Aus den letzten Stunden einer Monarchie

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Autor: Johannes Scherr
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Titel: Aus den letzten Stunden einer Monarchie
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aus: Die Gartenlaube, Heft 23–25, S. 360–362; 373–378; 391–394
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Die französische Revolution 1848
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Aus den letzten Stunden einer Monarchie.
Von Johannes Scherr.

Die Uhr des zu den Tuilerien gehörenden Pavillon de l’Horloge schlägt ein Uhr, die erste Stunde des 24. Februar 1848. Die Nacht ist frostig und finster, aber der Widerschein ihrer Myriaden von Gaslichtern macht die über der Riesenstadt hängende Dunstmasse weißlich schimmern. Der alte Königspalast, welcher schon so viele Schicksalswechsel gesehen, diese Tuilerien, in denen Marie Antoinette intriguirt, der Convent vulcanisirt und Napoleon despotisirt hatte, sie zeigen auch zu dieser Stunde in ihrem Innern, wie in ihrer Umgebung, jenes unbeschreibliche Ungewöhnliche, Unruhige, Hastvolle und Bängliche, welches Katastrophen von Herrschern und Staaten vorauszugehen pflegt, wie der Staubwirbel aufwühlende Windstrom dem Gewitter voranwallt. Die Wachtposten sind überall verdoppelt, verdreifacht. Das Gitter des großen Hofes ist geschlossen. Die ganze Vorder- und Hinterfront des Schlosses entlang ist in allen Stockwerken eine Masse von Fenstern erhellt, und man sieht in den Corridoren des Erdgeschosses, wie droben in den Mansardengängen eilende Lichter kommen, verschwinden und wiederkommen. Auf den Treppen, in den Vorhallen und Vorzimmern ein summendes Getöse, nur noch mühselig gedämpft durch den aufgehobenen Finger der Aja Etikette, ein Kommen und Gehen von Staatsmännern und Generalen, Hofherren und Hofdamen, Lakaien und Zofen. Ueberall in’s Längliche oder auch schon in’s Lange gezogene Gesichter, aufgeregte Mienen, Frageblicke, Geflüster und Gewisper. Ein Unheimliches schreitet durch das ungeheure, prächtige Haus. Noch ist dieses Schreiten nur ein Schlürfen, aber binnen etlichen Stunden wird es ein Dröhnen sein.

Kriegerische Zurüstungen ringsher um den Palast. Längs der Rue Rivoli eine Colonne Infanterie unter den Waffen. In den Zwischenräumen reitende Artillerie mit ihren Stücken. Starke Cavalleriepikets in die Rue St. Honoré und bis zum Palais Royal vorgeschoben. Der Quai entlang der Seine, soweit die Tuilerien- und Louvrebauten reichen, ebenfalls wohlbesetzt. Auch hier zwischen dem Fußvolk Artillerie, besonders an den Punkten, wo sich die drei Brücken, Pont Royal, Pont du Carrousel und Pont des Arts, auf das linke Stromufer hinüberlegen. Bei näherem Zusehen wäre in der Haltung der Truppen eine gewisse Schlaffheit und Verdrossenheit bemerkbar geworden: sie hatten schon seit nahezu zweimal 24 Stunden in Wind und Wetter ermüdenden und unliebsamen Dienst gethan. Aber drinnen auf dem Carrouselplatz geht es laut und lebhaft her. Lodernde Pechpfannenfeuer werfen ihren rothen Schein über den weiten Raum, der nach allen vier Seiten mit Truppen sämmtlicher Waffengattungen garnirt ist. In der Mitte ein dichtstehender Halbkreis von Stabs- und Subalternofficieren. Vor der Fronte desselben eine Gruppe von Generalen. Auf der Sehne des Bogens ein Mann von martialischer Figur, Haltung und Gebehrde. Sein von den breiten Schultern zurückgeschlagener Mantel läßt eine reich gestickte Uniform sehen, und auf dem Kopfe trägt er den an den aufgeklappten Rändern mit weißem Federnbesatz eingefaßten Hut eines Marschalls von Frankreich. Ihm zur Seite hält sich ein schlanker Mann in der Uniform eines Generallieutenants, dessen aristokratisch feine, kühle und etwas hochmüthige, aber feste und gescheidte Züge den Herzog von Nemours, Zweitältesten Sohn Louis Philipp’s, erkennen lassen. Hinter dem Marschall erblickt man zwei in Mäntel und Pelze sattsam eingewickelte Civilmänner, zwei soeben, man weiß nicht recht, halb oder ganz entministerte Säulen des „Systems der Corruption“, Guizot und Duchâtel. Der Zweite mag immerhin das Gesicht in den Pelzkragen verstecken: es lohnt sich nicht der Mühe, ihn anzusehen. Schade aber, daß man von Herrn François Guizot nicht mehr zu sehen bekommt. Denn der Mann verdiente wohl näher betrachtet zu werden, als der zu Fleisch und Blut gewordene Doctrinarismus des constitutionellen Systems, als die Verkörperung des zur höchsten Potenz erhobenen Schulmeisterthums der parlamentarischen Fiction.

„Messieurs“, sagt der Marschall Bugeaud mit knapper Hutlüftung kurz und barsch, „der König hat mich mit dem Oberbefehl über die gesammte bewaffnete Macht von Paris, Linie und Nationalgarde, betraut. Man muß ein Ende machen mit den Rebellen. Ihr wißt, wenn ich mich mit ihnen schlug, bin ich niemals geschlagen worden. Habt Acht, daß Ihr mich diesmal meine Jungferschaft nicht verlieren macht.“

Beifälliges Lachen belohnt den Kasernenspaß des Herzogs von Isly, bekannter noch unter seinen populären Titeln: „Kerkermeister von Blaye“ und „Schlächter von der Rue Transnonain“. Aber horch, was trägt der Nachtwind für ein dumpfes Geräusch den Strom herunter, von der Cité-Insel her und herüber aus den volkreichen Quartieren, die sich zur Linken der Seine um das Pantheon zusammenballen und zur Rechten zwischen dem Hôtel de Ville, der Place de la Bastille und den Boulevards gelagert sind? Ein Rauschen und Brausen, bald sinkend, bald schwellend; ein tausendfältig Gemisch von Tönen und Klängen, zersplitternd jetzt in Hunderte von grellen Mißlauten, dann wieder zusammenschlagend in ein Aechzen und Stöhnen und Donnern, als hörte man den atlantischen Ocean wüthend an die Kuppen der Bretagne prallen. Und wiederum, horch, reißen sich aus dem monotonen Gesause einzelne articulirte Töne los: „Allons enfants!“ und antwortet es drüben: „Le jour de gloire est arrivé!“ und wie ein Bündel feuriger Klangraketen zischt zum mächtigen Himmel empor der unsterbliche Refrain: „Aux armes, citoyens!

Der Marschall zieht sich den Mantel dichter um die Schultern und sagt: „Wir werden ein Wort mit den Herren von den Barrikaden sprechen. Doppelte Ladung in die Gewehre! Ihr sollt alsbald meine Befehle haben, Messieurs. Ich gehe, die Dispositionen zur Niederwerfung der Emeute festzustellen.“

Während er, siegessicher, im Etat-Major (Generalstabsgebäude) seinen Plan entwirft, arbeiten sich zwei Männer mühsam und oft angerufen zum Eingang des Palasthofs und von dort zur Hinterpforte des Pavillon de l’Horloge durch. Der eine ist in der Uniform der Adjutanten des Königs, der andere in Civil, – ein Mann weit unter Mittelgröße. Aus dem hinaufgeschlagenen Kragen seines Pelzüberrocks ragt ein ungewöhnlich großer Schädel hervor. Nachdem er sich aus seinen Einhüllungen herausgewickelt, stellt sich der Kleine als ein ziemlich altes Männchen dar mit einem sehr wenig schönen Gesicht, welchem jedoch die Augen viel „Esprit“ verleihen würden, so sie nicht durch große runde Brillengläser verdeckt wären. Er nimmt seinen Hut ab und wischt sich den Schweiß von seiner Stirn, denn er hat unterwegs mit seinen armen kurzen Beinen verschiedene Barrikaden überklettern und so zu sagen ein „Rennen mit Hindernissen“ mühselig bestehen müssen. Dann folgt er seinem Führer, Herrn de Berthois, zum Arbeitscabinet des Königs. Auf dem Wege dahin streifen, von dorther kommend, zwei Herren an ihm vorüber, fast Ellenbogen an Ellenbogen, Messieurs Guizot und Duchâtel, und wie der Kleine sie erkennt, gleitet flüchtig ein sardonisches Lächeln über sein Gesicht. Im Vorzimmer eilt dem Kleinen Herr de Montalivet entgegen, Intendant der Civilliste, eine Person, welche ganz genau einem durch ein Vergrößerungsglas betrachteten Knaben gleicht. Im Uebrigen ein beflissenster Diener des vielgepriesenen „Systems“, dessen logische Consequenz der heutige „Dies irae“. Der geschmeidige Höfling ist deshalb nicht zu tadeln. Hat doch das gesammte „officielle“ Europa das „System“ des Bürgerkönigs als die Quintessenz politischer Weisheit lobgepriesen und zwar mit Recht. Denn es hatte beinahe achtzehn Jahre lang Erfolg gehabt, und der Erfolg ist das göttliche goldene Kalb, um welches schon lange nicht mehr nur die „Kinder Israel“, sondern auch die „Gojim“ vom Aufgang bis zum Niedergang wetteifernd den Ringelreigen tanzen.

„Ah, Monsieur Thiers,“ sagt Herr de Montalivet, „wir sind höchlich erfreut, Sie hier zu sehen. Freilich, der König erwartete nicht weniger von Ihrer Hingebung. Aber schonen Sie den König.“

„Den König schonen? Meine erste Pflicht ist, ihm die Wahrheit zu sagen,“ versetzte der kleine Nothhelfer, in welchem man zu dieser Stunde einen großen sieht. Was doch Alles die Menschen sich einbilden! Thiers, der Verfasser einer napoleonischen Mythologie in zwanzig dicken Bänden, ein „Wahrheitssager“! …

Wenige Minuten darauf – um 21/2 Uhr – stand der napoleonische Mythograph und orleanistische Staatsmann vor dem Sohn Egalité’s, welchem der Königstraum, den er vor Zeiten mit Dumouriez in den Feldlagern an der belgischen Grenze geträumt hatte, im Juli von 1830 zur Wirklichkeit geworden war, zu einer [361] Wirklichkeit, die heute wieder zerrinnen sollte wie ein Traum. Der alte feine Herr, in dessen mit einer wohlfrisirten Perücke bedecktem „Birnenkopf“ eine ganze Rotte von Reineken ihr Malepartus gegraben hatte, war zu dieser Stunde weit entfernt, zu ahnen, daß, lange bevor der Tag zu Ende, seines „Bürgerkönigthums“ ganze Macht und Pracht, in einen schlichten Fiaker verpackt, kläglich-flüchtig davongestoben sein würde. Der vielerfahrene Odysseus des Constitulionalismus hatte doch zuletzt den Wirkungen des Taumelkelchs, welchen Circe Gewalt ihm kredenzte, nicht widerstehen können, und die boshafte Zauberin hatte sich demgemäß beeilt, den Reineke der Reineken in ein – es ist hart und respectwidrig zu sagen, aber wahr – in einen obstinaten anderen Vierfüßler zu verwandeln. Die Ereignisse der zwei letzten Tage hatten zwar dem nahezu Fünfundsiebzigjährigen körperlich tüchtig zugesetzt – er lag überwacht und schachmatt, ganz in Flanell gewickelt, in einem Fauteuil – aber sie hatten ihn vom Rausche des Besitzes der Macht keineswegs ernüchtert. Die Berufung von Thiers, wozu er sich um Mitternacht entschlossen, war ein seinem Stolze schwer abgerungenes Zugeständniß, und als der Gerufene jetzt gemeldet und eingeführt wurde, gab dem Greise sein gekränkter Stolz und seine üble Laune die Kraft, rasch aufzustehen und den kleinen Nothhelfer mit den barschen Worten zu empfangen: „Sie kennen die Sachlage. Ich ließ Herrn Molé rufen. Er will nicht. Ich sah mich also genöthigt, Ihre Dienste in Anspruch zu nehmen. Haben Sie ein Ministerium parat? Ich brauche auf der Stelle ein solches.“

„Sire, ich erwartete nicht, gerufen zu werden, und habe daher keine Ministerliste bereit.“

„Ah so! Ja, man sagt, daß Sie nicht mehr in’s Cabinet treten wollten.“

„Allerdings, Sire, war das meine Absicht.“

„Sie müssen sich unverweilt nach Collegen umsehen. Sie kennen das Unliebsame, was sich vor dem Ministerium des Auswärtigen begeben hat. Die Regierung kann Nichts dafür, es war ein Zufall, aber die Wirkung eine sehr unglückliche. Ich muß also ein Ministerium aus der Opposition nehmen. Was für Leute werden Sie mir geben? Ich errathe, daß Sie Barrot fordern werden, und habe Nichts dagegen. Er ist ein guter Mensch, obzwar ein schlechter Musikant, will sagen Politiker. Aber die Präsidentschaft des Cabinets müssen Sie und darf nicht Barrot übernehmen. Es bedarf der Festigkeit, ich zähle nur auf Sie.“

„Herr de Remusat?“

„Einverstanden.“

„Herr Duvergier de Hauranne?“

„Ah, Duvergier?“

„Das ist ein Mann von Festigkeit.“

„Von Festigkeit, ja, auf meine Kosten. Doch sei es. Die Herren sind Ihre Freunde, lassen Sie dieselben kommen. Wir wären also hinsichtlich des Persönlichen im Reinen. Was verlangen Sie in Betreff des Sachlichen?“

„Die Wahlgesetz- und Parlamentsreform ist eine unumgängliche Nothwendigkeit. Ich zwar für meine Person war für die Reform des Wahlgesetzes nie sehr eingenommen. Indessen muß man gestehen, daß der Kreis der Wahlfähigkeit und der Wählbarkeit wirklich ein etwas zu enge gezogener ist. Er gestattet einer allzu kleinen Anzahl von Leuten, die Vortheile der Verwaltung auszubeuten.“

„Wie, Sie wollen mir also eine enorm große Kammer und eine enorme Wählerschaft geben?“

„Behüte, fünfzig Deputirte mehr und 150.000 Wähler mehr werden vollkommen genügen.“ (Und das nannte Herr Thiers dem Könige „die Wahrheit sagen“!)

