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Ein irrsinniger poëta laureatus

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Textdaten
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Autor: Eugen Reichel
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Titel: Ein irrsinniger poëta laureatus
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 329–331
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Lebenslauf Albert Lindners
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Ein irrsinniger poëta laureatus.


Albert Lindner.

Es ist ein ziemlich weit verbreiteter Glaube, daß das hehre Feuer, welches den Dichter beseelt, eigentlich eine Brandfackel sei, die nur zu leicht das Gebäude, in welchem die großen und schönen Gedanken und Pläne wohnen, zerstören könne. Nichts ist irriger! Die Flamme, welche das Genie, das Talent entzündet, ist keine verzehrende, sondern eine erhaltende Kraft, welche sogar im Stande ist, den bereits dem Tode verfallenen Leib des Dichters noch über die Verfallzeit hinaus für die Welt zu retten, wie wir an Schiller hierfür ein großes Beispiel besitzen. Man sollte daher endlich aufhören, davon zu sprechen, daß „das Mal der Dichtung“ ein „Kainstempel“, daß der Poet so zu sagen für das Irrenhaus bestimmt sei und nur durch besonders glückliche Umstände vor diesem Schicksal bewahrt werden könne. Wenn einige Dichter dem Irrsinn verfielen, so lag das nicht daran, daß sie Dichter waren, sondern theils an einer krankhaften Veranlagung, die sich neben ihrer dichterischen Begabung verhängnißvoll entwickelte, theils daran, daß der Kampf mit der gemeinsten Noth des Lebens die geistige Kraft, die obendrein vom Dichter übermäßig angestrengt wurde, um aller Sorge zu begegnen, nothwendiger Weise brechen mußte; ja diese zweite Ursache wird in den meisten Fällen allein das Unglück bewirkt haben, für das die theilnahmlose Welt so gern die Verantwortung von sich abwälzt, um sich in einem wohlfeilen Bedauern über die unabwendbare Tragik des Dichterschicksals ergehen zu dürfen.

Ein Beispiel dafür, welchen Einfluß die gemeine, zur Verzweiflung führende Noth auf einen reichbegabten Dichter zu haben vermag, liefert auch der unglückliche Mann, mit dem sich die nachfolgenden Zeilen beschäftigen sollen.

Als im Februar 1886 die Nachricht durch die Zeitungen verbreitet wurde, daß der Dramatiker Albert Lindner geisteskrank geworden sei und in der Heilanstalt zu Dalldorf bei Berlin untergebracht werden mußte – da gab es gewiß nicht nur viele Bewohner der Hauptstadt, welche seinen Namen zum ersten Male hörten, sondern auch einem großen, vielleicht dem größten Theile des deutschen Volkes wird er völlig fremd gewesen sein; und diejenigen, denen er hätte bekannt sein können, werden sich auch nur mit Mühe desselben erinnert haben; denn die Menschen besitzen ein kurzes Gedächtniß und wollen immer wieder auf den Mann, den sie nicht vergessen sollen, aufmerksam gemacht sein. Und doch hatte dieser dem Irrsinn Verfallene dem litterarischen und gebildeten Deutschland eine Zeit lang recht ernsthafte Theilnahme abgenöthigt – aber freilich, nicht gestern, auch nicht vorgestern, sondern – es ist wirklich fast ein Menschenalter darüber hingegangen!

Es war im Kriegsjahre 1866, als die Welt plötzlich von der Nachricht überrascht wurde, daß in dem halb und halb klassischen Rudolstadt ein neuer Klassiker entdeckt worden, ein Dramatiker, der des großen Schiller-Preises für würdig befunden – man horchte auf. Damals war dieser Schiller-Preis noch von größerer Bedeutung als heut zu Tage; Hebbel war der erste Gekrönte gewesen – Hebbel, der merkwürdige Meister, dessen von der Parteien Haß und Gunst entstelltes Charakterbild zwar in der Geschichte des Tages bedeutend schwankte, dem an die Seite gestellt zu werden jedoch für ein hohes, vielleicht das höchste Maß der Ehren, welche einem Dramatiker zu Theil werden konnten, angesehen werden mußte – und dieser Genosse des Nibelungendichters war ein Gymnasiallehrer in Rudolstadt, ein Mann, von dem noch Niemand etwas gehört hatte, der zwar bereits einen „Dante Alighieri“ (1855) und einen „William Shakespeare“ (1864) gedichtet, aber die Welt noch niemals auf sich aufmerksam gemacht hatte!

