Ein Besuch in Barackia
„Hast Du schon die Berliner Republik Barackia besucht?“ fragte mich eines Tags mein humoristischer Freund.
„Welche Republik?“ erwiderte ich verwundert. „Soll das einer Deiner schlechten Witze sein?“
„Keineswegs! Es handelt sich in der That um einen neuen Freistaat im eigentlichen Sinne des Wortes, in seiner verwegensten Bedeutung, um einen Staat in freier Luft, auf freiem Felde, mit der freiesten Aussicht und den freisinnigsten Institutionen, frei von allen Chicanen der Polizei, frei von Executoren und tyrannischen Hauswirthen, ohne Miethsabgaben und Steuern, ohne verpestete Rinnsteine und anrüchige Senkgruben, frei von allen Lasten und Qualen der Weltstadt. Du kannst Dich davon mit eigenen Augen überzeugen, wenn Du mit mir einen Spaziergang nach dem Cottbuser Damm machen willst. Dort findest Du wirklich paradiesische Zustände, von denen sich die kühnste Phantasie nichts träumen läßt, die einzig wahrhaft freien Menschen, welche unsere berühmte Metropole aufzuweisen hat.“
„Du redest doch nicht von jenen unglücklichen Leuten, die wegen der herrschenden Wohnungsnoth kein Unterkommen finden konnten? Ich glaube, daß die Armen eher ein Gegenstand des Mitleids als des Spottes wären.“
„Unglücklich!“ rief mein Freund fast empört. „Sie sind so wenig unglücklich, wie der amerikanische Hinterwäldler, der gewiß sein zwar rohes, aber bequemes und gesundes Blockhaus nicht mit unseren elenden Miethscasernen vertauschen möchte. Diese Armen leben in ihren Baracken jetzt jedenfalls besser und glücklicher als früher in ihren jammervollen Dachkammern und feuchten Kellerlöchern, wo sie noch dazu befürchten mußten jeden Augenblick gesteigert oder exmittirt zu werden, wo sich ihr Kindersegen zum Fluch für sie verwandelt, wo sie unter den traurigsten Verhältnissen den Kampf um das Dasein bestehen.“
„Aber es bleibt doch immer eine Schmach für unsere Welt- und Kaiserstadt!“
„Im Gegentheil! Mich freut es, daß bei dieser Gelegenheit die Welt- und Kaiserstadt sich in ihrer ganzen Glorie zeigt. Wir haben mit Hülfe unserer deutschen Brüder einen weltgeschichtlichen Krieg siegreich geführt, Elsaß und Lothringen zurück erobert, fünf Milliarden von Frankreich gewonnen. Das Geld liegt auf der Straße, und die Börse weiß nicht, was sie damit anfangen soll. Täglich entstehen neue Bankvereine und es wimmelt von Gründern. Villen, Häuser, Paläste, ganze Straßen wachsen wie die Pilze aus der Erde. Der Bodenschwindel hat den höchsten Grad erreicht. Die Stadt besitzt ein Rathhaus, das Millionen kostet. Die Regierung schreibt Concurrenzen für Denkmäler und monumentale Bauten aus, und unterdessen irren Tausende in Berlin ohne Wohnung, ohne Obdach umher, theils weil sie die fortwährend in Folge dieser abnormen Verhältnisse steigende Miethe nicht mehr erschwingen können, theils weil die Hausbesitzer arme Leute, besonders mit zahlreicher Familie, nur ungern bei sich aufnehmen.“
„Wir haben aber doch Asyle für Obdachlose und das Arbeitshaus, welche für solche traurige Fälle eine Zuflucht bieten,“ wandte ich dagegen ein.
„Wie der Augenschein lehrt, reichen diese Anstalten nicht aus. Das Asyl für Obdachlose, welches der Privatwohlthätigkeit seine Entstehung verdankt, gewährt nur für eine, höchstens für drei Nächte ein Unterkommen. Das Arbeitshaus ist eigentlich nur eine Strafanstalt für arbeitsscheue Vagabunden und liederliche Dirnen. Man kann es daher dem ehrlichen Arbeiter und fleißigen Handwerker nicht verdenken, daß er nur im Fall der äußersten Noth sich dahin wendet, weil er die Berührung mit solchem Gesindel scheut, abgesehen von dem niederdrückenden und entsittlichenden Einfluß einer derartigen Gesellschaft.“
„Aber was soll, was kann geschehen, um dem Uebel abzuhelfen?“ fragte ich meinen Freund, der im Laufe unserer Unterhaltung immer ernster geworden war.
