Die Meininger
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Die Meininger
In der todten Jahreszeit der deutschen Bühnen kam plötzlich die überraschende Nachricht, daß die „Meininger“ von jetzt ab ihre Gastspielreisen aufgeben würden. Es liefen zwar schon im letzten Jahre seit des Intendanten Chronegk Erkrankung ähnliche Gerüchte um, doch sie verstummten wieder, und die große Reise der Meininger Truppe nach Rußland zeugte noch von dem Unternehmungsgeist, der sie beseelte. Ging doch der Zug diesmal nicht bloß bis nach dem Herzen Altrußlands, der Stadt des Kreml, sondern auch bis an das Schwarze Meer, bis nach Odessa, die weiteste Reise der wandernden Künstler; denn jenseit des Oceans, nach Amerika, dem Dorado der einzelnen Gastspieler, hatten sie sich doch nicht hinübergewagt, obschon ein deutsches Schauspiel dort ganz andern Anklang gefunden hätte als in Rußland; doch der Voranschlag der Kosten ließ das Unternehmen als ein bedenkliches Wagniß erscheinen; der Leiter der Hofbühne, Chronegk, der selbst übers Meer gegangen war, um die dortigen Theaterzustände zu prüfen, rieth zum Verzicht.
Jene Gerüchte hatten sich damals als unglaubwürdig erwiesen; jetzt stehen wir vor der vollendeten Thatsache. Das interessante und ruhmvolle Kapitel der neuen Theatergeschichte, welches den Meiningern gehört, hat einen plötzlichen Abschluß erreicht. Die deutschen Hauptstädte, welche so oft ihr Spiel bewundert haben, werden sie nicht wiedersehen. So sehr schien ihre Wiederkehr gesichert, daß mancher Säumige es auf die nächste Saison verschob, sich an diesen vielgepriesenen Vorführungen zu erfreuen. Andern war es zur „süßen Gewohnheit“ geworden, diese Kunstgenüsse soweit als irgend möglich zu erschöpfen. Und jetzt ist der Vorhang der Wanderbühne für immer gefallen, die Säumigen haben unwiederbringlich einen in seiner Art einzigen Kunstgenuß verloren, die andern werden schmerzlich vermissen, was in ihnen so oft eine in den Tempeln Thaliens seltene Begeisterung wachrief.
Die Meininger hatten eine künstlerische Sendung, und sie haben dieselbe erfüllt. Es war begreiflich, daß ihnen anfangs öfters der Widerspruch auch der berufenen Kritik entgegentrat; denn ihre Stärke hing ja mit einer gewissen Einseitigkeit zusammen, der sie ihre Erfolge verdanken. Man fürchtete, daß die Sorgfalt und der Glanz, womit das archäologische Beiwerk behandelt wurde, demselben eine zu große selbständige Bedeutung verschaffen und den Blick von der eigentlichen dramatischen Handlung ablenken könnte; man fürchtete nicht minder, daß die peinliche Schulung des Zusammenspiels die Freiheit des künstlerischen Schaffens beeinträchtigen müsse. Beide Befürchtungen wurden durch die begeisternde Wirkung der Aufführungen widerlegt, eine Wirkung, welche weder durch Aeußerlichkeiten, noch durch ein bloß dressirtes Zusammenspiel hervorgerufen werden konnte, sondern nur durch das Zusammenwirken aller berechtigten künstlerischen Faktoren. Der Nachdruck, den die Meininger aber auf einzelne derselben legten, kam der ganzen deutschen Schauspielkunst zugute. Man brauchte ihnen nicht zu folgen in der Treue des geschichtlichen Kostüms, besonders dort nicht, wo dasselbe mit den Anforderungen des Schönen in Widerspruch trat; aber die Direktionen gewöhnten sich daran, sinnlose Willkürlichkeiten auszuschließen und mehr als früher den Gesammteindruck der Vorstellungen sowohl durch entsprechende Kostüme, als auch durch die Ausstattungsmittel der Bühne, durch stimmungsvolle Dekorationen und Beleuchtungseffekte zu heben, was bisher nur in der Oper geschah und dem ernsteren Drama versagt blieb. Es ist zwar neuerdings der Widerspruch gegen solche Ausstattung der tragischen Dichtungen erhoben und die Rückkehr zu einer einfachen Bühne gepredigt worden, auf welcher allein das dichterische Wort und das Mienen- und Gebärdenspiel der Darsteller zur Geltung kommen soll; doch die Entwicklung unseres ganzen Bühnenwesens hat sich in der entgegengesetzten Richtung vollzogen und das Schauspiel würde immer das Aschenbrödel des Theaters bleiben, wenn es nach dieser Seite hin nicht Zugeständnisse machte. Auch ist nicht abzusehen, warum die Wirkung einer Dichtung Einbuße erleiden sollte, wenn sie noch durch die Poesie der Scene verstärkt wird. Diese vermag von Hause aus die rechte Stimmung, das rechte Kolorit zu geben, handle es sich nun um ein italienisches Liebesdrama wie „Romeo und Julie“ oder [718] um ein nordisches Drama des Ehrgeizes wie „Macbeth‟. Den Zauber des Südens und die Schauer des Nordens vermag eben die Bühne selbst wirksam zu versinnlichen und so gleichsam den Boden herzugeben für die schönen oder giftigen Blüthen der Leidenschaft.