Man erfuhr jetzt, daß der aus dem Dunkel hervorgehobene Mann am 24. April 1831 in Sulza geboren worden, daß sein Vater ein Obersteiger, seine Mutter eine Bauersfrau sei, welche mit anderen Frauen ihres Standes den Weimarer Wochenmarkt mit Butter und Käse versorgte, daß er als zehnjähriger Knabe das Gymnasium in Weimar bezogen, von den Eltern zum Pfarrer bestimmt wurde, aber seinem innern Drange folgend in Jena und Leipzig Philologie und Aesthetik studirt hatte und nun, wie bekannt, in Rudolstadt als Gymnasiallehrer thätig sei. Also eine ganz gewöhnliche kümmerliche Vergangenheit – nichts von Sturm und Drang, nicht einmal irgend ein „genialer“ Streich! Selbst der Name klang nicht recht: Albert Lindner – ein weichlicher Name. Aber der Titel des gekrönten Werkes tönte desto gewaltiger: „Brutus und Collatinus“ – zwei Helden auf einmal! Man war begierig auf das Werk – es wurde aufgeführt – gefiel nicht, und die Verleiher des Preises mußten sich von allen Seiten den Vorwurf gefallen lassen, daß sie sich geirrt, daß sie einen Dichter aus dem Dunkel hervorgezogen, welcher den Glanz des Ruhmes nicht, oder wenigstens noch nicht verdiene. Gewiß ein harter Vorwurf; aber die Welt liebt es bekanntlich, das Strahlende zu schwärzen – und warum konnte sie sich nicht eben so mit ihrer Verurtheilung geirrt haben, wie die Preisrichter sich mit ihrer Anerkennung geirrt haben sollten? Schon im „Hamlet“ steht zu lesen, daß ein gutes Drama „Kaviar fürs Volk“ und deßhalb vom Erfolg ausgeschlossen sei – warum könnte dieser Mißerfolg des gekrönten Werkes nicht gerade dafür sprechen, daß die Richter das Richtige getroffen? Selbstverständlich stand der über Nacht berühmt gewordene Dichter auf Seiten der Preisrichter und bestätigte ihr gutes Urtheil dadurch, daß er seine Stellung als Lehrer aufgab, nach Berlin, wo man, wie er wähnte, den Laureatus mit Jubel empfangen und auf Händen tragen würde, übersiedelte und fortan als Dichter zu leben gedachte. Seine Braut, mit der er sechs Jahre verlobt war, und andere Freunde hatten es versucht, ihn von dem gefahrvollen Entschluß abzubringen – umsonst: der verschlossene, stets nur beschaulich dahinlebende Dichter schwärmte von seinem Gottesgnadenthum und schmeichelte sich sogar mit der Hoffnung, Vorleser der Königin von Preußen zu werden, die als weimarische Prinzessin und Litteraturfreundin den thüringischen Nachfolger Schiller’s gewiß unter ihren hohen Schutz nehmen würde. So traf er in Berlin ein, und – Niemand bekümmerte sich um ihn; ja Diesem und Jenem war es höchlichst unbequem, den aus der Ferne gekrönten Dichter sich plötzlich so nahe gerückt zu sehen. Der aus allen Himmeln gefallene Besitzer des Schiller-Preises klopfte dort und hier an und fand alle Thüren verschlossen – man wollte nichts von ihm wissen. Die 3000 Mark, welche der unselige Schiller-Preis ihm verschafft hatte, waren allzunächst den Weg alles Geldes gegangen – was thun? Nach Rudolstadt konnte und wollte er wohl auch nicht zurückkehren – glücklicher Weise fand er eine Anstellung an einer Realschule Berlins, wo er für die Stunde fünfzehn Silbergroschen (1 Mark 50 Pfennig) erhielt; und auf diese Stellung hin heirathete er das Mädchen, welches beinahe sieben Jahre seine Braut gewesen war. Vor dem Aeußersten war er nun wohl geschützt; aber der Schlag, der ihn getroffen, war nicht zu verwinden; er wurde seitdem noch scheuer und verschlossener, hörte jedoch nicht auf, sich an großen Stoffen abzuarbeiten, nur immer nach dem Höchsten zu trachten, ohne nach links und nach rechts zu blicken und zu fragen, was der Welt etwa gefällig sei.

