Die Feuerbestattung
Vor einigen Jahren wurde mir das Glück zu Theil, den Frühling in der Schweiz zu verleben. Zu keiner Jahreszeit ist die Poesie der Berge holder und großartiger als im Lenze. Dann wird das Grün der Vegetation nicht vom Schnee und Eise der Bergesspitzen durch einen breiten Gürtel öden, grauen Gesteins getrennt, sondern jeder der stolzen Bergesriesen erscheint in der Majestät eines Gletschers, dem das weiße Gewand vom hohen Gipfel herab bis dicht und unmittelbar an das Grün der Föhren- und Lärchenwaldungen sich erstreckt. Man erkennt seine alten Freunde kaum wieder. Dieselben Berge, welche im August bedeutungslos und unschön erschienen, treten jetzt in vollen Prachten dem Besucher entgegen und entzücken durch die nun scharf hervorleuchtenden Einzelheiten ihrer Formen.
Und die Bäche, die Wasserfälle! Während der herbstlichen Reise hielten sie ebenso ihre Ferien wie der sie Besuchende. Jetzt aber sind sie in voller Arbeit. Rauschend und schwatzend schnellen sich die grünlichweißen Achen über das Steingeröll ihres Bettes. In mächtigen Garben gesellt sich zu ihnen das von der Höhe herabstürzende frischgeschmolzene Wasser, welches mit dem Tosen und Brausen des Jugendübermuthes seiner Fessel entrinnt und in’s Dasein tritt. Welche Umgebung ist ihm aber auch bereitet! Kaum ist der Schnee in dem Thale oder auf dem Bergeshange verschwunden, so zeigt sich ein Teppich des saftigsten Smaragdgrüns, und nach wenigen Tagen ist er mit Blumen übersäet. In allen Farben blühen sie hervor, leuchtend und strahlend im hellsten Farbenglanze. Fällt noch einmal eine leichte Schneedecke, so wird sie bald von der wirksamen Mittagssonne durchsichtig gemacht, und unter dem eisigen Schleier schauen vertrauensvoll und froh die Blumenaugen empor. Zauberhafte Schönheit!
Wer inmitten dieser Herrlichkeiten die reine Bergesluft einschlürfen darf, deß Auge schweift mit Entzücken von Bild zu Bild und saugt sich Kräftigung. Wenn irgendwo, so ist hier der Monat Mai ein Liebeskuß, der Erde aufgedrückt vom Himmel. Ich genoß diese Zeit am schönsten in Schuls (Graubünden), dem herrlich gelegenen Oertchen, welches oberhalb des tief unten in feuchter Schlucht dicht am Flusse gelegenen Curhauses Tarasp in schönster Umgebung und Aussicht erbaut ist. Nur das noch höher auf dem Bergesrücken aus höchst reizvoller Umgebung weit in das Land schauende Fettan kann mit ihm wetteifern; eine kleine, wohlhabende, von Touristen viel zu wenig gekannte und besuchte, zum klimatischen Aufenthalte vorzüglich geeignete Ortschaft. Vor meinem Fenster thronte das Kirchlein von Schuls hoch oben auf dem schroff aus dem Inn aufsteigenden Felsen. Die Glocke lud zur Kirche ein, und ich eilte, dem Rufe zu folgen, um der Aussicht von dem am Werkeltage verschlossenen Kirchhofe mich zu erfreuen. Dicht um die Kirche fanden sich Grabhügel ist engen Reihen. Sie schienen alle neu, denn noch hatte kein Rasen sie überzogen. Aber – kein Grab war verziert. Kein Kreuz, kein Denkstein verkündete des Schläfers Namen. Selten nur, auf wenigen Gräbern, blühten ausgehobene Wiesenblumen. Sollte die Bewohnerschaft so arm sein? Sollte sie der Pietät für ihre Todten entbehren? Daß das Letztere nicht der Fall war, hatte ich schon aus der anmuthenden Sitte erkannt, daß für jeden Gestorbenen in Schuls nicht nur die Hinterlassenen, sondern die Bewohner des ganzen Dorfes trauern. Die gesammte Gemeinde fühlte sich also als eine einzige große Familie. Um so mehr überraschte mich der schmucklose Zustand der Gräber.
