Zum Inhalt springen

ADB:Raupach, Ernst Benjamin Salomo

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Raupach, Ernst Benjamin Salomo“ von Max Bendiner in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27 (1888), S. 430–445, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Raupach,_Ernst_Benjamin_Salomo&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 13:45 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Raupach, Bernhard
Band 27 (1888), S. 430–445 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Ernst Raupach in der Wikipedia
Ernst Raupach in Wikidata
GND-Nummer 100823548
Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|27|430|445|Raupach, Ernst Benjamin Salomo|Max Bendiner|ADB:Raupach, Ernst Benjamin Salomo}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=100823548}}    

Raupach: Ernst Benjamin Salomo R. wurde zu Straupitz, einem Kirchdorfe bei Liegnitz in Schlesien, am 21. Mai 1784 geboren. Sein Vater war Prediger, ein ernster Mann von strenger, alter Sitte, allen Neuerungen, aber auch jeglicher „Frohnatur“ vom Grunde seines Herzens aus abhold. Sein Einfluß auf den Bildungsgang, das ganze Wesen des Kindes ist vom ersten Augenblicke an ein so bestimmter, so tiefgehender, daß der Charakter Ernst’s, niemals Schwankungen ausgesetzt, das ganze Leben hindurch in scharfen Zügen das Gepräge der väterlichen Leitung aufweist. Der Vater, indem er allein die Erziehung seines Sohnes in die Hand nahm, bezweckte vor allem eine möglichst frühzeitige Ausbildung des Verstandes. Bereits in den ersten Knabenjahren mußte Ernst allsonntäglich die Kirche besuchen, um dann vom Vater geprüft zu werden, ob er aufmerksam gewesen und das Gehörte begriffen habe. Aber während diese Art und Weise, ein Kind schon in der frühesten Jugend zum Nachdenken anzuhalten, es daran zu gewöhnen, stets seine Gedanken in Ordnung zu halten, vortrefflich ist, wenn nebenher auch eine einsichtige Pflege des Herzens und des Gemüthes geht, übte sie bei R. nur eine durchaus einseitige Wirkung, da allein der Verstand, das logische Denken ausgebildet wurden, das Gemüth aber vollkommen unberücksichtigt blieb. Dieser Theil der Erziehung pflegt sonst auch wohl mütterlicher Pflege und Sorgfalt anheimzufallen, aber die Frau Pastorin R. scheint vollständig von der Leitung ihrer Kinder ausgeschlossen gewesen zu sein; denn auch im späteren Leben derselben tritt sie fast gar nicht hervor. Dazu kam, daß dem Knaben der Umgang mit Altersgenossen, die Spiele der Kinder, ihre glückliche Sinnenwelt versagt blieb. Die Bauernkinder waren ja, nach des Vaters strenger Anschauung, nicht standesgemäß, also von vornherein ausgeschlossen; sein Bruder Friedrich aber, um elf Jahre älter als Ernst, besuchte seit 1787 die Stadtschule in Liegnitz. So konnte auch er den unersetzlichen Verlust der Kinderwelt ihm nicht vergüten. Im Gegentheil! Die gelegentlichen Besuche des älteren, erfahreneren Bruders im Elternhause mußten auf Ernst einen Einfluß üben, welcher der Verstandesrichtung in der väterlichen Erziehung nur noch neue Nahrung gab. So blieben die vier Schwestern, von denen eine älter, drei jünger als Ernst waren; aber auch sie wurden jedenfalls in derselben Weise wie ihr Bruder erzogen, und daher kam es, daß dieser in seiner Gemüthswelt auf sich selbst angewiesen, vereinsamte. Vom Vater dazu angehalten, jede Gefühlsäußerung durch die Vernunft zu beherrschen, gerieth der Knabe immer mehr in die Bahn eines nüchternen, kalt berechnenden Verstandesmenschen hinein. Dennoch schlug in seinem Inneren ein warmes Herz, und da er stets gezwungen wurde, seine Gefühle in sich zu verschließen, begann er schon [431] jetzt, seine Mitmenschen zu hassen. Er selbst schildert uns diesen Zustand in einem Briefe an den Bruder vom Jahre 1803: „Ich hatte ohnstreitig ein gutes Herz, ich