„Was schon hundertmal gesagt und gelehrt worden ist. Der Staat, die Stadt, die ganze Gesellschaft hat die Pflicht und das Interesse für billige Arbeiterwohnungen zu sorgen. Warum gründet man keinen Verein zu diesem humanen Zweck? – Da dies bisher noch nicht geschehen ist, so haben die armen Leute instinctmäßig das Princip der Selbsthülfe angewendet und damit den einzig richtigen Weg eingeschlagen. Vielleicht wird dieser an sich so traurige Vorfall die segensreichsten Folgen haben und den heilsamen Anstoß zu einer dauernden Abhülfe dieser Nothzustände geben.“
Unter solchen Gesprächen wanderten wir an dem „Tempelhofer Ufer“ entlang vor das Hallische Thor. Unser Ziel war der sogenannte Cottbuser Damm. Auf dem Wege dahin gingen wir durch eine Reihe erst vor Kurzem entstandener Straßen, welche von Neuem ein Zeugniß für den zunehmenden Wachsthum, für die Wohlhabenheit und den Unternehmungsgeist der Residenz ablegen. Zu beiden Seiten des von reich beladenen Schiffen und Spreekähnen belebten Canals erblickten wir die schönsten Häuser, prachtvolle Paläste, kolossale Fabrikanlagen, reizende Villen, von freundlichen Gärten umgeben, ein wirklich herzerfreuendes Schauspiel.
Zu unserer Linken erhoben sich mehrere stattliche Gebäude, die Gasanstalt bildend, zu unserer Rechten zwei mächtige Casernen, in denen bequem und gut einige hundert
[459][460] Familien wohnen können, etwas weiter imponirte uns ein wahrer Prachtbau im gothischen Styl mit Spitzbögen und durchbrochenen Thürmchen, worin verwahrloste Kinder von Verbrechern und jugendliche Sträflinge nach ihrer Entlassung gebessert werden sollen. Dahinter dehnte sich die bekannte „Hasenhaide“ mit ihren zahlreichen Brauereien und Vergnügungslocalen aus, wo das Volk beim Bockbier sitzt und die verrufenen „Louis“ freundliche Messerstiche austheilen. Allmählich verschwanden die Straßen und Häuser; es folgten mehrere große Holz- und Kohlenplätze, endlich nur noch Wiesen und Felder, die mit Korn und Kartoffeln spärlich bepflanzt waren.
Hier, wo die städtische Cultur gewissermaßen aufhörte, standen zu beiden Seiten des Weges eine Anzahl von rohen Holzhütten, meist aus ungehobelten Brettern zusammengeschlagen, ähnlich den Buden der Kaufleute auf Jahrmärkten, hier und da auch nur ein hölzernes Gerüst, zum Schutz gegen die Witterung mit grauer Leinewand überzogen, oft auch nur mit Pappbogen oder geflochtenen Strohdecken nothdürftig bekleidet.
„Wir sind in der Republik Barackia,“ sagte mein ironischer Freund auf die ärmlichen Hütten deutend.
Unter seiner Leitung betrat ich die uns zunächst liegende Colonie, die aus ungefähr zwölf solchen Baracken bestehen mochte. Am Eingange empfing uns der Präsident dieser neuen Niederlassung, der zwar nicht wie sein College Johnson von Profession ein Schneider, sondern ein Tischler war. Mit anerkennungswerther Würde und freundlicher Herablassung machte Herr Schmidt die Honneurs seines Hauses. War auch dasselbe nicht ganz so elegant wie das „Weiße Haus“ des Präsidenten der amerikanischen Union, so machte es doch einen weit bessern Eindruck, als wir erwarteten. Die einzige Stube, welche zugleich als Empfangssalon, Wohn-, Speise- und Schlafzimmer diente, war sogar mit einem gewissen Comfort ausgestattet und besaß Tische, Stühle und Betten. Die Küche, ein kleiner Feldofen, befand sich im Freien und der Keller, ein gewöhnlicher Flaschenkorb, lag dicht an der Thür und schien uns gut gefüllt.