„Nun, wir wollen sehen.“

„Das ist noch nicht Alles.“

„Was denn sonst noch?“

„Mit der gegenwärtigen Kammer können ich und meine Freunde nicht regieren.“

„Ach, Sie wollen die Auflösung der Kammer? Niemals! Nein, niemals werde ich dazu meine Einwilligung geben. Niemals! Um keinen Preis!“ Und dies sagend ging der König in höchster Aufregung im Zimmer hin und her. Mühsam sich beherrschend äußerte er dann: „Was ich für den Augenblick brauche, sind Minister. Suchen Sie mir welche. Wir werden uns später wohl verständigen. Ich willige in alle Ihre Forderungen, die Kammerauflösung ausgenommen.“

„Diese gerade aber ist das, worauf meine Freunde entschieden bestehen werden.“

„Jedenfalls will ich im Moniteur anzeigen, daß ich Sie berufen habe.“

„Es wäre zweckdienlich, meinem Namen den von Barrot beizugesellen.“

„Gut.“ Und der König setzte sich an seinen Schreibtisch und ließ sich von Thiers Folgendes dictiren: „Der König hat Herrn Thiers berufen und mit der Bildung eines neuen Cabinets beauftragt. Herr Thiers hat verlangt, sich Herrn Barrot beigesellen zu dürfen, und der König diesem Wunsch entsprochen.“ Soweit war man, als es 3 Uhr schlug.

„Wann werden Sie zurückkommen?“ fragte Louis Philipp.

„Sire, ich mache mich auf, Minister für Sie zu suchen, und hoffe bis zum Tagesanbruch welche zu finden.“

„Wohl, bis dahin will ich schlafen. Also zwischen 8 und 9 Uhr?“

„Wir sind noch nicht einig über den Hauptpunkt.“

„Das weiß ich.“

„Selbstverständlich werden wir, falls wir uns nicht mit Ihnen verständigen können, nicht in’s Cabinet treten. Wir haben dann freie Hand.“

„Freilich, freilich, und auch ich habe dann freie Hand.“ Er zog die Klingel, befahl die geschriebene Note in die Druckerei des Moniteur zu senden, und sprach hierauf zu Herrn Thiers, der seine Abschiedsverbeugung machte: „Warten Sie, ich muß Ihnen noch sagen, daß ich Bugeaud zum Oberbefehlshaber der bewaffneten Macht ernannt habe. Gehen Sie zu ihm, er befindet sich im Generalstabsquartier. Sie werden sich, da er Ihr intimer Freund ist, leicht mit ihm verständigen.“

Thiers schwieg verlegen.

„Was haben Sie denn? Man sollte glauben, die Ernennung Bugeaud’s mißfiele Ihnen.“

„Sire, ich liebe den Marschall sehr und halte ihn für den ersten Krieger unserer Zeit. Aber, aber … die Ernennung Bugeaud’s ist ein schroffer Widerspruch gegen Ihre durch die Berufung eines Ministeriums aus den Reihen der Opposition angezeigte Absicht, die aufgeregte öffentliche Meinung beruhigen zu wollen.“

„Sie werden mich doch in einem so kritischen Augenblick nicht meines Degens berauben wollen?“

„Nein. Ich will versuchen, den Marschall meinen Collegen annehmlich zu machen.“




Beim Weggehen aus dem Schlosse sprach Herr Thiers im Generalstabsquartier vor, welches sich in dem Pavillon der Tuilerien befand, der, damals noch nicht völlig ausgebaut, an die Rue Rivoli stößt. Der halbe Premierminister – denn er war noch weit entfernt, ein ganzer zu sein – vernahm aus Bugeaud’s Munde Klagen über die Unzulänglichkeit der Streitkräfte und die Unausgiebigkeit der zur Verfügung stehenden Munition. Dessenungeachtet war jedoch der Marschall voll Zuversicht und traf seine Anordnungen mit Sicherheit und Bestimmtheit. Sein guter Muth ermuthigte auch Herrn Thiers, so daß der kleine Nothhelfer ziemlich beruhigt auf die Ministersuche ging.

Die Zahl der Truppen, über welche Bugeaud verfügte, betrug in runder Summe 25.000 Mann, die Nationalgarde nicht mitgerechnet. Der Marschall, welchem die Stimmung der Bürgerwehr von Paris nicht unbekannt war, rechnete auch gar nicht auf dieselbe, sondern verließ sich nur auf die Linie, für welche mittelst Telegrammen Verstärkungen aus dem der Hauptstadt naheliegenden Garnisonen herbeigerufen wurden. Zur Stunde, als Bugeaud in der Nacht den Oberbefehl übernahm, war die Hauptmasse seiner Streitkräfte in den Höfen und Umgebungen der Tuilerien und des Louvre vereinigt, während schwächere Abtheilungen den Platz der Bastille, das Hôtel de Ville, die Polizeipräfectur und das Pantheon besetzt hielten. Das ganze Centrum der Stadt, der Raum zwischen der Rue de la Paix, den Boulevards, der Rue St. Honoré, der Rue Rambuteau und dem Bastilleplatz, befand sich in den Händen des Aufstands, welcher seit der verhängnißvollen Abendstunde des 23. Februars, wo auf dem Boulevard des Capucines vor dem Hôtel Guizot’s (Ministerium des Auswärtigen) das eine Reform-Demonstration in eine Revolution verwandelnde Blutbad stattgefunden, an Umfang, Energie und Rüstung unermeßlich gewonnen hatte.

[362] Ah, sie hatten sich’s Mühe kosten lassen diese Nacht über, die anstelligen, falkenäugigen, flinkhändigen Barrikadenkünstler der alten Lutetia, der „ultima ratio regum“ die „ultima ratio populi“ entgegenzustellen: – 1512 nach allen Regeln der Kunst erbaue Barrikaden, wozu, andere Materialien ungerechnet, 4013 Baumstämme und 1.277.000 Pflastersteine verwandt worden waren. Im Besitze dieser Hunderte von improvisirten Citadellen, schickte das Volk von Paris sich an, die ihm vom Schicksal zugewiesene Rolle, den Nationen vorzuturnen auf dem Turnplatz der Weltgeschichte, wieder einmal mit Anstand, Virtuosität und Grazie durchzuführen. Die Riesenarbeit der Nacht hatte, weit entfernt, die Körper zu ermüden und die Gemüther zu beruhigen, in den Reihen der Insurgenten den Argwohn, den Zorn, die Kampflust nur gesteigert. Das Erscheinen des Moniteur am Morgen war nicht geeignet, diese Stimmung zu beschwichtigen. Das Regierungsblatt brachte nämlich in seinem nichtamtlichen Theile die vage Notiz von der bevorstehenden Einsetzung eines Ministeriums Thiers-Barrot, in seinem amtlichen dagegen die Anzeige, daß der Oberbefehl über die Linie und die Nationalgarde dem Marschall Herzog von Isly gegeben worden sei. „Was?“ schrieen die Barrikadenmänner, „Bugeaud? Der Kartätscher von der Rue Transnonain, der das Blut des Volkes wie Wasser vergossen hat, der Henkersknecht des Systems, dessen Sophist und Jesuit Guizot ist? Daran erkennen wir, was an allen den Reformverheißungen ist. Weg damit und „aux armes, citoyens!“ Noch erhob sich nirgends der Ruf: „Vive la république!“ und es unterliegt keinem Zweifel, daß noch am Morgen des 24. Februars die Massen durch etliche zeitgemäße und ehrliche Zugeständnisse im Sinne der Reform zu beschwichtigen, zu befriedigen und zu gewinnen gewesen wären. Aber mit jeder in diesem Sinne unbenützt verfließenden Stunde, Viertelstunde, Minute wurde die Haltung des Volkes eine drohendere, wurde eine zum Aeußersten entschlossene. Sehende Augen und hörende Ohren merkten das Herannahen einer gewaltigen Katastrophe. Auf den Stirnen republikanischer Führer glänzte Heiterkeit und um ihre Lippen spielte ein Hoffnungslächeln: sie spürten in allen Fibern, daß dieser Tag die Möglichkeit bringen könnte, vielleicht bringen müßte, den großen Würfelwurf zu wagen.

Derweil war Bugeaud auch nicht müßig gewesen, das Feld, auf welchem er dem Volke die voraussichtlich bevorstehende Schlacht liefern wollte, zu prüfen und die Stellungen seiner Streitkräfte darauf zu bezeichnen. Zwei große Linien markirten sein strategisches Terrain: die Boulevards und die Seinequais. Auf dem rechten Ufer des Stroms mußten als wichtige Punkte im Auge behalten werden das Schloß, das Hôtel de Ville, die Bank, die Place des Victoires und weiterhin der Concordeplatz und Bastilleplatz, in der Mitte der Boulevardsbogenlinie durch die Porte Saint-Denis mitsammen verbunden; auf dem linken Ufer ebenso der Invalidenpalast und die Militärschule, das Palais Bourbon (Sitzungslocal der Deputirtenkammer), die Polizeipräfectur und das Pantheon. Der Marschall hatte beschlossen, einen Angriff von Seiten der Insurrection nicht abzuwarten, sondern demselben durch agressives Vorgehen zuvorzukommen. Demzufolge organisirte er vier Marschcolonnen. Die erste derselben sollte, geführt vom General Sebastiani, durch die Straßen Saint-Honoré, des Prouvaires und Rambuteau zum Hôtel de Ville vordringen, wohin sie auch, um fünf Uhr vom Carrouselplatz abmarschirend, um sieben Uhr wirklich gelangte. Die zweite Colonne marschirte unter Führung des Generals Bedeau um halb sechs Uhr von den Tuilerien ab und hatte die Aufgabe, durch die Straßen Richelieu, Vivienne, Feydeau, Montmartre nach den Boulevards und diese entlang auf den Bastilleplatz zu gelangen. Die dritte Colonne setzte sich, befehligt vom Oberst Brunet, gegen sechs Uhr in Bewegung, um, durch die Straßen Saints-Pères, Jakob, de Seine, Tournon und Saint-Dominique marschirend, den beim Pantheon stehenden General Renault zu verstärken. Die Führer dieser Angriffscolonnen hatten Befehl, die Barrikaden auf ihrem Wege mit Sturm zu nehmen und jeden ihnen begegnenden Widerstand energisch niederzuschlagen. Eine vierte Colonne behielt Bugeaud unter seiner eigenen Hand. Er wollte damit im Rücken der zwei ersten operiren, um jede Wiederherstellung der genommenen und zerstörten Barrikaden zu verhindern. Ein fünftes Geschwader endlich sollte unter dem Befehl des Generals Rulhières als Reserve auf dem Carrouselplatze zurückbleiben. Von der Nationalgarde glaubte der Marschall bei seinen Anordnungen ganz absehen zu dürfen. Ein schwerer Irrthum! Denn die Reformstimmung der überwiegenden Mehrheit der Bürgerwehr machte die „Bärenmützen“ mit den „Blousen“ sympathisiren, und das Erscheinen der ersteren an der Seite der letzteren verdoppelte und verdreifachte die Unlust der Soldaten, ausdauernd und rücksichtslos für das Julikönigthum sich zu schlagen. Für dieses wurden, wie so oft für stürzende Gewalten, jetzt sogar seine guten Seiten zu Untergangsmotiven. Unter diesen guten Seiten hatte Louis Philipp’s standhafte-Friedensliebe die erste Rolle eingenommen, eine Tugend, in welcher die Gloire-, Beute- und Avancementssucht der Armee nur ein Laster sah. In ihren Reihen war der „Bürgerkönig“ längst entpopularisirt und, Alles zusammengehalten, war demnach zum energischen Schlagen für das Bestehende von der ganzen bewaffneten Macht nur die „Municipalgarde“ entschlossen, ein aus Unterofficieren gebildetes Corps, die Blüthe der straffen Militärsubordinaten.