Wie ward mir aber, als ich näher trat und auf der dunklen Erde der Grabhügel zahllose weiße Gegenstände im Sonnenlichte blinken sah. Es waren menschliche Gebeine! – Als ich später ein Grab graben sah, zeigte sich die Kirchhofserde an allen Stellen von Knochen durchsetzt. Knirschend fuhren Hacke und Grabscheit durch Schädel und Knochen. So kam es, daß auch die Oberfläche der Hügel dieselbe widerliche Beimengung zur Schau trug. Hier lag ein Stirnbein, dort ein Hinterhauptsbein, da ein halb zerbrochener Oberarm, daneben Stücke des Fußes. Alle Knochen waren von den Weichtheilen befreit, aber so wohlerhalten, als ob ein Anatom sie sorgfältig präparirt hätte. Zwischen den Knochen aber lagen Fetzen der Kleidung, hier ein Aermel von einer Männerjacke, weiterhin ein Stück des Beinkleides, und unten ragte ein Stiefelabsatz aus der Erde. Aus einem Grabhügel hing ein wohlerhaltenes Leinenband, blau mit weißen Streifen. Ich zog an dem derben, groben Bande. Da kam eine Schleife zum Vorschein, das andere Ende des Bandes, und nun hängt die noch fest gebundene Schleife mit beiden Enden an zwei langen Bändern aus dem Grabe. Ein altes Mütterchen belehrte mich, daß dies das Schürzenband eines jungen ihr wohlbekannten Mädchens gewesen, welches vor wenigen Tagen durch neue Benutzung des Grabes in seiner sogenannten „ewigen Ruhe“ gestört worden sei; sie habe die Verstorbene gekannt, und eine ihr ebenfalls bekannte Freundin habe der Entschlafenen damals den Liebesdienst der letzten Bekleidung erwiesen.
[309] Also die Knochen und Kleider bekannter Personen lagen und liegen noch zerstreut auf diesem angeblichen „Friedhofe“. Die weinende Wittwe sieht an den Kleidern ihres Gatten, daß seine Skelettheile es sind, mit denen muthwillige Knaben spielen. Der bekümmerte Vater erkennt an wohlerhaltenen Resten des Anzuges die von ihnen noch umhüllten Knochenreste seines verstorbenen Lieblings und muß sehen, wie Spaten und Fuß des Todtengräbers sie zertrümmern. Und diese herzlose Barbarei, diese kaum glaubliche Rohheit vollzieht sich inmitten einer paradiesischen Gegend, eines wunderbar schönen Stückleins Erde, vollzieht sich in einem kleinen Orte mit geringer Bevölkerung!
In Schuls sterben jährlich nur etwa zwanzig Personen. Da der Raum um die Kirche nur etwa dreihundertfünfzig Gräber gestattet, so wird in der kurzen Zeit von siebenzehn bis achtzehn Jahren jedes Grab wieder in Gebrauch genommen. Auch diese kurze Zeit hat im Anfange gewiß genügt, die daselbst begrabenen Leichen in „Verwesung“ überzuführen, denn der Begräbnißort ist der Sonne und dem Winde reichlich ausgesetzt, und so lange die Erde noch porös, das heißt für Luft durchgängig war, konnte zur Leiche genügende Menge Luft dringen, deren Sauerstoff sich mit dem Kohlenstoffe und Wasserstoffe der Körperbestandtheile verband, so daß neben Stickstoffgas nur Kohlensäure und Wasserdunst dem Grabe entströmten, und der Vorgang der Zersetzung keine schädlichen Dünste aushauchte. In allen neuen Kirchhöfen ist dies der Fall. Die Zersetzung geht schnell vor sich und hat die Form der „Verwesung“, das heißt einer langsamen Verbrennung unter der Erde.
