Was aus jeder Kaserne werden sollte!
Vor zwanzig bis dreißig Jahren hieß Preußen vorzugsweise das Land der Schulen und Casernen, indem es seine Macht hauptsächlich auf seine Bureaukratie und sein Militär stützte. In neuerer Zeit ist jedoch ein neues kräftiges Element hinzugetreten, das mit wunderbarer Schnelligkeit sich entwickelt und den Nationalwohlstand zu einer nie geahnten Höhe gebracht hat – die Industrie. Ihr verdankt vor Allem Berlin den großartigen Aufschwung und seine überraschende Entwicklung zur Weltstadt. Wo sonst öde Sandflächen uns entgegenstarrten, erheben sich jetzt Paläste der Industrie, mächtige Fabrikanlagen, riesige Etablissements, wo Tausende von Arbeitern vom frühen Morgen bis zum späten Abend die fleißigen Hände rühren und ein glänzendes Zeugniß für die Ausdauer, die Intelligenz und Tüchtigkeit des Berliner Bürgerthums ablegen. Hauptsächlich durch die Industrie hat sich die Einwohnerzahl in den letzten fünfundzwanzig Jahren mehr als verdoppelt, ist das Vermögen der Residenz um das Vierfache bis Sechsfache seines früheren Umfangs gestiegen. Mit dem wachsenden Capital geht ein entsprechender Unternehmungsgeist Hand in Hand, der fortwährend neue staunenswerthe Schöpfungen in’s Leben ruft.
Durch das Zusammenwirken aller dieser Kräfte gewinnt die Physiognomie der Stadt mit jedem Tage ein verändertes Aussehen. Ganze Straßen und Stadttheile sind neu erstanden und eine Reihe von Passagen, Prachtbauten und ähnlichen zweckmäßigen und gemeinnützigen Anlagen sind in Angriff genommen oder stehen in naher Aussicht.
Zu den hervorragendsten Unternehmungen auf diesem Gebiete zählt das großartige Industrie-Gebäude des Herrn Hermann Geber in der Commandantenstraße, dem das Verdienst gebührt, die Residenz durch eine eben so nützliche wie schöne Anlage bereichert und geschmückt zu haben. Noch vor zwei Jahren stand an derselben Stelle die verlassene Caserne des Kaiser-Franz-Regiments, welche der Kaufmann Levinstein von dem Militär-Fiscus erstanden hatte. Durch seinen Tod wurde die Uebernahme des Grundstücks verhindert, bis am 17. September 1868 Herr Geber in dem angesetzten Licitations-Termine die Caserne an sich brachte und mit 182,500 Thalern bezahlte.
[286] Die Uebergabe erfolgte am 24. December, und schon am 1. Januar 1869 reichte der Käufer seine Pläne zum Umbau des Erdgeschosses ein, das in eine Reihe von Verkaufsläden umgeschaffen werden sollte. Nachdem das Polizei-Präsidium seine Genehmigung ertheilt, wurde sofort der Bau mit sechshundert Arbeitern mitten im Winter in Angriff genommen und trotz der ungünstigen Witterung mit solcher Energie betrieben, daß bereits am 1. April 1869 die neunundzwanzig Läden ihren Miethern übergeben und eröffnet wurden. Selbstverständlich konnte dieses Resultat nur dadurch erreicht werden, daß auch die Nächte mit zu Hülfe genommen wurden, was einen kolossalen Gasconsum erforderte.
Bei seinem ganzen Unternehmen verfolgte Herr Geber das Princip, ausschließlich nur Geschäftsräume für die Industrie zu schaffen. Die von ihm erbauten Läden zeichnen sich besonders dadurch aus, daß hier zum ersten Male die sämmtlichen Schaufenstertheile vollständig aus Schmiedeeisen gearbeitet sind. Jeder Laden ist mit einer eleganten Laterne versehen; die dadurch erzielte Beleuchtung giebt den Pariser Boulevards in dieser Beziehung wenig oder gar nichts nach. Die Firmen der Geschäftsinhaber sind sämmtlich auf Glas geschrieben und werden diese sowohl wie die Schaufenster selbst durch eine oberhalb der letztern angebrachte sogenannte Coulissenbeleuchtung gleichmäßig erhellt, deren ganz neue Construction zum ersten Male in dem Industrie-Gebäude zur Anwendung gebracht worden ist. Außerdem ist mit jedem Laden eine nach dem Hofe gelegene Mansardenstube und Küche verbunden; wofür im Ganzen der für die Berliner Verhältnisse nur mäßige Preis von fünfhundert Thalern gezahlt wird.
Nachdem in dieser Weise das Erdgeschoß der früheren Caserne in einen großartigen Bazar umgewandelt worden war, schritt Herr Geber zur gänzlichen Umgestaltung der übrigen Räume, aus denen er eine Reihe der großartigsten Etablissements für die verschiedenen Zweige der Industrie und Kunst schuf.