Herr Schmidt hatte die Freundlichkeit, uns der Frau Präsidentin vorzustellen, die erst vor Kurzem die Republik mit einem neuen Sprößling beschenkt. Der junge Staatsbürger erfreute sich der besten Gesundheit, trotzdem er in einer Baracke das Licht der Welt erblickt hatte. Zur Erinnerung an diese interessante Thatsache wurde ihm in der Taufe der Name Freifeld Schmidt beigelegt, weil er auf freiem Felde geboren war. Wie wir hörten, hatte der glückliche Vater ursprünglich die Absicht, den deutschen Kaiser Wilhelm als Taufzeugen einzuladen. Obgleich aus uns unbekannten, wahrscheinlich politischen Gründen diese Courtoisie unterblieb, soll es doch bei dem Feste sehr heiter zugegangen sein, vielleicht noch heiterer als bei der jüngsten Taufe im Palais des Kronprinzen. Man trank auf das Wohl des Neugebornen und ließ es weder an den üblichen Reden noch an gereimten und ungereimten Toasten fehlen. Die Speisen und Getränke lieferte der in der Nähe wohnende Restaurateur, in dessen Schaufenster wir verschiedene Biere, selbst Selterwasser angekündigt fanden, während die ausgestellten Flaschen auch noch höhere geistige Genüsse in Aussicht stellten. Einige Gäste schienen sich beim Glase mit deutscher Tiefe und Gründlichkeit im Freien mit Lösung der socialen Frage zu beschäftigen.
Unter der Führung des Herrn Präsidenten statteten wir seinem Nachbar, einem respectabeln Lumpenhändler, einen Besuch ab. Wir traten zunächst in eine offene Halle, welche zugleich als Veranda und Waarenniederlage diente. Frauen und Kinder saßen auf weichen Säcken und sortirten fleißig den ansehnlichen Lumpenvorrath. Wie sie auf unsere Fragen erzählten, hatte die zahlreiche Familie trotz aller Mühe keine Wohnung auftreiben können, obgleich sie eine verhältnißmäßig nicht unbedeutende Miethe zahlen konnte und wollte. Zugleich zeigte man uns unaufgefordert das Quittungsbuch, woraus wir ersahen, daß die Leute bisher ganz regelmäßig und pünktlich ihren Verpflichtungen nachgekommen waren. Sowohl ihre Kleidung wie der ganze Hausstand sprach dafür, daß das Geschäft sie, wenn auch nicht glänzend, so doch hinreichend ernährte.
Als Grenzmauer zwischen ihrer und der folgenden Besitzung diente eine schwache Drahtschnur, und doch versicherte Herr Schmidt, daß dieses symbolische Grenzzeichen mit bewunderungswürdiger Gewissenhaftigkeit respectirt werde. Dicht daneben wohnte ein alter Schuhmacher, den wir ebenfalls bei der Arbeit trafen, wogegen sein Nachbar, ein junger Töpfergeselle, sich dem allgemeinen Besten widmete, indem er einen Brunnen in die Erde grub, um das nöthige Wasser für die Colonie zu schaffen. Wie wir uns überzeugten, waren seine Bemühungen bereits von dem besten Erfolge gekrönt. Nur einige Schritte weiter begegneten wir einer eben erst eingewanderten Familie, welche noch nicht dazu gekommen war, eine Hütte zu errichten. Einstweilen begnügte sie sich mit einem Schilflager, das, mit Strohmatten verhüllt und bedeckt, einem großen Waarenballen glich, in dem die Menschen gut verpackt wohnten und schliefen.
