweige und übergoß die Grüfte mit einer glitzernden Schneeflut.

Wer doch hier längst schon gebettet läge! dachte Ambrosius in plötzlicher Weltmüdigkeit. Die verewigten, die hier unter den Steinen und Kreuzen ausruhten, fühlten nicht mehr das furchtbare Verhängnis, das so mitleidslos über der Stadt ihrer Heimat schwebte! Wie war das alles doch so schweigsam und friedlich! Es fehlte nicht viel, und Doktor Ambrosius hätte sich gramüberwältigt in den taufeuchten Rasen geworfen und geweint wie ein Kind.

Da mit einem Male fuhr er zusammen. Er machte Halt. Schritte ertönten durch die lautlose Mondnacht – fern und geheimnisvoll … Es war, als hätte einer der längst verscharrten Schläfer da drunten sein Grab verlassen, um sich noch einmal der jungblühenden Linden zu freuen und der köstlichen Sommerluft. Dem jungen Arzt grauste ein wenig. Er schüttelte sich. Wenn ihm die thörichte Einbildungskraft einen schreckhaften Streich spielte! Krankhaft erregt wie er war, schien ihm dies wohl möglich. Er machte sich Vorwürfe, daß er nicht lieber den weiteren Weg über die Frohngasse genommen und den Kirchhof umgangen hatte, gleich den übrigen Glaustädtern, die sich nach Sonnenuntergang dem verlassenen Gottesacker grundsätzlich fern hielten.

Alsbald aber schämte er sich dieser Anwandlung. Er ging mit ruhiger Bedächtigkeit vorwärts. Nun gewahrte er deutlich eine dunkle Gestalt, die von dem jenseitigen Thor langsam näher kam, nachdem sie gleichfalls einen Augenblick lang gestutzt hatte. Der Mann trug einen schwarzen, faltigen Mantel, dessen schwere Kapuze ihm breit über die Stirn hing. Sein vierschrötiger Wuchs und der wiegende Gang dünkten dem jungen Arzte nicht unbekannt. Und wie dann Ambrosius den seltsamen Nachtwandler unmittelbar vor sich hatte, sah er zu seiner unbeschreiblichsten Aufregung, daß dieser mantelverhüllte Mensch kein anderer war als der entsetzliche Vorsitzer des Malefikantengerichts. – Der lustfrohe Lebenskünstler hatte im Grundviertel jenseit des Kirchhofs heimlich geabenteuert.

Balthasar Noß prallte jählings zurück, als packe ihn bei dieser einsamen Begegnung eine tödliche Angst. Das Gerücht hatte den jungen Mann längst als Hildegard Leutholds Herzallerliebsten [558] bezeichnen. In den scheublickenden Augen des Blutrichters glomm unverkennbar die Feigheit eines bösen Gewissens.

Mehr bedurfte es nicht, um dem ohnehin fiebernden Doktor Ambrosius die letzte Besinnung zu rauben. Unbekümmert um alles, was folgen konnte, vielleicht auch halb unbewußt von der thörichten Hoffnung erfüllt, er werde auf diese Art noch am ersten sein Ziel erreichen, stürzte er auf Balthasar Noß zu, packte ihn mit eisernem Griff und warf ihn rücklings zu Boden.

„Elender!“ ächzte er heiser vor Aufregung. „Bete zu Gott um Verzeihung für all deine Schandthaten! Du kommst nicht mehr lebendig von dannen!“

Balthasar Noß machte verzweifelte Anstrengungen, sich von den Fäusten seines Gegners zu befreien. Doktor Ambrosius aber hielt fest.

„Hört jetzt, was ich Euch sage,“ raunte er ingrimmig und stemmte dem Blutrichter das Knie hart auf die Brust. „Gebt Ihr nur einen einzigen Laut von Euch, so mach’ ich die Drohung wahr! Ich töte Euch auf der Stelle. Er schwang in der Linken den blaublitzenden Dolch. „Mag dann mit mir geschehen, was der Himmel verhängt! Mir ist das Leben nichts wert mehr, falls ich nicht vollende, was ich mir vorgesetzt habe.“

Er ließ den Keuchenden los.

„Steht auf!“ befahl er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch litt. „Tretet hier in den Baumschatten! So. Und nun hört! Ihr habt aus gemeiner Bosheit und Habgier die Tochter Franz Engelbert Leutholds in Haft genommen …“

„Nicht ich!“ röchelte Balthasar Noß. „Doktor Xylander, mein Beisitzer, hat das veranlaßt.“

„Gleichviel. Ihr, Balthasar Noß, führt den Prozeß, und bei Euch ist die Macht, sie frei zu geben. An das elende Ammenmärchen vom Teufelspakt glaubt Ihr ja selbst nicht. Aber an einen Gott werdet Ihr glauben, der den Eidbruch mit ewigen Strafen heimsucht. Wenn Ihr mir nun bei diesem allwissenden Gotte nicht schwört, gleich morgen nach Tagesanbruch das Fräulein aus ihrer Haft zu entlassen und ihre Schuldlosigkeit öffentlich auszusprechen, so stoße ich Euch noch in dieser Minute den Stahl ins Herz! Und auch das müßt Ihr geloben, daß Ihr auf keine Art Euch rächen werdet für diese Nötigung – weder an mir, noch an sonst wem! Könnt und wollt Ihr das schwören bei Eurer Seelen Seligkeit, so mögt Ihr ungekränkt weiterziehen. Andernfalls …“

Er zückte den Dolch.

„Wahrlich, Ihr seid von Sinnen!“ murmelte Balthasar Noß. „Wenn nun die Inkulpatin schuldig ist …! Bedenkt Ihr auch, was Ihr mit Eurem tollkühnen Verlangen Euch anmaßt? Ihr vergewaltigt den höchsten Vertreter unseres allergnädigsten Landgrafen!“

„Fahrt zur Hölle mit Eurem Landgrafen! Der ist kein Vater für seine Unterthanen, sondern ihr Peiniger! Ihr aber schwört jetzt, wie ich’s Euch vorsage, sonst – beim allmächtigen Gott – ist Euer Leben verwirkt!“

Balthasar Noß schaute sich angstvoll um. Aber rings auf dem weiten Friedhofe war es totenstill – und der blindwütige Mann da mit den stählernen Muskeln und dem wildflammenden Blick ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, daß er zum Fürchterlichsten entschlossen sei. Und Balthasar Noß beugte sich. Heimlich schäumend sprach er Silbe für Silbe nach, was Doktor Ambrosius ihm vorsagte. Bei seiner Seelen Seligkeit schwur er, daß er morgen in aller Frühe Hildegard Leuthold entlassen und sich niemals an irgend wem für die erlittene Gewaltthat rächen wolle.

Nun gab ihn der junge Arzt frei. Keuchend und murrend brachte sich Noß den verschobenen Mantel in Ordnung und ging schnell seines Wegs. Innerlich tobte und raste er.

Doktor Ambrosius schaute ihm tief atmend nach. Während der heißen Erregung dieses unerwarteten Auftritts hatte er siegesfroh triumphiert. Je mehr aber die dunkle Gestalt zwischen den Kreuzen und Leichensteinen dahinschwand, um so rascher und peinvoller kehrte die kaum verwundene Beklommenheit wieder. Es schien ihm jetzt beinahe gewiß, daß Balthasar Noß den abgenötigten Schwur nicht halten würde. Ambrosius machte sich die heftigsten Vorwürfe. Er hätte der unseligen Eingebung des Augenblicks unter keiner Bedingung folgen dürfen. Nun war alles verloren, trotz der Bemühungen Weigels, der doch vielleicht einen Aufschub erzielt hätte! Er selbst, Ambrosius, durfte sich auf das Schlimmste gefaßt halten.

Gleichwohl sprach er sich alsbald wieder Mut ein. Der Eid war zu unzweideutig, zu schreckhaft bindend gewesen. Der nämliche Mann, der seine Mitmenschen dutzendweise dem Scheiterhaufen und dem Schwert überantwortete, weil er sie des Verrates an Gott zieh, konnte nicht selber ohne Scheu vor diesem Gott sein. Vielleicht war Balthasar Noß nur in der Form rauher und blutiger, aber bei all seiner Habgier doch ein Gesinnungsgenosse des gutgläubigen Adam Xylander.

Von solchen Erwägungen hin- und hergeschleudert, ging Doktor Ambrosius in trübster Stimmung nach Hause. Elma war aufgeblieben.

„Habt Ihr etwas erreicht?“ fragte sie schüchtern.

Er strich ihr schwermütig über das dunkle Haar.

„Ich hoffe es,“ sagte er halblaut. „Morgen erzähl’ ich dir’s. Gute Nacht, Elma!“ Dann stieg er langsam und trauriger Ahnungen voll die Treppe hinauf.

22.

Als er dann sein Schlafzimmer betrat, war sein Vertrauen auf eine glückliche Lösung vollständig gesunken. Der lauernde Blick, den ihm Balthasar Noß nach dem abgenötigten Eidschwur zugeworfen, malte sich dem Verzweifelnden jetzt in der Rückerinnerung so haßerfüllt, daß er kaum noch begriff, wie er dem tückischen Wicht auch nur sekundenlang hatte trauen können. Und niederschmetternd überkam ihn das dumpfe Gefühl, als öffne sich ihm dicht vor den Füßen der Abgrund.

Geraume Zeit durchmaß er die kleine Stube mit rastlosen Schritten. Er wollte sein pochendes Hirn gewaltsam zur Ruhe zwingen. Doch es gelang ihm nicht. Nun trat er ins Mittelzimmer, riß dort ein Fenster auf und starrte erschöpft hinaus auf den schlummernden Marktplatz, dessen längliches Viereck bald in hellster Bestrahlung aufglänzte, bald sich in bleigraue Schatten hüllte.

Vor der Mondscheibe glitt weißqualmendes, wild zerrissenes Gewölk einher, zu phantastischen Urweltsleibern geballt, zu Lindwürmern und schweifschlagenden Riesenschlangen. Die Wasser des Röhrbrunnens plätscherten müde und schläfrig um die bekränzte Standsäule des Drachentöters – und rechts und links dehnten sich, je nach der Beleuchtung greifbarer oder verschleierter, die märchenhaft altertümliche Stadt, die Giebel und Schornsteine, die Erker, die zackigen Wetterfahnen, die mächtigen, kraus verschnörkelten Dachtraufen.

Jetzt erhob sich von Osten her ein langgezogener, aufstöhnender Windstoß. Seltsame, leis schwirrende Töne durchbrausten die Luft, ein Rieseln, ein Klappern und Kreischen. Dann wieder starre Lautlosigkeit. Ringsher träumende Mondnacht.

Doktor Ambrosius ward plötzlich von wahnwitziger Sehnsucht ergriffen. Fern über den äußersten Dächern ragten die Wipfel des Lynndorfer Gehölzes auf. An dem Saum dieses Waldes führte der Weg entlang, den er damals mit Hildegard Leuthold gegangen war, als er ihr nach der Lustspielvorstellung in der Waldschenke sein volles Herz offenbarte. Wie unvergleichlich schön und gut war sie gewesen! Wie glücklich und hoffnungsreich! Und jetzt …?

Er trat vom Fenster zurück. Von neuem rannte er ruhelos auf und nieder. Er mühte sich krampfhaft, die entschwindende Hoffnung festzuhalten. Aber umsonst. Immer wieder packte ihn der zermalmende Qualgedanke: deine Rechnung ist falsch!

Endlich ging er ins Schlafzimmer. Geistig und leiblich todmüde, setzte er sich auf den Rand der Bettstatt. Eine wohlthätige Willensunfähigkeit übermannte ihn. Von Zeit zu Zeit betastete er die Brusttasche, wo er den Dolch trug. Er sprach sich vor: „Diese Waffe da ist deine letzte Zuflucht!“ Wie? – das blieb ihm noch unklar. Würde er sich in dämmernder Frühe den Weg zu Balthasar Noß bahnen? Oder den Stahl wider sich selbst kehren? Aber wer trat dann hilfreich ein für Hildegard Leuthold? Und was frommte ihr noch die Freiheit, wenn sie den Mann ihrer Wahl draußen nicht wiederfand?

Seine Gedanken verwirrten sich. Er sank schräg über das aufgedeckte Lager und schlief – angekleidet wie er war – ein.

[559] Auch Elma Wedekind genoß in dieser mondhellen Julinacht keiner erquicklichen Rast. Alle paar Augenblicke fuhr sie vom Schlummer empor, meinte, der Tag graue, ihr Vater begehre sie oder die häusliche Arbeit rufe. Halbe Stunden lang saß sie im Bett aufrecht, sann über das traurige Schicksal des Freundes nach und wiederholte sich inbrünstig, daß Hildegard Leuthold bei all ihrem Jammer doch tief zu beneiden sei. Denn das eine konnte ihr ja kein Blutrichter und keine Gewalt der Hölle rauben: daß Doktor Ambrosius sie lieb hatte! Von Hildegard und Ambrosius kehrten ihre Gedanken jedesmal rasch zur Mutter zurück. Sie wunderte sich, daß sie in ihrem unendlichen Weh noch Zeit fand, sich um den Schmerz andrer zu kümmern, die doch kein Band der Blutsverwandtschaft mit ihr verknüpfte. Aber das war ja eben das Rätselhafte: alles, was Doktor Ambrosius betraf, ging ihr ebenso nahe wie das eigene Leid. Ja, sie meinte, fast näher.

Um drei Uhr war es schon völlig Tag. Sie quälte sich noch eine Weile, wieder den Schlaf zu finden. Als dann aber die ersten Strahlen der Sonne über das Gärtchen zuckten und die Wipfel der fruchtbeladenen Kirschbäume in rötliches Gold tauchten, hielt sie’s nicht länger aus. Sie erhob sich schnell, wusch sich und zog sich an und ging nach der Vorderstube, wo auf der Fensterbank am Platze des Vaters die große Hausbibel lag. Als Tochter wohlhabender Eltern hatte sie leidlichen Schulunterricht genossen. Sie las fließend, Gedrucktes sowohl wie Geschriebenes. Nun schlug sie die Bibel auf und vertiefte sich beim Frühlicht des neuen Tages heilbegierig in das ihr längst vertraute Gotteswort.

Der schwere Band öffnete sich beim vierten Kapitel des Predigers Salomonis. Der Vater mußte hier gestern aufgehört haben, denn hier steckte das zopfartig geflochtene Buchzeichen aus rotem Leder. Und was Elma in diesem Kapitel fand, das schien ihr wie ausgewählt für die achtlose Stimmung ihres todbangen Gemüts. Es hieß da wie folgt:

„Ich wendete mich und sahe alle, die Unrecht leiden unter der Sonne. Und siehe, da waren Thränen derer, so Unrecht litten, und hatten keinen Tröster, und die ihnen Unrecht thaten, waren zu mächtig, und so konnten sie keinen Tröster haben.

Da lobete ich die Toten, die schon gestorben waren, mehr als die Lebendigen, die noch das Leben hatten.

Und der noch nicht ist, der ist besser denn alle beide, weil er des Bösen nicht inne wird, das unter der Sonne geschiehet.“

Sie las und schaute dann über das Buch hinweg auf die getünchte Wand, wo jetzt ein schmaler, flimmernder Streifen der Frühsonne sichtbar ward. Sie dachte den Worten der Schrift gramerfüllt nach. Sie fragte sich seufzend, warum das so sein müsse – bis ihr dann heiß auf die Seele fiel, was der Herr Stadtpfarrer Melchers neulich über die Unerforschlichkeit des göttlichen Ratschlusses und die Sündhaftigkeit des Murrens und Grübelns gesagt hatte. Nun senkte sie voll Demut die Stirn, flehte zu Gott um Verzeihung und sprach ein stilles Gebet für all ihre Lieben, auf daß in Erfüllung gehe, was da geschrieben steht. Ich will ihre Thränen trocknen. – Dann las sie voll gläubiger Andacht weiter.

Mit einem Male glitt ein Schatten an ihrem Fenster vorüber, ein zweiter, ein dritter. Aufschauend erkannte sie zu ihrem Entsetzen die gelbgrauen Gewänder und Mützen der städtischen Rutenknechte. Und jetzt pochte es auch schon draußen wider die Hausthür.

Kurz entschlossen streckte sie ihren Kopf durch den kleinen Halbflügel. Ihr Herz krampfte. Aber sie hielt sich wacker. „Zu wem wollt Ihr?“

„Zum Doktor Ambrosius,“ versetzte der Obmann. „Oeffnet ohne Verzug!“

„Ist jemand erkrankt?“ Der Obmann lachte.

„Erkrankt? Wenn dem Herrn Doktor nur selber die Kur anschlägt! Nein, Jungfer! Wir kommen ihn festnehmen. Flink also! Oder ich stoß’ Euch die Thür’ ein.“

„Gleich, gleich! Vergönnt mir nur eine halbe Minute, um ein Gewand überzuwerfen. So wie ich bin, kann ich Euch jetzt unmöglich aufmachen.“

„Gut. Aber trödelt nicht!“

Elma bebte an allen Gliedern. Im ersten Augenblick war ihr zu Mut, als könnte sie keinen Schritt von der Stelle. Dann aber sauste sie wie ein Sturmvogel die steile Holztreppe hinan. Der Eingang zu den Wohnräumen des jungen Arztes war glücklicherweise nicht zugeriegelt. Elma trat geräuschlos hinein. Wie sie dann wahrnahm, daß Doktor Ambrosius vollständig angekleidet auf seiner Bettstatt ruhte, hätte sie beinahe vor heller Genugthuung aufgejubelt! Zweckmäßiger konnte sich das nicht fügen. Ohne sich zu besinnen, rüttelte sie ihn bei der Schulter.

„Flieht!“ raunte sie angstvoll, da er die Augen aufschlug. „Drunten am Hausthor stehen die Rutenknechte. Sie wollen Euch festnehmen. Durch den Garten entkommt Ihr leicht nach der Korngasse. Rechts an dem großen Ahornbaum steht eine Leiter. Wenn Ihr die Leiter mit über die Mauer zieht, haben die Schergen das Nachsehen. Eilt nur, eilt! Ich halte die Spitzbuben so lange noch auf, bis Ihr hinüber seid!“

„Also doch!“ knirschte Ambrosius. „Dank dir, du liebes Kind! Wenn du dich nur nicht selber ins Unheil bringst!“

„O, ich will mich schon ausreden!“

Hastig und doch ohne zu lautes Geräusch klommen die Zwei hinab in das Erdgeschoß. Elma wollte jetzt eben zur Hausthür schreiten um je nach Befund aufzumachen oder noch irgendwie Vorwände für eine weitere Verzögerung zu suchen, als schon ein breitblendender Lichtstreifen in das Halbdunkel der Flur hereinfiel. Rudloff, der Altgeselle, war von dem Pochen erwacht und hatte auf die zornige Drohung des Obmanns hin, sämtliche Insassen sollten für die unbotmäßige Langsamkeit Elmas büßen, sofort geöffnet.

Der Obmann sah noch gerade, wie Doktor Ambrosius im Hausgarten verschwand. Er wollte dem Flüchtling nachstürmen. Aber da stieß er auf ein unerwartetes Hemmnis. Zwischen den Pfosten des schmalen Hinterpförtchens stand bleich und verstört Elma Wedekind. Sie klammerte sich rechts und links mit verzweifelter Anstrengung fest und verlegte ihm so den Durchgang.

„Fort, Hexenbrut!“ rief er empört und suchte sie mit Gewalt zurückzudrängen.

Das Kind stöhnte. Aber der Griff, mit dem sie die Thürpfosten umklammert hielt, lockerte sich auch nicht um Haaresbreite. Die Todesangst um den teuren Mann, der für ihr kindliches Herz der Inbegriff alles Guten, Hohen und Herrlichen war, lieh ihr fast übermenschliche Kräfte.

„Er ist unschuldig!“ rief sie mit geller Stimme. „Ihr habt meine unglückliche Mutter geholt, wollt ihr auch ihn abschlachten?“

„Wahnsinnige!“ schrie der Obmann. „Willst du dich selbst auf den Block liefern? Gieb jetzt Raum, oder ich schlag’ dich zu Boden!“

Die beiden Mitknechte waren herangetreten. Der eine hob bereits seine Stoßwaffe.