Trotz alledem wiegte sich Bugeaud, den Grad der Entschlossenheit, Thatkraft und Rücksichtslosigkeit Anderer, namentlich des Königs, an dem seiner eigenen messend, in der trügerischen Hoffnung eines Triumphs, dessen er zum Voraus genoß. Denn nachdem er seine Angriffscolonnen in Marsch gebracht hatte, setzte er sich hin und schrieb an Herrn Thiers: „Schon lange hab’ ich vorhergesehen, mein Freund, daß wir Beide berufen werden würden, die Monarchie zu retten. Mein Entschluß ist gefaßt, ich habe meine Schiffe verbrannt. Sowie ich die Emeute besiegt haben werde – und wir werden sie besiegen, denn die Lässigkeit der Nationalgarde und der Mangel an Unterstützung von dieser Seite sollen mich nicht aufhalten – will ich gern als Kriegsminister in das von Ihnen gebildete neue Ministerium eintreten, falls meine angebliche Unpopularität kein unübersteigliches Hinderniß ausmacht….“ Eine fast in’s Komische fallende Probe menschlicher Selbsttäuschung fürwahr! Längstens zwei Stunden nach Niederschreibung dieser Zeilen war die „Emeute“ entschieden obenauf und in unwiderstehlichem Vorschritt zum Siegesziel begriffen. Zu dieser Stunde geschah auch ein Zeichen, welches in den Straßenkämpfen von Paris stets als eines der Ausschlag gebenden gegolten hat. Die Zöglinge der polytechnischen Schule erklärten dem Chef der Anstalt, daß sie sich an dem Aufstand betheiligen wollten und würden, zogen ihre Uniformen an, bewaffneten sich und eilten schaarenweise nach den verschiedenen Kampfplätzen, um sich in die Bewegung zu werfen, deren Wogen von Minute zu Minute höher und höher gingen. Schon befanden sich wichtige strategische Punkte, z. B. die Porte Saint-Denis, der Siegesplatz, fünf Kasernen und außerdem die Mehrzahl der Mairien, in den Händen des kämpfenden Volkes, andere waren dicht von demselben eingeengt. Mehr und mehr sahen sich die operirendcn Truppenkörper voneinander abgeschnitten und, ermattet, hungrig und kampfunlustig, wie sie waren, immer hülfloser in das ungeheure Straßennetz verstrickt, dessen Maschenknoten die Barrikaden bildeten. [373] Inzwischen hatte Herr Thiers sich außer Athem gelaufen, um mittelst Findung von Ministern das Verhängniß abzuwenden. Der kleine Nothhelfer mit der großen Brille hatte es glücklich dahin gebracht, die Chefs der Linken und des linken Centrums der Deputirtenkammer in seiner Wohnung zu versammeln und diese Herren – Barrot, Remusat, Duvergier de Hauranne, Beaumont, Lamoricière – zur Annahme von Ministerposten zu bestimmen. Man wollte auch noch die Führer des sogenannten „tiers parti“, die Herren Passy und Dufaure, sowie Barrot’s Freund, Billault, mit in das neue Cabinet ziehen; allein alle Drei lehnten ab. Eben waren die übrigen Ministerschaftscandidaten übereingekommen, sich zwischen 7 und 8 Uhr in das Schloß zu begeben, als Herr de Reims, der Secretair von Thiers, eilends eintrat. Er war auf Kundschaft ausgewesen und hatte die Neuigkeit der Ernennung eines Ministeriums Thiers-Barrot auf das Bureau des „National“ gebracht. „Das genügt nicht,“ hatte ihm der Chefredacteur Marrast zur Antwort gegeben. „Die Abdankung des Königs vor Mittag! Nach Mittag würde es zu spät sein.“ Zu spät! Wie so oft schon ist dieses Schicksalswort erschollen als ein Weltgerichtsposaunenton, und wie selten ist es gehört, beachtet und verstanden worden! Auch die bei Herrn Thiers versammelten Matadore des Liberalismus verstanden es nicht. „Parbleu,“ sagte Duvergier de Hauranne spöttisch, „Citoyen Marrast predigt für seine Heilige.“ Ein den Gedanken einer Möglichkeit der Republik weit wegwerfender Witz, welcher ein beifällig zustimmendes Lächeln hervorrief.

Freilich, auf ihrem mühseligen Wege nach den Tuilerien hatten die Herren sattsame Gelegenheit, zu bemerken, daß der Aufstand eine solche Gestalt angenommen, daß ihm mit den gewöhnlichen constitutionellen Auskunftsmitteln nur noch sehr schwer würde beizukommen sein. Namentlich Herr Barrot war durch das, was er unterwegs gesehen und gehört, so stutzig geworden, daß er, mit seinen Begleitern gegen 8 Uhr am Gitter des Schloßhofes angelangt, innehielt und erklärte: „Ich kann nicht weiter gehen. Der Name des Marschalls Bugeaud macht den Kampf unvermeidlich und eine Katastrophe wahrscheinlich. Ich ziehe mich zurück.“ Worauf Thiers dem Muthlosen entgegnete: „Ich leugne die Gefahr nicht. Aber dürfen wir dem Könige seinen Degen entreißen? Können wir einen Marschall von Frankreich vom Pferde steigen machen?“ Herr Barrot gab nach… Im Palasthof traten den Ankommenden die Herzöge von Nemours und von Montpensier entgegen, Beide, besonders der jüngere der Prinzen, sehr bewegt. „Es ist trostlos,“ klagte er. „Alle Mittel erweisen sich als machtlos. Die Lage der Truppen ist furchtbar. Sie versinken im Koth, und es mangelt ihnen an Schießbedarf …“ Man erfuhr, der König schlafe noch, und bis er geweckt würde und bereit wäre, die Ministercandidaten zu empfangen, begab sich Herr Thiers [374] mit dem Herzog von Nemours nach dem Generalstabsquartier. Er fand daselbst, daß der Marschall bei weitem nicht mehr so zuversichtlich war, wie derselbe noch vor wenigen Stunden gewesen. Bugeaud beklagte sich bitter über die unzureichende Truppenzahl, wie über den Mangel an Munition und Lebensmitteln, und kaum hatte Herr Thiers, nachdem er wenige Worte über die Gefahr der Lage mit dem Marschall gewechselt, das Generalstabsquartier wieder verlassen, als ein angesehener Bürger, Herr Fauvelle, die Treppe zu demselben athemlos hinaneilte und dem Marschall und seinen Officieren ohne Umstände zurief, das einzige Mittel, ein Aeußerstes, d. h. den Umsturz des Thrones, zu verhüten, sei, die von den Tuilerien ausgezogenen Truppen auf der Stelle dahin zurückzuziehen, denselben die Einstellung des Feuers zu befehlen und die Nationalgarde mit der Wiederherstellung der Ordnung zu betrauen. Obzwar von Bugeaud barsch angefahren, wußte der unerschrockene Mann, dessen Nachrichten auch von anderen Seiten her bestätigt wurden, seinen Worten ein solches Gewicht zu geben, daß der Marschall, nach geflügelter Berathung mit dem Herzog von Nemours, Herrn Fauvelle zu Handen des Generals Bedeau den schriftlichen Befehl zustellte: „Lassen Sie das Schießen überall einstellen und die Nationalgarde den Sicherheitsdienst übernehmen. Lassen Sie Worte der Versöhnung vernehmen und ziehen Sie sich nach dem Carrouselplatz zurück …“ Es war 9 Uhr, als Bedeau diese Ordre empfing.

Zu spät!

Derweil waren Thiers, Barrot und ihre Begleiter in das Cabinet des Königs eingeführt worden. Der greise Monarch, durch etliche Stunden Schlaf neugestärkt, empfing sie mit der gewohnten Lebhaftigkeit seiner Manieren und auf Herrn Thiers zugehend, sagte er: „Nun wohl, mein lieber Minister –“

„Sire, wir kommen, eine Verständigung mit Ihnen zu versuchen; aber noch sind wir nicht Minister.“

„Sie sollen es sofort sein. Was ist zu thun?“

„Man weiß in Paris noch nicht officiell, daß Sie uns berufen haben.“

Ueberrascht und beunruhigt ließ Louis Philipp seinen Cabinetssecretair Fain rufen, und dieser übergab ihm einen Brief vom Polizeipräfecten Delessert, welcher meldete, daß er in der Polizeipräfectur blockirt sei und nicht ein einziger seiner Agenten im Stande gewesen wäre, die amtliche Bestätigung der Nachricht von der Berufung eines Ministeriums Thiers-Barrot zu verbreiten. „Das ist trostlos!“ sagte der König. Herr Barrot nahm nun das Wort, um zu erklären, daß die Oberbefehlshaberschaft Bugeaud’s die Beruhigung der Gemüther zu einer Unmöglichkeit mache, wozu Herr Thiers bemerkte, man müsse allerdings jeden weiteren Zusammenstoß zu vermeiden suchen; allein die Entfernung des Marschalls von dem Obercommando sei in diesem Augenblick unräthlich, und deshalb schlage er vor, dem Namen desselben einen populären beizugesellen, z. B. den des Generals Lamoricière.

„Vortrefflich!“ sagte der König. „Aber nur Sie, mein lieber Thiers, können dem Marschall diese Pille verschlucken machen.“ Und so sprechend, verschwand er für einen Moment in ein anstoßendes Zimmer.

Als er zurückkam, hob Barrot wieder an: „Sire, die Auflösung der Kammer –“

„Die Auflösung? Um keinen Preis! Niemals!“ Und mit großen Schritten ging der König in dem Cabinet auf und ab, um dann abermals in das anstoßende Gemach zu gleiten. Dies wiederholte sich noch einmal, als auch Herr Duvergier mit Bestimmtheit erklärt hatte: „Die Auflösung der Kammer ist unbedingt nöthig.“ Der König, durch die Seitenthüre hereintretend, sagte abermals mit äußerster Heftigkeit sein „Niemals! Niemals!“ her, was die liberalen Notabilitäten um so mehr reizte und erbitterte, als sie beim Oeffnen und Wiederöffnen der Thüre zum Nebengemach in diesem das wohlbekannte Gesicht des Herrn Guizot erblickt hatten. Der König suchte und befolgte also noch immer die Rathschläge seines abgedankten Ministers? Sollten die Führer der parlamentarischen Opposition demnach bloße Nothbehelfsmänner für den Augenblick sein?

Diese Frage und andere noch blieben einstweilen in der Schwebe, weil für nöthig befunden ward, vor Allem den Marschall die „Pille“ hinunterschlucken zu machen. Die liberalen Herren begaben sich zu diesem Ende nach dem Generalstabsquartier, woselbst nach kurzer Verhandlung mit Bugeaud ausgemacht wurde, daß Lamoricière das Commando der Nationalgarde übernehmen sollte, und ferner, daß der General und Herr Barrot sich in die Barrikadenquartiere begeben und die Wirksamkeit ihrer Namen und ihrer Beredsamkeit zur Beschwichtigung der Gemüther aufbieten sollten. Dann eilten die Herren Thiers, Remusat und Duvergier, begleitet von dem Herzog von Nemours, in die königlichen Gemächer zurück, um endlich von dem König die Bewilligung ihres Ministerprogramms zu erlangen, zu erpressen. Allein Louis Philipp blieb hartnäckig dabei, die Auflösung der Kammer zu verweigern. Die Scenen von vorhin erneuerten sich, und endlich ließ Louis Philipp Herrn Thiers und dessen Freunde rathlos stehen, indem er nach wiederholter heftiger Weigerung, in ihr Begehren zu willigen, in den Salon der Königin trat.

„Sie sehen, wir verlieren nur Zeit,“ sagte Thiers zu dem Herzog von Nemours. „Der König will die Auflösung nicht; wir sind also nicht Minister und können nichts thun.“

Worauf der Herzog, welcher überhaupt an diesem Schicksalstag vom Anfang bis zum Ende als ein verständiger und braver Mann sich erwiesen hat, sagte: „Sie haben Recht. Lassen Sie mich machen. Ich gehe zum König.“

Kaum war er weggegangen, als der vielberufene Journalist Emile de Girardin, einer der Hauptindustrieritter der Pariser Presse, ohne Umstände gelaufen kam und an Herrn Thiers die geflügelten Worte richtete: „Sie haben keinen Augenblick zu verlieren! Der Aufstand nähert sich den Tuilerien. Man muß auf der Stelle das neue Ministerium, die Auflösung der Kammer etc. proclamiren.“

„Ich weiß es; aber wir können nichts erlangen.“

Endlich, nach einer bangen Viertelstunde, kam der Herzog zurück. „Der König“ – meldete er – „willigt in die Auflösung der Kammer und bevollmächtigt seine neuen Minister, dies in einer Proklamation zu verkünden, aber unter ihrer eigenen Verantwortlichkeit und ohne daß sein Name darein gemischt wird.“ Was war nun das wieder für ein Schlupfloch des Königs Reineke? Aber der Augenblick drängte zu sehr, als daß man sich um diese Sophisterei hätte kümmern können oder wollen, und demnach ward eiligst folgende Proclamation verfaßt:

„Paris, 24. Februar, 10 Uhr Morgens. 

Bürger von Paris! Der Befehl, das Feuer überall einzustellen, ist gegeben. Wir sind vom Könige mit der Bildung eines neuen Ministeriums betraut. Die Kammer wird aufgelöst und an das Land appellirt. Der General Lamoricière ist zum Befehlshaber der Nationalgarde ernannt. Die Unterzeichneten sind Minister.

Thiers, Barrot, Lamoricière, Duvergier de Hauranne.
Freiheit, Ordnung und Reform!“

Zu spät!

Man hatte nicht einmal die Mittel, dieses Manifest rasch und massenhaft durch den Druck zu vervielfältigen. Es gab in den Tuilerien keine Presse und es ist ein Zehntel Wahrheit in der von Emile de Girardin bei dieser Gelegenheit ausgestoßenen Phrase gewesen: „Aus Mangel einer Druckerpresse geht die Monarchie zu Grunde!“




Und sie ging zu Grunde. Schon bröckelte unaufhaltsam Stein nach Stein aus dem mit dem schmutzigen Mörtel der Corruption gemauerten Gewölbe des Louis-Philippismus.