Ein neues Drama „Katharina II.“ ging spurlos vorüber. Endlich gelang es ihm, in der „Bluthochzeit“ (1871) ein Stück zu schaffen, das auch der Menge zusagte und mit dem Erfolg zugleich größere Einnahmen brachte. Nun durfte der vielgeprüfte Mann doch wieder hoffen, um so mehr, als ihm auch die Stellung als Bibliothekar des Reichstages einen festen Halt gab. Leider zeigte er sich dieser Stellung nicht gewachsen; Ordnungssinn und Uebersicht mangelten ihm, und als [330] er sich gelegentlich eine Vernachlässigung des Dienstes zu Schulden kommen ließ, erhielt er seinen Abschied. Er war nun wieder auf seine Feder allein angewiesen; der Erfolg der „Bluthochzeit“ war von kurzer Dauer und blieb der letzte seines Lebens. Selbst ein so hervorragendes Werk wie „Marino Falieri“ (1875) blieb unbeachtet, und fortan wollte dem Dichter nichts Rechtes mehr glücken. Die Nothwendigkeit verurtheilte ihn dazu, sich der Lohnschreiberei in die Arme zu werfen; er wurde Novellist und Journalist und versank allmählich in dem rauschenden Strome des Tages. Der Kampf, den er in diesen letzten Jahren durchmachen mußte, spottet beinahe der Beschreibung: drückendste Noth im Hause, wo es oft an der kärglichsten Speise mangelte; das Wesen des Unglücklichen wurde scheuer und unheimlicher; die Bekannten zogen sich mehr und mehr von ihm zurück; wenn er zuweilen ein Wirthshaus im Südwesten der Stadt besuchte und hier, seine Pfeife rauchend, vor einer „großen Weißen“ in sich versunken saß, dann wichen die andern Gäste seinem Tische weit aus. Und wie die Welt ihm kalt gegenüber stand, so stand er schließlich den Seinen gegenüber; nur an dem jüngsten Sohne hing sein Herz mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit, und oft sah man ihn über die Straße schwanken, die Hand auf das Haupt des Knaben gelegt.

Grillparzer sagt einmal: „Das ist des Unglücks eigentlichstes Unglück, daß selten sich der Mensch drin rein bewahrt“ – Lindner stand zu hoch, als daß er in die Zunft der unehrlichen Biedermänner hätte treten können; aber die Noth mochte ihm gelegentlich das Gewissen trüben – und so führte vor einigen Jahren eine Winkelbühne Berlins die Uebersetzung eines Lustspiels von Gogol auf, die sich in hohem Grade von einer früheren Uebersetzung abhängig zeigte. Daraus entwickelte sich ein Proceß, der den Dichter nicht nur um eine, wenn auch kümmerliche, amtliche Stellung brachte, die ihm so zu sagen aus Barmherzigkeit verliehen worden war, sondern auch des Allernothwendigsten beraubte – kaum daß ihm die unentbehrlichsten Möbel und Kleidungsstücke verblieben. Sein Schicksal war jetzt für immer besiegelt.

Schon damals zeigten sich die ersten Spuren der Krankheit: Unruhe und Gleichgültigkeit gegen Alles. Nur zuweilen wachte die Sorge für seinen Dichterruhm in ihm auf; dann verlangte er Geld von der Frau, damit er an Redaktionen und einflußreiche Personen Postkarten senden könne, um sich ihnen wieder in Erinnerung zu bringen. Was noch zu versetzen war, mußte dann von der hungrigen Frau versetzt werden. Des Nachts fand er keinen Schlaf; er stand des Oefteren auf, schritt durch die Zimmer, zündete die Lampe an, schrieb eine Weile, weckte die Frau oder die Töchter auf und verlangte Kaffee von ihnen. So ging es eine geraume Zeit, ohne daß die Familie aufmerksam wurde. Da geschah es, daß der Herzog von Meiningen im Januar 1886 nach Berlin kam und den Dichter zu sich befahl. Große Aufregung. Der arme Dichter besaß weder Geld, noch die für diesen Besuch nöthigen Kleider; die Frau mußte zu den wenigen Bekannten eilen, welche der Familie treu geblieben waren, und um ihre Hilfe bitten; ein halbwegs passender Frack und Mantel wurden gefunden; das Geld für eine Droschke zweiter Klasse kam auch zusammen – und hoffnungsfreudig wie damals, als er von Rudolstadt nach Berlin reiste, fuhr er nach dem „Kaiserhof“, in welchem der Herzog abgestiegen war. Ungefähr nach einer Stunde sah die Frau ihn vom Fenster aus heim kommen, aber zu Fuß und ganz niedergebeugt; sie eilte hinunter und fragte, ob er etwas beim Herzog erreicht habe.