„Ihr werdet doch nicht!“ rief der Altgeselle verzweifelt und fiel ihm rasch in den Arm. „Ich bitt’ Euch um Christi willen! Ihr seht ja doch, daß sie völlig von Sinnen ist! Der Schmerz um die Mutter hat sie wie toll gemacht! Und ein wehrloses Mägdlein!“

Etwas beschämt ließ der Knecht seine Waffe sinken. Unterdes hatte der Obmann das verzweifelte Kind doch auf die Seite geschleudert. Bei dem erneuten Anprall stürzte sie rücklings über die steinerne Beetumrahmung, aus deren Mitte der einst so liebreich gepflegte Pfirsichbaum an der Wand emporwuchs. Noch im Taumeln jedoch nahm sie wahr, daß Doktor Ambrosius bereits die Mauer erstiegen hatte und jetzt die Leiter über den First zog. Er hatte den Weg in die Freiheit, von dem sie beim Anblick des grellfarbigen Landschaftsbildes an der Mauer so oft geträumt hatte, glücklich gefunden. Eh’ man ihm folgen konnte, war er vielleicht schon in Sicherheit! Jedenfalls hatte er einen tüchtigen Vorsprung! Der laute Schrei, der sich von Elmas Lippen rang, war fast noch ein Freudenschrei. Dann stöhnte sie schwer auf. Ihr Antlitz entfärbte sich. Sie verlor die Besinnung.

Während die Stadtknechte wild fluchend und drohend das [560] Haus verließen, um dem Entwichenen über die Haingasse nachzusetzen, hob Rudloff das arme Kind auf und trug es fürsorglich in die Wohnstube, wo in dem nämlichen Augenblick der Zunftobermeister erschien – stumm und fahl wie der Tod. Elma ward auf die breite Polsterbank niedergelegt. Der Lehrbursche rannte nach Wasser und Kirschgeist und lief dann zum Bader, während Rudloff der bleichen Bewußtlosen etliche Tropfen einflößte und ihr mit rührender Vorsicht die Stirne wusch. Dem starr dreinschauenden Vater erzählte er unterdes in kurzen gestammelten Worten, was vorgefallen.

Karl Wedekind rang verzweifelt die Hände.

„Laß sie nur sterben!“ sagte er endlich mit einer fürchterlichen Gebärde der Gleichgültigkeit. „Es ist besser, Gott nimmt sie zu sich! Die Bluthunde kommen sonst wieder und schleppen sie fort …! Auch mein Kind, mein einziges, liebes Kind! O, und dann … dann …“

Er drückte die Faust hart auf die zuckenden Wimpern. Aber da quoll keine Thräne. Nur ein gräßlicher Druck lag ihm über den Brauen, als ob da hinter den dumpfschmerzenden Knochen der Wahnsinn laure.

Endlich schlug Elma Wedekind seufzend die Augen auf.

„Wo bin ich?“ fragte sie leise. „Ach ja, lieber Vater, bei dir! Jetzt weiß ich alles wieder … Der schreckliche Mensch …! Wie er mich anschaute! Wie er mich fortstieß! Aber ich hab’ ihm doch standgehalten! So lang’ ich nur konnte! Und Doktor Ambrosius …! O ich hab’s noch gesehen …! Die Stadtknechte kamen zu spät … Gott der Herr wird ihn auch ferner schützen. Ja, gewißlich! Das fühl’ ich tief im Grund meiner Seele!“

„Kind, Kind, was hast du gethan!“ stöhnte der Zunftobermeister. „Wer sich den Häschern des Tribunals widersetzt …“

Elma Wedekind lächelte.

„Freilich! Aber das geht nun wie Gott will! Ich konnte doch nicht …! Nein, das ging nicht. Einer, der in der Welt so nötig ist und so viel Gutes und Großes wirkt und eine herrliche Zukunft hat … O, er sagte mir’s gestern, daß noch alles gut für ihn werden kann! Ich aber bin nur ein Kind, und seit nun die Mutter fort ist, fehlt mir ja doch die Kraft, weiterzuleben. Tröste dich, Vater! Droben im Himmel sehn wir uns wieder! Nein, fürchte dich nicht! Ich spüre das deutlich, mir können die grausamen Leute nichts mehr anhaben.“

„Liebling, was redest du! So ein Fall auf die Steinkante … Davon stirbt man ja doch nicht gleich! Wo fehlt dir’s denn, meine gute, herzliebe Elma? Was? Da über den Hüften?“

„Ich weiß nicht, aber es war mir zu Mute, als ob ich gleich mitten entzwei bräche. Und dann, siehst du, Vater, die Beine und Füße sind mir wie abgestorben. Da sitzt schon der Tod. Ich kann mich nicht rühren noch regen. Und so wird’s denn auch bald heraufkommen bis an das Herz … Bleib’ du nur standhaft, mein armer Vater, und verlier’ nicht den Mut! Auch für dich wird noch einmal die Zeit kommen, wo du dein Weh’ verschmerzest und wieder glücklich und froh wirst. Ich sterbe gern, Vater! Mein Leben hat ja nun einen Zweck gehabt! Und eins noch, Vater …! Komm, beug’ dich hier über mich her! Das muß ich dir ganz leise ins Ohr sagen. Vater, um Gotteswillen, thu alles und jedes, was du nur irgend kannst, um diesen Greueln der Blutrichter ein Ende zu machen! Ich weiß ja nicht wie, aber ich meine, wenn ihr euch alle zusammenthut und dem Landgrafen ehrlich sagt, wie wir leiden … Ach, du wirst schon das Rechte finden, wenn du dir Mühe giebst! Vater, gelobe mir das!“

Der Schreinermeister küßte verzweiflungsvoll ihre Hände.

„Ja, mein Kind, das gelob’ ich dir feierlich! Aber stirb nur nicht, stirb nur nicht! Laß mich nicht so gräßlich allein in dieser traurigen Welt! Was soll ich da noch? Nimm mich gleich lieber mit! Allmächtiger Gott, Elma, was hast du? Elma, Elma!“

Ein leichter Schauer ging durch den zarten Leib, der mit zerbrochenem Rückgrat müde und lebensunfähig auf den Polstern lag. Eine Verletzung der Blutgefäße hatte den Tod beschleunigt. Zuckenden Herzens drückte der Altgeselle der kleinen Dulderin, die er so über die Maßen lieb gehabt, die erloschenen Augen zu. Karl Wedekind aber warf sich mit einem markerschütternden Schrei langwegs auf den Fußboden

[576]
23.

Als Doktor Ambrosius jenseits der Gartenmauer wieder zu Boden gelangt war, wandte er sich keineswegs, wie dies die Rutenknechte voraussetzten, linkswärts, um das Hainthor und die Dernburger Landstraße zu erreichen. Das Einschlagen dieser kürzesten Linie nach dem Stauffheimer Forst hätte aller Wahrscheinlichkeit nach eine Hetzjagd zur Folge gehabt, bei der die Knechte den Vorsprung des Flüchtlings bald schon vielleicht wieder eingebracht hätten, zumal, wenn sie sich drüben im Gasthof „Zur Tanne“ beritten machten, wie dies neulich beim Ausbruch des tollen Küfers geschehen war. Doktor Ambrosius rannte also im Gegenteile nach rechts und bog dann, seinen Schritt mäßigend, nach dem Harracher Thor ab. Von dort konnte er unschwer die obere Grossachbrücke im Lynndorfer Gehölz erreichen und sich dann über Königslautern und Lynndorf ins Freie retten. Der Weg bis zur Grenze war allerdings hier dreimal so weit als der gerade über den Stauffheimer Forst, aber auch ungleich sicherer.

Ruhig und gemessen überschritt Doktor Ambrosius die kleine Holzbrücke der Glaubach – die nämliche, wo vorgestern bei sinkender Dämmerung Herr Lotefend Rast gehalten und noch immer voll Hoffnung hinübergelugt hatte nach dem versteckten Strohdach des Klippengehöfts. Die Pferde des Tuchkramers standen dort immer noch marschbereit. Durch die lautlose Stille des Morgens vernahm Doktor Ambrosius deutlich ihr unruhiges Gestampfe, ohne sich träumen zu lassen, wie das Klippengehöft mit Hildegard Leuthold zusammenhing. Doktor Ambrosius kannte den Bauern persönlich. Im vorigen Frühjahr hatte er ihm das Reißen im Kreuz kuriert. Sofort zuckte ihm der Gedanke durchs Hirn, den Mann sprichst du um einen Gaul an! – Er konnte sehr wohl eine plötzliche Fußverstauchung oder was sonst vorschützen und seine frühzeitige Anwesenheit auf der Harracher Flur durch einen Krankheitsfall in der Nachbarschaft rechtfertigen.

Gedacht, gethan. Er bog die zehn Schritt vom Weg ab und trat langsam in das Gehöft, dessen Thor schon geöffnet war. Der Klippenbauer stand mit unwirschem Blick vor der großen viereckigen Mistgrube und schien über irgend etwas recht Unerbauliches nachzudenken. Bei dem gellenden Anrufe des jungen Arztes fuhr er zusammen wie ein Ertappter. Doch hörte er die Bitte, die Doktor Ambrosius ihm vortrug, mit ruhiger Höflichkeit an, um sie sofort abzulehnen. Die paar Pferde brauche er unumgänglich zur Ernte. Es thue ihm schwer leid, einem so achtbaren Herrn, dem er dazu noch Dank schulde, nicht dienen zu können.

Der Klippenbauer, von dem für Geld alles zu haben war, hätte sich wegen der Ernte gewiß nicht gesträubt, wenn sein Gehöft überhaupt Gäule besessen hätte. Selbst der angebliche Kauf der drei Pferde Lotefends war dem Hausgesind gegenüber nicht für die Landwirtschaft, sondern im Hinblick auf einen vorteilhaften Wiederverkauf erfolgt. Der Klippenhof ackerte seit Menschengedenken mit Zugochsen.

Etwas enttäuscht, machte Ambrosius kehrt und setzte die Wanderung nach Harrach zu fort. Dann bog er vom Weg ab. Die Gusecker Landstraße, die er jetzt eine Viertelstunde lang einhalten mußte, war schon ziemlich belebt. Bauern mit Karren und Handwagen, Weiber mit Körben, Säcken und Holzkiepe eilten geschäftig der Stadt zu. Von dem kreuzgeschmückten Turm der Marienkirche schlug es halb Fünf. Doktor Ambrosius zuckte zusammen.

Der altvertraute, heimische Klang, der so weich dröhnend durch die lauliche Luft schwirrte, brachte ihm die Trostlosigkeit seiner Lage wieder voll zum Bewußtsein. Die Turmuhr von Glaustädt, die ihm so manche Stunde klarbefriedigter Arbeit und glückseliger Hoffnung geschlagen hatte, verkörperte ihm jetzt alles, was er da hinter den grauen Stadtmauern zurückließ. Trostloser Kleinmut überwältigte ihn. Kehr’ du nur gleich wieder um! – so schien dieser lang verhallende Ton ihm zuzurufen, Dich und dein Leben zwar kannst du in Sicherheit bringen; aber was frommt dir’s? Besser, du schaust noch einmal die Wonnen, und giebst dir dann selber den Tod! – Da fiel ihm der kleine bucklige Notar Weigel ein und mit ihm die zahlreichen Freunde und Gesinnungsgenossen, die er in Glaustädt besaß, und die Freunde in Dernburg, die vielleicht doch Mittel und Wege fänden, dem Entsetzlichen vorzubeugen. Was hatte man nicht während der letzten Wochen alles geplant und geprüft! Jetzt, wo für ihn, der doch mit Woldemar Eimbeck die Seele der ganzen Verbrüderung war, so unendlich viel davon abhing – konnte man da nicht zu Entschließungen kommen, die rascher wirkten? Es war nicht das erste Mal, daß eine langer Hand vorbereitete und wohlüberlegte Verschwörung vorzeitig losbrach – und dennoch ans Ziel führte …

Und wie er dies dachte, hob er unwillkürlich die gesenkte Stirn. Von neuem strafften sich ihm die Muskeln, sein Atem ging lebhafter, und mit wachsendem Ungestüm schritt er vorwärts. Um Hildegards willen mußte er aushalten bis zuletzt!

Von Zeit zu Zeit blickte er sich vorsorglich um. Niemand verfolgte ihn. Was sich da über die Landstraße bewegte, schlug fast ausnahmslos die Richtung zur Stadt ein. Die Knechte des Tribunals hatten, wie er vorausgesetzt, seine Spur verloren.

Als er dies eben vielleicht zum sechstenmal mit heißer Genugthuung feststellte, sah er zu seinem unbeschreiblichen Schrecken die Gestalt eines städtischen Rutenknechts nur wenige Schritte vor sich. Der stämmige Mensch trug im Gürtel die kurze Stoßwaffe. Er schritt langsam und gleichmütig daher wie einer, der lustwandelt.

Doktor Ambrosius glaubte sich schon verraten und griff in die Brusttasche, wo sein dreischneidiger Dolch steckte. Er war gewillt, sich um jeden Preis auf Leben und Tod zu verteidigen.

Da bemerkte er, daß der Rutenknecht nicht allein ging. Unmittelbar hinter dem breitschulterigen Kerl, bis jetzt durch ihn verdeckt, kam ein hohlwangiges bleiches Männlein mit kleinen, blinzelnden Augen und scharf gebogener, spitziger Adlernase: der Malefikantenrichter Adam Xylander. Die beiden gehörten augenscheinlich zusammen, also war die Möglichkeit ausgeschlossen, daß der Bursche da einer von den drei Knechten war, die den Arzt hatten verhaften wollen.

Doktor Ambrosius faßte sich schnell. Er grüßte mit Artigkeit und wollte ruhig und gleichgültig an Xylander vorbeischreiten.

Der aber stellte ihn. „Halt, Verehrtester!“ sprach er in halber Verlegenheit, während der Stadtknecht noch ein paar Ellen weiter ging. „Ihr wundert Euch offenbar, daß ich Euch hier so frank anrede? Aber ein ehrlicher Mann ist lobenswerter als ein verstockter. Bertha – Ihr kennt sie ja, meine fürsorgliche Nichte – hat mir unausgesetzt in den Ohren gelegen, daß ich an Euch übel gehandelt, und zwar augenscheinlich zu meinem größten Nachteil.

Adam Xylander in seiner blöden Weltabgeschlossenheit wußte nichts von den freundschaftlichen Beziehungen des jungen Arztes zu Engelbert Leuthold, geschweige denn von dem Gerücht, das den Doktor Ambrosius als stillen Bewerber um Hildegards Hand bezeichnet. Er ward jetzt beinahe zutraulich.

„Seht Ihr,“ fuhr er mit einem garstigen Grinsen fort, das seine gelben Zähne bis an die Wurzeln entblößte, „seit gestern früh schon kämpf’ ich den Kampf mit der besseren Einsicht … Und heute nacht hab’ ich mir’s vorgenommen … Ich wollte Euch noch vor Mittag zu mir bitten …“

„Sehr verbunden!“ sagte Ambrosius.

Adam Xylander klopfte ihm auf die Schulter.

„Thut nicht so, als ob Euch an meiner Kundschaft gelegen wäre! Das heißt die Höflichkeit übertreiben. Aber mir brennt’s auf dem Nagel. Damals, eh’ ich auf’s Land ging, habt Ihr mich wunderbar erfolgreich behandelt. Und Bertha hat recht, was könnt Ihr denn dafür, daß Ihr zufällig im Hause der Malefikantin wohnt? Also verzeiht mir, liebwertester Herr, und laßt mir noch einmal Euren ärztlichen Rat zu teil werden!“

[578] „Wo fehlt’s denn?“ fragte Ambrosius, der wie auf Kohlen stand. „Immer die alte Geschichte?“

„Ach, schlimmer als das! Seid Ihr denn nicht überrascht, daß Ihr mich zu so taufrüher Morgenstunde in freier Gemarkung trefft? Noch dazu mit diesem baumstarken Begleiter dort? Das machen die gräßlichen Nachtstimmen, die mich jetzt keine Minute mehr schlafen lassen. Und geh’ ich allein, dann setz’ ich mich einer gräßlichen Katastrophe aus. Gestern bei meinem Frühgang bin ich zusammengestürzt und hab’ dagelegen wie tot, bis mich zwei Gusecker Fronbauern heimtrugen. Drum begleitet mich jetzt der Stadtknecht.“

„Das sind schlimme Geschichten“, versetzte Ambrosius.

„Ja, und wißt Ihr, was mich am meisten aufregt? Mehr noch als die abscheulichen Nachtstimmen? Das rätselhafte Gefühl, als bestünd’ ich im Grunde aus zwei Personen, als liefe da unsichtbar neben mir ein anderer Doktor Xylander von ganz der gleichen Natur wie ich selbst. Seit vorgestern abend sucht mich diese Empfindung heim, und ich kann sie nicht los werden. Bald stärker, bald schwächer – aber sie weicht nicht. Deshalb dacht’ ich an Euch. Helft mir, eh’ diese Not unheilbar wird!“

Den jungen Arzt überlief ein Frostschauer. Kein Zweifel, der Ausbruch des hellen Irrsinns war bei Doktor Xylander nur eine Frage der Zeit! Und dieser Mann mit dem halb schon wutkranken Gehirn entschied über das Schicksal so vieler Hunderte! Im stolzen Bewußtsein erfüllter Pflicht verhängte er Qualen und Feuertod! Auch über die schuldlose Hildegard sollte er demnächst zu Gericht sitzen! Doktor Ambrosius unterdrückte, was ihm so fürchterlich an die Seele griff. Es drängte ihn vorwärts. Er verlor hier im Zwiegespräch mit Adam Xylander uneinbringlich kostbare Minuten.

„Wenn Ihr erlaubt,“ sagte er teilnehmend, „werd’ ich noch heute in Eurer Wohnung vorsprechen. Etwa um Zwei. Jetzt aber entschuldigt, Herr Stadtrichter! Mein Beruf ist tyrannisch.“

„Halt!“ rief Adam Xylander und faßte den Arzt unvermutet beim Rockärmel. „Wie seht Ihr denn aus? Euer Gewand ist ja weiß wie ein Müllerschurz! Alles voll Kalk – zumal an den Knieen! Als wäret Ihr wo übergeklettert! Niedemann, kommt rasch einmal her!“ Er winkte dem Rutenknecht.

Doktor Ambrosius hatte bei den Worten des Malefikantenrichters und mehr noch bei dem Herannahen des vierschrötigen Kerls ein unheimliches, tiefbanges Gefühl. Er witterte Unheil. Xylander hatte vielleicht Komödie gespielt, der Bursche da war doch einer von den Verfolgern und hatte den Flüchtling ungesehn überholt. Ambrosius war ja nicht sonderlich schnell gegangen.

„Was habt Ihr nur?“ lächelte Adam Xylander, als er bemerkte, wie eigentümlich verwirrt Doktor Ambrosius dreinschaute. „Man sollte fast meinen, Ihr wäret in Wirklichkeit wo übergeklettert … Vielleicht auf nachtverschleierten Wegen der Liebe? Ei, ei, Herr Doktor, was muß die Menschheit an Euch erleben!“

Der junge Arzt wußte noch immer nicht recht, wie er dran war. Diese Scherzworte im Munde des öden, freudlosen Mannes klangen so unnatürlich! Schon überlegte Ambrosius, ob er nicht eilends entfliehen und den Häscher, wenn der ihm nachrannte, mit einem wohlgezielten Dolchstich bewillkommnen sollte. Da sah er die stumpfe Gleichgültigkeit in den Mienen des Knechtes und die unterwürfige Dienstwilligkeit seines Heranschreitens. Er gab also dem Malefikantenrichter in lateinischer Sprache eine ebenso scherzhafte Antwort, schob die Sache auf einen Zusammenprall mit einer schmutzigen Feldkarre und schwatzte noch mancherlei krauses Zeug, während der Knecht sich mühte, ihm von den Aermeln und Kniehosen mit breitklatschender Hand den Staub wegzuklopfen. Dann reichte Ambrosius dem gefälligen Burschen ein Kupferstück, dankte und entfernte sich rasch.