Noch wichtiger war als Vorbild für andere Bühnen die Pflege, welche die Meininger dem Zusammenspiel, dem Ensemble, zutheil werden ließen. Man hat zwar darin nur den Triumph der Mittelmäßigkeit sehen wollen und bei einseitiger Bevorzugung, auf Unkosten der selbstschöpferischen Begabung der Künstler, nicht mit Unrecht. Doch haben die Meininger sich nie mit mittleren Kräften, auch nicht mit erst heranzubildenden schönen Talenten begnügt: namhafte Künstler wie Ludwig Barnay, Emmerich Robert, Friedrich Dettmer, Pauline Ulrich, Anna Haverland, Max Grube wirkten längere oder kürzere Zeit bei den Aufführungen der Meininger mit. Gerade das sorgfältig einstudierte Spiel der einzelnen, bei denen jedes Wort, jede Bewegung wohlerwogen war und im Einklang stand mit dem Ganzen, vor allem aber die Gesammtgemälde in den Volksscenen, in denen nichts todt und maschinenmäßig war, nichts einförmig und eintönig und an das Spiel der Opernchöre erinnernd, wurden ein leuchtendes Vorbild für alle Bühnen, welche anfingen, den üblichen Schlendrian zu verbannen, große Gruppenbilder, Volks- und Massenscenen mehr als bisher künstlerisch zu beseelen, ähnlich wie der Geschichtsmaler seinen Figuren verschiedenartige Stellungen, mannigfachen Gesichtsausdruck und ein abgestuftes Gebärdenspiel giebt. Nach dieser Seite hin haben die Meininger geradezu Unvergleichliches geleistet, und niemand wird den Eindruck vergessen, den die Forumscene des „Julius Cäsar“ im dritten Akt, den der dritte Akt der „Bluthochzeit“ oder der Einbruch der Pappenheimer in „Wallensteins Tod“ hervorruft. Diese Wirkung war immer eine elektrisirende und niemals sind vorher auf der Bühne durch die Massen selbst Wirkungen dieser Art erreicht worden.
Freilich blieb für die andern Theater auch nachher das Vorbild der Meininger ein fast unerreichbares, aus äußern Gründen; denn welches auf den Tagesbedarf und Tagesgenuß angewiesene Theater hatte Muße genug zu solchen wochenlangen Einstudierungen, wie sie in der friedlichen Stille der kleinen Residenz stattfanden? Und hierzu kam die außerordentlich hohe Zahl der Aufführungen, bei denen wenigstens zum großen Theil lange Zeit hindurch dieselben Kräfte mitwirkten. Wurde doch „Julius Cäsar“ 330 mal, „Wilhelm Tell“ 223 mal, „die Jungfrau von Orleans“ 194 mal gegeben; auch die andern Schillerschen Dramen erreichten weit über hundert Aufführungen. Damit ist zugleich ein anderes Verdienst der Meininger hervorgehoben: die erfolgreiche und glänzende Pflege der ernsten, höheren dramatischen Dichtung in einer Zeit, welche sich mehr der leichteren Unterhaltung und den alltäglichen Lebensbildern auf der Bühne zugewendet hat.
