Zwischen Elbe und Alster/Von der Straße
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[95] Es war einer jener Abende, wo der Winter sich in seiner ganzen feierlichen Schönheit offenbart, selbst in der Stadt.
In kurzen, verlangenden Blicken scheint der Mond durch die weich geballten Wolken, die Fußtritte auf dem übereisten Pflaster klingen hell wie auf Stahl. Wie weggeblasen ist der Geruch der Bierstuben und Fischräuchereien, der Käsekeller und Heringslager vom reinen Atem des Januars; auch in den engen Straßen riecht es nach Luft, und das Gehen macht warm, daß man Hut oder Pelzkappe gern von der Stirn zurückschiebt und den Rockkragen lüftet. Die Vorübergehenden plaudern und lachen, als ob es Sommer wäre und man keine Eile hätte mit dem Heimgehen. Der rastlose Wind ruht; höchstens an den Straßenecken macht er sich bemerkbar und bläst uns in die Ohren, daß die Elbe voll Eis gehe, und daß man auf der Alster von früh bis in die Nacht Schlittschuh laufe.
[96] Ich bog eben in die stille breite Mühlenstraße ein und freute mich an dem Spiel, das der Mond mit dem Michaelisturm trieb; wie er behend die zwischen den Pfeilern schwebende Wendeltreppe auf- und abkletterte und aus den obersten Dachluken herausschien, als sei er beim Türmer zu Besuch gewesen.
Da trat dicht vor mir ein Mann aus einem Hause, eine untersetzte, kräftige Gestalt, die durch ihre unsteten Bewegungen meine Blicke auf sich zog. Er hatte den kleinen, schwarzen Hut im Nacken sitzen, und den Rock nicht zugeknöpft, der ihm mit seinen langen Schößen fast bis auf die Knöchel reichte. Ich hörte ihn eben spöttisch auflachen und sagen:
„Na du, ich finde, wir treffen uns aber kolossal oft!“
Die Person, an die er diese Worte richtete, schien ihm entgegengekommen zu sein und hing nun an seinem Arm. Es war ein Mädchen in dunklem Hut und Mantel, doch sah sie aus, als ob sie diesen Putz nicht täglich trage. Sie hatte zu ihrer mittelgroßen, hageren Gestalt eine werkwürdig kleine, ängstliche, ganz von innen herauskommende Stimme, mit der sie jetzt leise erwiderte:
„Das finde ich nicht; ist es so oft?“
Er (in gezwungenem, witzelndem Ton): „O, ich will nicht sagen, daß ich mich darüber freue!“
[97] Er sprach grell und laut und setzte mit einem stürmischen Lachausbruch hinzu: „Und so ganz aus Zufall!“
Sie (mit unterdrückter Stimme): „Es ist auch Zufall, das heißt –“
Er: „Zufall? hahaha! Nein du, hör, sei doch bloß einmal aufrichtig! Sprich dich doch ein einziges Mal aus! Sprich rein, wie du denkst! Nein sieh, tu mir den Gefallen!“ (Er ließ ihren Arm fahren, trat ein paar Schritte zurück und betrachtete sie von Ferne, dann brach er abermals in Lachen aus.)
Sie (halb weinend): „Sei doch nicht so laut, ich bitte dich, Emil!“
Er: „Laut? Wen geht das was an? (Er sah sich herausfordernd nach mir um.) – Und gerade, wo ich gehen und ein Glas Bier trinken wollte.“
Sie antwortete nicht.