Adam Xylander, von plötzlicher Mattheit ergriffen, hängte sich bei dem Rutenknecht ein. „Auch das werd’ ich noch aufgeben müssen!“ stöhnte er, nach der Stirn greifend. „Gestern hat mir der Gang wohlgethan; heute bringt er mich um.“

Und die bartlosen Kiefer schlugen ihm dumpf widereinander.

Kaum hatte Doktor Ambrosius den Wald betreten, als er zu laufen anhub, was ihn die Beine trugen. Wenn es der Zufall wollte, konnte die Nachricht von dieser Landstraßenbegegnung mit Xylander in kaum dreiviertel Stunden den Zentgrafen erreicht haben. Dann konnte man dem Entflohenen bei kluger Berechnung noch immer den Weg über die Dernburgsche Grenze abschneiden.

Zu seinem großen Glück traf Ambrosius in Königslautern den rothaarigen Hauptmann Fridolin Geißmar, der hier seit mehreren Tagen verweilte, um eine kleine unerwartete Erbschaft flüssig zu machen. Fridolin Geißmar wohnte bei einem alten, bärbeißigen Förster, der gleich ihm ein geschworener Todfeind der Blutrichter war. Doktor Ambrosius kam just von der Nordseite her ins Dorf, als die zwei Männer, von ihren lautkläffenden kurzbeinigen Hunden begleitet, zur Fuchsjagd aufbrachen. Sie begegneten ihm bei der schindelgedeckten Kirche. Im Augenblick war alles erzählt – halblaut, mit vorsichtig scheuen Andeutungen. Der Förster besaß einen gutgehenden sechsjährigen Schimmel, den er dem jungen Arzt sofort zur Verfügung stellte. Die Sache ward aus Gründen der Klugheit in die Form eines Kaufs gekleidet. Der Förster quittierte in Gegenwart seiner zwei Gehilfen über den ganzen Betrag, obwohl Doktor Ambrosius thatsächlich keinen Pfennig bezahlte. Er hatte an barem Geld nur eben das Notwendigste bei sich.

„Gebt mir sofort Nachricht, wenn Ihr in Dernburg angelangt seid,“ bat Fridolin Geißmar, als sich der Flüchtling hinter dem Forsthausgarten leicht in den Sattel schwang.

„Unverzüglich!“ sagte Ambrosius.

Er hob sein Barett, nickte noch einmal dem rothaarigen Hauptmann zu und sprengte dann spornstreichs über den holprigen Feldweg.

Noch lange vor Mittag erreichte er wohlbehalten die Residenz des Fürsten Maximilian, wo er gleich hinter dem Rolandsthor im Gasthof „Zum Einhorn“ abstieg.

Der Wirt wunderte sich, daß ein so vornehm aussehender Herr ohne Gepäck reiste, wagte jedoch keine Bemerkung. Diensteifrig befahl er dem Hausknecht, das dampfende Pferd des Ankömmlings in den Stall zu führen, während er selber dem Gast voranschritt und ihm ein freundliches Zimmer nach der Münzgasse anwies. Doktor Ambrosius reinigte sich vom Staub, ruhte ein wenig und ließ sich Speise und Trank vorsetzen, da er seit gestern mittag kaum was genossen hatte. Dann machte er sich voll Ungeduld auf den Weg zu Herrn Theodor Welcker, dem staats- und weltklugen Teilnehmer an der Glaustädter Verschwörung.

Doktor Ambrosius ahnte nicht, daß es vorwiegend politische Pläne waren, die Herrn Theodor Welcker im Interesse des höchst begabten, aber auch höchst ehrgeizigen Fürsten von Dernburg an die Verschwörung knüpften. Er sah in dem würdigen, langbärtigen Herrn, der ihn mit warmherzigster Güte empfing, nur den begeisterten Vorkämpfer der Freiheit, nicht den fernblickenden Staatsmann, der vor Jahren bereits behauptet hatte, die Zuteilung Glaustädts an den Landgrafen von Lich sei auf Grund eines rechtlichen und historischen Irrtums erfolgt, und der nun im stillen bestrebt war, diesen unleidlichen Fehlgriff durch kluge Benutzung der in Glaustädt herrschenden Mißstimmung gut zu machen. Uebrigens war ja auch die Erbitterung Theodor Welckers gegen das schmachvolle Unwesen des Balthasar Noß durchaus nicht erheuchelt, ebensowenig wie die rein menschliche Teilnahme des vortrefflichen Herrn an dem trüben Geschick Hildegards und ihres heimliche Anverlobten.

Für heut’ erklärte sich Herr Theodor Welcker zu seinem Leidwesen verhindert, mit Doktor Ambrosius eingehend zu verhandeln. Morgen jedoch mit dem Frühesten solle der junge Arzt wiederkommen. Herr Theodor Welcker wolle dann noch zwei andere Dernburger Mitverschworene zur Besprechung heranziehen. Er sei zwar ein alter Herr und über die Stürme des Herzens schon seit Jahrzehnten hinaus, doch begreife er vollständig, daß Herr Doktor Ambrosius in seiner furchtbaren Lage mehr noch an die Errettung Hildegards denke als an die seiner Vaterstadt. Gegenstand der geheimen Erörterung solle die Frage sein, ob man mit Gottes Hilfe nicht etwa beides vereinigen könne.

24.

Balthasar Noß schäumte vor Wut darüben, daß ihm Doktor Ambrosius entschlüpft war. Keine Marter war in seinen Augen grausam genug zur Züchtigung dieses verruchten Gewaltmenschen [579] der die geweihte Person des hochmögenden Zentgrafen und Malefikantenrichters meuchlings angefallen und beinahe erwürgt hatte. Der geleistete Schwur wog dem racheschnaubenden Mann federleicht, auch ohne daß er der Beschwichtigung bedurft hätte, ein abgenötigter Eid sei kein Eid und Verrätern und Missethätern brauche der christliche Staatsbürger nicht Wort zu halten. Den ingrimmigen Haß aber, den Balthasar Noß für Doktor Ambrosius fühlte, ließ er nun mit verdreifachter Wucht an den unglücklichen Opfern aus, die in den Zellen der Malefikantenabteilung schmachteten.

Was Hildegard Leuthold betraf, so nahm er hier während der ersten Zeit noch einige Rücksicht auf Lotefend, der noch einmal sein Heil bei dem Mädchen versuchte. Da sie ihn wieder zurückwies – noch verletzender als das erste Mal – packte den Tuchkramer eine blindwütige Raserei. Er hatte es wahrlich gut mit ihr gemeint! Sie hätte an seiner Seite ein Leben voll Glanz und Wonne genießen können! Und sie verschmähte ihn – um des elenden, hohlköpfigen Fantes willen! Mochte sie denn hilflos in ihrer Halsstarrigkeit zu Grunde gehen! Sollte er – Henrich Lotefend – wie ein feigmütiger Hund Verzicht leisten – und sie trotzdem erretten? Sollte er Zeuge sein, wie die Befreite sich von ihm abwandte und sich dem Nebenbuhler glückberauscht an den Hals warf? Der bloße Gedanke brachte ihn fast zum Wahnsinn.

Als er das Stockhaus verließ, war sein Entschluß gefaßt. Er gab Hildegard Leuthold nun endgültig auf. In heißem Vernichtungszorn machte er sämtliche Vorbereitungen rückgängig. Er lohnte den Kerkermeister Hans Godwin ab, der noch am nämlichen Tage dem Stockhausverwalter den Dienst aufsagte. Er schenkte dem ungeduldig harrenden Klippenbauer die drei Pferde nebst einer stattliche Barsumme. Dann verfügte er sich zu Balthasar Noß und that ihm zu wissen, jeder Versuch, die Beschuldigte zum Geständnis zu bringen, sei fruchtlos gewesen.

Nunmehr ging Balthasar Noß ohne Rückhalt ins Zeug. Der Antrag des Notars Weigel um etliche Wochen Frist, behufs Vorbereitung einer sachgemäßen Verteidigung, war gegen die einzige Stimme Adam Xylanders abgelehnt worden. Man hatte dem kleinen buckligen Rechtsgelehrte überhaupt nur ein einziges Mal – auf die besondere Verwendung des Bürgermeisters Georg Kunhardt hin – den Zutritt zur Inkulpatin gestattet, und auch dies nur für den Fall, daß sich Herr Weigel die Gegenwart des Beisitzers Adam Xylander gefallen lasse. Adam Xylander befliß sich bei dieser Gelegenheit einer fast wohlwollenden Haltung, dieweil er sich ja persönlich von der Malefikantin verfolgt glaubte und doch beileibe nicht rachsüchtig erscheinen wollte. Im Widerspruch mit der Verfügung des Tribunals blieb er während der kurzen Besprechung Weigels und Hildegards draußen im Korridor. So fand Weigel die Möglichkeit, seiner Klientin unbelauscht die nötigen Ratschläge zuzuflüstern.

„Wenn Ihr vertraut,“ sagte er eindringlich, „daß ich ein Ehrenmann und Euer wohlmeinender Freund bin, so bekennt Ihr unzögernd alles, was man Euch abfragt! Kein vernünftiger Mensch glaubt ja an Eure Schuld – aber gesteht! Das erspart Euch die Folter. Nutzen würde das Leugnen doch nichts. Erst wenn Ihr verurteilt seid, kann ich hier mit Erfolg eingreifen. Das klingt rätselhaft, aber es ist so. Ich lege Euch dann im letzten Augenblick eine Urkunde vor, die beim Reichskammergericht Protest erhebt. Diese Protesturkunde zieht einen Aufschub von sechs bis acht Wochen nach sich. So gewinnen wir Zeit. Auch Doktor Ambrosius hat diesen Plan gutgeheißen.

Hildegard hatte sich an der ruhigen, tiefernsten Art Rolf Weigels merkwürdig aufgerichtet. Bei dem Verhör, das drei Tage darauf stattfand, befolgte sie seinen Rat rückhaltslos – zum größten Erstaunen des Balthasar Noß und zur wärmsten Befriedigung Adam Xylanders, der fest überzeugt war, das fromme und mannhafte Zureden Lotefends habe nun doch nachträglich seine Früchte gezeitigt.

Schon gewann es den Anschein, als würde die Sache sich vollständig so abspielen, wie Rolf Weigel dies vorgesehen: ein ausgiebiges, glattes Geständnis und danach die mildere Form der Verurteilung. Wie nun aber der Vorsitzer bei der dritten Vernehmung das übliche Ansinnen stellte, Hildegard solle Mitschuldige namhaft machen, versetzte sie kurz und standhaft. „Ich weiß von nichts.“

Sie verharrte bei dieser Aussage selbst dann noch, als Noß, erbittert über den ruhigen Stolz ihres Blickes, den Knechten winkte. Auf die Verwendung Adam Xylanders hin glaubte das Tribunal jedoch, von der Torquierung Umgang nehmen zu sollen. Adam Xylander vertrat hier wiederum die schon mehrfach geäußerte und bethätigte Ansicht, man dürfe gerade im vorliegenden Falle nicht zu mitleidslos vorgehen, damit es nicht aussehe, als ob er, der schwer geschädigte Beisitzer, ein persönliches Moment in den Prozeß hineintrage. Uebrigens habe sich die Inkulpatin geradezu als ein Unikum schätzbarer Willigkeit und Wahrheitsliebe jetzt gezeigt, daher man ihr glauben könne, daß ihr Gedächtnis sie bezüglich des einen Punktes wirklich im Stiche lasse. Es sei dies vielleicht die Rache Beelzebubs, der die treulos gewordene Malefica schädigen wolle, weil sie – im Widersprach zu den eingegangenen Verpflichtungen gegen die Hölle – auf sämtliche Fragen so bußfertig Ja geantwortet.

Da Balthasar Noß ohnehin wünschte, die Strafsache gegen Hildegard Leuthold thunlichst schnell zum Abschluß zu bringen – er hegte die unklare Furcht, Doktor Ambrosius und der Notar Weigel möchten ihm irgend was in den Weg legen – so stimmte er diesen Erörterungen Adam Xylanders großmütig bei. Hildegard Leuthold ward abgeführt.

Am folgenden Tage fällte das Tribunal einstimmig das Verdikt. Schuldig. In Anbetracht des offenen Geständnisses sollte die Hexe nicht lebendig verbrannt, sondern zuvor durch das Schwert vom Leben zum Tode gebracht werden. Der Gerichtsschreiber fertigte mit kunstvollen Schnörkeln die Verdammungsurkunde aus, die Richter unterzeichneten sie, und Balthasar Noß drückte in würdevoller Bedächtigkeit sein großes Insiegel darauf.

Hildegard Leuthold litt inzwischen unsäglich.

Die Zweckmäßigkeit der Weigelschen Ratschläge wurde ihr, bei allem Vertrauen zu dem Notarius, nach längerem peinlichen Nachdenken doch fraglich. Daß es für den Ausgang ihres Prozesses gleichgültig war, ob sie gestand oder nicht, das wußte sie längst. Aber daß die Schritte zu ihrer Rettung besseren Erfolg versprachen, wenn man sie erst nach geschehener Verurteilung that – diese verzwickte und nur durch die willkürlichste Beugung des Rechts ermöglichte Sachlage schien ihr mit jedem Augenblick unbegreiflicher.

Zuletzt gewann sie die Ueberzeugung, Rolf Weigel selber sei vollständig hoffnungslos, er habe ihr nur die Pein abkürzen und ihr eine betrügliche Kraft mit auf den Weg geben wollen.

Der Kampf der Verzweiflung aber, der ihr so stürmisch die Brust durchtobte, währte nur kurze Zeit. Dann stumpfte sich alles ab in ruhige, willenlose Ergebung. Sie war nun mit sich und der Welt fertig. Von dem Notar wußte sie, daß ihr Vater noch immer todsterbenskrank lag, und daß Doktor Ambrosius vom Tribunal verfolgt, aber glücklich entkommen war. Es erfüllte sie anfangs mit unendlichem Weh, daß sie die beiden geliebten Menschen nicht noch einmal ans Herz drücken und ihnen sagen durfte, wie sie noch in der letzten Minute ihrer gedenken und die Liebe zu ihnen mit hinaufretten würde ins Reich der Verklärung. Dann aber fand sie sich auch mit dieser Schicksalsfügung zurecht. Gott der Allmächtige hatte es so gewollt. Seine himmlische Huld würde die teuren Vereinsamten trösten und den wühlenden Schmerz mit der Zeit mildern. Vielleicht – und beinahe wünschte sie das – nahm Gott ihren Vater bald zu sich. Es dünkte ihr schon eine himmlische Wohlthat, daß ihm die Glut des Fiebers jetzt gerade den Geist umnachtete. Gustav Ambrosius aber war noch so jung! Der konnte von diesem Leid noch genesen – und nach Jahren vielleicht glücklich werden im Besitz einer andern …

Sie betete viel während dieser entsetzlichen Zeit. Das Bild ihrer verstorbenen Mutter, das ihr damals in jener glücklich-seligen Abendstunde nach der Verlobung so greifbar lebendig vor die Seele getreten war, umschwebte sie jetzt zu allen Stunden mit seiner trostreichen Allgegenwart.

[587] Als Hildegard Leuthold am Morgen des Hinrichtungstages nach einem langen, tiefen Schlummer erwachte, fühlte sie sich wunderbar gestählt und gefestigt. Die erste Empfindung, die ihr die aufatmende Brust schwellte, war heiliges Mitleid mit dem verblendeten Zeitalter, das solche Grausamkeiten ermöglichte, mit der armen, gequälten Menschheit, die sich selber in ihrem gräßlichen Irrwahn zerfleischte, ja, selbst mit den Richtern und Malefikantenverfolgern, in deren Gemütern es bei all diesen Greueln aussehen mußte wie im Abgrund der Hölle. „Gott, vergieb ihnen,“ flehte sie mit den Worten des Heilands, „denn sie wissen nicht, was sie thun!“ Und plötzlich ergriff sie ein lichtes Ahnen, daß mit dem heutigen Tag alles zu Ende sei …

Es war um die achte Morgenstunde, als ihre Zelle sich öffnete. Der Kerkermeister verkündete ihr, daß sie sich für den Nachmittag halb Vier bereit halten solle. Sie hörte das, ohne sonderlich zu erschrecken. Sie entsann sich jetzt ihres Traums … Die liebe Mutter hatte ihr ja die Hand auf die Stirn gelegt und ihr zugeflüstert. Das ist die letzte Nacht!

Kurz darauf erschien der Stadtpfarrer Melchers. Er war im vollen Ornat, bleich und düster wie je. Als er die Schwelle beschritt, zuckte es ihm über das schöne, ernste Gesicht, als wollte er stürmisch in Thränen ausbrechen. Aber er faßte sich. „Hildegard“, sagte er schwermutsvoll, „das ist ein trauriges Wiedersehen!“

„Mein ehrwürdiger Freund,“ flüsterte sie mit großleuchtenden Augen, „glaubt Ihr an meine Schuld?“

„Ich glaube,“ versetzte der Priester, die Hände faltend, „daß wir allzumal Sünder sind und des Ruhms ermangeln, den wir vor Gott haben sollten. Du, meine Tochter siehst nicht aus wie eine, die schwerer gefehlt hätte als die meisten von uns. Aber das Tribunal hat gesprochen. Mir, als dem Diener des Heilands, steht es nicht zu, dies Verdikt zu bemängeln. Ich komme, dir den Trost unsrer heiligen Kirche zu spenden. Draußen wartet Sidonius, mein Küster, mit dem Sakrament. Willst du mit deinem Schöpfer dich aussöhnen? Willst du beichten und dann gestärkt im Glauben zum Tische des Herrn gehen?“

„Das will ich!“ schluchzte sie leise. Nun kniete sie nieder und betete lange und inbrünstig. Der Geistliche hielt unterdes mit bebenden Lippen die Hand auf ihr gebeugtes Haupt, als ob er sie segne. Durch die fußbreite Luke unter der Zellendecke glitt ein verlorner Sonnenstrahl über sein Antlitz und umströmte ihn mit sanft leuchtender Glorie. Als Hildegard aufsah, wirkte das auf ihr bedrücktes Herz wie ein himmlisches Wunder.

[588] „Ich bin bereit,“ sagte sie flüsternd.

Der Stadtpfarrer ging hinaus und kehrte alsbald mit seinem Küster zurück, der auf silberner Platte die heiligen Gefäße trug.

Hildegard Leuthold strich sich das überfallende Haar aus der Stirn, als müßte sie jetzt auch äußerlich für die heilige Handlung sich vorbereiten. Dann kniete sie abermals auf die Steinfliesen und hob ihr süßes Gesicht voll gläubiger Unschuld zu dem Priester empor, der feierlich zu ihr herantrat. Mit den Worten der Schrift, die da beginnen. „Unser Herr Jesus in der Nacht, da er verraten ward –“ reichte er ihr die Hostie und dann den geweihten Trank. Sie genoß beides verklärten Blicks. Aufsehend küßte sie dem frommen, ehrwürdigen Manne die Hand.

„Ich sehe, mein Kind,“ sagte Herr Melchers leise, als sich der Küster Sidonius wieder entfernt hatte, „du bist stark – und wohl vorbereitet. Fürchte dich nicht vor denen, die da den Leib töten, aber die Seele nicht können töten! Du bist das Opfer eines abscheulichen Irrwahns – vielleicht einer grausenhaften Verleumdung. Aber wärest du noch so sündhaft: wer seine Sünden bereut, von dem gelten die Worte, die einst der Heiland am Kreuz zu dem bußfertigen Schächer sprach: „Wahrlich, ich sage dir, du wirst noch heute mit mir im Paradiese sein!“ Halte dich standhaft, meine geliebte Tochter, und ermüde nicht im Gebet, bis alles vorüber ist! Glaube mir, Gott legt dir nicht mehr auf als du tragen kannst! Ich verlasse dich jetzt. Eh’ du den schweren Gang antrittst, bin ich hier wieder zur Stelle. Ich werde dir als letzter irdischer Freund das Geleit geben.