fühlte tief und heftig, und hatte für jedes Unglück, auch für das allerentfernteste, Thränen des Mitleidz, und auch den Muth zu helfen, selbst wenn es über meine Kräfte ging. – Hätte ich nun einen Freund gefunden, der mit mir gleich gedacht, der diese Gefühle in mir genährt hätte, so würde sich das Kindische, was noch dabei war, nach und nach losgewickelt haben, und die dafür eintretende Festigkeit des reiferen Alters hätte mich gewiß zu einem wahren Menschen gemacht. Allein der fehlte mir; ich ward mit diesen meinen Gesinnungen verlacht und zum Gespött. Eine Probe: Der Rector Werdermann las uns einst bei der Präparation zum Abendmahl ein wirklich schönes Gedicht über den Tod Jesu vor. Er weinte, ich noch heftiger. Als er fort war, belehrte mich das laute Gelächter aller meiner Mitschüler um mich her, daß mir die Thränen noch in den Augen standen; man nannte mich einen weichgebackenen Narren, einen Schwärmer und dergleichen. Diese und ähnliche Vorfälle stießen mich zurück; ich ward verschlossen und in mich gekehrt; ich fing an, mich dieser Empfindungen zu schämen, und die Menschen zu verachten, die mich deswegen verlachten, da ich doch überzeugt war, daß ich nicht Unrecht that.“ –

Den ersten erschütternden Seelenschmerz erfuhr der Knabe ganz unvorbereitet an seinem zehnten Geburtstage: mit dem Vater nichts ahnend im Garten spazierend, sank dieser plötzlich vom Schlage getroffen todt zusammen. War der Knabe bisher schon weit über sein Alter hinaus ernsthaft gewesen, so wich seit diesem Unglückstage jeder Frohsinn von ihm. Dazu kamen jetzt noch die Sorgen um das Dasein, welche die Familie bedrängten: die Wittwe stand mit ihren sechs, zum größten Theil unerzogenen Kindern vollkommen mittellos da, und so mußte sich der älteste Sohn, Friedrich, 21 Jahre alt, entschließen, sein Fortkommen im Auslande zu suchen, um die Familie vor Mangel zu schützen. Er ging auf den Rath ausgewanderter Franzosen nach Petersburg, wo er als Lehrer und Erzieher in adligen Häusern die Mittel zur Unterstützung seiner Angehörigen zu finden hoffte. Die Mutter war inzwischen nach Liegnitz gezogen, um auch Ernst eine Gymnasialbildung zu Theil werden zu lassen. Hier hieß es nun eifrigst vorwärts streben und den erhöhten Anforderungen genügen. Aber auch materielle Sorgen blieben schon jetzt dem Knaben nicht erspart: er wohnte bei einem Schulkameraden und mußte sich diese Vergünstigung durch Nachhülfeunterricht verdienen. Entschiedene Fähigkeiten und großer Fleiß zeichneten ihn aus, so daß er bereits nach zurückgelegtem dreizehnten Lebensjahre in die erste Classe des Gymnasiums aufrücken konnte. Aber Phantasie, Herz und Gemüth blieben auch auf dem Gymnasium unberücksichtigt; man freute sich eben über das so früh entwickelte geistige Denken des Knaben; mußte er ja, noch nicht 14 Jahre alt, eine Rede über den Werth der Menschenkenntniß halten! Und keine Erholung gab es für ihn im geselligen Verkehr; er mied den Umgang mit seinen Kameraden, jedenfalls abgeschreckt durch Spöttereien wie die oben erzählte, und suchte in seinen Mußestunden mit Vorliebe einsame Spazierwege auf. Daß hierdurch ein gewisser Menschenhaß erzeugt, sein eigenes Selbstgefühl aber bedeutend gesteigert wurde, ist nur zu natürlich; er bekennt dies selbst in dem oben angeführten Brief an den Bruder: „So begann ich denn allmählich mich für besser als Andere zu halten, und die Verachtung, die ich gegen Manche hegte, breitete sich nach und nach auf Mehrere und fast Alle meines Alters aus. – Mich liebte Niemand, ich liebte Niemanden – lieben muß der Mensch – ich liebte mich also selbst.“ – Dabei beschäftigte er sich mit Dingen, die unter anderen Verhältnissen seinem Alter noch fern gelegen hätten: er trieb Philosophie, [432] und trotz seiner 14 Jahre verehrt er doch schon Kant „mit der heiligsten Ehrfurcht“.