Allein sobald mehr Leichen rasch hintereinander an derselben Stelle beerdigt werden, ändert sich das Verhältniß. Die Fäulnißstoffe verstopfen zum Theil die Poren der Erde; es kann weniger Sauerstoff eindringen. Ebenso, wie der gährende und theilweise faulende Schnupftabak schwarz wird und Humussäure enthält, so geht auch die Leiche nicht mehr in „Verwesung“, sondern in „Fäulniß“ (das heißt Zersetzung bei wenig Wärme und Sauerstoff, aber genügendem Wasser, oder Zersetzung im Wege der Verjauchung) über und bildet zum Theil aus ihren faulenden Stoffen schwarze Humuserde. Diese letztere nun zersetzt sich weiter und nimmt von dem eindringenden Sauerstoff einen Theil an sich, entzieht ihn also der in diese Humuserde begrabenen Leiche. Schließlich wird die Erde durch faulende Leichenbestandtheile „gesättigt“ und vermag nur noch wenig aufzunehmen. Die frühere poröse, lockere, helle Sanderde ist dann in eine fette, knetbare, dunkle, lehmartige Erdmasse umgewandelt, welche der Luft keinen Zutritt in das Innere gestattet. Deshalb umschließt sie zuletzt die Leichen und läßt sie in eine Art Käse (das sogenannte Leichenfett, Leichenwachs, Adipocire) sich umwandeln, erhält aber die Gestalt derselben und die Theile ihrer Bekleidung, wie man dies in gleicher Weise und aus dem gleichen Grunde in den humushaltigen fetten Torfmooren des hohen Nordens beobachtet hat, welche den Riesenhirsch und seine Jäger seit Jahrtausenden in ihrer Hülle aufbewahrt gehalten haben. Im kleinen Schuls konnte die Sättigung der Erde auf dem Friedhofe trotz günstigster Umgebungen verhältnißmäßig schnell erfolgen, weil die Schicht der Erde nur dünn ist und unter ihr das feste Gestein der Felsen sich breitet. In großen Städten erfolgt sie durch die Masse der Begrabenen unfehlbar; mögen die Bedingungen im Uebrigen so günstige sein, wie sie wollen, schließlich ist die Erde des Kirchhofes „gesättigt“.
Dann verläßt man wohl den Ort und sucht zum Begräbniß einen neuen aus. Aber bleiben deshalb die eklen Dünste für die Nachbarschaft aus, welche die mit Fäulnißstoffen durchsetzte Erde in die Luft haucht und dadurch den Genuß der Luft widerlich und gesundheitswidrig macht? Bleiben die Beimischungen der Fäulnißstoffe, Fäulnißproducte und Fäulnißerreger an das Brunnenwasser aus? Wir haben keine Wahl für Luft und Wasser, sondern wir sind gezwungen, diejenige Luft einzuathmen, welche gerade unseren Athmungsorganen zunächst ist; wir sind gezwungen, dasjenige unterhalb der Erdbodenfläche fließende Wasser (Grundwasser oder Unterwasser genannt) zu trinken, welches gerade dem saugenden Rohre unseres Brunnens oder unserer Wasserleitung zunächst war. Deshalb haben wir alle Mittel anzuwenden, um Luft und Wasser uns „rein“ zu erhalten.
Wenn wir aber faulende Leichen ihre Dünste in die Luft und ihre lösbaren oder abspülbaren Stoffe in das vorbeifließende Wasser abgeben lassen, so verpesten wir uns Luft und Wasser – und zwar verpesten wir uns dieselben durch Fäulnißerreger, welche zugleich für den lebenden Organismus Krankheitserreger sind.
Noch im Jahre 1840 konnte der geistvolle Arzt Professor Henle in Göttingen diese Krankheitserreger nicht direct nachweisen. Heute vermögen wir dies, und zahlreiche tüchtige Beobachter haben das Leben und Treiben dieser winzigen Unholde, sowie ihre Einwirkung auf den gesunden und kranken Menschen erforscht. Es besteht für Denjenigen, welcher diese Einzelheiten kennt, kein Zweifel über Macht und Einfluß dieser uns feindlichen kleinsten Organismen, über welche ich vielleicht später Mittheilungen bringe. Wenn trotz der feststehenden Thatsachen gelegentlich noch Zweifel laut werden, so liegt dies daran, daß die bisherige Schulbildung auf classisch-philosophischer Grundlage sich nicht günstig erweist für das naturwissenschaftlich geschulte Denken. „Thatsachen“, welche nicht in die gewohnten Vorstellungen sich ohne Weiteres einfügen lassen, werden von Manchem wie eine willkürliche „Annahme“ betrachtet und – zurückgewiesen. Aber nicht durch Folgerungen und Speculationen können Beobachtung und Thatsache widerlegt werden, sondern nur durch den Nachweis von Beobachtungsfehlern und von factischen Irrthümern. Dieser Nachweis kann eben nur durch neue Beobachtungen und Thatsachen geführt werden. Sind diese Unterlagen des neuen Beweises nicht vorhanden, so ist der hochmüthige Zweifel nur ein Denkfehler, oder ist, historisch betrachtet, ein ohnmächtiges Ankämpfen der alten lateinischen Mönchsschule, aus welcher unser classisch-philosophisches Gymnasium hervorging, gegen den frischen und vorurtheilslosen Geist der beobachtenden und experimentirenden Naturforschung.