„Alles, Alles!“ rief er. „Ich bin so froh, so glücklich; ich möchte Dich in meinem Mantel die drei Treppen hinauftragen!“

Zu Hause angelangt, erzählte er nun, daß der Herzog ihm eine Villa bei Meiningen bauen wolle, daß er fortan sorgenlos und nur seiner Kunst leben solle. Er schwärmte in den überschwänglichsten Worten von dem edlen Mäcen und forderte die Seinen auf, mit ihm in ein gutes Gasthaus zu gehen und sich einmal recht satt zu essen.

Jetzt endlich schien der Familie das Verhalten des Vaters und Gatten doch bedenklich; ein dem Hause befreundet gebliebener Arzt wurde ins Vertrauen gezogen – und dieser konnte nur feststellen, daß Lindner in hohem Grade gestört sei; wenige Tage später fand dann die Ueberführung des Kranken nach Dalldorf statt, wo er sich auch jetzt noch befindet und wo er voraussichtlich sein Leben beschließen wird. Er ist ein ruhiger und bei Allen beliebter Kranker, hält sich für einen Millionär, der mit Gold und Juwelen um sich werfen kann, bettelt sich aber von den Wärtern Geld und Briefmarken zusammen. An seine Krankheit glaubt er nicht, obschon er auch körperlich sehr heruntergekommen ist. Am glücklichsten fühlt er sich, wenn er, seine Pfeife rauchend, in einem gepolsterten Lehnstuhl sitzen darf, den seine Frau ihm geschenkt hat; dann streichelt er wohl die Lehne zärtlich und denkt weder an Essen noch an Trinken. Der Schriftstellertrieb ist in ihm sehr lebendig, er füllt jeden Tag einige Blätter mit unzusammenhängenden, aber stellenweise an ganz reale Verhältnisse anknüpfenden Aufzeichnungen.

Am Tage nach der ersten Neu-Aufführung der „Bluthochzeit“ (22. Januar d. J.), mit welcher das „Deutsche Theater“ sich ein unleugbares Verdienst erworben hat, besuchte Frau Lindner den Kranken, erzählte ihm von dem großen Erfolg und gab ihm den Theaterzettel zu lesen – aber der Theaterzettel selbst ließ ihn gleichgültig; nur die Rückseite mit den geschäftlichen Anzeigen fesselte ihn lebhaft, und überall, wo er das Wort „Kaviar“ las, machte er ein Bleistiftzeichen. Er war übrigens fest davon überzeugt, daß ihn die Frau nach Berlin mitnehmen und ins „Deutsche Theater“ führen werde; als sie sich dann von ihm trennen mußte und die Thür zu seiner Zelle geschlossen hatte, drang ein entsetzlicher, aus Wuth und Schmerz gemischter Schrei an ihr Ohr, der sich, wie sie mir sagte, nicht beschreiben, aber auch nie vergessen läßt.

Das Unglück, welches über den Dichter hereingebrochen, hatte ihn der Welt für kurze Zeit wieder in unliebsame Erinnerung gebracht; aber selbst jetzt waren die Theaterdirektoren nicht zu bewegen, seine Dramen aufzuführen. Erst eine außergewöhnliche Veranlassung hatte das „Deutsche Theater“ in Berlin dazu gereizt, wenigstens die einst so erfolgreiche „Bluthochzeit“ wieder aufleben zu lassen – und der wieder eintretende Erfolg, so vorübergehend er auch wahrscheinlich sein wird, dürfte vielleicht auch der einen oder andern Bühne den Muth verleihen, noch in letzter Stunde nachzuholen, was die herzlose Lässigkeit versäumt hat.