Bei diesem eifrigen Streben des jungen Mannes kann es auch nicht Wunder nehmen, daß er bereits im Frühjahr 1801, also noch nicht 17 Jahre alt, die Universität Halle bezog, um Theologie zu studiren. Freilich das Studium selbst war jetzt noch Nebensache; denn hier auf dem ungewohnten Boden akademischer Freiheit, in der neuen Umgebung, erfolgte der Rückschlag gegen das bisherige einsame und trübe Leben. Aber zum Besten von Gemüth und Herz gewiß nicht. Es ging ihm wie so vielen jungen Leuten, die nach einer traurigen Knabenzeit in das freie akademische Leben hinauskommen: er sprang mit beiden Füßen in das wilde Burschenleben, das damals die deutschen Universitäten charakterisirte. Und am tollsten war es gerade in Halle. Während im benachbarten Leipzig die Studenten sich bemühten, den eleganten Ton, das gespreizte Wesen nachzuahmen, das damals die Bewohner von „Klein-Paris“ auszeichnete, konnte man sich in Halle noch vollkommen in die Zeiten des Simplicissimus versetzt fühlen. Wild und ungebunden, aber auch ohne jede Genialität, so schildern verschiedene Zeitgenossen das Hallenser Studentenleben. Und der tollsten einer war R., er, der bisher stets einsam, in sich verschlossen gelebt, der nie einen Freund besessen, er sah jetzt in Jedem, der sich ihm näherte, einen Freund. So ward er in einen Kreis gezogen, wo durch Fleiß und Kenntnisse keine Ehre mehr zu erwerben war, wohl aber durch Rohheit, durch den Muth, nichts zu scheuen. Und R. war ehrgeizig genug, um auch hierbei der Erste sein zu wollen. Doch auch im wildesten Jubel und Trubel seiner Genossen fühlte er sich innerlich vereinsamt, die Nichtigkeit seines Treibens stand ihm vor Augen; er schildert uns diesen Zustand in einem Briefe vom 8. November 1803: „Geschmack hatte ich eigentlich nie daran, aber es zerstreute mich und ließ mich nie zu mir selbst kommen, und das wünschte ich. Ich war stets allein; mein schlechteres Ich hatte stets Bekannte und Freunde im Uebermaß, aber der bessere Mensch in mir war verlassen. Eine heitere Stunde habe ich während dieser ganzen Zeit nie gehabt, ich war immer unter dem wüthendsten Haufen, um mich zu übertäuben, und alle meine Bekannten haben mich versichert, daß sie sich nicht erinnerten, mich jemals wahrhaft froh gesehen zu haben.“ So ging es das ganze erste Jahr fort, von Studien, Besuch der Collegien war natürlich keine Rede; aber während Andere in einem solchen Leben zu Grunde gehen, vermochte es R., sich bereits nach einem Jahre loszuringen. Er war sich eben stets über sich selbst, seinen Zustand im Klaren, wie aus dem oben mitgetheilten Briefe hervorgeht, und Selbsterkenntniß ist bereits der Anfang der Heilung. Allerdings trug eine heftige Leberentzündung, eine Folge des wüsten Lebens, viel dazu bei, ihn zur Besinnung zu bringen; und so wandte er sich wieder mit Fleiß den verlassenen Studien zu. Freilich kehrte jetzt auch der Hang zur Einsamkeit, der Haß gegen Menschen mit verdoppelter Schärfe zurück. R. hatte eben nur die abstoßendsten Seiten des Studentenlebens kennen gelernt, kein einziger edler Mensch hatte sich ihm freundschaftlich genähert, an dem er sich hätte aufrichten können. Im Gegentheil! Es blieb ihm nicht erspart, in seinen Bekannten, die er für Freunde gehalten, sich bitter getäuscht zu sehen: er hing mit ganzer Seele an einer Verbindung, die er selbst begründet; aber als man hier gegen ihn intriguirte, zog er sich verbittert zurück und seine Schöpfung zerfiel. „Diese Undankbarkeit, die man gegen mich sich zu schulden kommen ließ, gab meiner ohnehin schwachen Anhänglichkeit an Menschen meines Alters den letzten Stoß; – ich lebte jetzt eingezogener als je.“