Wer aber nicht gewaltsam Auge und Ohr verschließt, der erkennt die gewaltige Macht der Fäulnißerreger ebenso in den Typhusepidemien zu Islington (im Jahre 1870) und zu Armley (1872), wie in der Uebertragung des Milzbrandblutes und des Leichengiftes – der weiß, daß schon viele Epidemien, viele Tausende von Erkrankungen und Sterbefällen und unsagbares Elend, unsagbare Noth hervorgerufen wurden durch die Fäulnißerreger, vor denen eben der Einzelne sich nicht zu schützen vermag, weil er nicht freie Wahl hat in Bezug auf Wasser und Luft. Deshalb verlangt die öffentliche Gesundheitspflege, daß Wasser und Luft rein erhalten werden. Eines der hierzu anzuwendenden Mittel ist: die Leichen nicht langsam in der Erde faulen und Gift entwickeln zu lassen, sondern sie schnell durch Verbrennung zu zersetzen und unschädlich zu machen.
Die Leichenverbrennung ist kein neuer Gedanke. Bis zu den ältesten Tagen der Geschichte und bis zur vorhistorischen Zeit reicht die Sitte, die Körper der Geschiedenen dem Feuer zu überantworten. Eine der ältesten Nachrichten einer Leichenverbrennung liefert uns zugleich ein Beispiel treuester Gattenliebe. Artemisia, Gemahlin des Königs Mausolus von Carien, suchte ihren Schmerz über den Verlust des geliebten Lebensgefährten dadurch zu sänftigen, daß sie von seiner in Wein gestreuten Asche genoß, und daß sie für die Aschenurne eine prächtige Tempelhalle bauen ließ; letztere bekam nach dem Namen des Königs die Benennung „Mausoleum“ (das heißt: dem Mausolus zugehörig) und hält durch diese jetzt allgemein gewordene Bezeichnung für ein schönes Grabgewölbe die Erinnerung an jene Liebesthat fest bis auf unsere Tage. Während bei den Juden die Verbrennung der Leiche nur für Könige als besondere Ehrenbezeigung üblich war (1. Buch Samuel 31, V. 12, Jeremias 34, V. 5, und 2. Buch der Chron. 21, V. 19), war in Italien schon früh diese königliche Ehre Gemeingut aller Bürger geworden. Im alten Latium fand man unter der Lava eines vorhistorischen Ausbruchs des Berges Albanus noch in der Tiefe rohe Aschenurnen. Wie allgemein verbreitet die Verbrennung bei den Griechen war, erkennt man nicht nur aus den Schilderungen der Ilias über die Feuerbestattung des Patroklus und des Hektor, sondern mehr noch aus der Waffenruhe, welche Agamemnon und Priamus sich gegenseitig nach der Schlacht zum Verbrennen der Gefallenen zugestanden, wie dies in den heutigen Kriegen zum Zwecke der Beerdigung geschieht, und besonders aus den Worten des Nestor, der zur Verbrennung der Todten mahnt, um den Kindern die Asche heimzubringen.