Wie man den Preisrichtern der Schiller-Kommission 1866 einen Vorwurf daraus machte, daß man ein so unvollkommenes Werk wie „Brutus und Collatinus“ habe krönen können, so machte man es ihnen jetzt zum Vorwurf, daß sie den Dichter aus der Enge seines Berufslebens herausgelockt und so den Grund gelegt hätten zu der Tragik dieses Dichterschicksals. Es ist so bequem, Andere für etwas verantwortlich zu machen, was wir bis zu einem gewissen Grade selbst verschuldet haben. Kein Zweifel, daß es eine Uebereilung des Dichters war, den festen Boden, auf dem er stand, zu verlassen – aber wer darf es dem Unglücklichen verübeln, daß er die scheinbar so günstige Gelegenheit benutzte, um in größere und, wie er glaubte, sein Schaffen mehr begünstigende Verhältnisse zu kommen? Hatte dieser Mann, dieses Talent nicht auch höhere Ansprüche an das Leben? Sollte er es nicht versuchen, sich in der Welt, die für so viel Unwürdige Gold und Lorbeeren bereit hat, ein höheres Dasein zu erkämpfen? Und hätte man für einen Dichter, der von gebildeten Männern seines Volkes für würdig erachtet wurde, vor vielen Berufenen ausgezeichnet zu werden, der dann nicht selbstgefällig auf seinen Lorbeeren ausruhte, sondern unausgesetzt danach rang, sich dieser Auszeichnung immer würdiger zu machen – hätte man für einen solchen Dichter nicht ein Herz haben müssen? Jeder Arbeiter ist seines Lohnes werth, und Lindner hat gearbeitet, sehr ernstlich gearbeitet, wie seine Dramen beweisen, die zwar keine fehlerlosen Meisterwerke, aber doch immerhin Schöpfungen sind, wie wir deren nicht viele aufzuweisen haben. Sein „Brutus und Collatinus“ krankt an einer Zwiespältigkeit der Handlungsführung; seine „Bluthochzeit“ leidet stellenweise an Unklarheit und entbehrt eines greifbaren dramatischen Mittelpunktes; und selbst sein „Marino Falieri“[1] läßt dort und hier Manches vermissen – aber in allen diesen Stücken lebt so viel wirkliche Kraft, so viel theatralische Sicherheit und künstlerisches Feingefühl, daß sie, wenn man die geschichtliche Gattung des Trauerspiels überhaupt gelten läßt, verdienten, von allen bedeutenderen Bühnen wieder und wieder gespielt zu werden. Wohl ist auch Lindner ein Epigone und steht zuweilen mehr als ihm [331] dienlich unter dem Einfluß der Shakespeare-Dramen, an deren Nachahmung so viele unserer hoffnungsvollsten Talente zu Grunde gegangen sind; aber wo er sein Bestes und Eigenstes giebt, da ist er nicht selten wirklich bedeutend und bei aller Mäßigung in der Anwendung von Mitteln hinreißend in der Wirkung. Er wendet sich nie an das Ohr und die Nerven der Zuschauer; er bleibt immer der Künstler, der gestalten und, so gut er es vermag, einen Plan mit Besonnenheit zur Durchführung bringen will, und seine Sprache, wenn sie auch nicht immer makellos ist, zeichnet sich durch Kraft und Sicherheit aus.

Zwecklos und unberechtigt ist das Streiten darüber, ob Lindner dem und jenem berühmten Vorgänger ebenbürtig sei, ob seine Stücke der Vergessenheit über kurz oder lang anheimfallen werden oder nicht. Kein ehrlicher Arbeiter auf dem Gebiete der Kunst ist verpflichtet, ein auserlesener Genius zu sein; die Phönixe sind selten und kaum alle hundert Jahre steigt einmal dieses Wundergeschöpf aus der Asche des Gewöhnlichen empor; aber wo bei so viel ernster Arbeitsfreudigkeit wirkliche Begabung vorhanden ist, wo sich diese Begabung in nicht gewöhnlicher Weise bewährt hat, da geziemt es den Mitlebenden, Antheil zu nehmen, sich ihrer Verpflichtung gegen das Talent bewußt zu bleiben.

Es ist hier nicht der Ort, sich in Klagen zu ergehen – und wen sollte man auch anklagen? Das Publikum gewiß nicht; denn dieses ist gern bereit, sich von einem edlen Dichter erheben zu lassen; der Erfolg der neuaufgeführten „Bluthochzeit“ hat es bewiesen. Und in diesem Erfolge liegt zugleich etwas Versöhnliches: man wollte gut machen, was man versäumt, weil man nichts von dem Jammer des Dichters gewußt hatte. Die Vernunft wird man ihm freilich nicht wiedergeben können; aber wenn jetzt nur dafür gesorgt wird, daß der Kranke nichts entbehren muß, daß die Familie vor der drückendsten Noth bewahrt bleibt, so ist das Versäumte doch in etwas wieder gut gemacht.

Eugen Reichel.



  1. Diese drei Stücke sind bei J. J. Weber in Leipzig erschienen und mögen Lesevereinen ganz besonders empfohlen sein.