Es gehörte eine stark entwickelte Willenskraft dazu, aus dieser verbitterten Stimmung sich herauszureißen und sich wieder einer gedeihlichen Thätigkeit zuzuwenden. Und hier bewährte sich die strenge Erziehung, die R. von seinem Vater [433] erhalten, und die eben darauf ausgegangen war, Gefühle durch den Verstand beherrschen zu können. R. hörte Dogmatik, Moral, römische Alterthümer, die französische Sprache lernte er autodidaktisch, indem er alle Schriften von Rousseau und Voltaire las und den ganzen Lafontaine aus dem Deutschen in das Französische übersetzte. Vor allem beschäftigte er sich indessen mit Geschichte, „denn sie ist eigentlich meine Welt, in der ich lebe“. Aber leider verhinderte ihn die Enge seiner Verhältnisse, wissenschaftlich weiter zu streben; leicht hätte er auf diesem Wege durch die Schärfe seines Verstandes und die Leichtigkeit seiner Auffassungsgabe sich einen ehrenvollen Platz in der deutschen Wissenschaft erringen können. Aber die traurige Lage seiner Familie, die angegriffene Gesundheit des Bruders, des Ernährers derselben, erforderten, daß Ernst nicht nur sich selbst erhalte, sondern daß er auch dem Bruder die Last erleichtere oder ganz abnehme. Was blieb ihm da übrig, als ebenfalls die unglückselige Laufbahn eines „Informators“ zu betreten, auf der schon so viele edle, aufstrebende Menschen verkümmert oder zu Grunde gegangen waren? Aber sein Bruder, die Enge der deutschen Verhältnisse wohl kennend, verlangte, daß er auch in Rußland sein Fortkommen suche; und all’ sein Lernen und Studiren sollte jetzt eine Vorbereitung hierzu sein. Die Hauptsache war das Französische, weil alle Unterrichtsstunden in dieser Sprache abgehalten werden mußten. So finden wir ihn bereits im November 1803 mit diesen Vorbereitungen zu seiner russischen Stellung in Liegnitz beschäftigt.

Eine Hauslehrerstelle in Groß-Wiersewitz, einem Gute in der Nähe von Liegnitz, die er im Frühjahre 1804 antrat, war für ihn der Anfang seiner pädagogischen Thätigkeit. Freilich blieb er nicht lange hier: bereits im Sommer desselben Jahres berief ihn der Bruder nach Rußland, und so verließ Ernst seine Heimath, um sich in Petersburg eine neue Existenz zu gründen. Er sollte hier anfänglich die Stelle seines Bruders in der Familie Nowossiltzoff einnehmen, aber diese drang darauf, daß Letzterer erst die Erziehung des zweiten seiner Eleven vollende. Ernst mußte sich daher einstweilen mit einer weniger vortheilhaften Stelle begnügen, die ihm indes Zeit gewährte, sich in Mathematik und in der französischen Sprache zu vervollkommnen. Jetzt waren die Brüder vereinigt, und Ernst hatte endlich das gefunden, was er Jahre hindurch zu seinem Unheil hatte entbehren müssen: einen vertrauten Umgang mit einem Freundesherzen, mit einem Menschen, zu dem er aufblicken, der ihm Lust am Leben, Freude an den Menschen wieder geben konnte. Freilich kam der mildernde Einfluß des Bruders jetzt in mancher Beziehung zu spät; Ernst zeigte bereits jenes schroffe Wesen, das ihn sein ganzes späteres Leben hindurch auszeichnete, und wie es bei einem Menschen, der seine Gedankenwelt stets verschlossen im eigenen, vereinsamten Herzen trägt, erklärlich ist. Und auch den Bruder störte die Rücksichtslosigkeit, mit der Ernst das einmal als gut erkannte aussprach und durchführte, während er andererseits an ihm hervorragende Fähigkeiten, leichte Fassungsgabe, reifen Verstand rühmt. Leider dauerte dies Zusammenleben der Brüder nur ein Jahr: Ernst gab seine Stellung in Petersburg auf und ging nach Moskau, von wo ihm vortheilhafte Anerbietungen gemacht worden waren. Indessen wurde er in seinen Hoffnungen betrogen: er übernahm eine Stelle bei einem reichen, aber ungebildeten Russen, der den größten Theil des Jahres auf einem Gute, 250 Werst hinter Moskau, zubrachte. Hier war seines Bleibens nicht lange; denn der biedere Hinterwäldler war jeglicher europäischen Bildung durchaus abhold, und so räumte R. freiwillig dieses Feld unfruchtbarer Thätigkeit.