Er (mit heftigem Schelten): „Siehst du wohl! man kann kein Wort sagen, so fängst du gleich an zu maulen! Das ist nu all das zweitemal heute.“
Sie (kläglich): „Ich habe nicht gemault.“
Er (mit schallendem Lachen): „Ich habe nicht gemault! ich habe nicht gemault! hahaha!“
Sie (noch kläglicher): „Ich habe es nicht getan, warum lachst du so laut?“
Er: „Es hört sich bloß so komisch an; ich habe nicht gemault! hahaha!“
[98] Sie: „Die Leute kucken dich an! Sei doch still!“
Er: „Wer hat mir was zu befehlen? wer? (Er schob den Hut ganz zurück und fuchtelte mit dem Stocke umher.) Ich bin wütend! Ich bin wütend auf die ganze Welt. Nichts als Schinderei den ganzen Tag. Die Menschheit ist keinen Schuß Pulver wert! Da wohnt auch so einer! (Er ballte die Faust gegen ein stattliches Haus an der andern Seite, aus dessen Bogenfenstern helles Licht, durch rote, seidene Vorhänge gedämpft, herüberfiel.) Man gut, daß die mit ihren Millionen auch mal sterben müssen!“
Sie: „Hast du dich nicht gut amüsiert gestern? Du bist doch ausgekommen?“
Er: „Ja das woll! Wir haben allerlei Jux gehabt, sind bis nach Winterhude Schlittschuh gelaufen –“
Sie: „Es war schön auf der Alster, nicht du? Bloß hatte das Eis so viele Rillen.“
Er (plötzlich argwöhnisch): „Sieh, du bist also gestern auch auf’m Eis gewesen? Sie gehn woll jetzt jeden Abend aus, mein Fräulein?“
Sie (bittend): „Ich dachte, daß ich dich vielleicht treffen würde –“
Er: „Nee, meine Gute, das ist ’ne Ausrede. Denn seh ich auch wirklich gar nicht ein, warum [99] ich hier das ganze Ende mit Ihnen längs laufe! Ich bin so all zweimal heute ’ne weite Tour gelaufen fürs Geschäft, ganz nach Uhlenhorst, hin und zurück.“
Er blieb mit ungeduldigem Achselzucken stehen und tat, als wolle er rechts abbiegen.
„Gott, Emil, sei doch nicht so!“ bat sie eindringlich, etwas Weißes aus der Tasche ziehend, „kuck mal, das hab ich dir mitgebracht, nu kannst du doch woll sehn –“ Sie weinte leise.
Er: „Siehst du woll? All wieder! Es ist nicht mehr auszuhalten. (Er riß ihr den Brief aus der Hand und schlug heftig damit hin und her.) Was ist es denn? Hunderttausend Taler? Das wär doch noch der Mühe wert! Alles andre ist Quark! Und du – du kannst mir im Mondschein begegnen.“
Sie (heftig weinend): „Ach, Emil, sei doch nicht so eklig, es ist – es ist – mein Bild! Wenn du so gut sein und mit mir nach Hause kommen wolltest –“
Er: „Du hast dich abnehmen lassen? Du mit deinen Schellfischaugen?“ Er musterte sie lachend von oben bis unten, dann schob er das Kuvert nachlässig ein. „Das krieg ich jawoll noch früh genug zu sehen, – ja, jawoll, ich geh mit, aber bloß, weil ich es deinem Bruder versprochen [100] hab, heute noch vorzukommen. Ich hab es versprochen, siehst du, und wenn ich mal mein Wort gegeben habe –“
Das Paar war um eine Straßenecke verschwunden, ich hörte seine brutale Stimme in der Ferne: „Na, hast du noch was zu bemerken?“ dann war es still. Vor mir aber auf dem hellen reinen Trottoir lag etwas Weißes. Ich hob es auf, es war ein Kuvert mit einer Photographie, unzweifelhaft dieselbe, von der eben gesprochen worden. Im Lichte einer Straßenlaterne besah ich das Bild, das Brustbild eines ziemlich hübschen, sanften Geschöpfes mit etwas vorstehenden Augen und lockenbeschatteter niederer Stirn. Auf der Rückseite stand geschrieben: „Für meinen lieben Emil.“
Kopfschüttelnd steckte ich das Bild zu mir. Ich fühlte keinen Drang, dem Eigentümer nachzulaufen, um es ihm wieder zuzustellen. Er verdiente es wahrlich nicht.