Zu den leitenden Kräften des großen, in seiner Art einzigen Kunstunternehmens gehörte in erster Linie der Herzog von Meiningen selbst; er war kein müßiger Schutzherr, von ihm gingen die hauptsächlichsten Anregungen aus: die Wahl der Stücke, die Entwürfe der Kostüme; er begleitete das Wort, die Stellung, die Gebärde der Darsteller auf jeder Probe mit seiner Kritik, während seine Gattin, früher eine namhafte Künstlerin, die Rollen den jüngeren Darstellerinnen häufig einstudierte. In Ludwig Chronegk, dessen Bild wir bringen, hatte der Herzog eine vorzügliche Kraft gewonnen, der er von Anfang an die Leitung der Gastspiele anvertrauen konnte. Ludwig Chronegk, geboren 1837 zu Brandenburg, hatte am Krollschen Theater in Berlin seine Künstlerlaufbahn begonnen; im Jahre 1873 wurde er Regisseur des Meininger Theaters und leitete schon im folgenden Jahre und dann ohne Unterbrechung die Gastspiele der Meininger bis zur Gegenwart; im Jahre 1876 wurde er zum Oberregisseur ernannt, 1879 zum stellvertretenden Intendanten, 1880 zum Intendanzrath und später zum Hofrath und Geheimen Hofrath. Chronegk ging ganz auf die Absichten des Herzogs ein; als ein Mann von seltener Thatkraft verstand er es stets, die Schwierigkeiten zu überwinden, die sich hier und dort den Gastspielen entgegenstellten, allerwärts auf den Proben den Geist des Ensembles wachzuhalten, die an allen Orten neu hinzukommende Statisterie einzuüben und störungslos in das dramatische Gesammtbild einzufügen. Dazu fehlte bei den Gastreisen die Meininger Muße; unterstützt wurde aber Chronegk bei dieser mühsam sich stets wiederholenden Regiearbeit durch den am Hoftheater üblichen Brauch, daß in den Volks- und Massenscenen auch die ersten Darsteller mitwirken, die Lichter an rechter Stelle aufsetzen und die andern Mitwirkenden anfeuern.
Am 1. Mai 1874 fand das erste Gastspiel der Hoftheatergesellschaft am Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater in Berlin statt und erregte sogleich großes Aufsehen bei Publikum und Kritik und einen lebhaften Kampf der Meinungen. Von da bis in den Juli d. J., wo die Schlußvorstellung in Odessa stattfand, sind die Meininger in siebenunddreißig Städten in Deutschland, Belgien, Holland, der Schweiz, England, Rußland, Oesterreich, Dänemark und Schweden aufgetreten; die Zahl der Aufführungen hat die Höhe von 2573 erreicht. Am häufigsten haben die Meininger die Reichshauptstadt besucht; sie sind seit dem Jahre 1875 bis zum Jahre 1887 dort achtmal erschienen und haben immer die regste Theilnahme gefunden; wie in Berlin haben sie auch in Breslau acht Gastvorstellungen gegeben, doch war ihr Aufenthalt dort immer von kürzerer Dauer; Dresden hat sie sechsmal, Leipzig fünfmal, Graz und Pest je viermal, Wien dreimal, Hamburg einmal gesehen.
Unter den darstellenden Kräften finden sich ältere Stammhalter, [719] welche der Bühne treu geblieben sind, wie Paul Richard, der Darsteller des Julius Cäsar, der diesen wie ähnliche Rollen mit edler Haltung giebt; als vorzüglicher Heldenspieler gehörte Nesper längere Zeit der Meininger Bühne an. In Teller und Weiser besaß sie hervorragende Charakterspieler; der König Karl IX. des ersteren ist ebenso bedeutend wie der Shylock, der Orest des letzteren. Im übrigen hat vielfacher Wechsel stattgefunden, und es ist vorzugsweise das Gesammtbild der letzten Jahre, das uns hier vorschwebt und beschäftigt. Unter den tragischen Liebhabern der Gegenwart nimmt Alexander Barthel eine hervorragende Stelle ein; gewinnende Erscheinung und Stimme, hinreißendes Feuer einer dabei maßvoll geregelten Darstellung sind Vorzüge, die seinem Marc Anton, seinem Navarra, wie seinem Karl Moor und Jaronmir zu statten kommen.