Er kehrte wieder nach Petersburg zurück und trat nun Anfang des Jahres 1807 das Amt als Erzieher des jüngsten Sohnes im Hause der Generalin [434] Nowossiltzoff an. Sein Bruder verließ noch in demselben Jahre Petersburg und ging nach Liegnitz zurück, wo er 1809 Professor der Mathematik an der Ritterakademie wurde und als solcher 1819 starb. Ernst lebte nun mit Eifer und angestrengtem Fleiß seinen Pflichten als Lehrer und erwarb sich durch sein gerades, jedem äußeren Scheine abholdes Wesen zwar nicht die Liebe, so doch die Achtung seiner Umgebung. „Ich lebe hier völlig so, als ob ich Herr von diesem Gute wäre; ich genieße einer unumschränkten Freiheit; denn Alles im Hause, von der Frau bis zum letzten Bedienten, fürchtet mich, weil ich es mir von Anfang zum Gesetz gemacht, nie um ein Haar breit zu weichen in dem, was recht und vernünftig ist, und da ich zu stolz bin, um jemals unbescheiden zu sein, so gelten meine Befehle wie die Befehle der Frau, und Niemand hat es noch gewagt, mich zu fragen, warum ich dies oder jenes thue oder nicht thue. Es geht so weit, daß Madame, die sonst häufig des Abends auf Belvedere ging, jetzt keinen Fuß mehr dahin setzt, weil sie fürchtet, mich im Arbeiten zu stören.“ So schreibt N. am 8. August 1811 an seinen Bruder und scheint also mit seiner ruhigen Stellung zufrieden zu sein. Aber auch die alte Klage tritt wieder hervor: er fühlt sich nicht glücklich, es ist Niemand da, der ihn liebt, und dem er Liebe entgegenbringen kann, er steht unter Menschen dennoch einsam und verlassen. Da beginnt er, sich selbst eine Welt in seinem Inneren aufzubauen, eine Welt, die er liebt, die ihm Ersatz bietet für seine Einsamkeit, in der er leben und weben kann: er beginnt seine dichterische Thätigkeit. Die russische Geschichte hatte ihn zuerst angeregt, Gestalten, die ihn anzogen, dichterisch zu verkörpern, und so vollendete er im Sommer 1811 ein Trauerspiel, „Die Fürsten Chawansky“, später ein Lustspiel, „Die Matrone von Ephesus“. Freilich lagerten diese Stücke vor der Hand noch in seinem Schreibtisch, und nur der vertraute Bruder wußte darum. Er empfand eben jetzt noch eine reine Freude am Schaffen selbst, es war ja seine Welt, in die er sich aus seiner Verlassenheit flüchten konnte. Aber je mehr er später diese Welt nach seinen Anschauungen ausgestaltete, je mehr er sie dem Ideale, das ihm vorschwebte, zu nähern suchte, desto lebhafter empfand er das Verlangen, sie der Welt da draußen vorzuführen, mit der sie ja so sehr contrastirte.