Der Mond war jetzt ganz aus dem Gewölk hervorgetreten; es war wohl nicht kälter geworden, aber mich fröstelte, die Schönheit des Abends schien mir besudelt, und ich gedachte mit Inbrunst und Sehnsucht all der guten und zärtlichen Bande, die mich mit Menschen verknüpfen, bis ich vor meiner Haustür stand. – –
Es war sechs Wochen später, ein feuchtwarmer [101] Märzmorgen, der mich immer unwiderstehlich ins Freie lockt.
Der Reif der letzten Nacht hängt in Tropfen an den Dachrändern, den Holzzäunen, den Eisengittern, und jedes Tröpfchen ist ein Spiegel, in dem sich die junge Sonne besieht und aus dem sie lächelnd ruft: „Es wird bald Frühling!“ In den weißlichen Himmel steigt der leichte Rauch so unbeschwert, so mutwillig flatternd wie ein fröhlicher Gedanke; und um die nassen gleißenden Mauern, um die Gaslaternen, auf deren Fenster die Sonne ganze Strahlenbatterien schießt wie zum Spott, und dann wieder hinab zu der blanken Alster mit den schaukelnden Booten schweben mit lautem Gezwitscher und reißendem Fluge die ersten Schwalben. Alles lacht und glänzt, von den roten Radieschen in den Fruchtkellern bis zu den roten Ärmelaufschlägen der Polizeisoldaten, die da eben einen Gefangenen über den Pferdemarkt nach der Raboisenwache transportieren. Sie haben Mühe und Not mit ihm, obgleich er gefesselt zwischen ihnen geht; er stößt und schlägt mit den geschlossenen Fäusten nach ihnen, so daß die Leute stehen bleiben und in sein bleiches, gedunsenes Gesicht sehen, das er frech und ohne Scham den Blicken ausstellt, denn er hat den Hut ganz in den Nacken geschoben.
„Was hat er verbrochen?“
[102] Die Leute murmeln von schwerem Einbruch und Raub; der Kerl kuckt herausfordernd nach rechts und links, jetzt lacht er gar, grell und gezwungen, und wie ein Blitz fährt es mir durch den Kopf; Herrgott, das ist ja der Mensch von neulich abends! Heute nun verdirbt er mir den Frühlingsmorgen.
Ich folge unwillkürlich seinen Blicken, – ach ja, da steht auch sie an dem Torweg drüben, mit ihrem sanften dummen Gesicht, stumm und versteinert, die Hände abwehrend vorgestreckt, die Augen noch weiter vorstehend als auf dem Bilde, ohne Locken heute, die Backen schmal und eingefallen. Sie trägt keinen Hut, kein Tuch; sie ist barhaupt und hat eine Nähschürze um, als sei sie nur gerade so von der Arbeit aufgesprungen und herausgelaufen, um das Schreckliche zu sehen.
Eben treibt ein Bauernbursche ein ausgedientes Pferd heran, gerade auf sie zu. Ach so, über dem Hoftor dort steht ja zu lesen: Roßschlachterei. Das elende Tier kommt kaum vorwärts, es ist, als ahne es die Schlachtbank; es möcht an dem Torweg vorüber, aber der Bursche hebt den Stock und haut es erbarmungslos auf den hageren Rücken, aus dem die Knochen hervorstehen. Das Pferd bäumt sich schwach, doch als er wieder schlägt, stöhnt es laut auf, und auf einmal begegnen sich die Augen der beiden mißhandelten Kreaturen, die des Tieres und [103] die des Weibes. Mit einem markerschütternden Schrei bricht das Mädchen zusammen.
Hat der Verbrecher den Schrei verstanden? Er wirft den Kopf unruhig auf die andre Seite, ein fahles Rot überfliegt sein wüstes Gesicht. Dann läßt er die Schultern hängen und ergibt sich widerstandslos und stumpf den ihn führenden Polizisten.
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