[310] Im nördlichen und mittleren Europa war die Verbrennung der Todten allgemeiner Gebrauch. Außer durch sagenhafte Ueberlieferungen erfahren wir dies aus den großen Urnenfeldern mit nichtrömischen Aschenkrügen; wir besitzen dafür auch Zeugnisse von Zeitgenossen. So erzählt Eckehardt, daß noch 925 nach Christus die Ungarn bei ihrem Einfalle in Deutschland ihre [310] Todten verbrannten und daß Attila in vollem Reiterschmucke und in der Stellung eines Reiters den Flammen des Scheiterhaufens überliefert wurde. Ferner berichtet der Araber Ibn Forßlan, daß er als Gesandter bei den heidnischen Russen an der Wolga 922 nach Christus der Verbrennung eines Vornehmen beigewohnt habe. Man legte den Verstorbenen zuerst in ein Grab, bis die zur Feierlichkeit für nöthig erachteten Prunkgewänder gefertigt waren, und als dies nach zehn Tagen geschehen, zog man des Todten Schiff an das Land, setzte diesen auf eine mit prächtigen Teppichen bedeckte Bank, gab ihm Speise, berauschende Getränke und eine Anzahl getödteter Thiere, führte dann auf das Schiff ein Mädchen, welches sich freiwillig mit verbrennen lassen wollte, und nachdem sie vor dem Volke ein langes Lied gesungen und einen Becher Meth getrunken, wurde sie gleichzeitig erwürgt und erstochen. Nun verließen alle Lebenden das Schiff; der nächste Verwandte des Verstorbenen entzündete rückwärts den Holzstoß; Jeder aus dem Volke warf ein brennendes Holzscheit auf das Schiff, und bei heftigem Winde verbrannte dieses mit dem Holzstoße in kurzer Zeit. Hierauf wurde auf der Stelle, wo das Schiff gestanden, ein runder Hügel aus Erde errichtet, in dessen Mitte ein Buchenscheit mit dem Namen des Königs seinen Platz erhielt. Die Kurten verbrannten
[311] [312] ihre Todten noch 1205, die Esthen 1225, und die Litthauer mußten den deutsche Rittern in einem Vertrage 1249 feierlich versprechen, daß sie als Neubekehrte von nun ab das Verbrennen der Todten unterlassen wollten.
Aus diesem Vertrage erfahren wir den Grund, weshalb auch in Deutschland die sonst allgemein gebräuchliche Sitte des Verbrennens verlassen wurde. Der Gebrauch galt als „heidnisch“. Das genügte, ihn bei den christlichen Priestern verhaßt zu machen. Mit derselben Urtheilslosigkeit, mit welcher fanatische Priester die Schriftdenkmale und Culturzeichen der Urbevölkerung des neu entdeckten Amerika zur großen Schädigung unserer Geschichtsforschung vernichteten, mit derselben Urtheilslosigkeit, mit welcher Bonifacius seinen Täuflingen den Genuß des Pferdefleisches untersagte, mit derselben Urtheilslosigkeit drang man auch auf Unterlassung der Feuerbestattung. Später erhielt geistige Trägheit und Denkfaulheit das den Urahnen gegebene Verbot in Kraft. Sollen diese Hemmnisse sich mächtiger erweisen als Vernunftgründe? Soll die Geistesarmuth einiger Urtheilslosen nach Jahrhunderten das für richtig Erkannte verhindern?
Die Verbrennung der Leichen ist ein Culturfortschritt, denn sie hindert, daß die Todten die Lebenden vergiften. Hierauf machte auch Professor Hermann Richter in Dresden aufmerksam, welcher sich das Verdienst erwarb, zuerst wieder die allgemeine Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand zu lenken (Gartenlaube 1856, Nr. 49).
Dieser Richter’sche Vorschlag erregte damals vielseitige Theilnahme und bezüglich der technischen Verwerthung von Verbrennungsproducten bei den Laien wie bei den Technikern Widerspruch. Er ist, so viel bekannt, niemals im Großen ausgeführt worden, und eine von mir unternommene Probe im Kleinen ermuthigte nicht zu weiteren Versuchen. Immerhin ist der Grundgedanke Richter’s, die Leiche mit Hülfe von Gas und Luft zu verbrennen, auch bei den neuesten Methoden wieder aufgenommen worden.
In Deutschland schien das Interesse an der Feuerbestattung nicht mehr rege zu sein. Aber in Italien arbeiteten zahlreiche Gelehrte an den Mitteln für die Ausführung des Verbrennungsverfahrens. Unter ihnen ist an erster Stelle Brunetti zu nennen, weil er die Ausführbarkeit seiner Methode bereits an sechs Leichen erprobt hat.