Die eifrigen Anstrengungen Barrot’s und Lamoricière’s, durch die Geltung ihrer Persönlichkeiten und die Nachdrucksamkeit ihrer Versicherungen im Sinn einer Reformpolitik die Revolution zum Haltmachen auf ihrer Vorschrittsbahn zu bewegen, erwiesen sich bald als fruchtlos ganz und gar. Zwar legte man den beiden Vermittlern, deren Ministerschaft nicht kürzer und nicht länger als eine Stunde währte, anfänglich kein Hinderniß in den Weg. Die Zugänge der Barrikaden öffneten sich vor ihnen und ließen sie hindurch; allein von einer dieser Verschanzungen zur andern steigerte sich die revolutionäre Stimmung. Die Blousen, welche, gar nicht spärlich mit Bärenmützen untermischt, die erste Barrikade besetzt hielten, riefen: „Nieder mit Bugeaud!“ Die Vertheidiger einer zweiten: „Nieder mit Guizot!“ Von der Brustwehr einer dritten scholl es schon: „Nieder mit Thiers!“ und von der einer vierten gar: „Nieder mit Louis Philipp!“ Noch zwar wurde kein „Vive la république!“ laut, aber wenn auf dem Boulevard des Italiens die constitutionelle Phraseologie Barrot’s noch ihre Wirkung that, so versagte diese weiterhin bei der Porte Saint-Denis [375] gänzlich. Hier erhob sich eine ungeheure Barrikade, auf deren Brustwehr eine rothe Fahne flatterte. Die Vertheidiger dieser Barrikade gaben, als der liberale Schönredner vortrat und zu gesticuliren anhob, ihre Stimmung und Gesinnung sehr deutlich zu erkennen: – sie schlugen die Gewehre auf ihn an. Dann erhob sich wie Meeresgebrause der wilde Ruf: „A bas Louis-Philippe! Aux Tuileries! aux Tuileries!“ und die Friedensstifter sahen sich von einer drohenden Volksmasse umfluthet. Ihr Unternehmen war fehlgeschlagen. Sie mußten umkehren, und in der Rue de la Paix angelangt, trat Odilon Barrot niedergedrückt und erschöpft in sein Haus, wo er eine Menge seiner Bekannten versammelt fand. Darunter auch Herrn Garnier-Pagès, welcher zu dem gänzlich Entmuthigten sagte: „Man muß rasch vorgehen, Barrot, wenn uns die Ereignisse nicht überholen sollen. Heute sind Sie an der Reihe“ – (d. h. gewesen) – „morgen werden meine Freunde und ich es sein, übermorgen ist es Ledru-Rollin.“ Genau zu derselben Stunde that der Letztgenannte im Conferenzsaal des Palais Bourbon zu einer Anzahl orleanistischer Deputirten die Aeußerung: „Sie haben keine Zeit zu verlieren, Messieurs. Falls binnen einer Stunde die Abdankung des Königs und die Regentschaft (für den minderjährigen Grafen von Paris) nicht proclamirt ist, wird das Volk hierher kommen, die Kammer sprengen und die Revolution zu einer vollständigen machen.“

Also auch einer der vorragendsten Führer der republikanischen Partei ging dermalen noch nicht weiter als bis zur Abdankung des Königs. Der um Barrot versammelte Kreis wollte aber in seiner Mehrzahl von diesem „Aeußersten“ Nichts wissen, und nachdem sich der Hausherr wieder etwas erholt hatte, machte er sich, dem Drängen seiner Freunde nachgebend, auf, um sich im Ministerium des Innern zu installiren. Dem Reiz einer Ministerschaft vermögen Leute wie Herr Barrot unter keinen Umständen zu widerstehen, und nachdem es ihm nicht gelungen, der Minister Louis Philipp’s zu sein, hat er sich, wie bekannt, möglichst beeilt, der Minister Louis Bonaparte’s zu werden. …

In Wahrheit, als es gegen Mittag zuging, mußte es von allen im Sinne des Verbleibens von Louis Philipp auf dem Throne gemachten Zugeständnissen heißen: Zu spät! Aber war es denn nicht möglich, zu dieser Zeit noch mit Gewalt, mit rücksichtsloser Anwendung aller militärischen Kräfte und Mittel die Revolution niederzuschmettern? Diese Frage ist häufig gestellt und selbst von nicht unkundigen Leuten bejahend beantwortet worden. Der Aufstand, wurde gesagt, verdankte seinen Sieg nur der Milde oder, wenn man will, der Schwäche des greisen Königs; denn Bugeaud hatte Alles in Bereitschaft, die Insurrection bis zum letzten Funken im Blute der Insurgenten zu ersticken. Dem aus unbefangener Anschauung der Sachlage entspringenden kühlen Urtheil vermag jedoch diese Behauptung nicht standzuhalten. Es ist wahr, die Hartnäckigkeit, womit Louis Philipp an der Behauptung seiner Gewalt hing, war weiter Nichts als eine impotente Altersgrille; es fehlte ihr jedes thatkräftige Wollen, jeder mannhafte Entschluß, und der alte Mann war in ein klägliches Schwanken, in ein mitleidswerthes Tappen und Tasten verfallen, in einen Nachlaß der Natur, welchem so ein Aeußerstes, wie z. B. das Bombardement der Hauptstadt von den Forts aus gewesen wäre, abzuringen nicht nur eine moralische, sondern auch eine physische Unmöglichkeit war. Aber gesetzt auch, der König wäre grausam genug gewesen – er war bekanntlich überhaupt nicht grausam – den „Schlächter von der Straße Transnonain“ sein altes Handwerk wieder treiben und zwar im weitesten Umfange treiben zu lassen, die Situation war schon so, daß der Marschall Wenig oder Nichts ausrichten konnte. Die Nationalgarde wollte sich für die Reform und die Linie wollte sich nicht gegen die Bürgerwehr schlagen. Das war der Entscheidungsknoten. Der Rückzugsbefehl hatte vollends die abgemüdeten, hungernden und verdrossenen Soldaten, wie man zu sagen pflegt, „demoralisirt“, d. h. ihren Widerwillen, sich als willen- und herzlos gegen das Volk gebrauchen zu lassen, gesteigert.

Dazu kam die nicht „angebliche“, sondern sehr wirkliche Unpopularität Bugeaud’s, welche einen Theil seiner Thätigkeit von vornherein lahm legte. Der von seinem vergeblichen Ausflug nach den Boulevards in’s Schloß zurückgekehrte General Lamoricière verschwieg dem Marschall die entschiedene Wider-Bugeaud-Stimmung der Bevölkerung nicht, und der Herzog von Isly mußte endlich wohl daran glauben, da er gerade zuvor in eigener Person einen sprechenden Beweis dafür erhalten hatte. Als er nämlich vorhin zwei in der Rue Rivoli aufgestellte Bataillone der zweiten Bürgerwehrlegion mustern gegangen, hatten ihm Officiere und Mannschaft den Gehorsam verweigert und geradeheraus erklärt: „Herr Marschall, die Nationalgarde will von Ihnen Nichts wissen!“

Nein, nein, die rollenden Wogen der Fluth waren nicht mehr aufzuhalten. Um 111/4 Uhr befand sich das Hôtel de Ville, allzeit das Hauptziel der Kämpferin und das Prätorium der Siegerin Revolution, mit seinen Umgebungen in den Händen des Volkes. Dann fiel auf beiden Seiten des Flusses ein wichtiger Punkt nach dem andern der vorschreitenden Insurrection anheim, während da und dort eine Truppe von Soldaten capitulirte und die Ueberreste der am Morgen von den Tuilerien ausgesandten Colonnen sich mühsam in die nächsten Umgebungen des Schlosses zurückzogen. Nur da und dort hielten Abtheilungen der verbissenen Municipalgarde das Gefecht lebhaft aufrecht. Sonst wälzte sich der Blousenstrom mehr oder weniger rasch den weichenden Truppen nach, durch die Rue Vivienne auf das Palais Royal, die Boulevards entlang auf die Place de la Concorde, durch die Rue Rivoli und den rechten Seinequai hinab auf die Tuilerien, den linken entlang auf das Palais Bourbon zu.

Um die zwei letztgenannten Bauwerke, um das Schloß und die Deputirtenkammer her, schürzten sich die Entwicklungsknoten des großen Tagesdrama’s enger und enger. Bald wird die ausberstende Katastrophe dort den Königsthron umstürzen und hier die Republik improvisiren oder wenigstens die bereits auf den Barrikaden improvisirte anerkennen.

Denn schon schwankte das Schiff des Louis-Philippismus so bedrohlich im brausenden Sturm, daß es den Ratten an der Zeit schien, nach Rattenart zu thun. Auch Guizot fand es jetzt rathsam, das Schloß zu verlassen. Er begab sich zu seinem Collegen Duchâtel, wo es aber bald nicht mehr geheuer war. Unter dem Schutz und Schirm der resoluten Madame Duchâtel entflohen die beiden Minister dem heranbrandenden Volkszorn und fanden zuerst in der Rue Vanneau eine Zuflucht. In der folgenden Nacht rettete sich Guizot in ein mehr Sicherheit versprechendes Asyl, indem er als Frauenzimmer verkleidet zu seiner Freundin, Madame de Mirbel, eilte.




Zur gewohnten Frühstückszeit versammelten sich die in Paris anwesenden Mitglieder der königlichen Familie im Speisesaale des Schlosses. Louis Philipp, obzwar etwas aufgeregt, war weit entfernt, zu ahnen, daß er der letzten Mahlzeit der Seinigen in den Tuilerien vorzusitzen im Begriffe sei. Er wähnte sich einstweilen hinter dem Schilde der angeblichen Popularität von Leuten wie Thiers und Barrot geborgen; er bildete sich ein, es würde und müßte ein aus den Reihen der „dynastischen Opposition“ gewähltes Ministerium zwischen seinem Thron und der Emeute eine unübersteigliche Schranke aufrichten. Und doch war der verblendete alte Mann inmitten einer Revolution aufgewachsen und konnte, mußte gelernt haben, wie rasch Revolutionen marschiren. Doch die Menschen wollen ja nie und nirgends Weisheit lernen, und wie sollte auch die altjungfersäuerliche, herbäugige, bitterzungige Magisterin Erfahrung gegen die verführerisch geschminkte und geschmückte, honigsüß lispelnde Buhlerin Illusion aufkommen können?

Aber sie, „die wilde Maid das Kind der Bastille,“ die Revolution, sie zaudert nicht, ihr Herannahen merkbar, recht merkbar kundzuthun. In dem Augenblick, wo der König seinen Platz an der Frühstückstafel einnimmt und seine Familie nach gewohnter Ordnung um den Tisch sich reihen will, schlägt der Wiederhall rasch sich folgender Gewehrsalven vom Tuileriengarten her an die Fenster. Es ist das Gekrache der Schüsse, womit die vom Madeleine-Platz durch die Rue Royale nach dem Concorde Platz fluthende Volksmasse von der am letztgenannten Ort aufgestellten Municipalgarde empfangen wurde. Wenige Secunden darauf treten die Herren Remusat und Duvergier mit verstörten Mienen ein. Die Königin, bleich, die Augen durch Schlaflosigkeit geröthet, Blicke der Beunruhigung und des Argwohns umherwerfend, ruft den Eintretenden entgegen: „Hat sich etwas Ernsthafteres ereignet?“ Die arme Frau! In der Verblendung ihrer absolutistischen Neigungen hatte sie, was diese Tage her in Paris geschehen, nicht für etwas „Ernsthaftes“ angesehen, sondern nur für eine künstlich zu einem „Skandal“ aufgeblasene „Intrigue“ der Herren Thiers, Barrot und Consorten. In fürstlichen Kreisen ist es nun einmal so häufig der Fall, sich den ganzen Proceß der Weltgeschichte nur als eine Reihe von [376] „Intriguen“ vorstellen zu können und die Welt mit diesem Maßstab zu messen.

Duvergier de Hauranne giebt auf die Frage der Königin Amalie keine Antwort und Herr Remusat eine ausweichende, zugleich den Herzögen von Nemours und von Montpenster mit den Augen winkend. Die Prinzen stehen auf und gehen mit den beiden Herren in einen anstoßenden Salon. Auch der König erhebt sich und folgt ihnen. Er trifft Herrn Thiers im Gespräch mit dem Schwadronschef Laubespin vom Generalstab. Dieser Officier enthüllt die ganze Wahrheit der Sachlage, von welcher er sich soeben mit eigenen Augen überzeugt hat. Das Volk bereits Meister des Stadthauses, wahrscheinlich bald auch Meister des Palais Royal und des Concordeplatzes. Unter solchen bedrohlichen Umständen darf man nicht zögern, das für die Sicherheit der königlichen Familie Nöthige vorzukehren. Dem König drängt sich mit einmal die ganze Furchtbarkeit der Gefahr auf. Es wird Befehl gegeben, die Wagen in Bereitschaft zu setzen. Aber da erscheint ein Adjutant Bedeau’s, welcher General melden läßt, daß er auf seinem Rückzug glücklich den Concordeplatz erreicht habe und daß dieser, sowie die Zugänge, von den Truppen in guter Ordnung besetzt gehalten würden. Sofort erscheint die Frage der Flucht nicht mehr als eine brennende. Herr Thiers jedoch bleibt unruhig und kann weder, noch will er seine Unruhe verbergen. „Was ist Ihre Meinung?“ fragt ihn Louis Philipp. Der kleine Nothhelfer, welcher gern ein großer werden möchte und es doch nicht dazu bringt, zieht seine Uhr und sagt gewichtig: „Binnen zwei Stunden werden wir sammt und sonders verschluckt sein (nous serous tous engloutis). Wenn ich Meister wäre – – – “

„Was würden Sie thun?“

„Das Wachsen der Bewegung seit heute früh macht alle Voraussicht zu Schanden. Mit den wenigen Streitkräften, die wir haben, können wir den Stier nicht bei den Hörnern fassen, ohne vernichtet zu werden. Wenn ich Meister wäre, würde ich mich nach Saint-Cloud zurückziehen, daselbst 50 bis 60.000 Mann Truppen um mich sammeln und nach drei Tagen an der Spitze dieser Streitmacht wieder in Paris einrücken ...“

Das Orakel hat gesprochen, aber leider war sein Spruch nur ein wohlfeiles Plagiat vom Jahre 1830. Hatte nicht vor siebzehn Jahren und sieben Monaten Karl X. sich auch in Saint-Cloud gegen die Revolution behaupten wollen und ebenfalls gehofft, binnen etlichen Tagen von dort wieder triumphirend in seine rebellische Hauptstadt einziehen zu können? Nichts Neues unter der Sonne! Die arme, sich heiser sprechende Lehrerin Geschichte lehrt nur, daß die Menschen zu allen Zeiten gleich thöricht und verstockt, gleich eitel, übermüthig und verzagt waren, sind und sein werden. „Sie können Recht haben,“ meint der König, begiebt sich in den Speisesaal zurück, bespricht sich mit seiner Frau und beschließt – nichts. Herr Thiers seinerseits eilt zum Marschall Bugeaud, welcher – soweit ist seine Siegeszuversicht herunter – den Plan seines Freundes sogleich billigt und ein Bataillon Truppen in den Tuileriengarten sendet, um den Abzug der königlichen Familie zu decken.