Herr Melchers neigte trübselig das Haupt und entfernte sich. Kurz darauf kamen die Henkersknechte, um die Verurteilte für den letzten Gang nach Vorschrift zurecht zu machen. Es waren zwei handfeste rohe Gesellen, die sich sonst nicht entblödeten, bei dieser gräßlichen Obliegenheit ihre gefühllosen Scherze zu treiben. Vor der stillen Hoheit dieser jungfräulichen Gestalt aber verstummte ihr bübischer Witz. Lautlos und fast widerstrebend thaten sie, was ihres Amtes war. Sie trennten mit ihrer Schere den Kragen von Hildegards Wollgewand los und baten sie dann, selber das Haar zu lösen, das sie seit etlichen Tagen nicht mehr flocht, sondern zum einfachen Knoten schürzte. Ach, dies lichtbraune Haar! Voll und breit wallte es über die Schultern wie ein kostbarer Mantel! Von jeher war es der ganze Stolz ihres Vaters gewesen! Und Gustav Ambrosius hatte gesagt, wenn er ein Dichter wäre, würde er auf Hildegards schönes Haar tausend Sonette dichten. Nun fiel es unter dem Stahl dieser Henkersknechte wie reife Kornähren!

Die Unglückliche hielt sich bei alledem standhaft. Ihr Herz wandte sich demütig zu Gott, und der Glaube verließ sie nicht, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum besten dienen. Einmal nur zuckte sie qualvoll zusammen. Das kalte Eisen hatte sie derb im Nacken berührt. Es war wie das schauernde Vorgefühl des entsetzlichen Richtschwertes.

Als die zwei Knechte gegangen waren, empfand Hildegard eine plötzliche Anwandlung von Schwäche. Da rings am Boden lagen die lichtbraunen Strähnen, die noch vor kurzem ein Teil ihres Leibes und Lebens gewesen. Sie kam sich mit einem Male so hilflos, so über die Maßen entwürdigt vor. Es war, als sei erst jetzt ihre Verurteilung endgültig besiegelt. Aber auch jetzt fand sie Kraft im Glauben.

Der Kerkermeister – ein alter, weißlockiger Vlamländer von großer Bedächtigkeit – kam, um Hildegard Leuthold zu fragen, ob sie noch einen Wunsch habe. Am letzten Tage ward den Verurteilten mancherlei freigestellt, insbesondere auch die Wahl ihrer Speisen und der Empfang von Besuchen. Hildegard Leuthold versetzte gleichmütig, daß sie auf alles Verzicht leiste. Da ihr nun aber der Vlamländer vorstellte, sie müsse doch Nahrung nehmen und einen Trunk, um sich aufrecht zu halten, bat sie um etliche Bissen Brot und einen Schluck Rotwein.

Dann bückte sie sich und raffte die abgeschnittenen Haarsträhnen zusammen. „Wollt Ihr ein gutes Werk thun“, sprach sie voll scheuer Befangenheit, „so verbrennt das! Ich möchte nicht, daß irgend wer Unfug und Spott damit triebe!“

Der Vlamländer nickte zerstreut. „Und verkaufen könnt Ihr’s ja doch nicht,“ fuhr sie errötend fort „denn das Haupthaar der Hexe bringt ja ewiges Unheil!“

„Freilich,“ brummte der Mann, „das wär’ eine Todsünde. Eigentlich gehört’s ja dem Scharfrichter. Nun, ich will’s schon verantworten. Her damit!“

25.

Um drei Uhr nachmittags begann das unheilverkündende Armesünderglöckchen auf dem höchsten Turmgestühl der Marienkirche sein klägliches Wimmern. Es „kleppte“, wie man in Glaustädt sagte. Schrill und dünn, und trotzdem weithin vernehmbar, scholl dies Geläute über die Giebel und Dächer bis hinaus in die entlegensten Viertel.

Auch der unglückliche Magister in dem Haus an der Grossachstraße hörte es klar und deutlich auf seinem Siechbett. Es war heute zum erstenmal seit Herrn Leutholds Erkrankung, daß es da droben „kleppte“. Im Irrwahn des Fiebers aber mißdeutete er diesen gräßlichen Ton. Er fuhr empor und brach in lauthallenden Jubel aus.

„Gertrud,“ schrie er dann ungestüm, „Gertrud! Ich bitt’ Euch um alles, bringt mir schleunigst mein Festgewand! Hört Ihr die Glocken? Meine Hildegard macht jetzt Hochzeit! O das herzige Kind! Wie schön sie ausschaut in ihrem schneeigen Brautkleid! Wie frischgrün ihr der Myrtenkranz über dem lichtbraunen Haar sitzt! Eilt Euch! Ihr Vater muß doch dabei sein, wenn sie den Segen des Herrn empfängt! Sie hat ihren Vater so lieb gehabt! Wartet noch, bester Herr Pfarrer! Ich komm’ ja im Augenblick. Gertrud! Warum laßt Ihr mich so im Stich? O, dies wundervolle Geläute! Wie traut! Wie herrlich! Und ich werde zu spät kommen!“

Er sank wieder zurück in die Kissen. Die ängstlich starrenden Augen schlossen sich. Dann lag er bewegungslos und atmete schwer und dumpf, während Gertrud Hegreiner im Nebengemach schluchzend die Hände rang.

Das Armesünderglöckchen wimmerte auch hinab in die Weylgasse, wo Ephraim, der gelähmte Sohn der halb erblindeten alten Frau, hohläugig und aschfahl in seinem Stuhl kauerte. Die Mutter schien bei der ganzen Sache gleichgültig und stumpf. Es war ihr nichts Neues, daß scheinbar tugendsame und gottesfürchtige Jungfrauen plötzlich der Hexerei überführt und gerichtet wurden. Hildegard Leuthold war ihre Wohlthäterin gewesen – ja! Aber wenn diese Wohlthaten aus einer Seele kamen, die sich dem Teufel verschrieben hatte, dann schuldete sie ihr keinerlei Dank, und es war auch kein Segen dabei … Ephraim aber zerquälte sich seit der Verurteilung Hildegards mit unsäglichen Zweifeln. In seiner Herzenseinfalt hielt er es rein für undenkbar, daß der Gerichtshof den Tod verhängte, wenn Hildegard unschuldig war. Und doch sprach ihm tief in der Brust eine unüberhörbare Stimme fortwährend zu ihren Gunsten. Er rief sich die Engelhaftigkeit ihres Lächelns, die bezaubernde Anmut ihrer Mildherzigkeit und Güte ins Gedächtnis zurück und fühlte von Tag zu Tag mehr, daß sie ihm trotz ihrer Sünden teurer sei als irgend was auf der Welt. Nun klang das furchtbare Glöckchen zu ihrem letzten Gang. Das packte und schüttelte ihn mit jähem Entsetzen. Und gleichzeitig überrieselte ihn die Sehnsucht, einmal noch dies holde, liebreizende Antlitz zu schauen, das während so vieler Wochen des Leids und der Not seine Sonne gewesen, das ihm noch an dem Tag ihres Unheils Trost gespendet und frohe Verheißung. Qualvoller als je empfand er die elende Hilflosigkeit seines Zustandes.

Plötzlich riß man die Thür auf. Lore, die kleine Schuhflickerstochter, die sich neuerdings öfters um den armen Korbflechter gekümmert hatte, kam haltlos und ohne Atem herein. Sie warf sich neben dem Sessel Ephraims hart auf die Knie und faßte mit klammernden Händen nach seinem Wams. „Ephraim! Jetzt eben wird sie geholt! Halb Vier ist vorüber!“

Da ging ein merkwürdiges Ziehen und Arbeiten durch die Gliedmaßen des armen Gelähmten. Mit einem lauten Aufschrei fuhr er empor. Es war ein Wunder geschehen. Ephraim stand, Ephraim ging – taumelnd zwar wie ein Kind, das kaum noch des Gängelbands ledig ist, aber er ging doch. Die übermenschliche Anstrengung seiner Willenskraft hatte über die Trägheit seiner erkrankten Nerven gesiegt. „Ich will zu ihr! Ich will sie sehen! Führe mich, Lore! Sie ist doch keine Hexe! Nein, fürwahr, sonst hätte mir Gott der Herr nicht diese Gnade erwiesen! Er war außer sich. Die halbblinde Mutter, die bis jetzt auf ihrer Lindenholztruhe geschlafen hatte, sprang jählings auf und fragte voll Bangigkeit, was denn mit ihrem Sohne geschehen sei. Als sie gewahrte, daß [590] er aufrecht umherschwankte, winselte sie zwischen Lachen und Weinen unzähligem: „Das hat mein Sprüchel gethan! Das hat mein Sprüchel gethan!“

Es kostete unendliche Mühe, den Aufgeregten von seinem Plan abzubringen und ihm begreiflich zu machen, daß er nach dieser plötzlichen Heilung unmöglich sofort stundenlang auf den Beinen bleiben und sich ins dichteste Straßengetümmel hineinwagen könne. Die kleine verständige Schuhflickers-Lore sprach hier mit großer Beredsamkeit und schloß sich den Bitten der Mutter so eifrig an, daß er zuletzt nachgab, zumal er wohl selbst fühlte, daß seine Kräfte nicht lange vorhalten würden. Aber nun warf er sich mit verzweifeltem Ungestüm aufs Gebet. Und Lore, die jetzt in Thränen zerfloß, betete rastlos mit.

Von allen Seiten strömte das Volk auf die Straßen, obgleich der Tag außerordentlich heiß war. Das schrilltönende Armesünderglöckchen lockte die halbe Einwohnerschaft aus den Häusern; die kleiderprangenden, schmucken Geschlechtersöhne wie die grobknochigen Handwerksgesellen, die mit und ohne Erlaubnis ihrer Brotherren die Werkstatt verließen, die hübschen Töchter und Frauen der Kleinbürger, die Kinder und Greise. Alle Welt wußte, wem’s heute galt, und alle Welt nahm hier besonderen Anteil, jeder in seiner Art. Die sonst so bequeme Wirtin vom „Goldenen Schwan“ vergaß sogar ihren Nachmittagsschlaf und rannte dem Gusecker Thore zu, um sich hier an der Straßenböschung rechtzeitig niederzulassen. Sie mußte doch sehen, wie sich die schöne, vornehme Hexe auf dem Blutkarren ausnahm, und ob sie auch ernsthafte Reue verriet oder noch heimlich dem bösen Feind anhing. Denn die Meinungen über Hildegards Schuld waren doch ziemlich geteilt.

Auch Henrich Lotefend war schon längst unterwegs. Er steuerte hastigen Schrittes dem dreieckigen Platz vor dem Stockhause zu, wo er sich unmittelbar am Haupteingang neben der speertragenden Schildwache aufstellte. Er sah merkwürdig verändert aus – das Antlitz gelbgrau, starr und mit tiefdunklen Schatten unter den Augen. Dem unheimlich schrillen Tone des „Kleppens“ lauschte er mit übel verhohlenem Grausen. Manchmal nahm er die Ratsherrnmütze vom Kopf und fuhr sich mit der flachen Hand über die Stirn. Dabei regte sich seine bläuliche Lippe wie in lautlosem Selbstgespräch.

Ringsumher auf dem dreieckigen Stockhausplatz herrschte bereits vor dem Eintreffen Lotefends ein dichtes Gedränge. Den Standort neben dem wachthabenden Speerträger dankte der Tuchkramer nur dem Geleitsschein des Balthasar Noß und der geflüsterten Zusage eines Goldguldens. Die Hellebardiere ließen sonst keinen von den unzähligen Neugierigen, die hier schwätzend und arg lärmend herandrängten, bis auf Speerlänge vor. Schon seit ein Uhr wurde das Stockhaus förmlich umlagert. Der ganze Platz war überfüllt. Auch die Fenster und Erker der umliegenden Häuser strotzten von Insassen. Mauervorsprünge waren erklettert worden. Selbst die Dachluke zeigte erwartungsvolle Gesichter. Etliche Knaben umklammerten in gefahrdrohender Höhe Giebelspitzen und rostige Wetterfahnen.

Punkt halb Vier öffneten sich die Thorflügel. Der Zug, der sich im Hofe aufgestellt hatte, kam langsam und bedächtig heraus. Zuvörderst schritt eine Abteilung rot- und blaugekleideter Stadtsoldaten. zwölf Mann. Sie trugen wimpelgeschmückte Lanzen und kurze Schwerter. Dann folgte, von zwei stämmigen Brandfüchsen gezogen, der Armesünderkarren, eine Art Leiterwagen mit querliegenden Brettern. Vorn auf dem ersten Brett hockten mit gleichgültig rohen Gesichtern die beiden Henkersknechte. Auf dem mittleren Brett saß der Stadtpfarrer Melchers, neben ihm, den Kopf mit geschlossenen Augen an seine Schulter gelehnt, Hildegard Leuthold. Sie war bleich wie ein Lilienblatt und beinahe ohnmächtig, aber in dieser Hilflosigkeit von unbeschreiblichem Liebreiz. Hinter ihr auf dem dritten Brett saßen zwei Rutenknechte. Der Scharfrichter selbst mit einigen Untergehilfen war schon seit Mittag an Ort und Stelle, wo er den Block festlegte und den siebentehalb Fuß hohen Scheiterhaufen errichtete.

Beim Anblick des Schandkarrens mit der Delinquentin ging ein Murmeln durchs Volk, vieldeutig, aber im Grunde doch mehr Teilnahme und Mitleid ausdrückend als Entrüstung und Haß. Dies wunderholde Geschöpf, edel selbst in der tiefsten äußeren Erniedrigung, frauenhaft und kindlich zugleich, gewann eben unwiderstehlich die Herzen, der Macht selbst des Aberglaubens und des wütenden Fanatismus zum Trotz.

Nachdem das traurige Fuhrwerk ächzend und kreischend heraus auf den Platz gerollt war, folgte in kurzem Abstand Balthasar Noß zwischen zwei baumlangen Rutenknechten. Er machte ein feierlich ernstes, beinahe kummervolles Gesicht. Unmittelbar hinter ihm schritten die übrigen Mitglieder des Malefikantengerichts in ihrer tiefschwarzen Amtstracht. Den Schluß bildete wiederum eine Abteilung rot- und blaugekleideter Stadtsoldaten.

Beim Erscheinen der Blutrichter trat eine bängliche Stille ein. Vor Balthasar Noß und dem hohlwangigen Adam Xylander empfand jeder, ob klug oder unklug, ein beklemmendes Grausen, das sich je nach Verschiedenheit der persönlichen Ueberzeugung mit Ehrfurcht oder mit Abscheu mischte. Der Ruf des Balthasar Noß war seit einiger Zeit übrigens selbst in den Scharen seiner ursprünglichen Anhänger schwer geschädigt worden. Trotz der Vorsicht, mit der Balthasar seine unlauteren Abenteuer ins Dunkel der Nacht hüllte, war doch mancherlei über den Lebenswandel des Mannes ins Volk gedrungen und hatte den Glauben an den sittlichen Ernst des Zentgrafen namentlich bei den Kleinbürgern und Handwerkern vielfach erschüttert.

Als der mißmutig dreinschauende Fuhrknecht, der den Schandkarren lenkte, jetzt eben von dem menschenwimmelnden Stockhausplatz in die Pfahlstraße einbiegen wollte, fiel ein todblasser, augenrollender Mann in vornehmer Tracht den beiden Brandfüchsen wild in die Zügel. Es war der Tuchkramer und Ratsherr Henrich Lotefend.

„Halt!“ rief er mit weithin gellender Stimme. „Halt!“ Ihr begeht ein Verbrechen! Hildegard Leuthold ist unschuldig!“

Stirnrunzelnd, den wuchtigen Kopf stolz in den Nacken gelegt, trat Balthasar Noß hinter dem Armesünderwagen hervor.

„Herr Lotefend!“ sagte er strafend. „Ihr, ein Ratsherr, wagt so nichtswürdige Reden? Seid Ihr von Sinnen? Ihr frevelt ja unverantwortlich gegen die Majestät des Gerichtshofs!“

„Sie ist unschuldig!“ kreischte Lotefend rasend. „Ich weiß es am besten! Ich selbst habe sie denunziert! Der Schreiber des Briefs an Doktor Xylander bin ich! Aber meine Denunziation war Lüge! Jedes Wort nehm’ ich zurück!“

„Die Leutholdin hat selber bekannt,“ versetzte Noß kalt.

„Ja, wie alle Eure Opfer bekennen! Unter dem Druck der Folter!“

„Nein, freiwillig!“

Nur die Rücksicht auf die guten Frankfurter und Leipziger Wechsel, die ihm der Tuchkramer eingehändigt, veranlaßte Herrn Balthasar Noß, mit dem unerwarteten Störenfried überhaupt zu verhandeln. Sonst hätte er augenblicks den Befehl erteilt, den Mann da in Haft zu nehmen.

„Herr Zentgraf, ich schwör’ es Euch!“ rief Henrich Lotefend außer sich. „Macht mir selbst den Prozeß! Aber bei allem, was heilig ist, gebt diese Schuldlose frei!“

„Genug!“ zürnte Balthasar Noß, dem jetzt die Geduld riß. „Geht aus dem Wege, Herr Lotefend, oder ich brauche Gewalt!“

Der Tuchkramer wich und wankte nicht. Da trieb der Kutscher auf einen Wink des Zentgrafen die beiden Pferde ungestüm mit der Peitsche an. Lotefend wankte und stürzte. Räderknirschend rollte der Karren weiter und streifte ihm quetschend den Oberarm. Als er sich mühsam erhob, sah er noch gerade, wie der traurige Zug links um die Ecke verschwand, während das Volk stürmisch nachdrängte. Niemand kümmerte sich um den Verzweifelten. Balthasar Noß hatte das Wort unter die Massen geschleudert, der Mann sei offenbar geisteskrank. Und nun packte den Unglücklichen die furchtbare Einsicht, daß es zu spät war. Hildegard Leuthold, die süße Blume, deren berauschender Duft ihn so toll gemacht, eilte nun rettungslos ihrem Verhängnis entgegen. Und wenn er, Lotefend, jetzt dem Karren auch nachlief und – wie er sich das seit einer Stunde so oft ausgemalt hatte – den Zentgrafen niederschoß, was frommte das noch? Was half der Tod des Balthasar Noß ohne die gleichzeitige Niederwerfung des ganzen schrecklichen Tribunals und seiner machtvollen Gönner? Das unbarmherzige Schicksal würde ja doch seinen Lauf nehmen! Er selbst hatte den Stein ins Rollen gebracht!

Er stöhnte wild auf. Die langunterdrückte Reue ergriff ihn mit unermeßlichem Wehgefühl. Gleich drüben am Platz stand eine Hausthür offen. Sinnlos vor Jammer trat er in den graudämmernden Flur. Hier schien alles verwaist. Er zog aus der [591] Seitentasche seines modischen Tuchrockes die schönbeschlagene Reiterpistole, deren Lauf er sich damals im Lynndorfer Gehölz an die brennende Stirn gesetzt. Damals hatte er vor dem erschrockenen Kind Komödie gespielt. Jetzt war es ihm furchtbarer Ernst. Im nächsten Augenblick knallte ein Schuß. Henrich Lotefend hatte sich selbst gerichtet! Ein herzu eilender Werkführer – der einzige Insasse des Hauses, der nicht mit dem Zug hinausgerannt war – fand ihn noch lebend auf dem gepflasterten Fußboden liegen. In den Armen dieses mildherzigen Mannes hauchte der Tuchkramer Henrich Lotefend fünf Minuten später den Geist aus. Das letzte Wort, das ihm über die sterbenden Lippen kam, war der traumhaft geflüsterte Name „Hildegard“.

Der Armesünderkarren setzte inzwischen den Weg durch die Stadt fort. Unmittelbar vor dem Gusecker Thor mußte der Zug, einem alten Herkommen gemäß, halten, während ein Geistlicher – diesmal der dritte Stadtpfarrer – sämtliche Teilnehmer an der Hinrichtungsexpedition von der Befleckung, die aus der nahen Berührung mit der Verurteilten etwa entspringen konnte, durch ein stilles Gebet reinigte.

Diesen Augenblick hatte sich der Notar Weigel dazu ersehen, um seiner Klientin die Protesturkunde zur Unterzeichnung auf den Wagen zu reichen. Innerhalb des Gerichtsgebäudes oder des Stockhauses hätte man ihm unzweifelhaft allerlei Schwierigkeiten gemacht. Hier aber, im Angesicht der ganzen Bevölkerung, die ohnehin zur Teilnahme für Hildegard neigte, würden die Blutrichter wohl kaum den Mut haben, die Unterzeichnung zu hindern. War diese Unterzeichnung aber einmal erfolgt, dann glaubte Rolf Weigel auf Grund des Reichsgesetzes wenigstens vorläufig Herr der Lage zu sein.