Brunetti, Professor der pathologischen Anatomie zu Padua, bedient sich zur Verbrennung eines Ofens, der die Form eines länglich viereckigen Kastens hat. Dem Erfinder bleibt das Verdienst, durch energisches Vorgehen nach einer Pause von Jahrhunderten nachgewiesen zu haben, daß man mit verhältnißmäßig wenig Brennmaterial einen menschlichen Leichnam verbrennen könne – aber nicht das Verbrennen allein ist unser Ziel, sondern es soll die Verbrennung auch so ausgeübt werden, daß der Pietät, welche wir der Hülle unserer geschiedenen Lieben schuldig sind, daß dem Gemüth der Hinterbliebenen das volle Recht gewahrt werde. Bei aller Unsauberkeit und Schädlichkeit hat das Vergraben in der Erbe doch eben den Vortheil, daß, so lange wir den Leichnam des Verwandten oder Freundes vor Augen haben, mit ihm in zartsinniger Weise verfahren wird. Freilich ändert sich das, sobald er den Mächten der Fäulniß im Schooße der Erde verfallen ist. Dort wird der Leichnam eine widerwärtige, scheußliche Carricatur. Aber die wenigsten Menschen wissen das, nur wenige haben es jemals gesehen; so gilt das „Begraben“ immer für ästhetisch nicht verletzend. Aber Brunetti’s Leichen werden geschmort und verkohlt; sie müssen angebunden werden, weil sie im Verkohlen Bewegungen ausführen – ein gräßliches Bild für unsere Phantasie. Jeder Fühlende lehnt diese Methode ab.
Prof. Gorini in Lodi veröffentlichte 1873 bei Gelegenheit der Einbalsamirung der Leiche seines geistreichen Landsmannes Mazzini Mittheilungen über eine neue Methode der Feuerbestattung. „Ich kenne,“ schreibt er, „eine Substanz, welche, auf eine äußerst hohe Temperatur gebracht, eine Flüssigkeit erzeugt, die in wahrhaft wunderbarer Weise in wenigen Augenblicken (?) eine Leiche, welche mit derselben behandelt wird, in ihre kleinsten Elemente auflöst. Wenn man dem Zerstörungsprocesse zuschaut, und die Leiche so äußerst schnell verschwinden sieht, so scheint es, daß die Flüssigkeit sich derselben bemächtige und sie buchstäblich auffresse. Kaum ist die Leiche“ (hier ist zu bemerken, daß Gorini noch niemals eine ganze Leiche auf ein Mal verbrannte, sondern nur Stücke derselben) „auf dieselbe gelegt, so schäumt letztere auf und erstere entbrennt lichterloh und geruchlos (?) und verwandelt sich gänzlich in ganz durchsichtige, ganz helle, gasige Substanzen, welche sich in Nichts (?) von der atmosphärischen Luft unterscheiden, mit der sie sich vermischen und in deren Schooß sie sich verlieren. In der Flüssigkeit bleibt nur die weiße Asche, und wenn man will, kann man diese mit Leichtigkeit durch Decantirung (Abklärung) oder Filtration aus der Flüssigkeit abscheiden.“
Die vorstehenden Worte sind die Uebersetzung der Darlegung des Erfinders, entnommen der sehr interessanten und empfehlenswerthen Schrift: „Ueber Leichenverbrennung als rationellste Bestattungsart“ von Wegmann-Ercolani (Zürich, Cäsar Schmidt, 1874). Gorini glaubt mit dem geringen Kostenaufwande von etwa 6 Francs, also 1 Thaler 18 Groschen, die Verbrennung durchführen zu können. Er glaubt es, aber er weiß es nicht aus Erfahrung. Niemand Anderes kann es wissen, da er die Substanz, welche zur Verbrennung dient, geheim hält. Was wollen wir bei wissenschaftlichem Fortschritte mit Geheimnißkrämerei? Wie soll man über diese Methode urtheilen, wenn man nicht weiß, durch welche Mittel sie erreicht wird, und daher die Erfolge nicht prüfen kann? Dazu kommt die unglaubhafte Angabe der „geruchlosen“ Verbrennung „binnen wenigen Augenblicken“. Diese Angaben stehen mit allen bisherigen Erfahrungen in Widerspruch.