Im Speisesaale verblaßte jetzo – es war 11 Uhr – eine nackensteife und grandezzahafte Aja Etiquette mehr und mehr zu einem bloßen Schemen und bald zu gar Nichts. Denn siehe, das große Chaos draußen fand ein kleines, aber hinlänglich tumultuarisches Abbild im Innern des Palastes und der königlichen Gemächer. Da war in Gegenwart der Königsfamilie selbst ein immer harmloseres Kommen und Gehen, ein buntes Durcheinanderschwatzen, ein geräuschvolles Wirrsal von Botschaften und Rathschlägen. Jeder wollte auskramen, was er für weise hielt; zu helfen wußte Keiner. Bei der leidenschaftlich bewegten Königin fand der nicht so fast verwegene als vielmehr verrückte Rath, die Tuilerien zu einer bis auf den letzten Mann und auf die letzte Patrone zu vertheidigenden Festung des Julikönigthums zu machen, großen Anklang. „Sire,“ sagte sie zu ihrem Gemahl, „ziehen Sie Ihre Uniform an, steigen Sie zu Pferde, elektrisiren Sie durch Ihre Gegenwart und Ihre Worte die Truppen und die Nationalgarde und sterben Sie, so es sein muß, für Ihre Ehre und Ihren Thron!“

Der alte Mann, dessen Hartnäckigkeit binnen wenigen Stunden in Willenlosigkeit umgeschlagen war, that, wie ihm gesagt worden. Er zog seine gewohnte Generallieutenantsuniform der Nationalgarde an, ließ sich das große Band der Ehrenlegion überhängen und stieg unten zu Pferde, um die auf dem Carrouselplatze aufgestellten Streitkräfte zu „elektrisiren“. Die Mitte des Platzes hatten 4000 Mann Linie inne mit 16 Stücken Geschütz. An dem Gitter, welches den Raum von den Tuilerien trennt, war ein Bataillon Bürgerwehr von der 1. Legion aufmarschirt. Ein Bataillon von der 4. Legion und ein weiteres von der 10. standen, die Front gegen das Schloß gekehrt, auf der entgegengesetzten Seite in Schlachtordnung. Seine zwei Söhne, der Marschall Bugeaud, die Generale Lamoricière, Trezel, Rulhières, Delarue und verschiedene Adjutanten folgten zu Pferde, die Herren Thiers und Remusat zu Fuße dem König. Er ritt langsam vor und seine schlaffen, bekümmerten Züge waren weit mehr geeignet, das Mitleid anzusprechen, als irgend Jemand zu „elektrisiren“. Er traf zuerst auf das Bürgerwehrbataillon von der 1. Legion, welches ihn mit dem Ruf: „Vive la réforme!“ empfing. Louis Philipp, dessen Bewegungen seine Frau, seine Töchter und Schwiegertöchter oben an den offenen Fenstern des Palastes ängstlich verfolgten, näherte sich dem Commandanten des Bataillons und sagte demselben: „Sie können Ihren Leuten die Versicherung geben, daß sie die Reform haben werden. Ich würde dieselbe schon früher bewilligt haben, hätte ich gewußt, daß sie von der Nationalgarde so lebhaft gewünscht wird.“ Das Bataillon von der 10. Legion erhob denselben Reformruf und erhielt dieselbe Antwort. Als sich jedoch der König dem Bataillon von der 4. Legion näherte, ward ihm ein drohenderer Empfang. „Hoch die Reform und nieder die Minister!“

„Meine Freunde, Ihr sollt die Reform haben. Die Minister –“

Man ließ ihn nicht weitersprechen. Geschrei erstickte seine Stimme. Die Officiere der Bürgerwehr schwenkten ihre Degen, die Gemeinen ihre Gewehre, und beide vereinigten sich zu dem tumultuarischen und entschieden feindseligen Ruf: „Nieder mit dem System!“

Das Schwergewicht dieser Demonstration fiel erdrückend auf den Monarchen. Was, seine „Epiciers“ verließen ihn? Wie, der „Bourgeois“ machte gemeinsame Sache mit der Emeute? Das war ein gegen die Existenz des „Bürgerkönigthums“ gefälltes Verdict. Des alten Mannes Haupt sank auf seine Brust herab. Ohne auch nur einen Blick auf die Linientruppen zu werfen, ritt er zurück und beim Eingang zum Pavillon der Flora vom Pferde steigend, sagte er aufseufzend zu Herrn Thiers: „Ach, ich sehe es wohl! Es gilt mir! Alles ist zu Ende!“




Noch war es nicht, aber es ging zu Ende, rasch und immer rascher. Das Schlürfen des Schicksalsschrittes in den Tuilerien war jetzt zum Dröhnen geworden, und riesengroß richtete das Verhängniß vor den verzagend-fragenden Blicken sich auf. Auch war das, was jetzt im Schlosse sich abspielte, nicht mehr nur der schmerzliche Todeskampf eines Königs, sondern vielmehr schon der Todeskampf des Königthums selbst.

Denn die Republikaner, ermuthigt durch die glänzenden Fortschritte, welche der Aufstand während des Vormittags gemacht, hatten derweil die Entscheidungskarte ausgespielt und schüttelten die Würfel zum großen Wurf. Inmitten des tobenden Straßenkampfes verständigten sich die beiden republikanischen Fractionen, die Bourgeois-Demokraten vom „National“ und die Socialdemokraten von der „Reform“. Die Häuptlinge der Letzteren waren auf dem Redactionsbureau ihres Organs versammelt. Dorthin kam Martin (von Straßburg) als Bevollmächtigter der Leute vom National. Man wurde rasch einig, den mit Bestimmtheit zu erwartenden vollständigen Volkssieg entschlossen zu benutzen, die siegreiche Revolution nicht abermals, wie Anno 1830 geschehen war, sich escamotiren zu lassen, und sofort die Mitgliederliste einer provisorischen Regierung aufzusetzen.

Man that dies und kam auf folgende Namen überein: Dupont, Arago, Ledru-Rollin, Flocon, Marie, Marrast, Cremieux, Garnier-Pagès, Lamartine, Blanc. Der Letzgenannte, Louis Blanc, setzte, dem stürmischen Verlangen der Volksmassen nachgebend, welchen er die Liste vorlas, noch den Namen des Arbeiters Albert auf dieselbe und erlangte hierzu die Beistimmung der Bourgeois-Republikaner vom National. Dann wurde die Liste rasch gedruckt und in Menge in die Stadt ausgeworfen. Sie verbreitete [377] sich telegraphengeschwind von Barrikade zu Barrikade, von Fenster zu Fenster, von Straße zu Straße und wurde von den kampferhitzten Blousen überall begrüßt und angenommen mit dem Jubelruf: „A bas les Bourbons! Vive la république!“ … Dies die wirkliche und wahrhafte Genesis des Gedankens einer provisorischen Regierung und damit auch die Genesis der französischen Republik von 1848. Herr von Lamartine, welcher mit Herrn von Chateaubriand glücklich um die Palme der Eitelkeit streitet, hat nachmals in seinem historischen Roman, welchen er „Geschichte der Februarrevolution“ betitelte, sich selbst und Anderen einzureden gesucht, die Republik sei wie eine mit Zuckerwasserlyrik großgenährte Pallas Athene seinem Dichterschädel entsprungen. Eitelkeit der Eitelkeiten! Warum aber ist der Concurrent Chateaubriand’s auf die Liste der Mitglieder einer republikanischen Regierung gesetzt worden? Weil man auch einen „Bruder Redner“ haben mußte oder haben zu müssen glaubte …

Rächerin Nemesis trägt auf ihrer Stirn erhaben-strengen Ernst, aber um ihre Mundwinkel spielt ein ironisch-sarkastischer Zug. Der ist am 24. Februar von 1848 sehr deutlich hervorgetreten, und mit einem Lächeln der Geringschätzung hat die Göttin dem Bürgerkönig das Scepter aus der Hand genommen, um ihm das zerbrochene vor die Füße zu werfen. Die Thronbesteigung von Egalité’s Sohn im Jahre 1830 war ein Werk von Heuchelei und Arglist gewesen, und nun entsprach seinem damaligen Emporkommen ganz genau sein jetziger Fall; denn selten oder nie hat Einer das Königsspiel so würdelos verloren gegeben, wie hier geschah.

Nach der Zurückkunft von dem gänzlich mißlungenen Elektrisirungsritt lag Louis Philipp in mitleidswerther Erschöpfung seiner physischen und geistigen Kräfte in seinem Cabinet in einem Lehnsessel, gedankenbar auf die blätterlosen Bäume vor dem Fenster starrend. Seine zwei Söhne, sowie die Herren Thiers, Remusat und Duvergier waren bei ihm. Es herrschte ein peinliches Schweigen, das endlich durch die Ankunft des Herrn von Reims unterbrochen wurde, welcher Herrn Thiers hinausrufen ließ. Die große Neuigkeit, die der Letztere aus dem Munde seines Secretärs erfuhr, war, daß die unverweilte Abdankung des Königs das einzige Mittel sei, den Thron für die Dynastie Orleans zu erhalten. Thiers ließ die Prinzen in’s Vorzimmer rufen. Reims erzählte, was er wußte, und fügte hinzu: „Die Abdankung ist das einzige Mittel, die Monarchie zu retten, falls dies überhaupt noch möglich.“

Worauf der Herzog von Montpensier: „Aber seit gestern haben wir ein Zugeständniß nach dem andern gemacht, ohne damit Etwas zu erreichen. Kann man uns wenigstens die Wirksamkeit dieser äußersten Concession verbürgen?“

Keine Antwort.

„Was meinen Sie?“ fragen die Prinzen, sich an die Herren Thiers, Remusat und Duvergier wendend.

„Die Abdankung,“ giebt der Erstgenannte zur Antwort, „ist vielleicht eine letzte Rettungsplanke.“

„Man muß den König von der Sachlage unterrichten. Kommen Sie, meine Herren,“ sagte der Herzog von Nemours. Dann kehrte er, bevor er in das königliche Cabinet trat, gegen die ihm Nachfolgenden sich um und bemerkte mit ruhiger Fassung: „Die Abdankung des Königs macht die Einsetzung einer Regentschaft für meinen minderjährigen Neffen, den Grafen von Paris, nöthig. Es kann aber unter den obwaltenden Umständen wohl nur von einer Regentschaft meiner Schwägerin Helene, der Herzogin von Orleans, die Rede sein, nicht wahr?“ Edle Worte, dem Prinzen, welchem bekanntlich gesetzmäßig die Regentschaft zugestanden hätte, durch das Gefühl seiner Unpopularität eingegeben.

Beim Anblick des wie gänzlich aufgelöst in seinem Sessel liegenden Königs zögerten Alle, mit der Sprache herauszugehen. Endlich nahm Thiers das Wort und suchte mit Geschicklichkeit dem alten Manne die Nothwendigkeit der Abdankung begreiflich zu machen, ohne das herbe Wort zu nennen. Louis Philipp verstand den Redner, gab aber keine Antwort.

Nun der Herzog von Nemours: „Falls der König die Abdankung für nöthig hält, will ich sofort meinerseits auf die Regentschaft verzichten.“

Das Eis war gebrochen. Mit einer gewaltsamen Anstrengung sich zusammennehmend sagte Louis Philipp: „Glauben Sie, daß ich durch meine Abdankung meinem Enkel den Thron erhalten werde?“

„Das ist zweifelhaft, Sire.“

„Aber was rathen Sie mir?“

„Was in einem solchen Falle zu thun, hat der König nur mit sich selbst und mit seiner Familie auszumachen.“ …

Louis Philipp zog sich in sein Ankleidezimmer zurück und ließ die Mitglieder seiner Familie dahin rufen.

Während der Familienrath saß, kam der General Lamoricière, welcher nach der traurigen Musterung auf dem Carrouselplatz seine Bemühungen, eine Einstellung des Kampfes zuwegezubringen, wieder aufgenommen hatte. Nun brachte er die Nachricht, daß die siegreich vorschreitende Insurrection mindestens die Abdankung des Königs verlange und daß kein Augenblick zu verlieren sei, so man nicht riskiren wollte, daß ganz in der Nachbarschaft des Schlosses bei dem auf dem Platz des Palais Royal gelegenen sogenannten Château d’Eau, welches von Municipalgarden und Linieninfanterie besetzt war, ein Kampf entbrennen würde, welcher leicht das Signal zur Wiederholung des 10. August von 1792 geben könnte.