Der kleine bucklige Mann, von etlichen handfesten Freunden umringt, drängte sich mühsam vor. Als eben der Geistliche beide Hände erhob und ein langgedehntes Amen über den Zug murmelte, rief der Notar die jäh aufblickende Hildegard an und bot ihr die Rohrfeder, während ihr einer von seinen Freunden die Urkunde hinaufschob.

„Ich bitte um Aufschub im Namen des Kaisers!“ sprach der Notar mit fester, weithin vernehmbarer Stimme. „Hildegard Leuthold, meine Klientin, wünscht von der Rechtswohlthat einer Verwahrung an das kaiserliche Reichskammergericht in Wetzlar Gebrauch zu machen. Sie verlangt Revision wegen verschiedener Gesetzesverletzungen und Rechtsirrtümer.“

Hildegard Leuthold erinnerte sich, was der Notar ihr gesagt hatte. Er hielt also doch Wort. Es war nicht nur ein frommer Betrug gewesen, um ihr die Last ihres unermeßlichen Elends leichter zu machen. Ihr blasses Gesicht zuckte. Ein letzter Hoffnungsschimmer belebte ihr das halb schon erstorbene Herz. Mit zitternder Hand umklammerte sie die Rohrfeder. Sie sprang empor, um stehend zu unterzeichnen. Der Stadtpfarrer Melchers hielt ihr, sprachlos vor Ueberraschung, die Urkunde. Aber immer heftiger zitterte die Hand des gequälten Opfers. Ein krampfhaftes Zucken ging durch den Körper, der unter der Aufregung dieser fürchterlichen Fahrt zusammenzubrechen drohte.

„Seht, wie sie zittert und bebt,“ rief, mit triumphierendem Hohn um sich blickend, Balthasar Noß in die erregte Menge hinein, „seht, wie der Böse in ihr sich sträubt gegen die Niederschrift des Namens, den sie in der heiligen Taufe empfangen und den sie bei den fluchwürdigen Orgien auf dem Herforder Steinhügel hat abschwören müssen! Wollt ihr jetzt noch zweifeln, daß sie eine Hexe ist?“

Als Hildegard diese haßerfüllte Anklage vor allem Volk hörte, kam ihr der geschwundene Mut wieder. Warmblühendes Blut stieg ihr in das bewegte Antlitz, die wunderbaren, großbewimperten Augen sprühten und leuchteten – sie sah aus wie ein Engel.

„Nein, ich bin keine Hexe,“ rief sie, mit fester Hand die Rohrfeder ergreifend und ihren Namen unter die Urkunde setzend. „Unmenschliche Qualen habt ihr mich erdulden lassen, die mich an den Rand des Wahnsinns brachten. Ich habe sie mit Gottes Hilfe ertragen und wenn ich jetzt schwach wurde – es ist vorüber, der Allmächtige wird mir weiter helfen!“

Und rings im Volke erhoben sich laut und lauter Stimmen zu ihren Gunsten …

„Sie ist doch vielleicht unschuldig!“

„Das liebe Gesicht!“

„Der süße, holdselige Mund!“

„Ja, der Tuchkramer Lotefend hat die Wahrheit gesprochen! Das alles ist Niedertracht und bloße Verleumdung!“

„So sieht keine Hexe aus!“

„Das Reichskammergericht wird ihre Unschuld herausbringen! Wilde Drohungen wurden laut, furchtbare, unheilverkündende Schmähworte gegen die Blutrichter.

Balthasar Noß hielt eine rasche Musterung seiner Streitkräfte. Die stämmigen Stadtsoldaten, ihre hellblinkenden Speere über den Achseln, standen inmitten des Lärmens ruhig und teilnahmslos. Auf diese gut bezahlten Schergen, die von jedem „Brand“ noch besondere Einkünfte bezogen, konnte sich Noß verlassen. Einem raschen Entschluß folgend, sprang er von hinten auf den Bretterboden des Armesünderkarrens.

„Wer die Hexe verteidigt,“ schrie er mit Donnerstimme, „der macht sich gleichfalls der Hexerei schuldig. Die Protesturkunde ist nichtig, Lug und Trug! Wer wagt es, der Gerechtigkeit in den Arm zu fallen? Wer untersteht sich, in strafbarer Mißachtung des Landesherrn für die Hexe Partei zu ergreifen?“

„Ich!“ klang es da unmittelbar hinter ihm. „Ihr seid ein ehrloser Schuft, Balthasar Noß! Nur aus Habgier und Blutdurst mordet Ihr wie ein hungriger Wolf!“

Es war der Zunftobermeister Karl Wedekind, der so dem lange aufgehäufter Groll seines verzweifelte Herzens Luft machte. Alles hatte er elend eingebüßt, was er an Glück auf dieser Erde besessen hatte: die kleine Elma war tot, seine Ehewirtin Brigitta genas jetzt in der Siechenabteilung des Stockhauses allgemach dem Scheiterhaufen entgegen. Und die Verschworenen rührten sich nicht. Seit Doktor Ambrosius geflohen war, hatte man ihm auch nicht das Geringste mehr mitgeteilt. Da ward dem trostlosen Manne das unaufhörliche Harren zu viel. Er wollte nun seine Rache für sich haben – mochten sie ihn dann rädern und vierteilen. Und gleichzeitig mit den rasenden Schmähworten, die er dem Blutrichter zurief, hob er den Arm, der einen zehnpfündigen Hammer schwang. Eine Sekunde noch, und Karl Wedekind hätte mit einem tollen Satz den Zentgrafen erreicht und ihm den Kopf zertrümmert. Adam Xylander jedoch packte ihn rechtzeitig beim Kittel. Im selben Augenblick stürzten drei oder vier Stadtsoldaten heran und machten ihn dingfest.

Balthasar Noß hatte die große Gefahr erst erkannt, als sie vorüber war. Mit erkünsteltem Gleichmut wies er auf den baumstarken Angreifer, der sich noch immer wild bäumte und die fürchterlichsten Verwünschungen ausstieß.

„Man binde den Uebelthäter!“ sprach er gebieterisch. „Vermutlich ein Schandgenosse der Malefikantin! Führt ihn augenblicks nach dem Stockhaus! Zwei Mann von euch sind hier entbehrlich. Das habt ihr gut gemacht, Leute! Euer Lohn wird nicht ausbleiben. Und wie diesem Aufrührer und Verleumder gehe es jedem, der seiner Obrigkeit die schuldige Ehrfurcht weigert. Jetzt aber vorwärts! Stadtsoldaten, schützt mir die Hoheit des Tribunals! Ich befehle euch das im Namen unseres allergnädigsten Landesherrn. Jeder Versuch, uns den Weg zu verlegen, wird mit unnachsichtlicher Strenge geahndet werden!“

„Platz da!“ brüllte der Obmann der Stadtsoldaten. Von neuem setzte sich der Todeszug in Bewegung. Das Volk, verblüfft von der zermalmenden Schnelligkeit, mit der man den Tischlermeister unschädlich gemacht hatte, und beeinflußt von der dämonischen Kraft, die aus der kühnen Entschlossenheit des Zentgrafen sprach, wich noch einmal zurück. Dem Notar Weigel hatte die Faust des Gerichtsschreibers, der voll Bewunderung zu Balthasar Noß aufgeschaut hatte, die Verwahrungsurkunde mit einem heftigen Ruck aus den Fingern gerissen. Das Undenkbare schien also wirklich zu werden: die frechste Mißachtung einer reichsdeutschen Gesetzesvorschrift, die der Notar für einfach unantastbar gehalten. Wie ein Verstörter wankte Rolf Weigel heim. Hildegard Leuthold aber sank wieder halb ohnmächtig an die Schulter des Priesters, der ihre Linke ergriff und mit schier versagender Stimme ein leises Gebet murmelte.

26.

Noch immer klang das Gewimmer des Armesünderglöckchens vom Turm der Marienkirche. Nur für Augenblicke war es durch den Tumult am Gusecker Thor übertäubt worden. [592] Jetzt, da der Zug auf dem Heerweg langsam bergauf stieg, vernahm man wieder deutlich das seltsam dünne, schreckliche Kleppen, das seit Menschengedenken die Verurteilten der Glaustädter Tribunale nach dem Richtplatz begleitet hatte. Zurückschauend, sah man das Glöckchen in seinem regelmäßigen Hin- und Herschwingen scharf abgezeichnet gegen das Blau des Himmels, das durch den schlanken tempelartigen Turmaufsatz leuchtend hindurch schien.

Auch Hildegard, die sich jetzt wieder gefaßt hatte, sah bei der Biegung der Landstraße dies unheimlich schnelle Auf und Nieder und wunderte sich, daß ihr so wenig vor diesem Anblick grauste. Sie war nun vollständig Ergebung und Ruhe. Das einzige, was sie noch quälte, war das Bewußtsein, daß sie dem wackeren Notar für den Versuch, ihr werkthätig beizuspringen, nicht mehr gedankt hatte. Aber auch das ging vorüber.

Auf dem Böhlauer Trieb stand das Blutgerüst aufgeschlagen, wenige Ellen davon entfernt der Scheiterhaufen. Der Böhlauer Trieb war ein brachliegendes viereckiges Grundstück, ehemals Weide. Hinter dem Trieb zog sich die Wolfskante her, ein dichtes, uraltes Nadelgehölz, das in weit ausgreifendem Bogen mit dem Lynndorfer Walde zusammenhing.

Der Scheiterhaufen, das Blutgerüst und die Gestalten der Scharfrichter hoben sich mit jeder Minute unübersehbarer von dem grünschwärzlichen Tannicht der Wolfskante ab. Der Stadtpfarrer Melchers mühte sich eifrig, den Blicken des jungen Mädchens eine andere Richtung zu geben. Aber es half nichts. Wie magisch gebannt schaute sie aufwärts. Sie seufzte aus tiefster Brust, schloß ihre Augen und murmelte voll glühender Inbrunst. „Jesus, allgütiger Heiland, erbarme dich meiner!“

Die Henkersknechte zogen die längst schon Willenlose rasch vom Wagen herab. Die Mitglieder des Tribunals bildeten einen Halbkreis. Der Gerichtsschreiber trat vor, um ihr noch einmal den Urteilsspruch zu verlesen.

Mit eintöniger Stimme begann er wie folgt:

„Ihr, Hildegard Leuthold, Tochter des kursächsischen Magisters und Hochschullehrers Franz Engelbert Leuthold, geboren zu Wittenberg am sechzehnten Februarii anno domini sechzehnhundertundeinundsechzig, anjetzo wohnhaft in Glaustädt, seid überführt und habt vor den Schranken des hochverordneten Glaustädter Malefikantengerichts reumütig bekannt, daß Ihr seit etlichen Jahren …“

So weit war er gekommen, als plötzlich vom Walde her eine helldonnernde Salve erkrachte und ihn mitten im Satze verstummen ließ. Noch schien keiner von der zahlreichen Menschenmenge verletzt. Die Schüsse aus den wuchtigen Feldbüchsen, die da von unsichtbarer Hand im Untergehölz abgebrannt wurden, mochten geflissentlich über die Köpfe der Volksmasse hinaus gehen. Trotzdem riefen sie eine gewaltige Wirrnis hervor. Und eh’ sich der Rauch an der Wolfskante verzog, drang eine Schar wohlbewaffneter Männer, teils Flinten im Arm, teils Pistolen im Gürtel, sämtlich aber den blanken Stahl in der Faust, mit unaufhaltsamer Schnelligkeit auf die Blutrichter ein. Der vorderste dieser Anstürmer war Doktor Gustav Ambrosius.

[607] Gleich nach dem Ansturm des Doktor Ambrosius und seiner Schar, und während diese auf die Blutrichter eindrangen, erhob sich auch unter dem Volk, das den Richtplatz umstand, unerwarteter Lärm und wildes Getümmel. Jansen, der cholerische Buchdrucker, der selbst in gewöhnlichen Zeitläufen aussah, als sollte ihn augenblicklich der Schlag rühren, hatte hier geröteten Angesichts mit zahlreichen Gesinnungsgenossen Posto gefaßt. Der Hauptmann Fridolin Geißmar, der kleine hohlwangige Maler und Reißer Kunz Noll und andere Verschworene kommandierten hier ihre Getreuen, die sämtlich mit Dolchmessern oder Pistolen versehen waren. Jetzt, wie die handfeste Schar da unter Ambrosius herankam, warfen sich diese Aufrührer mit überlegener Macht rechts und links auf die Stadtsoldaten. Im Augenblick waren die überrumpelten Schergen entwaffnet. Die Speere erwiesen sich bei diesem Nahkampf wirkungslos. Der letzte der drei Soldaten, die Zeit gefunden, das kurze Schwert zu ziehen, ergab sich fluchend, als Doktor Ambrosius ihm die schwarzgähnende Mündung seiner Pistole unter die Augen hielt. – Bis auf einige Schrammen und eine kaum gefährliche Armwunde Fridolin Geißmars hatte der Sieg kein Blut gekostet.

Die Malefikantenrichter, die vor Schreck und Verblüfftheit unfähig waren, auch nur einen Finger zu rühren, wurden sofort in Haft genommen. Je augenscheinlicher die Rebellion triumphierte, um so rascher mehrten sich ihre Anhänger. Fast die gesamte männliche Jugend ergriff mit lauthallenden Zurufen Partei für Doktor Ambrosius, der jetzt glückstrahlend zu Hildegard Leuthold herantrat und die Taumelnde in seinen starken Armen liebevoll auffing. Die Armesünderpferde wurden im Nu abgedrängt und der Schandkarren umgestürzt, so daß seine Räder hilflos zum Himmel aufstarrten wie die vier Pranken eines verendeten Untiers. Den Henker trieb man mit Stockschlägen querfeldein und verhöhnte ihn weidlich. Seine Gehilfen hatten beim ersten Ausbruch der Feindseligkeiten sofort Reißaus genommen.

„Um Gott, was beginnt Ihr?“ stammelte in tiefster Erregung der Stadtpfarrer Melchers, auf Doktor Ambrosius zuschreitend.

„Was ich mußte, mein hochwürdigster Herr! Man hat mir die Waffe hier mit Gewalt in die Hand gezwängt, und nicht eher will ich sie niederlegen, als bis unser Glaustädt ein für allemal von den Bluthunden befreit ist.“

Dann zu Hildegard.

„O du armes gequältes Lieb! Nun aber bist du erlöst!“ Sie hatte bisher dem Kampf starr zugesehen. Auch jetzt noch schien sie zu fürchten, dieser tollkühne Angriff möchte zum Unheil ausschlagen. Ihr Verlobter aber drückte sie heiß ans Herz und sprach ihr in rasch geflüsterten Worten Mut ein.

„Hörst du, wie sie dort überall Sturm läuten? Sie wissen jetzt, daß unser Anschlag hier draußen geglückt ist. Sieh das weiße Tuch da im Wipfel der Edeltanne – unser vereinbartes Zeichen! Die Antwort von drüben wird, so Gott will, nicht ausbleiben.

Nun stieg Doktor Ambrosius auf den gestürzten Schandkarren, wie der Ritter St. Georg auf den Schuppenleib des getöteten Drachens. Mit lauter Stimme rief er dem Volk zu, was er jetzt eben zu Hildegard Leuthold gesagt hatte, daß die Verschwörung im Innern der Stadt mit dem erfolgreichen Ueberfall hier auf dem Böhlauer Trieb Hand in Hand gehe. Dann fuhr er mit hinreißender Eindringlichkeit fort:

„Mitbürger! Die Herrschaft des Blutgerichts hat ihr Ende erreicht! Glaustädt soll in Zukunft nicht mehr unter dem Joch dieser Buben zittern, die sich mit Folter und Henkerbeil in eure Familien gedrängt und dies einst so lebenslustige, reiche Gemeinwesen an den Rand der Verzweiflung gebracht haben. Unser Aufstand ist von langer Hand vorbereitet. Mein Freund Woldemar Eimbeck hat wohl in dieser Minute schon das Rathaus besetzt und die armseligen Ratsherren, die dem Blutgericht günstig waren, jeden für sich daheim in der Wohnung festnehmen lassen. Das Gleiche geschieht mit dem landgräflichen Kommissarius und etlichen hohen Verwaltungsbeamten. Ueber zweihundert Mann werfen sich auf die Stadtwache; ein Teil der Soldaten ist schon längst für uns gewonnen. Sollte sich noch hier oder da ein unerwartetes Hemmnis ergeben, so rechnet Glaustädt auf eure Hilfe! Wenn ihr eure Vaterstadt liebt, so schart euch todesmutig zu uns! Gelobt euch, ihre Freiheit und ihr Recht zu verteidigen bis auf den letzten Blutstropfen!“

„Hurra!“ brauste es durch die Masse. „Ja, das geloben wir! Gott ist Zeuge! Es lebe die Vaterstadt! Es lebe Doktor Ambrosius!“

„Ich danke euch, Mitbürger! Selbst der Landgraf soll nicht befugt sein, diese Freiheit und dieses Recht anzutasten. Als gute Deutsche wehren wir uns straff gegen jedermann, und trüge er gleich ein halbes Dutzend Kronen zu Lehen. Glaustädt wendet sich nötigenfalls an den Kaiser! Und wir haben da einen gar mächtigen Fürsprecher, den Fürsten Maximilian von Dernburg, der nicht zugeben will, daß eine ehemalige Freie Reichsstadt zu gunsten etlicher fanatischer Wucherer und Schachergesellen vernichtet werde. Und Wucherer und Schachergesellen sind sie, diese [608] gewerbsmäßigen Hexenrichter. Furchtbare Alchimisten, die sich auf die gewinnreiche Kunst verstehen, aus Menschenblut Gold zu machen!

Er schwieg. Tosender Beifall umbrandete ihn. Die wenigen Stimmen, die sich noch für die Schreckensherrschaft des Balthasar Noß hätten erheben können, verstummten klüglich vor dem Ueberschwang dieser allgemeinen Begeisterung. Uebrigens glaubte hier jedermann, die Verschwörung umfasse weit größere und einflußreichere Kreise, als dies wirklich der Fall war.

„Auf nach der Stadt!“ scholl es tumultarisch aus hundert und aber hundert kampflustigen Kehlen.

Im Untergehölz der Wolfskante lagen noch einige hundert Flinten nebst Munition, sowie eine Kiste mit breiten Dolchmessern. Dieser Vorrat wurde alsbald verteilt. Auch die Schwerter und Spieße der überwältigten Stadtsoldaten fanden bereitwillige Abnehmer. Die übrigen bewaffneten sich mit Keulen und Knütteln, die man, so gut es ging, von dem Nachwuchs der Tannen und Fichten losriß. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde es ja zu keinem Zusammenstoße mehr kommen, aber besser war besser.

Einem Bauern, der mit seinem Planwagen die Straße daher kam, ward das Gefährt abgemietet, da sich Hildegard doch zu schwach fühlte, um die weite Strecke zu Fuß zu machen. Sie sollte nur damit auf dem geradesten Wege in ihr Daheim gebracht werden, wenn man inzwischen Kunde bekam von dem endgültigen Sieg Woldemar Eimbecks. Andernfalls wollte man sie noch vor dem Gusecker Thor in vorläufige Sicherheit bringen.

Während man ihr mit Heu und zwei leeren Säcken ein bequemes Lager zurecht machte, trat Doktor Ambrosius zu Balthasar Noß. Er spürte den wilden Drang, die Bestie in Menschengestalt, die da so feig und so aschfahl zu Boden sah, hier auf dem Fleck die schurkische Niedertracht heimzuzahlen. Schon hob er die Schußwaffe. Da fiel sein Blick auf die sonnenüberglänzte Stadt, von deren Türmen so machtvoll mahnend die Sturmglocken ertönten. Es ward ihm klar, daß er die Sache seiner geliebten Heimat nie und nimmer durch einen Akt persönlicher Rachsucht entweihen dürfe. Und er begnügte sich, dem Blutrichter ein Wort heißer Verachtung ins Antlitz zu schleudern und ihm von Ekel erfüllt den Rücken zu kehren.