Gegen diese primitive Emballagewohnung erschien allerdings die nächste Besitzung wie ein glänzender Palast. An der Thür begrüßte uns der Eigenthümer und lud uns freundlich ein, sein „Sanssouci“ in Augenschein zu nehmen. Die Baracke mochte ungefähr vierzig bis fünfzig Schritte lang und zwanzig breit sein; sie war durch eine Scheidewand in mehrere Räume getheilt und sogar mit einer blau- und gelbgestreiften Tapete bekleidet; auch besaß sie vollständige Fenster mit Glasscheiben. Die ganze Einrichtung verrieth eine gewisse Wohlhabenheit; wir bemerkten ein Sopha von polirtem Birkenholz, mit grünem Damast überzogen, einen guten Kleiderschrank, Tische, Stühle, eine größere und eine kleinere Bettstelle, worin ein Kind mit rothen Wangen und blauen Augen lag und uns anlächelte. Der Mann selbst sah zwar bleich, aber keineswegs verkommen aus. Mit sichtlicher Freude rühmte er uns seine Wohnung und seine Augen glänzten förmlich, als er von seiner jetzigen Lage sprach und sie mit den früheren traurigen Verhältnissen verglich.
„Ich möcht’ nicht zurücktauschen,“ sagte er treuherzig. „Sehen Sie, meine Herren! Ich bin Tuchwalker und habe immer so viel verdient, wie ich brauchte. Aber jetzt geht es nicht mehr; die Miethen sind zu hoch und die Wirthe zu ausverschämt. Ich soll für ein Kellerloch und für eine kleine Küche in der Adalbertstraße neunzig Thaler geben. Das bin ich nicht im Stande, und d’runter giebt es nichts. Da hab’ ich mir lieber hier die Baracke gebaut; die Bretter kosten vierundzwanzig Thaler, für den Grund zahl’ ich bis Michaeli drei Thaler. Dafür wohn’ ich wie ein Fürst, habe zwei anständige Stuben, lebe in gesunder Luft und brauche mich nicht vom Wirthe schinden und noch obendrein chicaniren zu lassen.“
„Aber im Winter, bei schlechtem, rauhem Wetter?“ versetzte ich bedenklich.
„Davor fürchten wir uns nicht. Wir bedecken die Bretter mit Rasen und Gerberlohe; das giebt warme Stuben, und dann incommodiren uns auch nicht mehr die Fliegen,“ fügte er gutgelaunt hinzu.
Aehnliche Aeußerungen hörten wir wiederholt von den verschiedensten Bewohnern der Baracken, die uns fast ohne Ausnahme als ordentliche und verständige Leute erschienen und durchaus nicht wie Herumtreiber sich anließen. Wer daher in Barackia Mysterien à la Eugen Sue, Verbrechergestalten, Vagabunden und ähnliches romantisches Gesindel sucht, der dürfte sich getäuscht finden. Ebenso wenig entdeckten wir wirkliche Noth, noch das Elend und den Jammer eines verkommenen Proletariats, sondern eher das Gegentheil. Die Männer arbeiteten, die Frauen waren einfach, aber sauber gekleidet, die Kinder sahen gesund und reinlich aus. Fast Alle sprachen mit Befriedigung über ihre jetzige Lage, und gewöhnlich hörten wir den Wunsch äußern, daß sie es nie besser haben wollten und gern immer hier wohnen möchten.
Auf unsere Erkundigung erfuhren wir, daß der Boden, worauf die Niederlassung steht, die „Schlächterwiese“ heißt und ursprünglich der Stadt Berlin gehört. Ein Herr Bohm, welcher das Terrain vom Magistrat gepachtet, hat aus Mitleid den obdachlosen Leuten gegen einen mäßigen Zins von sieben und einem halben Silbergroschen für die Quadratruthe die Errichtung von Baracken gestattet. Nach und nach haben sich gegen siebenzig Familien angesiedelt, deren Zahl jedoch noch täglich zunimmt. Einzelne dieser Hütten verrathen allerdings noch einen höchst primitiven Zustand, dagegen ist die Mehrzahl nicht nur wohnlich, sondern selbst comfortabel eingerichtet und bietet mit den zierlichen Anpflanzungen, Gemüsebeeten und Blumenanlagen das freundliche Bild einer improvisirten Sommerwohnung in freier Natur und ländlicher Umgebung.