Derweil den Anwesenden diese Möglichkeit drohend vorschwebte, fand im Kreise der königlichen Familie eine Verhandlung statt, deren Einzelheiten bislang unbekannt geblieben sind. Mit großer Wahrscheinlichkeit darf jedoch behauptet werden, daß die Königin Etwas von ihrer eigenen Energie, welche mit größter Zähigkeit an den Besitz der Gewalt sich klammerte, ihrem Gemahl einzuflößen gewußt habe. Der König zeigte nämlich, als er, begleitet von seinem Sohne Nemours, heraustrat, mehr Fassung und Haltung als vorhin.

„Nun, General, was bringen Sie Neues?“

„Sire, ich bin Commandant der Nationalgarde, habe aber Nichts zu commandiren. Alle meine Bemühungen, auf Grund der zugestandenen Reformen die Insurrection zu beschwichtigen, sind vergeblich gewesen. Man begnügt sich nicht mehr damit, man verlangt … etwas Anderes.“

„Etwas Anderes? Monsieur de Lamoricière, das ist meine Abdankung, und da ich dieselbe nur mit meinem Leben geben werde, so wird man sie nicht haben!“

Worauf der Herzog von Nemours: „Wohlan, so marschiren wir!“

„Freilich, marschiren wir,“ erwiderte der General, „es fragt sich nur, womit?“

Das „Marschiren“ war nur ein eitles Wort mehr unter den vielen, welche die Rath- und Thatlosigkeit des Bürgerkönigthums an diesem Tage weniger maskirten als enthüllten. Noch eine kurze Weile, und es handelte sich nicht mehr darum, irgendwelchen Widerstand gegen die Emeute zu versuchen, sondern nur noch darum, dem Griffe der siegenden Revolution zu entfliehen. Schon zeigten die Tuilerien ein tumultuarisches Bild der Bestürzung, der Zerrüttung, der Anarchie. Thore und Thüren standen offen, Wachtposten und Thürhüter wehrten nicht dem Eintritt von Teilnehmenden oder Neugierigen. Generale, Officiere, Staats- und Palastbeamte, Deputirte, Journalisten, Bekannte und Unbekannte kamen und gingen nach Belieben, und wer da wollte und mochte, durchwandelte die Gemächer. Nur in der unmittelbaren Nachbarschaft der Zimmer, wo die königliche Familie sich aufhielt, waltete noch einiger Anstand und Respect. Bald jedoch schwemmte die steigende Fluth auch von hier die letzten Schranken weg, welche die Majestät des Throns um sich her gezogen, und nach diesen Schranken den Throninhaber und danach den Thron selbst.




Es ist nahezu Mittag. Louis Philipp, aus seiner augenblicklichen Aufwallung von vorhin wieder in seine Schlaffheit zurückgefallen, sitzt im Lehnstuhl am Fenster seines Cabinets, umgeben von den Herren Thiers, Remusat, Duvergier, Beaumont, Lasteyrie und Anderen. Der Herzog von Montpensier führt Herrn Cremieux ein, einen Deputirten von der Linken, welcher entfernt nicht weiß, daß er auf der republikanischen Liste einer provisorischen Regierung stehe. „Noch ist,“ sagt er, „Nichts oder wenigstens nicht Alles verloren. Das Volk wird mit der Wahlreform, der Kammerauflösung und einem aus der Linken genommenen Ministerium sich begnügen. Allein was die Gegenwart des Herrn Thiers im Ministerium angeht, sie flößt, ich bedaure es sagen zu müssen, dem Volke einen unbesieglichen Argwohn ein.“

Der kleine Nothhelfer, sicherlich insgeheim nicht wenig erfreut, aus einer kläglichen Situation bei Zeiten mit heiler Haut hinausschlüpfen [378] zu können, wendet sich sofort an den König: „Sire, ich bin bereit, auf der Stelle zurückzutreten.“

„Aber wen schlagen Sie mir denn zum Premierminister vor, Herr Cremieux?“

„Odilon Barrot, welcher ermächtigt sein muß, aus den Reihen der vorgeschrittensten Opposition seine Collegen zu wählen.“

„Wohl, es sei. Man rufe Herrn Fain, damit er die Ordonnanz ausfertige.“

„Will der König mir noch eine weitere Bemerkung gestatten?“

„Sprechen Sie.“

„Sire, wer Ihnen rieth, dem Marschall Bugeaud den Oberbefehl zu geben, rieth Ihnen Schlimmstes.“

„Wen würden Sie denn an Bugeaud’s Stelle setzen?“

„Den Marschall Gérard.“

„Es sei.“

Cremieux geht hinaus, um diese neuen Zugeständnisse bekannt zu machen, und Louis Philipp richtet, momentan von einer sarkastischen Laune angeflogen, an den Kleinen die Worte: „Ei, sieh da, mein lieber Thiers, so sind Sie also nicht weniger unpopulär als ich?“

Herr Fain schreibt die Ordonnanz, der General Trézel, das einzige der Mitglieder des Ministeriums Guizot, welches noch in den Tuilerien ausgehalten, hält sich bereit, seine Gegenzeichnung zu geben, und schon hat Louis Philipp die Feder in der Hand, um zu unterzeichnen, als plötzlich das Geknatter von Gewehrsalven aus der Richtung des Palais Royal herüberkommt, wo ein wüthender Kampf um das Château d’Eau sich entsponnen hat. In demselben Augenblick tritt in höchster Eile und Aufregung Herr Emile de Girardin in das Cabinet, ein Stück bedruckten Papiers in der Hand.

„Was giebt es, Monsieur de Girardin?“ fragt der König.

Das, Sire, daß man Ew. Majestät eine kostbare Zeit verlieren läßt. Sei es, daß man dem Aufstand, welcher bereits mit Macht aus der Rue de Chartres hervorbricht, mit aller Kraft entgegentreten, sei es, daß man zu den größten Opfern sich herbeilassen will, jedenfalls sind die Minuten Stunden, und falls man eine Minute verliert, wird es binnen einer Stunde in Frankreich weder einen König noch ein Königthum mehr geben.“

„Aber was thun?“

„Abdanken, Sire, abdanken und zwar zu Gunsten einer Regentschaft der Herzogin von Orleans. Hier ist die fertige Proclamation, welche ich, um Zeit zu sparen, sofort drucken ließ. Sie lautet: ‚Abdankung des Königs. Regentschaft der Herzogin von Orleans. Auflösung der Kammer. Allgemeine Amnestie.‘“

Soweit also war es mit dem Salomo des Juste-Milieu, soweit mit dem Juste-Milieu selbst gekommen, daß der nächste beste Zeitungsschreiber, daß ein Emile de Girardin sich zum Quasi-Dictator aufwerfen und mittelst eines bedruckten Papierfetzens über das Schicksal Frankreichs verfügen konnte ….

„Wenn es so steht, Sire,“ sagte der Herzog von Montpensier, der in keiner Weise seinen Brüdern gleichzustellen war, „wenn es so steht, Sire, so darf kein Zaudern stattfinden. Danken Sie ab!“

Ob vielleicht diese plumpe Unkindlichkeit den greisen König daran erinnert haben mag, daß Jakob der Zweite, als er am Abend des 26. November 1688 erfuhr, seine Tochter Anna sei in’s Lager des Prinzen von Oranien geflohen, den Schmerzensruf: „Helfe mir Gott, meine eigenen Kinder verlassen mich!“ ausgestoßen hat? Schwerlich. Der alte Mann sagte nur mechanisch, wie ein schon halb Versunkener, der sich von der Strömung mit fortreißen läßt: „Ich bin allzeit ein friedliebender Fürst gewesen, ich danke ab.“

Kaum war das Wort heraus, so drängten mehrere der Anwesenden in ihrer nicht grundlosen Angst, die Tuilerien möchten abermals einen 10. August erleben, Herrn Girardin, die Abdankung bekannt zu machen. Er eilte hinaus und gegen das Palais Royal hinüber, aber seine Botschaft verhallte ungehört und wirkungslos in dem um das Château d’Eau her tobenden Kampfgewühl, und er sah sich zur Umkehr genöthigt. Zugleich mit ihm hatte der Herzog von Nemours das königliche Cabinet verlassen und war in den Palasthof hinabgestiegen, wo er den ihn umringenden Officieren erklärte: „Meine Herren, der König hat zu Gunsten des Grafen von Paris abgedankt. Die Herzogin von Orleans ist Regentin.“

[391] Nachdem der König sich zur Abdankung bereit erklärt hatte, war er mühsam von seinem Lehnstuhle aufgestanden und hatte die Thüre zu dem Salon geöffnet, in welchem sich die Königin, die Herzogin von Orleans und die übrigen Prinzessinnen befanden. Aufgeregt und angstbeklommen kamen die Frauen heraus. „Ich danke ab,“ sagt der Greis.

Darauf die Königin ungestüm: „Nein. Sie werden nicht abdanken!“

Er läßt sich wieder in seinen Fauteuil neben dem Fenster fallen und stützt die Hände lässig auf seine Kniee. Die Damen umringen ihn, und diesen kleinen Kreis umgiebt ein größerer, ein bunter Mischmasch von Officieren, Deputirten und Hofleuten. In trübem Schweigen starrt diese Menge auf das schmerzliche Schauspiel. Die Königin allein bewahrt und manifestirt ihren Muth. „Man will Dir,“ sagt sie zu ihrem Gemahl, „das Scepter entreißen, und doch hat Niemand als Du die Kraft, es zu tragen.“ (Hierbei schleudert die Sprecherin einen Zornblick auf ihre Schwiegertochter Helene) „Es ist besser, muthig zu sterben, als abzudanken! Steige zu Pferde, die Armee wird Dir folgen!“ Dann wendet sie sich zu den Anwesenden und wirft denselben die Worte zu: „Ich begreife nicht, wie man den König in einem solchen Augenblicke verlassen kann. Ihr werdet es bereuen!“

Die Herzogin von Orleans kniet vor ihrem Schwiegervater nieder und bittet ihn schluchzend, ein Scepter zu behalten, welches für ihre Hände viel zu schwer sei. Ihre Schwiegermutter und ihre Schwägerinnen betrachten die Weinende mit Blicken voll Zorn, Eifersucht und Neid. Denn in diesem Gemälde menschlichen Jammers darf auch ein solcher specifisch-weiblicher Zug nicht fehlen. Sehr begreiflich jedoch, daß derselbe erschien: es handelte sich dabei nicht allein um „diese kindischen weiblichen Eifersüchteleien“, sondern darum, daß die weiblichen Mitglieder der königlichen Familie die Herzogin von Orleans schon seit längerer Zeit beargwohnten und bezichtigten, sie stände mit der Opposition in ehrgeizigen Beziehungen. Die Töchter Louis Philipp’s hegten noch zur Stunde den Wahn, dieser 24. Februar sei nur das Resultat höfisch-parlamentarischer Intriguen, und deshalb auch faßte jetzt eine der Prinzessinnen Herrn von Lasteyrie heftig beim Arm mit den Worten: „Sie sind nur hier, um uns zu verrathen!“

Etliche der anwesenden Hofmänner fühlen sich durch die Aneiferung von Seiten der Königin getrieben, ihre ritterliche Loyalität sehen zu lassen.

„Danken Sie nicht ab, Sire,“ sagt Herr Piscatory.

„Ja, Sire, danken Sie nicht ab,“ wiederholt Herr von Neuilly.

„Meinen Sie?“ entgegnete der schwankende Mann. „Nun, ich habe ja meine Abdankung noch nicht unterzeichnet.“ Aber indem er das sagt, glaubt er zu hören, daß die Gewehrsalven sich nähern, und Bestürzung malt sich auf seinem Gesichte. Wie um ein Auge zu suchen, das ihm Muth einspräche, schaut er sich um; allein alle die Herren Thiers, Duvergier, Remusat, Cousin und wie sie sonst heißen, selbst den alten Marschall Soult nicht ausgenommen, blicken zu Boden und bleiben stumm. Inzwischen haben die beiden Prinzen drunten auf dem Hofe erfahren, der König scheine Willens, seine Abdankung zurückzunehmen. Sie eilen heraus, und der Herzog von Montpensier drängt eifrig seinen Vater, das gesprochene Abdankungswort zu halten. Mit schwacher Stimme richtet der König an die anwesenden Säulen des Juste-Milieu-Königthums die Frage: „Ist es möglich, die Tuilerien zu halten?“

„Ja,“ antworten zwei oder drei Stimmen zögernd.

„Nein!“ ruft eine ganze Menge ungestüm.

Darauf Louis Philipp: „Wenn also die Tuilerien unhaltbar, will ich kein unnützes Blutvergießen. Ich danke ab.“

Bei der Wiederholung dieses Wortes erscheint der Marschall Gérard auf der Schwelle des Cabinets. Die Königin eilt ihm entgegen: „Mein lieber Marschall, retten Sie uns! Steigen Sie zu Pferde!“ Der alte Krieger neigt sich gehorsam. Er soll dem Volke die Thronentsagung Louis Philipp’s verkündigen und das Gewicht dieser versöhnenden Concession durch seine Persönlichkeit verstärken.

Zu spät! Alles und Alles zu spät!