Adam Xylander inzwischen hatte dies alles stieren, verglasten Auges wortlos mitangesehen. Der Eindruck beherrschte ihn, als vollziehe sich hier ganz ordnungsgemäß ein von der Gottheit verhängtes Strafgericht. Denn – so folgerte sein krankhaft erregter Geist – wenn Gott der Herr die Verurteilung Hildegard Leutholds gebilligt hätte, dann hätte er ihre Befreiung durch die Aufrührer niemals zugelassen. Das Verdikt war also zu Unrecht. Er, Doktor Xylander, hatte sich hier – das erste Mal, seit er als Beisitzer mitwirkte – schmählich zum Nachteil einer schuldlosen Inkulpatin geirrt …

Der helle Wahnsinn, der so lange schon auf ihn gewartet hatte, brach in diesem Augenblick aus. Nur mit Mühe gelang es den Leuten des Buchdruckers Jansen, den Tobenden zur Ruhe zu bringen und seine Fortschaffung ins Siechenhaus in aller Stille zu bewirken.

Und nun setzte sich der Zug der Verschworenen und ihrer zahlreichen Mithelfer schnell in Bewegung. Ein Jubelruf glitt von den Lippen der Eingeweihten … Jetzt eben stieg am Turm der Marienkirche stolz wallend eine hellblaue Fahne empor. Das war die Botschaft Woldemar Eimbecks! Auch dort hinter den Stadtmauern war die Umwälzung vollkommen geglückt.

„Sei nun getrost, mein Liebling!“ flüsterte Doktor Ambrosius, neben Hildegard einherschreitend. „Alles geht uns nach Wunsch. Und wenn wir dann unwiderruflich gesiegt und die Heimat für immer von ihrem Elend befreit haben, dann – du weißt …“

„Und wenn es euch fehlschlägt …?“

„Es wird nicht. Und schlimmstenfalls findet sich eine Zufluchtstätte, fern ab von hier – jenseit des Oceans …“

Weiter sprachen sie nichts. Ihre Herzen waren zu voll. Die plötzliche Rettung aus den Griffen der Henker hatte auf Hildegard fast betäubend gewirkt. Ihre Gedanken wogten dahin wie farblose Nebel. Ab und zu nur schwebte ihr mit plötzlicher Klarheit ein beklemmendes Bild vor. Ihr teurer Vater – bewußtlos – in leisem Röcheln einsam dahinsterbend …. Aber die unendliche Mattigkeit, die ihr jetzt alle Nerven umspann, hinderte sie, diese grausame Vision lange festzuhalten.

27.

Das erste, was nun in Glaustädt geschah, war die Neukonstituierung des Rates und die Ernennung des wackeren Notars Rolf Weigel zum Bürgermeister. Herr Georg Kunhardt schien trotz seiner persönlichen Achtbarkeit nicht der geeignete Mann, unter den obwaltenden Schwierigkeiten dies Amt weiterzuführen.

Gleichzeitig traf der Hauptmann Fridolin Geißmar die nötigen Vorkehrungen zur Bildung einer kampftüchtigen Bürgerwehr. Man rüstete sich mit Anspannung aller Thatkraft für die Möglichkeit eines feindlichen Angriffs. Man holte aus dem uralten Zeughaus ein Dutzend noch sehr verwendbarer Kanonen hervor und armierte die Stadtwälle. Die Begeisterung der Glaustädter Bevölkerung, zumal der männlichen Jugend, wuchs zusehends.

Während Fridolin Geißmar so die Verteidigung vorbereitete, übernahm es der Reißer und Maler Kunz Noll, die Malefikantenabteilung des Stockhauses aufschließen zu lassen und sämtliche Angeklagte in Freiheit zu setzen. Es war ein erschütternder Anblick, wie diese unglücklichen Männer, Weiber und Kinder herausströmten in das rosige Licht des ebbenden Sommertages, – zum Teil wortlos und wie in Stein verwandelt, zum Teil jauchzend, schreiend und betend oder laut ihre Unschuld beteuernd. Die armen Insassen der Krankenabteilung schaffte man sofort auf Bahren und Tragstühlen ins städtische Siechenhaus, darunter Brigitta Wedekind, die Ehewirtin des Zunftobermeisters, die sich während der letzten vier Tage zwar auffällig erholt hatte, aber doch immer noch sehr der Schonung benötigte. – Der neugebildete Rat nahm sich alsbald sämtlicher Freigelassenen hilfreich an, ließ sie einstweilen auf Kosten des Stadtsäckels verpflegen, teilte zur Entschädigung für das erlittene Unrecht mehrfach Geldspenden aus und schritt gegen jedermann, der sich in herkömmlicher Thorheit erlaubte, die ehemaligen Inkulpaten als anrüchig zu bezeichnen, mit unerbittlichster Strenge ein. Auch sollte demnächst ein vorurteilsfreies Kollegium von Rechtsgelehrten damit beauftragt werden, die Haltlosigkeit der vorgebrachten Beschuldigungen in jedem einzelnen Fall nachzuweisen.

Zugleich mit den Opfern der Hexenverfolgung ward auch der Zunftobermeister Karl Wedekind aus seiner kurzen Haft befreit. Woldemar Eimbeck schlug in Gemeinschaft mit dem Reißer und Maler Noll vor, den schwer gekränkten und geschädigten Mann, der sich mit seinem persönlichen Angriff wider Balthasar Noß nur einer wohlbegreiflichen und entschuldbaren Ausschreitung, aber keines die Achtung untergrabenden Frevels schuldig gemacht habe, als Vertreter einer der angesehensten Zünfte mit in den Rat zu nehmen, was denn unverzüglich genehmigt wurde.

Noch an demselben Tage hielt der neukonstituierte Rat eine langwierige Sitzung ab. Man beleuchtete umständlich die Lage, erörterte unter lebhaftem Gegeneinanderprallen der Geister alle Wahrscheinlichkeiten, äußerte vielfache Bedenken und war zuletzt nur über den einen Punkt klar, daß man die schönen Errungenschaften dieses glorreichen Tages festhalten und verteidigen müsse um jeden Preis. Wie man sich aber zum Landgrafen und der Regierung in Lich stellen solle, was für Maßregeln hier zu ergreifen seien, um angesichts dieser offenen Rebellion doch den Schein getreuer Unterthanenschaft aufrecht zu erhalten und so den immerhin schwer bedenklichen Anmarsch landgräflicher Truppen zu hintertreiben, darüber konnten sich die erregten Gemüter nicht einigen. Rolf Weigel war eben schon im Begriff, die Sitzung zu schließen, als der Zunftobermeister Karl Wedekind aufstand und mit leise zuckender Lippe ums Wort bat. Da Rolf Weigel ihm freundlich zunickte, sprach er wie folgt:

„Herzliebe Freunde und Mitbürger! Schenkt mir ein kurzes Gehör! Ich bin ja freilich nur ein schlichter, einfacher Mann, aber das große Leid, das ich erduldet, hat mir die Sinne und den Verstand gar sonderbarlich geschärft. Eh’ ich hier eintrat, war ich bei meiner Ehewirtin, die just auf ein Tragbett gelegt wurde, um den getreuen Pflegerinnen des städtischen Siechenhauses überantwortet zu werden. Und als ich ihr so in die thränenden Augen sah, da überkam’s mich wie eine plötzliche Offenbarung! Herzliebe Freunde und Mitbürger! Wenn ihr vertraut und mir Vollmacht gebt, so mach’ ich mich anheischig, unserem Landgrafen ehestens ein Aktenstück vorzulegen, das ihn wohl stutzig machen und seinen Hexenglauben gründlich erschüttern soll. Ist dies aber geschehen, so wird der Herr Landgraf wohl [610] auch geneigt sein, unser Verfahren gegen Balthasar Noß gut zu heißen und die Wandlung, die sich jetzt hier in Glaustädt vollzogen hat, nachträglich anzuerkennen. Er hielt einen Augenblick inne.

„Gott’s Donner!“ rief der Buchdrucker Jansen. „Ihr sprecht zuversichtlich!“

„Also wie einer, der seine Zusage halten wird!“ meinte der Ratsbaumeister.

„Erklärt Euch genauer!“ scholl es von allen Sesseln.

Ueber das Antlitz des Zunftobermeisters glitt ein verschlagenes Lächeln. „So, ihr gestattet,“ fuhr er mit ruhiger Siegesgewißheit fort, „möcht’ ich die Einzelheiten des Planes, den ich mir ausgedacht, vorläufig geheim halten. Ich bitt’ euch, vergönnt mir das! Um euch für die Brauchbarkeit meines Vorhabens ausreichende Bürgschaft zu geben, will ich hier gleich den Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck, dem ihr doch volles Vertrauen schenkt, kurz von der Sache in Kenntnis setzen. Wenn der mir beistimmt und meinen Einfall für gut erklärt, dann könnt ihr mir wohl ohne Besorgnis Vollmacht erteilen. Morgen schon werd’ ich euch dann das gewichtige Aktenstück zeigen können. Haltet ihr’s dann, wie ich bestimmt erwarte, für zweckmäßig, so beauftragen wir das neue Stadtoberhaupt, nach Lich zu reisen, um dem Herrn Landgrafen unsere Wünsche und Hoffnungen mit dem in Rede stehenden Aktenstück gleichzeitig vorzulegen.

„Gut, gut!“ rief eines der alten Ratsmitglieder. „Herr Woldemar Eimbeck mag sich mit Euch besprechen und dann vermelden, was er von Eurem Plan hält.

„In so ernstschwieriger Lage muß man alles versuchen,“ meinte der Buchdrucker Jansen beifällig.

Karl Wedekind also begab sich mit Woldemar Eimbeck ins Nebengemach. Dort setzte er dem eifrig lauschenden Ratsbaumeister kurz auseinander, was er im Schilde führte.

„Ausgezeichnet!“ sagte der Ratsbaumeister. „Aber weshalb thut Ihr mit Eurem Plan so geheimnisvoll? Ihr könntet das doch offen heraussagen.“

„Weil ich fürchte, die Ratsversammlung möchte mir am Ende die Ausführung aus der Hand winden. Und das will ich um keinen Preis.

„Also, es bleibt dabei ich verrate nichts, und Ihr selber geht noch heute ans Werk. Je früher, je besser. Wir haben bei dem gestrengen Herrn Landgrafen keine Zeit zu verlieren.“

Nach fünf Minuten traten die beiden Männer zurück in den Sitzungsraum.

„Liebwerte Freunde und Mitbürger!“ sprach Woldemar Eimbeck. „Auf meine Verantwortung, ihr könnt es getrost mit dem Vorhaben des Herrn Zunftobermeisters versuchen. Nach allem, was ich von der Persönlichkeit unseres Landgrafen weiß, bedünkt mich die Sache im höchsten Grade aussichtsvoll. Ich stelle daher den Antrag, daß man dem Zunftobermeister Karl Wedekind unbeschränkte Vollmacht erteile, seinen mir kundgegebenen Plan zu verwirklichen. Zu diesem Behufe müßte das neuernannte Stadtoberhaupt ihn jetzt gleich unter vier Augen zu dem autorisieren was Herr Karl Wedekind von ihm verlangen wird. Seid ihr mit diesem Vorschlag einverstanden?“

Das Ansehen Eimbecks unter den neuen Ratsherren war so groß, daß man ihm augenblicks zustimmte. Ueber die Züge Karl Wedekinds flammte ein wildes Aufleuchten. Der urwüchsige, starkfühlende Mensch dachte in dieser Minute wohl ungleich lebhafter an das eigene Weh als an das Schicksal von Glaustädt.

So schloß die Versammlung. Karl Wedekind verfügte sich mit dem Notar Weigel ins Bürgermeisterzimmer, teilte ihm alles Notwendige mit und erhielt von dem ernst dreinschauenden Herrn die gewünschte Ermächtigung.

„Haltet nur Maß!“ flüsterte Weigel, als sich der Zunftobermeister mit der feierlich untersiegelten Autorisation auf den Weg machte.

„Keine Sorge, vielteurer Herr! Ich verfahre nur ganz ordnungsgemäß! Auf Wiedersehen morgen um acht Uhr früh!“ Und somit ging er ans Werk.

28.

Doktor Ambrosius hatte dieser Versammlung im Rathaus nicht angewohnt. Von sechs Mitverschworenen begleitet, war er dem Planwagen gefolgt, der die erschöpfte Hildegard nach ihrem einst so glücklichen Heim führte.

Durch Woldemar Eimbeck war Doktor Ambrosius schon längst benachrichtigt worden, daß sich die Krankheit Franz Engelbert Leutholds nach wie vor traurig dahinschleppte. Die Wirtschafterin Gertrud Hegreiner hatte zwar alles aufgeboten an treuer, hingebender Pflege, auch die Anordnungen des alten Stadtmedikus, der seit der Flucht des Doktor Ambrosius den Patienten behandelte, redlich erfüllt, aber das Fieber mit seinen immer wiederkehrenden Ausbrüchen von stürmischer Unrast und schreckhaften Delirien wollte und wollte nicht nachlassen. Der Stadtmedikus hatte noch gestern abend erklärt, falls nicht binnen kürzester Frist ein Umschwung zur Besserung eintrete, solle sich Gertrud Hegreiner auf das Schlimmste gefaßt halten. Aerztliche Kunst sei hier vollständig machtlos.

Seit jener herzerschütternden Sinnestäuschung, die ihm das Kleppen des Armesünderglöckchens in das feierliche Gebrause der Hochzeitsglocken verwandelt hatte, lag Franz Engelbert Leuthold still und bewegungslos in den Kissen. Gertrud Hegreiner hatte zwei- oder dreimal durch den Thürspalt der Nebenkammer gelugt, ohne eine Veränderung wahrzunehmen. Das Herz stockte ihr fast in trübseliger Vorahnung. Der mehrstündige Schlaf, der seine Fittiche über den Kranken spreitete, schien ihr der unheimliche Vorläufer des Todesschlafes. Zuletzt hatte sich Gertrud mit dem Gedanken, daß nun alles zu Ende sei, weinend zurecht gefunden. Es war ja das beste so für diesen ewig bejammernswürdigen Mann, dessen alles und eins da draußen vor der herzlos gaffenden Menschenmenge elend geschlachtet wurde.

Dann kamen die Wellenschläge der großen Ereignisse langsam herangerollt. Erst als dunkle Gerüchte. Dann immer klarer und deutlicher. Und zuletzt in Gestalt des geretteten Opfers und ihres Befreiers. Jetzt erst verlor Gertrud Hegreiner ihre Fassung. Sie fand nicht Worte, die Heimkehrende zu begrüßen. Nur stumm, unter rollenden Thränen, zog sie die Hand des Mädchens an ihre Lippen und sank zuletzt, übermannt von ihrer Gemütsbewegung, leichenblaß auf die Ruhebank.

Doktor Ambrosius redete seiner Braut zu, sich sogleich zur Ruhe zu legen. Hildegard aber weigerte sich, verlangte vielmehr an Stelle ihres zerknitterten und verstaubten Kleides ein frisches Gewand. Bevor sie sich niederlegte, wollte sie ihren todkranken Vater sehen. „Gut!“ sagte der junge Arzt. „Ich möchte dich zwar vor jeder Aufregung hüten, aber du hättest ja doch keine Ruhe. Nur erlaubst du mir, daß ich zuerst gehe. Kleide dich unterdes um!

„Weshalb willst du nicht auf mich warten?“ frug Hildegard mit einem Blick auf die verstört dreinschauende Gertrud. „Geh’ in mein Wohnstübchen! Ich komme in fünf Minuten.“

Doktor Ambrosius strich ihr beschwichtigend über die Wange.

„Wir zwei auf einmal – das möchte ihm leicht zu viel werden. Er schläft nun bereits mehrere Stunden lang. Nach diesem tiefen Schlummer könnte er das Bewußtsein wieder erlangt haben. Stehst du dann in leibhaftiger Gegenwart vor ihm, so weiß ich nicht, ob er den Anprall aushält.

Was Doktor Ambrosius da flüsterte, war nur halb seine Meinung. In der That konnte der freudige Schreck, wenn er so ganz ohne Vorbereitung hereinbrach, den Kranken zu Grunde richten. Mehr noch aber als diese Wendung schwebte dem Arzt die Möglichkeit eines Unheils für seine Hildegard vor. Wenn Franz Engelbert Leuthold, wie das die Wirtschafterin offenbar fürchtete, schon die Augen für ewig geschlossen hatte …?

Hildegard fügte sich. Während sie sich hochklopfenden Herzens auf ihre Bettstatt setzte, begab sich Doktor Ambrosius, von Gertrud begleitet, hinüber ins Krankenzimmer. Franz Engelbert Leuthold atmete ruhig und gleichmäßig. Die abgemagerten Hände lagen ruhig auf der Wolldecke. Der junge Arzt tastete ihm vorsichtig nach dem Puls. Höchstens fünfundsiebzig bis achtzig Schläge. Die Haut fühlte sich etwas feucht an.

Als Doktor Ambrosius wieder zurücktrat, fing der Patient an, sich zu regen. Die eingesunkenen Lider hoben sich langsam. Trotz der wohlthuenden Dämmerung, die in dem Krankenraum herrschte, sah Herr Leuthold wie geblendet umher. Beim Anblick des schwarzgekleideten Mannes, der da mit Gertrud abseits stand, schrie er laut auf. „Doktor Ambrosius! Was wollt Ihr? Ich seh’ es Euch an … Sie ist tot! Sie ist tot!“

Es war herzzerreißend, wie sich das bleiche, hohle Gesicht bei diesen Klagelauten verzerrte. Doktor Ambrosius aber fühlte [611] sich eben deshalb in seiner Hoffnung bestärkt, daß die endlich hier eingetretene Krisis zu einem günstigen Ausgange führen werde. Der Magister hatte ihn klar erkannt und war sich der ganzen Situation augenscheinlich bewußt. Nun galt es, dem Gramgebeugten die erlösende Wahrheit beizubringen und ihm so den Frieden des Herzens wiederzugeben.

Der geradeste Weg war hier vielleicht der beste.

„Bei meiner Ehre und Seligkeit,“ sagte Doktor Ambrosius, „Eure Hildegard lebt! Und mehr noch: sie ist befreit!“

Herr Leuthold starrte ihn wie gelähmt an.

„Zweifelt nicht!“ fuhr der Arzt fort. „Sie weilt hier sogar im Hause. Wollt Ihr sie sehen?“

Und da schlüpfte sie auch schon durch die Thüre des Krankenzimmers, schlank und lieblich wie einst, das gekürzte Haar mit einem turbanartig geschürzten Tuch überdeckt, die Wangen vor heiliger Freude gerötet, so daß man ihr kaum noch ansah, was sie in diesen letzten Tagen erduldet hatte. Sie war den Zweien sofort nachgeschlichen, hatte gelauscht und mit unsagbarem Jubel gehört, daß der verehrungswürdige Dulder da drinnen bei vollem Bewußtsein war.

„Vater!“ sprach sie mit ihrer weichen, goldklaren Stimme. „Herzlieber Vater!“ Im nächsten Moment lag sie kniend vor seiner Bettstatt und küßte ihm zärtlich die welken Finger.

Ueber das Antlitz des alten Herrn flog ein glückseliges Lächeln. Dann umflorten sich seine Blicke. Er sank ohnmächtig in die Kissen zurück.

„Fürchtet nichts!“ sagte Doktor Ambrosius. „Diese Anwandlung wird vorübergehen. Er ist furchtbar erschöpft aber so Gott will, erholt er sich, ehe der Mond sich rundet. Jetzt jedoch zu dir, mein Liebling! Auch du bedarfst dringend der Ruhe! Geh nun und laß dich zu Bett bringen! Versuche zu schlafen!“

„Ich kann nicht schlafen,“ versetzte Hildegard. „Aber wenn du’s erlaubst, will ich mich drüben im Wohnzimmer auf die gepolsterte Bank strecken und ohne mich zu bewegen dir zuhören … Nicht wahr, mein Freund, ein kurzes Stündchen noch leistest du mir Gesellschaft? Und du erzählst mir, wie das alles gekommen ist.

Da jetzt Gertrud voranschritt, legte Hildegard zärtlich die Stirn an Gustavs Schulter. „Du mein Alles, mein Glück, mein Befreier!“ klang es von ihren Lippen.