Diese Beschäftigung mit den Musen regte ihn auch wieder zu wissenschaftlicher Thätigkeit an: er suchte seine Theologie hervor und versuchte sich als Prediger in der deutschen Gemeinde. Dies gelang über alles Erwarten; ja er erwarb sich binnen kurzem einen solchen Ruf als Kanzelredner, daß, als der deutsche Propst gestorben war, er sich um diese Stelle bewerben konnte. Zwar wurde ihm sein Mitbewerber, der Hofprediger des Prinzen von Oldenburg, Volborth, vorgezogen, aber sein Ruf war in der ganzen deutschen Colonie jetzt fest begründet. Dies kam ihm von nun an sehr zu statten: er verließ nämlich 1814, nachdem die Erziehung seines Zöglinges vollendet war, das Haus der Generalin und privatisirte als Lehrer für Sprachen und Geschichte. Er war als solcher in den weitesten Kreisen so bekannt und geschätzt, daß er 1816 an die Petersburger Universität als Ordinarius der philosophischen Facultät berufen und 1817 zum Professor der allgemeinen Weltgeschichte ernannt wurde. Fast schien es, als ob ihm nun ein dauerndes Glück blühen sollte: er, der bisher vereinsamt dagestanden, fand eine Gefährtin für das Leben; er verheirathete sich Anfang des Jahres 1816 mit Cäcilie v. Wildermeth, einer Erzieherin aus Biel in der Schweiz. Aber nur ein Jahr dauerte sein Glück; da traf ihn das Schicksal schwerer als je, seine Frau starb, ihn in der alten, düsteren Einsamkeit zurücklassend. Und wie schrecklich mußte ihm diese erscheinen, nachdem er ein Jahr lang das süßeste Glück genossen! Er war gebrochen an Leib und Seele. Auch als es den Bemühungen seines Bruders gelungen war, einen Verleger für seine [435] Dichtungen zu finden *), und Kotzebue das Bändchen günstig recensirte, vermochte dieser Erfolg nicht, ihm neue Lebensfreudigkeit einzuflößen. Er schreibt an den Bruder: „Soll ich Dir mein Glaubensbekenntniß vorlegen, so finde ich jetzt eine außerordentliche Gleichgiltigkeit gegen Lob und Tadel dieser Art in mir. Es gab eine Zeit, wo ich nichts Höheres, Wünschenswertheres auf Erden kannte, als einen ausgebreiteten litterarischen Ruf, wo dies das Ziel alles meines Strebens war. Das ist nun anders –.“ Es gehörte wirklich eine eiserne Charakterfestigkeit dazu, diesen Schicksalsschlag zu überstehen; zum Ueberfluß wurde R. noch genöthigt, seine Thätigkeit als Universitätslehrer, von der wir überhaupt sehr wenig wissen, aufzugeben. Die altrussische Partei, der die „Fremdlinge“ ein Dorn im Auge waren, begann Intriguen gegen die Deutschen ins Werk zu setzen. R. und andere in russischen Diensten stehende Deutsche wurden in eine Untersuchung gezogen: man verdächtigte sie wegen der Beziehungen, welche sie mit dem Vaterlande unterhielten. Und wenn auch die Untersuchung kein greifbares Resultat ergab, so war doch R. dadurch der Aufenthalt in Petersburg unleidlich geworden. Er erbat im Herbste 1822 die Erlaubniß zu einer Reise nach Italien und Deutschland, in die Heimath, nach der er sich Jahre lang so sehr gesehnt hatte. Den Winter verlebte er in Italien und ging im Frühjahr 1823 nach Deutschland zurück. Er war jetzt entschlossen, Rußland nicht wieder zu sehen, erbat und erhielt seine Entlassung aus russischen Diensten, in denen er Titel und Rang eines kaiserlichen Hofrathes geführt hatte, unter dem 18. August 1823.