Man setzt den durch Alter, Kummer und Krankheit gebrochenen Eroberer der Citadelle von Antwerpen drunten am Palastthor auf ein Pferd, giebt ihm einen grünen Zweig in die Hand und läßt ihn der herangrollenden Revolution als Friedensboten entgegenreiten. Er gelangt vom Tuilerienhof auf den Carrouselplatz, [392] als einem seiner Begleiter, dem Deputirten Lacrosse, einfällt, es wäre doch wohl besser, wenn der Marschall dem Volke eine förmliche Abdankungsurkunde entgegenhalten könnte. Herr Lacrosse eilt in das königliche Cabinet zurück und theilt sein Anliegen dem jüngsten Sohne Louis Philipp’s mit. Montpensier legt ein Blatt Papier auf den in der Mitte des Zimmers stehenden Schreibtisch und sagt zu seinem Vater: „Sire, Sie müssen Ihre Thronentsagung unterzeichnen.“

Der König steht auf und geht langsam zu dem Schreibtisch, vor welchen sein Sohn einen Stuhl hinstellt. Da macht die Königin noch einen Versuch der Gegenwehr, indem sie ihrem Gemahl mn den Hals fällt mit dem Ausrufe: „Schreiben Sie nicht, Sire, schreiben Sie nicht! Weichen Sie einer Emeute nicht! Man will Ihnen bange machen!“

Der alte Mann hält inne, aber Montpensier zeigt mit einer Gebehrde der Ungeduld auf das Blatt Papier. „Wohlan, da man es will … sagt der König, setzt sich an den Schreibtisch und beginnt langsam zu schreiben.

„Beeilen Sie sich, Sire,“ sagt eine Stimme, man weiß nicht, wessen, „schon wird auf dem Carrouselplatze geschossen.“

Das ist dem alten Manne doch zu viel. Er blickt auf, forscht mit einem Blicke der Entrüstung nach dem Sprecher und entgegnet: „Man wird mir wohl Zeit lassen. Komme, was da wolle, ich kann nicht schneller machen.“ Und er schrieb mit großen Buchstaben in langsamen Zügen:

„Ich entsage der Krone, welche zu tragen die Stimme der Nation mich berief, zu Gunsten meines Enkels, des Grafen von Paris. Möge er die große ihm heute zufallende Aufgabe lösen!“ (J’abdique cette couronne, que la voix nationale m’avait appelée à porter, en faveur de mon petit-fils le comte de Pairs. Puisse-t-il réussir dans la grande tâche qui lui échoit aujourd’hui!)

Am 24. Februar 1848.
Louis Philipp. 


Man sieht, er übereilte sich nicht; er nahm sich Zeit, einen dummen Schreibfehler (appelée statt appelé) zu begehen.

Nachdem der König die Urkunde aufgesetzt und unterzeichnet hatte, las er sie halblaut vor. Die Königin umarmte ihn mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit und sagte: „Füge hinzu, daß Du wünschest, Dein Enkel möge Dir gleichen. Denn, Messieurs, der König ist doch ein redlicherer Mann als Ihr Alle.“ Und sie hängte dieser Beleidigung noch die grollenden Worte an: „Ihr habt jetzt, was Ihr gewollt; aber Ihr werdet es bereuen!“ … Der entkönigte alte Mann sagte: „Da ist meine Abdankung; man bringe sie dem Marschall Gérard.“ Nach einigem Zögern nahm Herr Baudin das Papier und eilte damit dem Marschall nach.

Zu spät! … Es ist, als hörte man in dieser Tragödie vom 24. Februar 1848 einen äschyleischen Eumenidenchor das schicksalsschwere Wort hohnlachend immer und immer wieder anstimmen.

Die Abdankungsurkunde war zur Stunde nur noch ein werthloser Papierfetzen, welcher nicht einmal in die Hände des Marschalls Gérard gelangte, sondern unterwegs in denen des Republikaners Lagrange hängen blieb. Die Mission des Marschalls selbst that gar keine Wirkung. Im Begriffe, das letzte Hinderniß auf ihrem Wege zu den Tuilerien, das Châtean d’Eau, nach mörderischem Kampfe zu bewältigen, blieb die Revolution für alle vermittelnden Stimmen taub, wie das ja so hatte kommen müssen. Denn es ist dafür gesorgt, daß abermalen und abermalen in Erfüllung gehe, was beim Anastasius geschrieben steht:

„Mild und bittend sprach sie einstens; eure Taubheit zwang sie jetzt,
Daß sie in Kanonendonner ihre Bitten übersetzt.“ …

Im Schlosse hegte man kaum einen Zweifel, daß die Worte der Abdankungsurkunde wie sänftigendes Oel auf die Aufstandswogen träufeln würden. Auch die Regentschaft der Herzogin von Orleans galt für selbstverständlich. Sie selbst rief, verstört durch die Zornblicke ihrer Schwiegermutter und das feindselige Gebahren ihrer Schwägerinnen, weinend aus: „Großer Gott, welche Last! Ohne Stütze, ohne Beistand … Verlaßt mich nicht!“ …

Es war 121/2 Uhr, als Herr Thiers auf den Carrouselplatz hinabging, um seinem „intimen Freunde“ Bugeaud zu sagen, wie sich droben die Dinge entwickelt hatten. Der eisenfresserische Soldat, welcher wenige Stunden vorher seinem kleinen Freunde geschrieben hatte, daß sie Beide „berufen seien, mitsammen die Monarchie zu retten“, schrie fluchend: „So ist also Alles zum Teufel!“

Worauf der Andere: „Ja, man hat uns eben zu spät berufen.“

Der Herzog von Nemours kam, dem Marschall das Commando abzunehmen, was dieser widerwillig geschehen ließ.

Der Prinz gab hierauf den Befehl, daß die Truppen den Carrouselplatz räumen und sich in den Tuilerienhof zurückziehen sollten. Diese Bewegung wurde ausgeführt, und hinter den abgezogenen Soldaten schlossen sich die Eisengitter des Palasthofes. Unterdessen gab es eine große Bewegung in den Corridoren und auf den Treppen des Schlosses: der Vollstrom der Rattenauswanderung ergoß sich. Die mit Macht grassirende Angst ließ Herren in Uniformen und Hoffräcken und Damen in Seidenroben und Sammetmänteln schaarenweise davongehen, Bestürzung auf den Gesichtern und auf den Lippen den nicht mehr verhaltenen Angstruf: „Alles ist verloren!“

So hatte sich die Menge auch im königlichen Cabinet beträchtlich gelichtet, als die Botschaft dahin gelangte, daß die Sendung des Marschalls Gérard vollständig gescheitert und der General Lamoricière vom Volke zum Gefangenen gemacht worden sei. In demselben Augenblicke Schüssegeknatter auf dem Carrouselplatz, wohin die Insurrection bereits ihre Plänkler vorgesandt hatte. Diese sahen einen Zug königlicher Reisewagen, welche man auf den Fall einer Flucht hin aus den Ställen in der Rue Saint-Thomas du Louvre herbeibefohlen, über den Platz fahren, schossen darauf, tödteten einen Vorreiter, sowie mehrere Pferde, und zwangen die Wagen zur Umkehr nach den Remisen.

Das Knattern dieser Schüsse macht die Prinzessinnen Schreckensschreie ausstoßen. Louis Philipp schnellt in höchster Unruhe aus seinem Fauteuil empor. Herein stürzt, die Kleider in Unordnung und in äußerster Fassungslosigkeit, Herr Cremieux: „Sie haben keinen Augenblick mehr zu verlieren, Sire! das Volk kommt! Noch etliche Minuten und es wird in den Tuilerien sein!“ Der König sagt kein Wort, aber er hastet sich, sein Ordensband und seinen Degen abzuthun. Dann zieht er seine Uniform aus, schlüpft mit Hülfe der Königin in einen Civilrock und ruft suchend und bebend: „Meine Uhr? Meine Uhr? Ach, ich hab’ sie! Da, nehmt dies Portefeuille! Und wo ist mein Schlüsselbund?“ Es war Etwas wie Wahnsinn in den Bewegungen und Worten des Greises, aber Nichts vom Wahnsinn eines Lear, wohl aber von dem eines zu Grunde gerichteten Bankiers.

Die Prinzessinnen brachen in Schluchzen aus und die Kinder der königlichen Familie staarten mit ängstlicher Neugier auf das für sie unbegreifliche Schauspiel. Die Königin – so will eine Ueberlieferung, die aber nicht fest verbürgt ist, da es zweifelhaft, ob Thiers es für gut gefunden, zu dieser Zeit noch im königlichen Cabinet anwesend zu sein – die Königin, die Tochter Karolina’s von Neapel und Enkelin Maria Theresia’s, diese Frau, in welcher der lothringisch-habsburgische Stolz mit dem bourbonischen Hochmuth sich verband, sie soll selbst in diesen letzten Minuten ihrer Königinschaft nicht umhin gekonnt haben, ihren Groll und Zorn auszulassen. Mit vor Ingrimm bebenden Lippen soll sie zu dem armen kleinen Geschichtschreiber, welcher doch wahrlich an der Februarrevolution sehr unschuldig war, gesagt haben: „Sie haben uns zu Grunde gerichtet! Sie haben die Volksleidenschaften zu einem Brande geschürt, dessen Flammen jetzt über dem Throne zusammenschlagen! Sie sind ein Undankbarer und verdienten keinen so guten König!“

Louis Philipp, in schwarzem Frack und Hut, nahm den Arm der Königin, sagte im Vorbeigehen zur Herzogin von Orleans: „Helene, Sie bleiben da!“ und gab durch sein Weggehen das Zeichen zur Flucht. Von Mitgliedern der Familie folgten dem greisen Königspaar der Herzog von Montpensier und seine Frau, eine spanische Infantin, dann die Herzogin von Nemours mit ihren Kindern und der Prinz August von Sachsen-Coburg mit der Prinzessin Clementine, seiner Frau. Etliche Hofdamen, etliche Adjutanten, Palastbeamte und Diener schlossen den Zug, der mittelst eines mit dem Arbeitscabinet des Königs in Verbindung stehenden unterirdischen Ganges unter dem Pavillon de l’Horloge hinweg in’s Freie gelangte, in den Tuileriengarten, welcher leer und still war, während der Schall des Kampfgetöses ven rechts herüber grollte und drohte. An der Ausmündung des unterirdischen Ganges fand man Herrn von Montalivet, welcher, seinem Gebieter treuer als viele Andere, zwei Schwadronen Gardekürassiere unter den Befehlen des Generals Regnauld bereit hielt, die Flucht des Entkrönten [393] zu decken. Nationalgarden von der ersten Legion, sowie ausharrende Freunde der königlichen Familie, die Herren Lasteyrie, Scheffer und Andere, reihten sich ebenfalls dem Zuge an, welcher sich die große Avenue des Gartens entlang so rasch bewegte, wie der alte Mann, dessen dem völligen Bruche nahe physische und moralische Kraft nur noch durch die Seelenstärke seiner Gemahlin nothdürftig aufrecht erhalten wurde, zu gehen vermochte. Ein wahrer Leichenzug der Julimonarchie! Man konnte denselben von der Rue Rivoli aus zwischen den blätterlosen Baumzweigen dahingleiten sehen, schemenhaft schwarz, da die Mitglieder der Familie Louis Philipp’s die Trauer um die kurz zuvor gestorbene Prinzessin Adelaide noch nicht abgelegt hatten.

Der mit Herrn Cremieux vorangehende Herzog von Montpensier kehrte sich von Zeit zu Zeit um und sagte: „Beschleunigen Sie Ihre Schritte, Sire!“ In der Mitte der Avenue überschlug sich das Pferd eines der reitenden Nationalgardisten und fiel auf seinen Reiter. „Armer junger Mann!“ rief die Königin aus, Louis Philipp aber nur: „Schafft mir das Pferd aus dem Wege!“ Am Gitter der aus dem Garten auf den Concordeplatz führenden Drehbrücke angelangt, blieb er stehen und richtete an Herrn de Montalivet die Frage: „Hat man die Gewißheit, mich in Sicherheit nach Saint-Cloud zu bringen?“

„Ja, Sire.“

Der Entkrönte passirte das Gitter und betrat den Platz. Da er gesenkten Hauptes einherschritt, bemerkte er Blutspuren auf dem Boden und machte eine Bewegung des Abscheus. Aber der Concordeplatz war nicht so verlassen wie der Tuileriengarten. Eine Menge von Neugierigen wogte darauf hin und her. Darunter Gruppen von Bürgerwehr, da und dort auch ein Häuflein Blousen, Gewehre in den Händen, die Gesichter von Pulverrauch geschwärzt.

Der Fluchtzug stockte, der König schien erkannt, das Anfluthen der Menge wurde stärker. Eine Stimme aus dem Gefolge rief: „Messieurs, Schonung, Gnade für den König!“

„Die soll er haben; wir sind keine Mörder; aber schnell auf und fort mit ihm!“ eine Antwort, welche das hundertfache Echo fand: „Ja, schnell auf und fort mit ihm!“

Die Königin zog ihren Gemahl mit sich fort, dahin, wo am Fuße des Obelisken drei schlechte, einspännige Miethwagen hielten, genau auf der Stelle, wo vor Zeiten, in der Sprache von damals zu sprechen, „La Sainte-Vierge Guillotine“ ihren „Altar“ gehabt.

War es nicht ein furchtbarer Schicksalshohn, daß der vom Throne gestürzte Sohn von Philipp Egalité gerade von dieser Stelle aus in’s Exil geschleudert wurde? Von der Stelle aus, wo sein Vater am 6. November 1793 in weißer Weste, gelben Lederhosen und zeisiggrünem Frack auf besagtem „Altar“ erschienen war, „pour faire le saut de carpe en avant.