Ein langer, inbrünstiger Kuß war die Antwort.

Und als sich Hildegard dann auf die gepolsterte Bank niedergelegt und ihren turbanumwundenen Kopf mit einem widerstandsfähigen Rundkissen gestützt hatte, ließ sie sich von Doktor Ambrosius erzählen, wie alles gekommen. Die Umsicht und Thatkraft, mit der das Rettungswerk schier über Nacht in Scene gesetzt worden, flößte ihr unbeschreibliche Bewunderung ein. Das Schicksal der toten Elma entlockte ihr eine Flut von Thränen.

„Und nun – leb’ wohl!“ rief Doktor Ambrosius aufspringend. „Noch darf ich die Hände nicht in den Schoß legen. Es giebt mancherlei Arbeit – und vielleicht einen Kampf!“

„Das verhüte der Himmel!“

„Sei du nur unbesorgt! Dich, mein Herz, bring’ ich in Sicherheit, eh’ noch das erste Gewölk aufzieht. Und so schnell wird’s ja nicht loswettern!“

[623]
29.

Doktor Ambrosius hatte noch mancherlei in der Stadt zu erledigen. Nachdem dies geschehen war, entließ er die sechs Begleiter, die ihm bis dahin vorsichtshalber gefolgt waren, und begab sich in seine Wohnung. Der Marktplatz wimmelte noch von Menschen, obgleich es schon dunkel war. Das aufregende Tagesereignis ward hier in allen Tonarten durchgesprochen.

Unerkannt und von keinem, weder im guten noch im bösen behelligt, erreichte Doktor Ambrosius das alte trauliche Haus, wo sich die ewig unvergeßliche Elma für ihn geopfert hatte. Rudloff, der Altgeselle empfing ihn mit eigentümlicher Schwermut. Der Zunftobermeister war noch nicht heimgekehrt. Doktor Ambrosius setzte sich eine Weile zu Rudloff und sprach lange mit ihm von der teuern Verklärten, ohne trotz all’ seiner Menschenkenntnis zu ahnen, was dieser schlichte, äußerlich ruhige Mann litt. Mit Elma Wedekind war für Rudloff alles gestorben, was er auf Gottes Welt lieb gehabt und in ehrfürchtiger Einfalt bewundert hatte. Die Tage gingen ihm jetzt dahin wie dem geblendeten Vogel im Käfig. Er hatte für nichts mehr Sinn und Teilnahme. Selbst der Sturz der Malefikantenrichter flößte ihm kein Interesse mehr ein. Was half ihm das noch?

Da es Zehn schlug, ohne daß der Zunftobermeister heimgekehrt wäre, ging Doktor Ambrosius schlafen. Morgen früh vor Beginn der Ratsversammlung fand sich so wohl noch Gelegenheit, dem schwergeprüften Vater des tapferen Kindes freundschaftlich eine Stunde zu widmen.

Die Nacht verging. Doktor Ambrosius erwachte erst gegen halb Sieben. Als er die Treppe hinunterstieg, ward ihm von der alten Magd, die seit dem Tod Elmas die Wirtschaft führte, umständlich mitgeteilt, Herr Karl Wedekind sei schon um Sechs in hochwichtiger Angelegenheit fortgegangen. „Zum neuen Herrn Bürgermeister, sollte sie sagen, falls Herr Doktor Ambrosius nach Herrn Wedekind fragen würde.

„Er kommt gar nimmer heim vor dem zweiten Frühstück,“ sagte das Weib. „Vom Herrn Weigel geht er dann gleich ins Rathaus.“

Doktor Ambrosius wußte noch nichts von dem Plane des Zunftobermeisters. Mit Woldemar Eimbeck, der ihn so zweifellos von der Sache in Kenntnis gesetzt haben würde, war er seit der gestrigen Ratssitzung nicht mehr zusammengetroffen. Der Zettel jedoch, der ihn zur heutigen Sitzung einlud, enthielt nur die kurze Bemerkung, auf der Tagesordnung stehe nebst anderen Punkten auch der Bericht Karl Wedekinds über die Maßnahmen, zu denen die Ratsversammlung ihn gestern bevollmächtigt habe.

Das neue Stadtoberhaupt war schon längst außer Bett, als Herr Wedekind bei ihm anpochte.

Rolf Weigel hatte um fünf Uhr auf eigene Faust einen reitenden Boten nach Lich gesandt – mit dem ehrfurchtsvollen Ersuchen an den durchlauchtigsten Landgrafen, keinerlei Feindseligkeiten gegen sein treues und gehorsames Glaustädt unternehmen zu wollen, bis man ihm die außergewöhnlichen Gründe zu dem gewaltsamen Vorgehen wider die Zwingherrschaft des Balthasar Noß klar und ausführlich dargethan hätte, was spätestens binnen vierundzwanzig Stunden geschehen solle. Man halte sich überzeugt, daß Seine Durchlaucht das scheinbar ungesetzliche Vorgehen der Bürgerschaft nachträglich in landesherrlichem Wohlwollen gutheißen werde. Glaustädt, obwohl einmütig in der Verwerfung des Malefikantengerichts, denke auch nicht von ferne daran, sich der Botmäßigkeit des allergnädigsten Landgrafen aufrührerisch entziehen zu wollen, wie dies vielleicht von den Anhängern des Balthasar Noß fälschlich behauptet werde.

Um dieser Zuschrift mehr Nachdruck und Wert zu verleihen, hatte Rolf Weigel den seines Amtes entkleideten früheren Bürgermeister Georg Kunhardt zur Mitunterzeichnung veranlaßt. Der weinfrohe alte Herr, der bei all seiner Schwäche ein ganz wackres, ehrliches Haus war und den Sturz des Balthasar Noß nicht ungern sah, hatte Selbstverleugnung genug besessen, dem Wunsch Rolf Weigels ritterlich zu entsprechen – was für die Sache der Aufständischen nicht ohne Belang schien, denn Georg Kunhardt war am Hofe zu Lich wohlangeschrieben.

Jetzt, als Wedekind bei ihm vorsprach, hatte Herr Weigel das alles schon glücklich hinter sich. Er saß im Lehnstuhl vor einem kalten Imbiß und gönnte sich einen herzhaften Schluck feurigen Portweins. Der Zunftobermeister teilte ihm alles, was er seit gestern abend erlebt und erreicht hatte, eingehend mit. Rolf Weigel zuckte ein paarmal die Achseln, als wollte er sagen. „Absolut korrekt ist ja die Sache nicht.“ Aber dann mußte er einräumen daß es Verhältnisse giebt, wo man fünf gerade sein läßt.

Nachdem auch Wedekind, der über das ganze noch jüngst so bleiche und vergrämte Gesicht vor wilder Genugthuung strahlte, ein paar Gläser von dem ausgezeichneten Südwein geleert hatte, machten die beiden Männer sich langsam und schweigend auf den Weg nach dem Rathaus.

Die monumentale Uhr über den altniederländischen Fresken der Rückwand wies ein Viertel auf Neun, als Rolf Weigel die Ratssitzung eröffnete. Zunächst wurden einige Mitteilungen des Hauptmanns Fridolin Geißmar über die Bürgerwehr und über die Schritte entgegengenommen, die er behufs einer ausgiebigen Verproviantierung der Stadt teils gethan hatte, teils noch beabsichtigte. Dann erzählte der Maler und Reißer Kunz Roll etliche Einzelheiten über die Befreiung der Inkulpaten und veranlaßte so die schnell und einstimmig gefaßten Beschlüsse zu ihren Gunsten.

Nachdem dies in kaum einer halben Stunde erledigt war, erhielt der Zunftobermeister Karl Wedekind das Wort zur Berichterstattung.

„Liebwerteste Mitbürger,“ begann er mit einer Stimme, der man die Aufregung anhörte. „Ich kann euch vermelden, daß der Plan, zu dem ihr mich vorgestern bevollmächtigt habt, über alles Erwarten geglückt ist!“ Er hielt inne, um Atem zu schöpfen. Durch die Versammlung ging ein Murmeln des Beifalls, der Neugier, des staunenden Zweifels.

„Hört nun zuvörderst, was ich gethan habe!“ fuhr Karl Wedekind fort. „Ich habe das Malefikantengericht, das ihr aufgelöst habt, wieder eingesetzt. Laßt mich nur erst ruhig zu Ende reden! Ihr sollt schon billigen, was euch jetzt überrascht! Den ehemaligen Beisitzer Wolfgang Holzheuer hab’ ich zum Vorsitzer gemacht. Gestern abend noch hab’ ich ihn aus dem Stockhaus geholt. Er traute zwar seinen Ohren nicht, aber als guter Jurist begriff er doch augenblicklich. Ja, und außerdem hab’ ich die drei bisherigen Schöffen antreten lassen. Macht vier. Ich selbst bin der fünfte gewesen. Und ich versichere euch, liebwerte Freunde, ich habe kein Blatt vor den Mund genommen. Zwölf Glaustädter Bürgersöhne mit Schießzeug und Messern hielten die Eingänge besetzt. In alter Form, wie’s die hochverordneten Malefikantenrichter gewöhnt sind, hab’ ich den schändlichen Balthasar Noß peinlich verhören lassen. Ich hab’ ihn von Amts wegen der höllischen Zauberei beschuldigt.

Karl Wedekind trocknete sich den Schweiß von der Stirn.

„Weiter! Weiter!“ klang es im Chore.

Der Zunftobermeister rollte die Augen, als stünde er noch dem wüsten Zerstörer seines Familienglücks von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er hub mit laut schallender Stimme wiederum an: „‚Elender Schurke‘, hab’ ich ihm zugerufen, ‚willst du mir abstreiten, daß du mit Satanas zum Verderben der Unschuldigen einen himmelschreienden Pakt geschlossen? Daß du zahlreiche Opfer schuldlos gemordet hast?‘ – Auch sonst hab’ ich ihm dutzenderlei aufgeredet. Und wie hat sich der Bube angestellt! Von etlichen armen Weiblein wird uns berichtet, daß sie den Grausamkeiten der Folter bis zum letzten Augenblick tapfer standgehalten und lieber die Seele verhaucht als eine Schuld eingeräumt haben. Der elende Balthasar Noß hat alles gestanden, eh’ noch die Knechte ihr Werkzeug hervorholten! Hier, meine liebwerten Mitbürger, hab’ ich das Protokoll seines Geständnisses, von ihm selbst unterzeichnet und von sämtlichen Richtern. Mich [624] dünkt, dies Aktenstück müßte doch unserm Herrn Landgrafen endlich die Augen öffnen. Soll ich’s hier vorlesen?“

Die Ratsversammlung staunte und starrte. Der Einfall Wedekinds war ja so naheliegend. Gleichwohl hatte ihn keiner gehabt als dieser ungelehrte schlichte Zunftobermeister. Sehr gut! Recht so! Und so stark war die Erbitterung gegen die Blutrichter, daß nirgends auch nur der Schatten eines Bedenkens geäußert wurde. Niemand sprach etwa die Meinung aus, wer über Grausamkeiten und Willkür Klagen erhebe, der dürfe sich doch nicht die nämliche Schuld aufladen. Im Gegenteil: nachdem sich die erste Verblüfftheit gelegt hatte, erschollen überall Freudenrufe und die laute Beteuerung, es sei nur billig und recht, daß der schändliche Volkspeiniger Balthasar Noß, der all diese Greuel über die Stadt herauf beschworen, nun auch mit seiner eigenen Person dazu beitrage, dem irregeleiteten Landgrafen Otto den Star zu stechen.

„Lest, lest!“ riefen die Ratsgenossen. Und Karl Wedekind las.

Die Urkunde enthielt die volle Bestätigung alles dessen, was die Auslage behauptete. Balthasar Noß bekannte sich auf der ganzen Linie ohne jegliche Abmilderung schuldig. Infolge dieses Bekenntnisses wäre er nach bisheriger Praxis zweifellos zur Enthauptung, wenn nicht zur Einäscherung verurteilt worden.

Bei mehreren Stellen des Protokolls unterbrach den Vorleser ein helldröhnendes Hohngelächter. Die Sache entbehrte nicht eines gewissen Humors, trotz ihrer Schauerlichkeit. Eine wirksamere Darlegung, daß der gesamte Hexenprozeß mit seinem ruchlosen Beweisverfahren allen Gesetzen der Vernunft Hohn spreche, war noch niemals erbracht worden. Aber es kam noch besser.

Nach Ablegung seines eigenen Schuldgeständnisses hatte Herr Balthasar Noß in wahnwitziger Angst vor den Daumenschrauben und den spanischen Stiefeln auch eine Anzahl Mitschuldige angegeben. Da war erstens genannt Herr Doktor Adam Xylander, der jetzt im Krankenhause, von fürchterlichen Wahnvorstellungen gequält, sich des Mordes und des Meineids bezichtigte. Ferner die zwei bevorzugten Ratgeber des Landgrafen, der Hofmarschall Benno von Treysa und der Geheimsekretär Schenck von der Wehlen. Dann aber hieß es wörtlich wie folgt:

„Auch bekenne ich hier aus freien Stücken, daß unter den Zauberern und Missethätern, mit denen ich, Balthasar Noß, auf dem Herforder Steinhügel zusammengekommen bin, um Gott zu verleugnen und dem Satan zu huldigen, auch der Landgraf Otto von Glaustädt-Lich voll unermüdlichen Eifers thätig gewesen ist. Möge die aufrichtige Reue die ich jetzt fühle, wirkungslos bleiben in alle Ewigkeit, möge ich ohne Gnade verdammt sein, wenn ich hier nicht die volle, unverschleierte Wahrheit kundgebe. Landgraf Otto von Glaustädt-Lich hat mit den übrigen Unholden wüste Gelage gefeiert, lästerliche Gebräuche verübt und auf die höllische Hostie geschworen, so viel Böses zu thun als irgend in seiner Macht stünde. Er hat gräßliche und schamlose Tänze vollführt, Gott und die heiligen Engel beschimpft und sich zuletzt mit dem Teufel, der die Gestalt eines blühenden Weibes hatte, vermählt. Nachdem der Gerichtsschreiber mir das vorliegende Protokoll Wort für Wort zu Gehör gebracht und mich gefragt hat, ob ich etwa dies oder das widerrufe, erkläre ich nochmals jede Silbe für unanfechtbar, so wahr der Himmel sich meiner erbarmen möge! Des zum Beweise folgt hier meine eigenhändige Unterschrift. So geschehen in Glaustädt am achtundzwanzigsten Julius anno domini sechszehnhundertundachtzig.

Die Wirkung dieses Dokumentes auf die Versammelten war eine ungeheure. Von allen Seiten rief man dem Zunftobermeister Worte des Beifalls und der Bewunderung zu. Doktor Ambrosius schüttelte ihm voll Inbrunst die Hand. Er und Wedekind hatten fürwahr keinerlei Ursache, mit dem gestürzten Blutrichter Mitleid zu fühlen. Doktor Ambrosius war überdies zu gründlich von der Zweckmäßigkeit dieses Aktenstückes durchdrungen, als daß er Zeit und Stimmung für theoretische Skrupel gefunden hätte.

Nach zehn Minuten kam die Angelegenheit zur Beratung. Ein ältlicher Kaufherr meinte, das Protokoll sei ohne Beweiskraft, da sich der Landgraf sofort sagen werde, daß es erpreßt sei.

Die Schiefheit dieser Behauptung ward von Doktor Ambrosius augenblicklich erhärtet. Just auf dieses Erpreßtsein kam es ja bei der ganzen Idee des Zunftobermeisters an. Man wollte dem Landgrafen an diesem Beispiel darthun – was ihm auch ohnehin die gesunde Vernunft hätte sagen können, daß durch die schauerlichen Hilfsmittel der Folter, ja durch die bloße Furcht davor jedes, auch das unsinnigste Geständnis erzielt werden könnte.

Man kam überein, der Notar Weigel und zwei der vornehmsten Patrizier sollten sich heute noch mit dem seltsamen Dokument, von dem man übrigens eine beglaubigte Abschrift behielt, nach Lich begeben. Der Notar wurde beauftragt, die Ueberreichung so zu begründen, wie ihm dies der Augenblick eingeben würde. Daß Landgraf Otto die Abgesandten ohne Verzug anhören werde, dafür sprach eine ganze Reihe von Umständen. Ein offener Konflikt konnte bei der jüngsthin wieder zu Tage getretenen Hartnäckigkeit gewisser Dernburgscher Ansprüche leicht zu folgenschweren Erörterungen führen. Der Landgraf war also schon durch sein eigenes Interesse gehalten, den tapferen Glaustädtern eine goldene Brücke zu bauen.

Die Sitzung ward gegen zehn Uhr geschlossen. Der Notar und die beiden Ratsherren machten sich reisefertig.

Woldemar Eimbeck indes und Doktor Ambrosius begaben sich nach der Wohnung des Stadtpfarrers Melchers. Doktor Ambrosius fühlte das heiße Bedürfnis, dem ehrwürdigen Mann für die tröstende Teilnahme, die er der armen Verurteilten geschenkt hatte, innig zu danken. Woldemar Eimbeck wünschte mit Herrn Melchers über die Predigt des kommenden Sonntags Rücksprache zu nehmen. Hier und da zeigte sich noch in den Gemütern der Glaustädter ein heimlicher Zwiespalt. Woldemar Eimbeck hatte das mehrfach herausgefühlt. Ein Teil des Volkes hatte noch immer das dunkle Gefühl, als sei diese Verschwörung nicht ein Akt berechtigter Notwehr, sondern ein sündiger Aufruhr gewesen. Falls der Herr Pastor nun die Gewogenheit hätte, demnächst von seiner Kanzel herab ein paar Worte milder Beruhigung zu sprechen und das Thema von dem getretenen Wurm zu erörtern, und von dem Bogen, der da zerbricht, wenn er zu straff gespannt wird, dann mochte das viel dazu beitragen, die allgemeine Gewissensruhe und das öffentliche Vertrauen zu festigen.

Woldemar Eimbeck trug ihm dies Ansuchen äußerst beredt vor. Herr Melchers aber weigerte sich mit großer Bestimmtheit.

„Das Treiben der Blutrichter hat auch mir stark widerstrebt, sagte er traurig. „Ja, im vorigen Herbst, als der Herr Landgraf während der Stauffheimer Jagden zwei Tage hier war, hab’ ich’s sogar gewagt, ihm dieserhalb in schuldiger Ehrerbietung Bestellungen zu machen. Die Gewalt aber, die das Gesetz bricht, kann ich als Diener der Kirche unmöglich verherrlichen. Ich bin durchaus nicht so engherzig, über euch und euer Verfahren blindlings den Stab zu brechen. Nur verlangt nicht, daß ich es anpreise.

Woldemar Eimbeck zuckte die Achseln.

„Jeder nach seiner Art,“ wiederholte er leise. „Da hört Ihr’s, Ambrosius! Beinah’ hätt’ ich mir’s denken können.

„Hochwürdigster Herr“, sprach Doktor Ambrosius, „wenn Eure herzliebe Tochter Margret an Stelle Hildegards das Opfer der Blutrichter gewesen wäre, Ihr hättet vielleicht mehr Verständnis für die Handlungsweise des Mannes, der da nicht duldet und abwartet, sondern mutig zur That schreitet.

„Ich habe Verständnis dafür,“ sagte Herr Melchers. „Aber als Priester steh’ ich und falle ich mit dem Gesetz.“

„Erlaubt Ihr noch,“ fragte Woldemar Eimbeck zögernd, „daß wir nach dieser unwillkommenen Belästigung Eure Gemahlin und das Fräulein begrüßen?“

Statt aller Antwort führte Herr Melchers die beiden Männer ins Wohngemach, wo die schwarzäugige Margret mit bangem Herzklopfen dem Hall der Stimmen gelauscht hatte, die im Arbeitszimmer des Vaters so merkwürdig ernst durcheinander klangen.