Im Ganzen kann man drei oder vier größere Colonieen [461] unterscheiden, die unabhängig von einander existiren. Ein Krankenwärter, Blohm, nicht zu verwechseln mit dem genannten Herrn Bohm, hat ebenfalls von der Stadt schon seit längerer Zeit ein Stück Feld gepachtet und es in gleicher Weise gegen eine mäßige Vergütigung anderen Obdachlosen überlassen. Er selbst wohnt bereits seit einigen Jahren sowohl im Sommer wie im Winter in einer von ihm errichteten und mit Rasen bedeckten Bretterhütte, so daß er als der eigentliche Gründer der Baracken angesehen werden kann. Wie der Präsident Schmidt übt auch er eine gewisse obrigkeitliche Macht aus. Wir hielten es daher für unsere Pflicht, Herrn Blohm unsere Aufwartung zu machen, und lernten in ihm einen verständigen und wohlwollenden Mann kennen, der uns bereitwillig auf seinem Gebiet umherführte und uns über Alles die gewünschte Auskunft gab.
Seine Colonie gefiel uns noch weit besser, als die frühere Niederlassung, und die Bewohner derselben schienen uns noch solider und vornehmer, als das Volk des Herrn Schmidt. Wir besuchten hier einen geschickten Ciseleur, der im Freien Capitäle aus Zink goß und uns recht gelungene Proben seiner Arbeit zeigte. Seine Hütte zeichnete sich vor Allem durch einen gewissen Luxus aus. Die Bretter waren mit Oelfarbe angestrichen, die Fenster von innen mit weißen Gardinen, von außen mit einer sogenannten Marquise versehen. An den Wänden waren künstlerische Verzierungen, Consolen und Figuren angebracht. Rings herum zog sich ein nur kleiner, aber sorgfältig gepflegter Garten, mit frischen Pflanzen und mit einer Laube, worin eine freundliche Frau und ein niedliches Kind saßen. Das Ganze hatte einen idyllischen Anstrich und erinnerte keineswegs an Noth und Elend. Der nächste Ansiedler war ebenfalls ein Handwerker und zwar ein Stuccateur, der eben im Begriff stand, sein Haus aufzubauen. Zu diesem Ende wurden von ihm vier Pfähle in die Erde festgerammt, die Bretter darauf gelegt und angenagelt. Der Preis einer solchen Hütte variirt von fünfundzwanzig bis zu vierzig Thalern, je nach der Größe und Solidität. Der Bau selbst nimmt drei bis vier Tage in Anspruch. Der neue Ansiedler schien, nach seinem Hausrath zu urtheilen, ein gut situirter Mann zu sein. Er besaß anständige Möbel, sogar Spiegel, Commoden, eine Wanduhr, lackirte Wassereimer, einige Blumentöpfe, darunter junge Palmen, die den künftigen Garten zieren sollen. Seine Tochter, ein reizendes, schlank gewachsenes Mädchen von dreizehn Jahren, hatte ein feines, intelligentes Gesicht; sie war nett gekleidet und besuchte, wie sie uns sagte, die Töchterschule in der Köpniker Straße.
Aber nicht nur Menschen, sondern auch Thiere finden in diesen Baracken ein freundliches Asyl. Vor den meisten Hütten lagen Hunde, welche vor herumstreifenden Strolchen die unverschlossenen Thüren bewachen. Auf dem Rasen der Dächer spielten zahme Kaninchen und Katzen im goldenen Sonnenschein. Selbst zwei Pferde besaß bereits die Colonie, und Herr Blohm war gerade, als wir ihn aufsuchten, mit der Errichtung eines Nothstalles für dieselben beschäftigt. Die Thiere gehörten einem Arbeitsmann, der sie zum Transport von Waaren, Sand und Steinen benutzt. Da er ungeachtet aller Anstrengungen keinen Stall in Berlin finden konnte, so hatte er seine Pferde nach dem Cottbuser Damm gebracht, wo sie vorläufig eine Nacht unter freiem Himmel campiren mußten.