Professor Polli in Mailand hat eine Verbrennung der Leichen durch Leuchtgas erdacht und von dem Mailänder Ingenieur Professor Clericetti den Apparat dazu construiren lassen.
So weit man dieses Verfahren nach Beschreibung und Abbildung beurtheilen kann, hat es alle Nachtheile des Brunetti’schen, also großen Zeitaufwand, da es nur die mäßige Hitze der gewöhnlichen Flamme benutzt, und unter Umständen nur eine „Verkohlung“, nicht vollständige „Verbrennung“ der Leiche liefert.
Diese Uebelstände zu beseitigen, wählte ich für Feuerbestattung die von Fr. und C. W. Siemens eingerichtete Regenerativ-Feuerung, welche, für technische Zwecke vielfach verwerthet, auf der Ausstellung in Paris 1867 mit dem Preise gekrönt, mir von allen mir bekannten pyrotechnischen Verfahrungsweisen die größte Aussicht auf Erfolg zu bieten schien. Lassen wir über den auf meine Veranlassung construirten Ofen Herrn F. Siemens in Dresden selber reden:
„Der ganze Apparat besteht aus drei voneinander getrennten Theilen. 1) einem Gaserzeuger zur Herstellung des zum Aufhitzen des Ofens nöthigen Gases, außerhalb des Gebäudes; 2) dem eigentlichen Ofen mit dem Regenerator und dem Verbrennungsraume innerhalb des Gebäudes (siehe Abbildung); 3) dem Schornsteine zur Abführung der Verbrennungsproducte.
Denken wir uns ein großes, schönes, dem Zwecke entsprechend gebautes Leichenhaus, in dessen Mitte, unsichtbar für die in demselben befindlichen Personen, der Ofen erbaut ist. Der Leichenconduct langt vor demselben an und tritt, nachdem der Sarg dem Wagen entnommen ist, in dasselbe, gleich wie jetzt in den Kirchhof, ein. Nachdem der Sarg auf einen Katafalk niedergesetzt und die übliche Ceremonie beendet ist, wird er in die Gruft hinabgesenkt. (Diesen Moment veranschaulicht unser Bild.) Kurz vor dem Niedersenken des Sarges wird der Deckel des Ofens geöffnet und, sobald Letzterer den Sarg aufgenommen, alsbald wieder geschlossen.
Die Manipulation der Leichenverbrennung mittelst erhitzter Luft würde folgende sein: der Gaserzeuger wird derart in Betrieb erhalten, daß durch die Füllvorrichtung in Intervallen von vier bis sechs Stunden eine Wiederanfüllung des consumirten Brennmaterials an Steinkohle, Braunkohle, Torf oder Holz stattfindet. Das gebildete Gas wird durch einen mit einer Regulirungsklappe versehenen Canal in den Regenerator geführt, wo dasselbe, mit einem ebenfalls regulirbaren Luftstrome zusammentreffend, in Flamme verwandelt wird. Die so gebildete Flamme durchstreicht die Regeneratorkammer, wodurch das darin aufgeschichtete Ziegelmaterial bis zur Weißgluth erhitzt und so erhalten wird. Die der Flamme anhaftende noch übrige Wärme dient dazu, den Ofen oder die Kammer, welche zur Aufnahme der Leiche bestimmt ist, noch bis zur schwachen Rothgluth vorzuwärmen, worauf die Flamme durch einen Canal in die Esse entweicht.