Aber der alte Mann ist von der Angst der Gegenwart zu sehr erfüllt, um des Schreckenn der Vergangenheit zu gedenken. Er öffnet die Thüre eines der schmutzigen Fuhrwerke und findet dasselbe bereits mit Prinzessinnen und Kindern vollgestopft. „Heraus! Steigt alle heraus!“ ruft er, in der Selbstsucht des Alters und der Furcht des zärtlichen Familienvater für den Augenblick ganz vergessend. Die Prinzessinnen gehorchen. Louis Philipp wirft sich hastig in den Wagen, die Königin folgt ihm, drei ihrer Enkel haben den Vordersitz inne. Die anderen Mitglieder der Familie pressen sich, so gut es gehen will, in die beiden anderen Wagen; aber die Prinzessin Clementine und die Herzogin von Montpensier finden keinen Platz mehr und werden durch die Herren Thierry und Lasteyrie aus dem Gedränge und in ein sicheres Asyl gebracht. Die schöne Infantin – geborene Muñoz, wie die bösen Zungen sagen – ist eine jugendlich muntere Dame. Sie fängt an, die Sache „amüsant“ zu finden und äußert gegen ihren Ritter Lasteyrie, das sei doch auch mal eine der Mühe werthe Abwechslung in der ewigen Langeweile des Hoflebens.

„Mein Portefeuille! mein Portefeuille!“ schreit Louis Philipp aus dem Innern des Wagens. Der „König der Börse“ vergaß selbst in dieser äußersten Angst nicht seiner „Werthpapierchen“. Herr Cremieux schiebt die umfangreiche Mappe mit Mühe durch die Wagenfensteröffnung, und, im Besitze seines Theuersten, ruft der alte Mann in höchster Ungeduld: „Partez! Partez donc! Partez vite!“ Der Kutscher peitscht auf sein Pferd, und im Galopp fliegt der Wagen davon, daß der flüssige Koth darob zusammenspritzt.

Also verschwand des Königs Majestät und Herrlichkeit. Im Julistaube war er gekommen, im Februarkoth ist er gegangen.

Aber seht, was thun denn jetzo die beiden Nothhelfer, welche „berufen waren, die Monarchie zu retten,“ Monsieur Thiers und Monsieur Bugeaud? Sie thun, was kluge Leute unter so bewandten Umständen zu thun pflegen: – sie retten sich selbst. Der Marschall ist übrigens martialisch genug, nur von einem einzigen Adjutanten gefolgt, in seinem Marschallsanzug langsam davon zu reiten. Herr Thiers schlängelt sich zu Fuße durch den Tuileriengarten und über die Concordebrücke in’s Palais Bourbon hinüber, in dessen Räumen die Repräsentanten der Corruption – officicll heißen diese Herren „Vertreter des französischen Volkes“ – rathlos hin- und herrennen. Selber rathlos und bis zur Besinnungslosigkeit bestürzt, geht der kleine Ex-Nothhelfer durch einen der Säle. Corrupte umdrängen ihn mit stürmischen Fragen. „Messieurs, es gehen Dinge vor, Dinge, Dinge! Die Fluth steigt, steigt, steigt! Alles ist verloren!“ erwidert er stotternd und verschwindet, um nicht mehr zu erscheinen, bevor die politische Temperatur wieder so ist, daß Ränkespinner mit ziemlicher Sicherheit aus ihren Schlupfwinkeln sich vorwagen können …

Dieser beiden Stützen also sah sich die arme Herzogin von Orleans beim Antritt ihrer Regentschaft beraubt, und es war überhaupt kläglich bestellt mit den Stützen dieser Regentschaft. Der Deputirte Lacrosse sagte nach der Flucht des Königs zu der Prinzessin: „Madame, gehen Sie mit Ihren beiden Knaben sofort nach der Deputirtenkammer. Dort ist jetzt der Sitz der Autorität, das Volk wird Ihnen Platz machen; denn Sie sind die Frau des Herzogs von Orleans und tragen Wittwentrauer um ihn.“ Ein wohlgemeinter, aber schlechter Rath; denn die Entscheidung war nicht im Palais Bourbon … Die Herzogin zog sich für eine Weile in ihre Gemächer im Pavillon Marfan zurück, wo Herr Dupinauch eine Säule des Orleanismus, später aber eine Säule des Bonapartismus – zu ihr kam und sie in der Absicht, ihr Heil in der Deputirtenkammer zu versuchen, bestärkte. Er sprach noch für seine Meinung, als der Adjutant Touchard hereinstürzte, um eiligst zu melden, der Herzog von Nemours lasse seine Schwägerin bitten, sich ohne allen Verzug durch den Pavillon de l’Horloge in den Garten und durch die große Avenue desselben zur Drehbrücke zu begeben. Es sei kein Augenblick zu verlieren. Die Prinzessin brach alsbald auf und machte sich, ihre beiden Knaben, den Grafen von Paris und den Herzog von Chartres an den Händen, mit einem kleinen Gefolge auf den bezeichneten Weg.

Sie gelangte glücklich in den Garten. Aber es war in der That kein Augenblick zu verlieren gewesen, maßen inzwischen die Tuilerien eingenommen worden und zwar durch einen einfachen Lieutenant von der 5. Bürgerwehr-Legion, Herrn Aubert-Roche. Als nämlich die Truppen den Carrouselplatz geräumt hatten, war derselbe sofort von Nationalgarden besetzt worden. Kaum war dies geschehen, als nach Bewältigung des Château d’Eau die siegreiche Volksmasse mit dem Donnerruf: ,Aux tuileries!“ über die Rue Rivoli gegen den Platz vorbrach, und alsbald schlugen die Flintenkugeln an die Nordseite des Schlosses. Der Herzog von Nemours, erkennend, daß jeder Versuch, den Palast zu vertheidigen, blos ein unnützes Blutbad zur Folge haben würde, und edelmüthig nur darauf bedacht, den Gang seiner Schwägerin zum Palais Bourbon zu decken, befahl den Truppen, zum Abzug durch das Thor des Pavillon de l’Horloge sich bereit zu halten. Derweil mühten Bürgerwehr- und Blousenmänner in buntem Gemische sich ab, das Eisengitter, welches den Schloßhof gegen den Carrouselplatz absperrte, niederzubrechen, und befürchtend, diese Mühwaltung möchte die Wuth der Stürmenden steigern, wußte sich der genannte Bürgerwehrofficier durch das Thor des an die Rue Rivoli stoßenden Pavillon Eingang zu verschaffen und den Gouverneur des Palastes, Oberst Bilfeld, zu bewegen, ihm die Schlüssel auszuliefern. Dann eilte er, das nach dem Carrouselplatze führende Hofgitterthor aufzuschließen, und die Menge strömte in den Schloßhof. Der Herzog von Nemours vernahm, unter dem Thor des Pavillon de l’Horloge im Kreise seiner Officiere stehend, das Herannahen des Volkes. „Was, jetzt schon?“ rief er aus, gab geflügelte Befehle, die sämmtlichen Truppen, welche noch vorhanden, durch die große Mittelpforte in den Garten debouchiren zu lassen, und stellte sich an die Spitze des 1. Bataillons vom 10. leichten Regiment, um damit der Herzogin von Orleans auf ihrem Wege zu folgen. Der Prinz hat dann, wie bekannt, mit äußerster Hingebung und Selbstverleugnung bis zuletzt seine Pflicht gethan, er und nur er war es, der an diesem „Tag des Zorns“ dem Namen Orleans Ehre machte.

[394] Retten freilich konnte er seines Hauses Sache nicht … Die Herzogin von Orleans eilte inzwischen die große Avenue des Gartens hinab, geführt von Herrn Dupin. An ihrer rechten Hand hielt sie ihren älteren Knaben, den weinenden jüngeren trug ihr ein Diener nach. Bei der Drehbrücke angelangt, wurde sie von den Herren Havin und Biesta eingeholt, welche von Seiten Odilon Barrot’s den dringenden Rath brachten, die Prinzessin solle sich mit ihren Söhnen über die Boulevards nach dem Hotel de Ville begeben; denn dort, im Hauptquartier des siegreichen Aufstandes, liege die Entscheidung. Die Herzogin stand still, ungewiß, was zu thun, aber mit dem Instinct einer Mutter fühlend, daß dieser Rath der bessere. Herr Biesta drang in sie, denselben zu befolgen. „Können Sie reiten?“ frug er die Prinzessin.

„Hinlänglich, um im Nothfall ein Dragonerpferd besteigen zu können.“

„Nun wohl, zaudern Sie nicht! Kommen Sie in’s Stadthaus, und Sie werden Regentin und Ihr Sohn wird König sein. Wenn nicht, ist Ihre Sache verloren.“

„Das ist der Rath eines Narren!“ schrie Monsieur Dupin. „Nach der Deputirtenkammer müssen Sie gehen!“

Die Herzogin von Orleans befolgte den Rath des „liberalen“ Mannes, begab sich in die Deputirtenkammer – und nach einer Stunde voll Angst und Pein sah sie daselbst ihre Regentschaft und ihres Sohnes Krone rettungslos vom rasenden Strudel eines unerhörten Tumults verschlungen …

Während eine Volkswoge die „Corrupten“ aus dem Palais Bourbon wegschwemmte, feierte in den Tuilerien die Revolution ihr Siegesbacchanal. Nicht in Blut – sie überließ das der heiligen Reaction, welche wenige Monate darauf ihre rothen Orgien in Scene setzte – aber in Wein, den man aus den wohlversehenen Kellern heraufholte. Es ging lustig her in diesen vergoldeten Räumen, aus welchen Dame Etiquette mit dem übrigen Hofgesindel entsetzt entflohen war. Zerschlagen, zerrissen und zertreten wurde Manches und Vieles, gestohlen nichts. „Mort aux voleurs!“ Es ist actenmäßig festgestellt, daß, obgleich am Nachmittag und Abend dieses Tages allein an 100.000 oder mehr bewaffnete Blousenmänner im Palast aus- und eingingen, nichts von irgend bedeutendem Werth abhanden kam und herumliegende Kostbarkeiten im Werthe von mehr als vier Millionen von Proletariern, die vielleicht keinen Sou in der Tasche hatten, gesammelt und an die Behörden abgeliefert wurden. Mit ganz besonderer Rücksichtsnahme behandelte das siegreiche Volk die Zimmer der Herzogin von Orleans. Auf dem Lesepult der Prinzessin lag ein Buch, betitelt „De la sainteté des gouvernements et de la moralité des révolutions“. Die aufgeschlagene Seite trug die Capitelüberschrift „Stabilité du gouvernement“. O Prediger Salomonis!

Der ausgelassene Jubel der siegreichen Masse, welche in den Tuilerien tobte und tollte, müßte, durch den Genius eines Shakespeare oder Kaulbach zu einem Bilde zusammengefaßt, einen weltgeschichtlichen Carneval darstellen, wie es einen zweiten wohl niemals gegeben hat. Dort hing ein Schwarm von Gamins freudeläutend an dem Zugseil der großen Schloßglocke, während andere die rothe Siegesfahne auf die Kuppel des Pavillon de l’Horloge pflanzten und wieder andere auf der Plattform des Daches einen Ball abhielten. Im Garten, in den Höfen, in den Corridoren und Sälen krachten unzählige Jubelsalven, denn der noch vorhandene Rest von Patronen mußte schlechterdings verbraucht werden. Hier hat im Schlafzimmer Louis Philipp’s Einer über seine Blouse eine weiße Weste des Bürgerkönigs angezogen und das Galaordensband mit dem Kreuz von Diamanten darüber gehängt, und also ausstaffirt bläst er aus Leibeskräften und seelenvergnügt auf einem Waldhorn fürchterliche Noten zum Fenster hinaus. Dort steht eine andere Blouse, angethan mit einem brokatenen Schlafrock, mitten im Empfangssalon des Herzogs von Montpensier, die Marseillaise singend und auf einer prinzlichen Geige schrecklich dazu geigend, während seine Cameraden, mit andern Artikeln der herzoglichen Garderobe behangen, um ihn her die Carmagnole tanzen. Hier geht, von einem Polytechniker geführt, ein Zug von Ouvriers durch die große Gallerie, ehrerbietig ein der Zerstörung entrissenes, wundervoll aus Elfenbein geschnitztes Crucifix geleitend, unter dem unweigerlich befolgten Zuruf an die Begegnenden: „Citoyens, chapeau bas! Saluez le charpentier de Nazareth!“ Dort im Allerheiligsten, im Thronsaale, wird die purpurne Throndraperie in Fetzen gerissen und aus einem der Stücke eine Freiheitsmütze gewunden, welche der dem Mittelpavillon des Schlosses gegenüber im Tuileriengarten stehende Spartacus tragen soll. Ein Proletarier springt auf den Thronsessel, wischt den Koth seiner Schuhe an dem Sammet ab, schwingt eine rothe Fahne und ruft frohlockend: „Vive la république!“ – So verwandelte der französische Leichtsinn diesmal den Act der Rache in ein Possenspiel.

Eine Stunde darauf ging ein phantastisch-bunter Faschingszug von etlichen Tausenden über die Boulevards, welche aussahen, als wäre ein Tornado darüber hinweggefegt. Vorauf ritt ein bebrillter Polytechniker; dann kam ein Karren, auf welchem die zerstörten Herrlichkeiten des Thronsaales zusammengepackt waren, mit Ausnahme des vergoldeten Thronsessels, welcher, von etlichen Blousen getragen, über den Köpfen der Menge einherschwebte. Die Procession lenkte zum Platz der Bastille, wo am Fuße der Julisäule eilends ein Scheiterhaufen geschichtet wurde. Auf diesen warf man die Trümmer und stellte obenauf den Thronstuhl. Als die Flammen den Thron ergriffen, brach ein tausendstimmig-jauchzendes „Vive la république!“ aus, und hochauf schlug die schwelgende Lohe.