Ganz besonders interessirte uns, das gegenseitige Verhalten der Ansiedler zu beobachten. Die unmittelbare Nachbarschaft, die hier herrschende unbedingte Oeffentlichkeit aller Verrichtungen, die zwanglose Lebensweise ließ uns annehmen, daß manche Uebelstände sich daraus entwickeln und leicht Veranlassungen zu Streit und Zank sich einstellen müßten. Nach den von uns eingezogenen Erkundigungen ist dies keineswegs der Fall. Zwischen den verschiedenen Familien herrscht, mit seltenen Ausnahmen, ein durchaus freundlich höflicher Verkehr. Wie wir selbst bemerken konnten, spricht kein Nachbar von und mit dem andern, ohne ihm den Titel „Herr“ zu geben, und auch die Frauen beobachten in noch höherem Grade eine gewisse Etiquette im Umgang. Die Kinder vertragen sich und waren so artig, daß sie unsere Bewunderung erregten. So lange wir verweilten, hörten wir kein rohes Wort, weder Zank noch Lärm. Vielleicht wirkt gerade die Oeffentlichkeit, das Gefühl der gemeinsamen Noth und selbst ein gewisser Märtyrerstolz in dieser Beziehung vorteilhaft.
Allerdings scheint es auch in Barackia nicht an Conflicten ganz zu fehlen, da zwischen den getrennten Colonien eine Art Eifersucht herrscht und sich auch hier der deutsche Nationalcharakter, der angeborene Individualismus und Sondergeist, geltend macht. So wollte der Präsident Schmidt um keinen Preis uns nach der Colonie des Herrn Blohm begleiten, an deren Grenze er sich von uns verabschiedete, so daß wir ein gespanntes Verhältniß zwischen den beiden Würdeträgern annehmen durften. Bis jetzt hat aber die Berliner Polizei noch keine Veranlassung gehabt, sich in die inneren Angelegenheiten der neuen Republik zu mischen. Wir selbst wurden in keiner Weise belästigt und von keinem Bettler angehalten, obgleich bei dem zahlreichen Besuch wohlhabender Fremden die Versuchung nahe liegt. Nur ein alter, augenscheinlich verkommener Mann sprach uns um eine kleine Gabe an, wobei er sich aber vorsichtig umsah, als fürchtete er von seinen Mitbürgern belauscht zu werden. Leider zeigt sich bereits auch in Barackia die herrschende Speculationswuth. Unterhändler pachten von Herrn Blohm einzelne Parcellen, die sie zu höheren Preisen an die jüngsten Ansiedler vermiethen; andere übernehmen gleichfalls mit entsprechender Provision den Bau der Hütten, woraus allerdings Zwistigkeiten entstehen, die den bisherigen Frieden zu stören drohen.
In ihrer gegenwärtigen Gestalt bietet jedoch die Republik „Barackia“ ein höchst interessantes und keineswegs abschreckendes Schauspiel aus dem Berliner Leben. Wenn auch diese Ansiedlung ein trauriges Licht auf die socialen Uebelstände unserer Weltstadt wirft und gewissermaßen den glänzenden Aufschwung derselben in letzter Zeit grausam parodirt, so muß man dagegen den gesunden Sinn des Volkes, seine Leichtigkeit, sich in die schwierige Lage zu finden, seine Fähigkeit und das Verständniß für das große Princip einer wirksamen Selbsthülfe mit Recht anerkennen. Nichts destoweniger drängen sich dem Menschenfreund ernste Bedenken und Zweifel auf, ob die augenblicklich gehobene Stimmung andauern kann, ob überhaupt derartige Zustände sich mit unserer Civilisation, mit unseren Lebensgewohnheiten und Anschauungen auf die Länge der Zeit vertragen, wie dies unter ganz anderen Bedingungen in Amerika der Fall ist.
Schwerlich wird die junge Republik über den Sommer hinaus ihr Leben fristen, da bereits am 1. October der Contract der Stadt mit den beiden Pächtern abläuft, abgesehen davon, daß die Mehrzahl der Hütten nicht für die Aequinoctialstürme und die Winterkälte berechnet ist. Wir müssen daher mit Freuden die Nachricht begrüßen, daß unser Magistrat, wie wir erfahren, eine Commission ernannt hat, welche Vorschläge zur Abhülfe der Wohnungsnoth machen und für ein zweckmäßiges Asyl der obdachlosen Familien Sorge tragen soll.