Die Reden des Marc Anton trägt er mit meisterlichem Verständniß und hinreißendem Schwung vor. Als erste tragische Liebhaberin hat in den letzten Jahren Amanda Lindner, besonders in Berlin als Jungfrau von Orleans, Aufsehen erregt; der Adel der Erscheinung und der edle Schwung ihres Spiels zeigte sich auch in anderen Rollen, wie als Margarethe von Valois; in sentimentalen und muntern Rollen war Frau Prasch-Grevenberg beliebt; Frau Marie Berg, Fräulein Wasserburger und Frau Teller zeichneten sich in der Darstellung älterer Rollen aus. Treffliche Komiker waren Hassel und Goerner. Die Herren Hellmuth Bräm und Arndt, die jetzt in Berlin und Wien engagirt sind, waren tüchtige Talente; auch Joseph Kainz, als Vorgänger von Barthel, und Max Grube waren längere Zeit ständige Mitglieder der Meininger Truppe.
Es waren vor allem Shakespeares und Schillers Meisterwerke, die das Repertoire der Meininger bildeten. Außer „Julius Cäsar“, ihrem Glanzstücke, und dem stimmungsvoll eingerichteten „Kaufmann von Venedig“ hatte auch „Das Wintermärchen“, nach unserer Ansicht eine der schwächsten Dichtungen des großen Briten, aber ergiebig für phantasievolle Belebung und Einrichtung auf der Bühne, bedeutenden Erfolg. Ebenso gefiel „Was Ihr wollt“, ein Lustspiel, dessen Komik mit kräftigen Zügen von den Darstellern zur Wirkung gebracht wurde. Moliere erschien mit dem Hintergrunde der Rokokozeit. „Der eingebildete Kranke“, aus dem wir eine Scene[2] vorführen, sagte dem Publikum in der knappen Fassung der scenischen Einrichtung besonders zu.
„Die Jungfrau von Orleans“, „Wilhelm Tell“, „Maria Stuart“, „Fiesko“, die Wallensteintrilogie waren Glanzleistungen der Meininger. Von Kleist wurde besonders „Die Hermannsschlacht“ mit allen ihren wilden Scenen gegeben; von Grillparzer die düstere „Ahnfrau“ mit ihrer fahlen poetischen Beleuchtung und das köstliche Fragment „Esther“.
Von neueren Dichtern bevorzugte der Herzog die Vertreter der kraftgenialen Richtung: Albert Lindners „Bluthochzeit“, Arthur Fitgers „Hexe“ und „Rosen von Tyburn“, die beiden ersten Dramen mit unbestrittenem, das letztere wegen des grellen Schlußaktes mit schwankendem Erfolg. Auch Lord Byrons „Marino Faliero“ wurde gegeben, doch konnte diese Aufführung nur als ein interessanter Versuch betrachtet werden.
Nicht ohne Wehmuth gedenken wir dieser jetzt nur der Theatergeschichte angehörigen Vorführungen, die ein für allemal der Vergangenheit anheimgefallen sind. Möge der künstlerische Geist, der das schöne und großartige Theaterunternehmen beseelte, mit ihm nicht abgestorben sein, sondern in irgend einer neuen Gestalt neue Früchte zeitigen.
- ↑ Aus dem im Verlage von Friedrich Conrad in Leipzig erschienenen Werke „Die Meininger“. Von C. W. Allers. Prachtmappe mit 40 Zeichnungen in Lichtdruck.
- ↑ Die des 7. Auftrittes der ersten Handlung, in welcher Belinde dem eingebildeten Kranken, Argan, den Pelzrock giebt und ihn die Nachtmütze fest bis über die Ohren ziehen läßt, ihn in seinen Lehnstuhl setzt und von allen Seiten mit Kissen, welche Toinette herbeischleppen muß, bestopft.