Margret Melchers hatte sich während der letzten Zeit auffällig verändert. Sie schien bleich, zaghaft und tief nachdenklich. Das Unglück Hildegard Leutholds raubte ihr fast den Verstand, zumal sie im Anfang keineswegs von Hildegards Schuldlosigkeit überzeugt war. Seit dem Ausbruch der Rebellion hatte sie vollends keine ruhige Sekunde gehabt. Der Mann ihrer [626] heimlichen Liebe stand ja leider Gottes mit an der Spitze des Aufruhrs. Die Sache, für die Woldemar Eimbeck stritt, mußte wohl selbstverständlicherweise edel und gut sein. Aber die ungeheure Gefahr! Und dann – wer sich so mit Gut und Blut dem Gemeinwesen widmete, konnte der noch was übrig haben für ein kleines unbedeutendes Mädchen, das nicht einmal mehr den Vorzug besaß, unterhaltsam und lustig zu sein?

Gleichzeitig mit Woldemar Eimbeck und Doktor Ambrosius trat von jenseit die Frau Pastorin über die Schwelle. Die frische, kernhafte Frau wußte bereits, daß sich die Aussichten der Rebellion gar nicht so ungünstig anließen, wie dies von einzelnen Schwarzsehern behauptet wurde. Und wenn selbst alles hier fehlschlug – Woldemar Eimbeck war schon der Mann danach, sich um seine persönliche Zukunft nicht weiter grämen zu müssen. Der fand überall ein gemachtes Nest – in Frankreich so gut wie in England oder Italien. Und daß sich die beiden, Woldemar Eimbeck und ihr niedliches Töchterlein, heiß lieb hatten, das war ihr längst klar wie das himmlische Sonnenlicht. Sie gab also dem Ratsbaumeister wie seinem Freunde Ambrosius ohne weiteres die Hand, hieß sie willkommen und tischte dann, unbekümmert um Gesetzmäßigkeit oder Nichtgesetzmäßigkeit, einen achtbaren Frühtrunk auf. Herr Melchers hatte sich gleich an der Thür wieder zurückgezogen. So saßen die Vier wohl zwanzig Minuten lang und schlürften das läßliche, rotbraune Glaustädter Bier und stießen hoffnungsfroh miteinander an auf allseitiges gutes Gelingen. Woldemar Eimbeck sagte noch nichts Entscheidendes. Zu einer förmlichen Werbung war ja der Augenblick nicht eben günstig. Aber die glutäugige kleine Margret verstand ihn. Als sich die Freunde erhoben – Woldemar Eimbeck, um sich mit Fridolin Geißmar zu treffen. Doktor Ambrosius, um nach dem Haus des Magisters Leuthold zu wandern – da hatten sich alle Trübseligkeiten im Herzen des glücklichen Mädchens vollständig aufgehellt. Fast noch eh’ sich die Thüre des Vorzimmers hinter den Männern geschlossen hatte, fiel Margret ihrer gerührt lächelnden Mutter stürmisch um den Hals und küßte sie leidenschaftlich.

30.

Der vierte Tag seit der Wegreise der Ratsabordnung begann sich zu neigen. Die Männer, die man beauftragt hatte, der Sache von Glaustädt vor dem Landgrafen das Wort zu reden und die Nichtswürdigkeit der bisherigen Zustände aufzudecken, wurden jetzt stündlich zurückerwartet.

Schon vorgestern hatte Rolf Weigel an Doktor Ambrosius eine Zuschrift gerichtet, die zwar noch nichts Endgültiges meldete, aber den Rat und die Bürgerschaft doch im wesentlichen beruhigte. Vorerst sei der Landgraf allerdings über die Maßen erzürnt gewesen und habe die Deputation überhaupt nicht anhören wollen, sondern Lust bezeigt, ohne weiteres die drei Delegierten als Aufrührer in Haft zu nehmen. Ein kurzes und sehr bestimmtes Gespräch aber zwischen Rolf Weigel und dem landgräflichen Hausminister von Gehlbrunn habe die Wirkung erzielt, daß Seine Durchlaucht sich anders besonnen und die Glaustädter Abgesandten in mehr als zweistündiger Audienz empfangen habe. Gleichzeitig müsse am landgräflichen Hofe – wie der Notar aus verschiedenen Aeußerungen des Herrn von Gehlbrunn schließe – eine geheimnisvolle, außerordentlich wichtige Botschaft angelangt sein, die von gewissen Machinationen einer benachbarten Regierung handle und dem Landgrafen den Wunsch einer raschen Verständigung mit den Glaustädtern nahe legen. Thatsache sei, daß seine Durchlaucht bei der Audienz zwar streng und gemessen, aber nicht ungnädig dreingeschaut und sich jeder Kritik des Vorgefallenen mit augenscheinlicher Absichtlichkeit enthalten habe.

„Das Protokoll über die peinliche Vernehmung des Balthasar Noß – das war der Schlußpassus des Weigelschen Briefes – „haben wir in den Händen des Landgrafen zurücklassen müssen. Noch an dem selbigen Abend erhielt ich vom Hausminister von Gehlbrunn die Mitteilung, Seine Durchlaucht verlange mit mir eingehend zu erörtern, was in dieser schwerwiegenden Angelegenheit zu geschehen habe. Zu diesem Behufe sei ich auf zehn Uhr früh in das landgräfliche Schloß bestellt. Ich hoffe zu Gott, daß alles in Frieden und Freundschaft sich abklären wird. Doktor Ambrosius setzte den Rat von dieser Zuschrift in Kenntnis und bald wußte ganz Glaustädt, wie es um die Sache der Deputation stand. Allgemeinste Genugthuung. Rolf Weigel war gewiß nicht der Mann danach, die Verhältnisse zu rosig zu schildern. Immerhin konnten sich unverhoffte Schwierigkeiten ergeben. Auch brannte man auf die Einzelheiten. So war es begreiflich, daß man der Rückkehr der Abgesandten mit wahrhaft stürmischer Unrast entgegenharrte. Etwa um Sechs, halb Sieben sollten die Herren durch das Gusecker Thor einfahren. Schon um Fünf staute sich dort jenseit der Stadtmauern eine geräuschvolle Menschenmenge. Die ganze Bevölkerung schien auf den Beinen. Immer weiter hinaus zog sich der buntwimmelnde Schwarm, getrieben von der wachsenden Ungeduld, möglichst frühzeitig den Liebling des öffentlichen Vertrauens, Herrn Rolf Weigel, zu bewillkommnen und von ihm selber zu hören, was er bei Seiner Durchlaucht dem Landgrafen ausgerichtet.

Wo die Gusecker Heerstraße in südöstlicher Richtung nach dem Pfarrdorfe Lützelheim abbog, da stand Doktor Ambrosius als einer der Vordersten und blickte hinaus über die gelbschimmernden Stoppelfelder, die sich hier mit ihren endlosen Reihen von hochaufgeschichteten Garben bis an den Rand des Gehölzes zogen. Er war ja fest davon überzeugt, daß die Gefahr einer feindseligen Auseinandersetzung mit der Regierung von Lich endgültig überwunden sei. Rolf Weigel hätte sonst längst Mittel und Wege gefunden, seinen Mitbürgern Nachricht zu geben. Trotzdem sehnte sich Doktor Ambrosius inbrünstig, wie kein anderer aus dieser ungeduldig harrenden Schar, nach der vollen Bestätigung seiner Zuversicht. Erst das amtliche Ja und Amen würde die letzte Bangigkeit seiner Seele hinwegnehmen. Es wäre doch gar zu trübselig gewesen, Hildegard und ihren Vater aus dem behaglich eingerichteten Heim in der Grossachstraße hinter die Stadtmauern oder nach Dernburg bringen zu müssen – jetzt, wo die Genesung der beiden so erfreuliche Fortschritte machte! Und hiervon abgesehen. Glaustädt, die teure Heimat, sollte nicht in das Unheil einer Fehde verstrickt werden, wo dies irgend vermeidbar schien!

Zum erstenmal seit der Niederwerfung der Blutrichter überkam ihn hier das Gefühl einer schweren Verantwortung. Aber da streifte sein Blick die Hochfläche des Böhlauer Triebes, wo man vor zwei oder drei Tagen erst den Scheiterhaufen hinweggeräumt hatte. Und Doktor Ambrosius schämte sich. Falls es denn wirklich zum äußersten käme – wohlauf in den Kampf! Kein feiges Bedauern, wenn die Verteidigung des Rechts und der Freiheit Opfer kostete! Und so lebhaft war jetzt in ihm der Haß wider die Knechtschaft erwacht, daß er für Augenblicke vergaß, wie fest er auf eine frohe, friedliche Wendung hoffte.

Endlich sah man am Ausgange des Dorfes hinter dem halbhohen Ellerngesträuch das Blinken und Blitzen eines zweispännigen Hofwagens. Die sinkende Sonne warf ihren goldigen Glast auf das welsche Kostüm des borten- und tressengeschmückten Kutschers, der mit unnachahmlicher Steifheit und Würde die breiten silberbeschlagenen Zügel hielt. Rechts und links hinter dem prunkhaft ausgestatteten Fuhrwerk sprengten als Ehrengeleite sechs landgräfliche Kürassiere in flammendem Brustharnisch. Besser konnte der Landgraf seiner Glaustädter Bürgerschaft nicht bekunden, daß er vollste Indemnität erteilte. Rolf Weigel mit seinem Adlerblick hatte den jungen Arzt schon von weitem erkannt. Freudestrahlend zog der Notar seinen breitkrempigen Hut, stellte sich auf und winkte dem Harrenden triumphierend zu.

Jetzt fuhr der Wagen im Schritt. Die Heerstraße stieg. Mit jeder Minute hörte man deutlicher das Knirschen und Stoßen der Räder. Auf der Höhe des Wegs angelangt, machte die landgräfliche Kutsche Halt. Rolf Weigel konnte sich’s nicht versagen, den Doktor Ambrosius, der dem Fuhrwerk noch eine ziemliche Strecke weit entgegengeeilt war und nun glühend vor Aufregung zum Schlage herantrat, mit ganz besonderer Feierlichkeit zu begrüßen. Er streckte ihm vor dem ungestüm herandrängenden Volk beide Hände entgegen und rief pathetisch:

„Ein frohes Glückauf dir und allen Freunden und Mitbürgern! Die Sache Glaustädts hat obgesiegt. Seine Durchlaucht waren die Gnade und Huld selbst. In weiser Erwägung der obwaltenden Umstände billigt der Landgraf nachträglich, was hier geschehen ist. Ja, Seine Durchlaucht sprechen sogar dem findigen Zunftobermeister Karl Wedekind ihren hochfürstlichen Dank aus, weil er – wenn auch mit etwas bedenklichen Mitteln – den Irrwahn zerstört hat, den arge Sophisten [627] und üble Ränkeschmiede dem frommgläubigen Landesvater in tückischer Arglist um die wohlmeinende Seele gesponnen. Der Hofmarschall Benno von Treysa und der Geheimsekretär Schenck von der Wehlen, die Hauptstützen der Malefikantenverfolgung, sind ihres Amtes entsetzt. Weitere Entlassungen werden im Lauf dieser Tage folgen. Morgen bereits wird Seine Durchlaucht einen zu diesem Zweck eigens ernannten Regierungskommissarius nach Glaustädt senden, der in Gemeinschaft mit den Vertretern der Ratsversammlung alles Weitere erörtern soll. Der Landgraf will, daß man im ganzen Lande dem Hexenwahn eifrig entgegenwirkt. Lehrer und Geistliche sollen gehalten sein, ihr Augenmerk ganz besonders auf diesen Punkt zu richten. Auch will Seine Durchlaucht die Schriften des edlen Friedrich von Spee und anderer Feinde der Malefikantenverfolgung in zahllosen Exemplaren unter das Volk bringen.

„Gott sei gelobt!“ rief Doktor Ambrosius, als der Notar innehielt. „Das ist so ein ganzes Füllhorn glücklicher Botschaften! Wahrhaftig, Ihr habt da den großartigsten Sieg erfochten, den unser Glaustädt jemals erlebt hat!“

„Nicht ich, sondern die Wahrheit und die Vernunft haben den Sieg erfochten. Balthasar Noß wird nun zunächst wegen der schnöden Mißachtung unserer Protesturkunde, und zwar vom Hoftribunal zu Lich, prozessiert werden. Außerdem aber steht ihm wegen verschiedener sonstiger Uebelthaten die Anklage hier in Glaustädt bevor. Ich erzähl’ Euch das alles später. So lange Herr Noß allmächtig war, hat man geschwiegen. Jetzt hört diese Rücksicht auf – und da kommt der Zusammenbruch!“

Als Weigel geendigt hatte, schaffte der langverhaltene Jubel, der die stumm lauschenden Volksmassen bewegte, sich mit brausender Heftigkeit Luft. Aus dem Gewaltstreich der kühnen Rebellen würden also der Vaterstadt keinerlei Wirrnisse erwachsen! Man konnte jetzt seines Daseins wieder in Ruhe froh werden. Das war die Erkenntnis, die selbst die Aengstlichsten unwiderstehlich fortriß.

„Hoch lebe der Landgraf! Hoch lebe Herr Weigel, der Bürgermeister!“ scholl es vielhundertstimmig um den höfischen Prunkwagen herum. Die Kutschpferde schnaubten und stampften, der Grauschimmel eines der landgräflichen Kürassiere bäumte sich bei diesem unerwarteten, donnerähnlichen Lärm, der für Weigel eine Huldigung ersten Ranges bedeutete.

„Auf Wiedersehen!“ rief der Notar dem Doktor Ambrosius zu, als sich der Aufruhr dieser Begeisterung einigermaßen gelegt hatte. „Ich treff’ Euch im Rathaus!“

„Auf Wiedersehen!“ murmelten auch die zwei Patrizier, die sich bis jetzt im Bewußtsein, daß Rolf Weigels geistiger Ueberlegenheit in der That beinahe alles zu danken war, mit der Rolle schweigsamer Gefolgsmänner begnügt hatten.

Und so rollte der Hofwagen, von den sechs landgräflichen Kürassieren im blitzenden Harnisch begleitet, über die stiebende Heerstraße der abendlichtumfluteten Stadt zu.

31.

Dem Landgrafen Otto von Glaustädt-Lich war es mit seiner Umkehr und Reue tiefinnerlich Ernst. Nicht nur, daß er alles das ausführte, was er der Abordnung des Glaustädter Rates unter dem Eindruck der ersten Gemütsbewegung versprochen hatte, er suchte auch sonst eifrig dahin zu wirken, daß dem leider noch immer tiefwurzelnden Aberglauben auf allen Gebieten die Zufuhr abgeschnitten und Einsicht und Wissen von Jahr zu Jahr in weitere Kreise verpflanzt wurden. Das Andenken der zahlreichen Unglücklichen, die von dem Glaustädter Blutgerichte zum Tode verurteilt und exekutiert worden waren, befreite er durch ein Regierungsdekret ausdrücklich von dem darauf lastenden Makel und ordnete in allen Kirchen des Landes große Entsühnungsfeierlichkeiten und Büßungen an. Zum dauernden Zeichen der Volksreue ward noch vor Ende September in Glaustädt der Grundstein gelegt für die nachmals berühmt gewordene Glaustädter Christuskirche, mit deren Ausführung der schöpfungsmächtige Ratsbaumeister Woldemar Eimbeck betraut wurde.

Der glorreiche Umschwung in der Landgrafschaft Glaustädt-Lich übte auf den Fürsten Maximilian von Dernburg eine tiefbedeutsame Wirkung aus. Der Fürst begeisterte sich so nachhaltig für seinen ehrlichen und charaktervollen Grenznachbarn, der da den Mut hatte, sofort nach erlangter Einsicht seine bisherigen Irrtümer frei zu bekennen, daß er, Maximilian, die traditionelle, vornehmlich von dem ausgezeichneten Rechtsgelehrten Herrn Theodor Welcker vertretene fürstlich Dernburgsche Hauspolitik über Bord warf und von jetzt ab jeden Anspruch auf das ehedem reichsunmittelbare Glaustädt aufgab. Beide Regenten traten mehr und mehr in persönlich freundschaftliche Beziehungen und ihre Länder galten von jetzt ab für die ausgesprochensten Hochburgen der Intelligenz und der Freiheit, während im übrigen Deutschland noch auf Jahre hinaus zur Schmach der Menschheit die entsetzlichen Holzstöße der Blutrichter fortloderten. –

Im Weinmonat, als an den Hängen der Gusecker Hügel die frohen Gesänge der Winzer und Winzerinnen erschollen, fand in dem lieben, traulichen Haus an der Grossachstraße die Hochzeit des Doktor Ambrosius und seiner jungblühenden Braut statt. Woldemar Eimbeck und die kleine schwarzlockige Margret Melchers waren schon etliche Wochen vorher zum Altar getreten und wohnten nun dieser Vermählungsfeier als junges Ehepaar bei. Hildegard Leuthold trug einen schweren, dichtwallenden Brautschleier, der so reich und kunstvoll mit Spätrosen und Myrten besteckt war, daß man das Fehlen der einst so üppigen lichtbraunen Zöpfe kaum noch bemerkte. Der wackere Magister hatte sich vollständig wieder erholt. In alter Kraft und Gesundheit brachte er mit goldfunkelndem Rheinwein den Trinkspruch aus auf das Glück und die Zukunft seiner herzlieben Kinder. Dann erhob der Bürgermeister von Glaustädt Rolf Weigel das Glas und feierte den glückstrahlenden Bräutigam als den ruhmgekrönten Befreier der Heimat. Woldemar Eimbeck, den Rolf Weigel bei diesem Anlaß miterwähnte, stellte bescheidentlich fest, daß der erste Gedanke einer Auflehnung wider die Mißwirtschaft der schändlichen Volkspeiniger allerdings in der Seele des Doktor Ambrosius aufgekeimt sei. Er selbst habe sich diesem zornsprühenden Freiheitsapostel nur angeschlossen wie der Aehrenleser dem Schnitter. Jetzt aber gelte sein Hochruf weder dem jungen Achilles, der die feindliche Zwingburg so kühn und heldenmütig erstürmt habe, noch dem vielgewandten Odysseus Rolf Weigel, dessen erprobte Staatsklugheit für die Bürger von Glaustädt wahrscheinlich noch mehr geleistet, sondern dem würdigen Brautvater, dem die allgütige Vorsehung nach so schmerzlichen Prüfungen nur noch heitere, sonnige Tage und die Erfüllung alles dessen bescheren möge, was er im tiefsten Grund seines Vaterherzens hoffe und wünsche.

Als Doktor Ambrosius zu vorgeschrittener Nachtstunde seine liebreizende Hildegard in das wohleingerichtete Heim an der Kirchgasse führte, wo sie nun schalten und walten sollte als seine treue, fürsorgliche Lebensgefährtin, da flüsterte sie im Ueberschwang ihres jungen Glücks: „Mir ist’s wie ein Traum! Noch glaub’ ich zuweilen das Aechzen der Thürangeln im Stockhaus zu hören, wo ich so trostlos war und so elend! Und jetzt …!“

Sie warf sich weinend an seine Brust. Er aber zog sie sanft über die Stubenschwelle. „Süßer Liebling! Laß die Vergangenheit ruh’n! Mit Gottes Hilfe haben wir über das Schicksal gesiegt. Nun bist du mein und ich halte dich fest und freue mich der entzückenden Gegenwart.“

„Ja, du hast recht!“ sagte sie, glücklich zu ihm aufschauend. „Und ich will das alles auch gern erduldet haben, weil es der Anlaß war, daß so viele aus Jammer und Qual befreit und gerettet wurden. Jetzt kein Wort mehr davon!“

Glutüberströmt schaute sie sich in dem trauten Gemach um, wo eine silberne Hängelampe ihr mildfreundliches Licht verstreute.

Als sie den Brautkranz mit leise bebender Hand aus dem Haar löste, brach sie von dem handbreiten Geflecht einen Zweig ab und legte ihn sorgfältig auf die buckelbeschlagene Eisentruhe neben dem Kachelofen.

„Das bringen wir morgen als Totengruß auf den Grabhügel der kleinen Elma,“ sprach sie bewegt. „Ich hab’ mir’s gelobt, wie uns der Priester den Segen gab.“

Doktor Ambrosius küßte ihr schweigend die Lippen. Vom Turm der Marienkirche schlug es halb Eins. Und über den Dächern und Giebeln des nächtlichen Häusermeeres stieg in gelbrotem Fackelscheine der herbstliche Mond herauf.