[313] Sobald sich der Ofen in dem oben beschriebenen Zustande befindet, kann der Proceß der Leichenverbrennung folgendermaßen vor sich gehen. Der Ofendeckel wird, wie die Abbildung darstellt, durch den den Ofen bedienenden Mann gehoben und der zu verbrennende Körper in die Verbrennungskammer versenkt, der Deckel wieder zugemacht und der Körper je nach der physischen Beschaffenheit desselben einer langen oder kurzen Zeit der Einwirkung der Rothgluth ausgesetzt. Nachdem dies geschehen, schließt man die Gasklappe, in Folge dessen nur Luft durch den Regenerator in den Verbrennungsraum gelangt. Diese wärmt sich im Regenerator bis nahe zur Weißgluth vor, in welchem Zustande dieselbe den vorgewärmten und theilweise ausgetrockneten Körper trifft, was eine schnelle Verzehrung aller verbrennbaren Theile desselben zur Folge haben wird. Die nichtverbrennbaren Knochentheile werden durch die Einwirkung der Hitze zersetzt, indem die Kohlensäure entweicht und der Kalk etc. als Pulver übrig bleibt. Es ist eine Vorrichtung getroffen dieses Pulver zu sammeln, um es in einer Urne oder einem anderen Gefäße den Angehörigen zur Beisetzung zu übergeben.“
Soweit Herr Siemens. – Einen ähnlichen Apparat, nach denselben Principien, hatte bereits früher Herr Steinmann in Dresden, Verfasser eines trefflichen Werkes über das Regenerativverfahren, entworfen. Ich gebe aber dem Siemens’schen wegen größerer Einfachheit und Zweckmäßigkeit den Vorzug, obgleich die Besserungen mit demselben noch nicht abgeschlossen.
Daß die von mir vorgeschlagene Regenerativfeuerung zum Verbrennen der Leichen günstig ist, haben Versuche an Thieren erwiesen. Ich will von diesen nur denjenigen eines völlig unparteiischen Zeugen erwähnen, des Sir Henry Thompson, Professor der Chirurgie in London, welcher, angeregt durch meine Wahl des Regenerativofens, mit einem solchen zu experimentiren Gelegenheit suchte und fand, der sich im Besitze des Herrn W. Siemens in London befand. Professor Thomson verbrannte unter Anderem ein Schwein von zweihundertsiebenundzwanzig Pfund Gewicht binnen fünfundfünfzig Minuten zu weißer Asche. Dabei nahm auch er, ebenso wie ich, wahr, daß kein irgendwie bemerkbares Gas durch den Schlot entwich; nicht eine Spur von Rauch wird sichtbar. Alles wird aufgezehrt.
Wir haben also in dieser Form der Verbrennung eine Art der Leichenbestattung gewonnen, welche wirklich ohne irgend welche Nachtheile für die Lebenden ist, und welche die theuren Reste lieber Verblichener in der schonendsten Weise, ohne sie mit irgend welchen fremden Stoffen zu mengen und in möglichst kurzer Zeit einer sicheren raschen Verwesung oberhalb der Erde übergiebt, statt sie der unsicheren, langsamen Verbrennung unterhalb der Erde auszusetzen, welche zu leicht in Fäulniß ausartet und dann den Lebenden Verderben und Tod bringt. Unschädlich ist die in der Urne eingeschlossene Asche, und doch ein Anhalt für treues Gedächtniß. Wer sollte nicht vorziehen, nach seinem Tode den Erdenbrüdern kein Gegenstand des Grauens und des Nachtheiles zu sein? Wer möchte nicht seine Lieben vor dem widerlichen langsamen Verfaulen in der Erde bewahren? Wer erkennt nicht, daß in jeder größeren Stadt mit dem Wegfalle des Friedhofes ein Capital gewonnen wird, welches Segen bringen kann, während es bisher nur Unheil verursachte?
Gewiß, im Interesse einer gesunden Finanzwirthschaft der Gemeinden, im Interesse der Pietät gegen unsere Todten, im Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege, im Interesse der persönlichen Freiheit fordern wir das Recht der Feuerbestattung für Denjenigen, der dasselbe verlangt.
„Wir wollen nicht,“ sprach Professor Gottfried Kinkel in der Züricher Versammlung am 10. März, „wir wollen nicht eine neue Sitte mit Gewalt einführen. Wem’s gemüthlicher ist, im Schooße der Erde zu ruhen, dem soll sein Wille geschehen. Ich würde es grausam finden, wenn man dem Menschen den Tod schwer machen würde, indem man ihm sagt: Du mußt gegen Deinen Willen verbrannt werden. Aber es ist noch grausamer, wenn der Staat zu Dem, der sich lieber verbrennen lassen würde, sagt: Du sollst und mußt Dich auf diesem Miethacker begraben lassen, und wenn’s dem Staat einfällt, mußt Du Dich fortmachen und einen Andern an Deine Stelle treten lassen. Erst mit der Verbrennung werden wir unseren Todten eine gesicherte Ruhestätte bereiten.“