Das Vordergebäude, welches das längste in Berlin ist, hat eine Front von vierhundert Fuß, ist im Stile der „Venetianischen Bibliothek“ gebaut und zeichnet sich durch seine sechs Fuß hohe, gänzlich in Thon ausgeführte, höchst geschmackvolle Attika aus. Zwei mächtige Portale, mit Gruppen von der Hand des Bildhauers Julius Moser verziert, führen in das Innere. Hier befinden sich in dem ersten Stockwerke die Bureaux mehrerer größerer Geschäfte und eine Möbelhandlung, die den größten Saal Berlins in einer Ausdehnung von zweihundert Fuß für ihre Zwecke besitzt.
Ein besonderes Interesse gewähren die Räume, welche der Verein Berliner Künstler gemiethet hat und die theils zur Ausstellung der gelieferten Kunstwerke, theils zu Berathungen und abendlichen Versammlungen dienen. Die sechszehn Fuß hohe Bildergallerie mit ihrem günstigen Oberlichte bietet Malern und Bildhauern die gewiß höchst willkommene Gelegenheit, ihre neuesten Schöpfungen zur Kenntniß des Publicums zu bringen, dem der Eintritt gegen ein Entrée von fünf Silbergroschen gestattet ist. Wir finden hier Bilder von den ersten Meistern, Richter’s entzückende „Odaliske“, den reizenden „Katzentisch“ mit seinen köstlichen Kindergruppen von dem genialen Knaus und das große Gemälde der „Schlacht bei Königgrätz“ von Bleibtreu, das, man mag über seinen Gegenstand denken, wie man will, schon als Kunstwerk eine Stelle in der zukünftigen National-Gallerie verdient.
Daran schließt sich die sogenannte Künstlerkneipe, das Billardzimmer und der Versammlungssaal mit ihren charakteristischen Verzierungen, den Portraits der Mitglieder und allegorischen Fresken, womit die Wände geschmückt sind. Hier erblicken wir die Bilder jüngerer Maler, wie Gustav Richter, Becker, Scholz, Eduard Hildebrandt etc., während im Versammlungssaale die alten Meister eine würdige Stelle gefunden haben. Unter den Letzteren sind besonders bemerkenswerth der alte Schadow, von Steffeck’s Meisterhand gemalt, ferner Hans Holbein von Heyden, denen sich Peter Vischer, Albrecht Dürer, sowie von Steinbach und Andreas Schlüter, Preußens Michel Angelo, anreihen.
In den Fresken von Goetz, Wiesniewcki, Brausewetter, Heyden, Burger, Gustav Spangenberg etc. offenbart sich der Künstlerhumor in köstlichen Trinkscenen, zu denen Rudolf Löwenstein die poetischem Erläuterungen in reizenden Versen giebt. Allwöchentlich versammeln sich hier die Mitglieder des Vereins zu ernsten Berathungen über ihre Interessen, denen die heitere Unterhaltung in der Kneipe und im Billardzimmer folgt. Aus der ganzen Einrichtung, den geschnitzten Stühlen und Eichentischen, den Bildern und Fresken weht uns ein frischer, echt künstlerischer Geist entgegen, der gleichsam dem sonst ausschließlich der Industrie und dem Handel gewidmeten Gebäude eine höhere Weihe verleiht.
Noch von diesem Eindruck erfüllt, verlassen wir das Vordergebäude und begeben uns in das Hintergebäude Nummer Eins, wo sich die Gratweil’sche Bierhalle befindet, zu deren Herstellung das Parterre und die erste Etage der alten Caserne benutzt wurden. Gegenwärtig das größte Bierlocal Berlins, kann allein der Hauptsaal bequem zweitausend Personen fassen. Derselbe ist hundertsechsundfünfzig Fuß lang, nach dem Muster des Sängersaals auf der Wartburg gearbeitet, die Decke von Holz geschmackvoll geschnitzt, die Spitzbögen mit sinnreichen Bildern von Ludwig Burger verziert, auf denen man alle Stadien des Trinkers bis zum unausbleiblichen erbarmungswürdigen Katzenjammer bewundern kann. Einen besonders interessanten Anblick gewährt die Bierhalle des Abends, wo sie durch dreizehn Gaskronen erhellt wird. An Hunderten von Tischen sitzen die Gäste, Kopf an Kopf gedrängt, und genießen den köstlichen Gerstensaft, der sich unter den Biertrinkern Berlins eines wohlverdienten Rufes erfreut.
An die Bierhalle stößt der Billardsaal, in dem zu gleicher Zeit auf acht Billards vom frühen Morgen bis zwei Uhr des Nachts gespielt werden kann. Die eigenthümliche Beleuchtung ist dem bekannten Jockey-Club in Paris entlehnt, zu welchem Zweck Herr Geber an Ort und Stelle seine Studien gemacht hat. Ein dritter Saal für ungefähr zweihundert Personen, mit Logen versehen, wird bei Ueberfüllung der Bierhalle benutzt und dient außerdem für kleinere geschlossene Gesellschaften. Schwerlich wird man in dem geschmackvollen Local den früheren wüsten Casernenboden wieder erkennen. Ueber dem ganzen Hintergebäude und dem Gratweil’schen Saal befindet sich die große Posamentierwaarenfabrik von W. und G. Keßler. Diese nimmt zwei Etagen ein, von denen die obere in Form eines hängenden Bodens umgebaut und durch Ober- und Seitenlicht erhellt wird. Der fast zweihundert Fuß lange Raum enthält eine Dampfmaschine, von deren Thätigkeit die in der Bierhalle sitzenden Gäste keine Ahnung haben, während dieselbe bei Tag und Nacht unablässig über ihren Köpfen arbeitet.
Ueber den dreihundertfünfzig Fuß langen Hof gelangen wir in das Hintergebäude Nr. 2, das ausschließlich für Fabriken und Werkstätten eingerichtet ist. Zwei Thürme im Renaissance-Styl dienen zur Verbindung zwischen den vorderen und hinteren Gebäuden. Alle Localitäten sind mit Doppellicht, Gas- und Wasserleitung versehen. In allen Räumen herrscht eine rege Thätigkeit und der Beschauer kann sich hier einen Einblick in die Berliner Industrie mit der größten Bequemlichkeit verschaffen. Unter einem und demselben Dache finden wir eine bedeutende Nähmaschinenfabrik, eine lithographische Anstalt, zwei renommirte Buchdruckereien, eine große Billardfabrik, mehrere Speditionsgeschäfte, eine große Pianofortefabrik, einen Auctionssaal, eine Wollengarnfabrik etc. Kaum dürfte manche größere Provinzialstadt so viele und großartige Etablissements aufzuweisen haben wie dies einzige Gebäude.
Der Hof selbst ist von beiden Seiten mit Laternen beleuchtet und wird in nächster Zeit durch zweckmäßige Anlagen in einen Sommergarten verwandelt werden, dessen schönste Zierde eine Orangerie und drei große Fontainen bilden sollen. Ein kleinerer Hof ist für den Verein der Berliner Künstler zu demselben Zweck bestimmt, während die in dem dritten Hof gelegenen Ställe, Remisen und sonstigen Gebäude für die neu anzulegende Centralstraße benutzt werden. Zu diesem Zweck ist auch das Hintergebäude Nr. 2, das an den dritten Hof stößt, so angelegt, daß sein Parterregeschoß innerhalb vier Wochen in eine dreihundertfünfzig Fuß lange Ladenfront umgeschaffen werden kann. Eine Actiengesellschaft beabsichtigt nämlich, eine neue Straße zu bauen, die, vom Spittelmarkt ausgehend, das jetzige Gertrauden-Hospital durchschneidend, nach der Commandantenstraße führen und in der Nähe der Neuen-Grünstraße auf einen freien, einhundertzwanzig Fuß breiten Platz ausmünden wird. Letzterer selbst soll, mit geschmackvollen Anlagen und einer großen Fontaine versehen, der Stadt zum Schmuck gereichen. Die projectirte Straße aber soll durchgängig im Renaissance-Styl erbaut, mit Asphalt gepflastert und glänzend erleuchtet werden.
Alle Gebäude der neuen Straße werden nach dem Plane so angelegt, daß sie im Parterregeschoß Verkaufsläden, in den Hofräumlichkeiten sonstige Geschäftslocalitäten enthalten. Sämmtliche [287] Wohnungen werden mit Erker versehen und wird besonders auf zweckmäßige Beleuchtung Rücksicht genommen werden. Zu diesem Behufe soll jedes der zu errichtenden Häuser im zweiten Hofe so placirt werden, daß es inmitten desselben zu stehen kommt, so daß zwei und respective drei Höfe für jedes Gebäude entstehen und folgerecht die in den zwei Höfen gelegenen Hintergebäude bis zur vierten Etage Doppellicht erhalten. Die Räumlichkeiten werden wieder zu Ateliers, Werkstätten und Fabriken vermiethet. Ein besonderer Vortheil dieser von Herrn Geber selbst angegebenen Bauart ist noch der, daß die sämmtlichen Corridore des Vorderhauses ihr Licht von dem zweiten und dritten Hofe empfangen, so daß die berüchtigten finsteren Berliner Stuben und Corridore in den Häusern der neuen Straße künftig fortfallen.
So ist es Herrn Geber durch seine bewunderungswürdige Energie gelungen, nicht nur das neue Industriegebäude, sondern eine ganze Straße zu schaffen, deren Ausführung so gut wie gesichert ist und schon in kurzer Zeit bevorsteht. Wo sonst eine alte verfallene Caserne stand, erhebt sich jetzt ein glänzender Palast, in dem der Gewerbfleiß und die Kunst Berlins täglich neue Triumphe feiert; wo in diesem Augenblick noch Höfe und nur zum Abbruch taugliche Remisen und Ställe stehen, wird bald ein neuer glänzender Stadttheil emporblühen.