R. hatte sich in Rußland so viel erworben, daß er in Deutschland unabhängig leben konnte; so strebte er denn nach keinem Amte mehr, sondern die Dichtkunst allein sollte der Zweck seines Daseins werden. Weimar, wo noch die Erinnerungen an die alte geistige Größe lebendig waren, zog ihn an; hier wollte er sich niederlassen. Aber R. und Goethe – das ging nicht. Schon die erste Begegnung beider zeigte die Unmöglichkeit: R. in seinem überaus großen Selbstgefühl vermochte es nicht, sich als Jünger dem Meister unterzuordnen, er wollte neben, nicht unter ihm leben. So trat er denn Goethen nicht als der aufstrebende Dichter – als solcher hätte er stets von dem Altmeister gerechte Würdigung erfahren – sondern als der Professor der Geschichte gegenüber und konnte sich nicht entschließen, seinen Docententon abzulegen. Dergleichen litt Goethe im persönlichen Umgange nur dann, wenn er Hoffnung hegte, selbst etwas Neues, Positives zu erfahren, belehrt zu werden. Aber R. konnte ihm nichts Anderes bieten, als was Goethe im Laufe seines überreichen Lebens selbst erprobt und errungen hatte. Daher trennten sich Beide kalt. Goethe behandelte R. naturgemäß nicht anders als jeden anderen Fremden, der von fernher gekommen war, eine „Anschauungsaudienz“ bei dem Herrn Geheimrath durchzumachen; R. aber hatte Beachtung seiner Persönlichkeit erwartet, und, da er sie nicht gefunden, gab er den Plan auf, sich in Weimar niederzulassen. Er wandte sich nach Berlin. Berlin war damals vielleicht der günstigste Boden für ein aufstrebendes Talent, welches versucht, sich Geltung zu verschaffen: das geistige Leben war so rege wie zur Zeit, da Lessing und Mendelssohn den Mittelpunkt desselben bildeten. Männer wie Chamisso, Hegel, Friedrich v. Raumer und andere waren jetzt tonangebend, nicht nur für die preußische Monarchie, sondern auch für die weitesten Theile Gesammt-Deutschlands. Ganz besonders aber durfte ein junger dramatischer Dichter von einiger Bedeutung auf anerkennende Förderung rechnen. Das königliche Hoftheater sollte im Norden Deutschlands dieselbe Stellung einnehmen, die das Burgtheater in Wien seit Jahrzehnten im Süden behauptete; aber da es keine so glänzende Vergangenheit, keine altbewährten Traditionen [436] aufzuweisen hatte wie das Burgtheater, so mußte es versuchen, das durch die Neueren zu werden, was dieses in der Glanzzeit deutscher Litteratur geworden war.

Hier trat nun R. ein, fremd, von Niemandem empfohlen, nur mit dem festen Willen ausgestattet, sich einen bedeutenden Wirkungskreis zu schaffen, und mit der Zuversicht begabt, dieses Ziel zu erreichen; und daß er es erreicht, das verdankt er zum großen Theile seiner offenen Geradheit, mit welcher er der Welt entgegentrat und wie sie im Vertrauen auf seine Kräfte in ihm wurzelte. Er reichte der Theaterintendanz sein Lustspiel „Laßt die Todten ruhen“, ein und sagte einfach: „Ich habe hier ein Stück, dessen Aufführung ich wünsche.“ Einer der anwesenden Herren nahm es ihm ab und sagte (es war Raupach’s eigene, sehr klare, aber überaus feine Handschrift): „Das ist sehr schlecht geschrieben.“ R. nahm sein Manuscript wieder und sagte: „Schlecht geschrieben ist es nicht, aber klein geschrieben.“ Damit ging er zur Thüre hinaus. Dieses Vorgehen imponirte; der Hofrath Esperstedt, der schon von R. gehört hatte, ging ihm nach, und durch seine Vermittelung wurde das Stück mit Beifall aufgeführt, ebenso das bald nachher vollendete Trauerspiel „Isidor und Olga“. Von nun an blieb R. in Berlin; die königliche Hofbühne wurde sein eigentlichstes Wirkungsfeld, für sie schuf er seine Dichtungen, hier wurden sie zuerst aufgeführt. Der Generalintendant Graf v. Redern war sein besonderer Gönner und blieb es auch, trotzdem Neid und Scheelsucht diese Verbindung vielfach zu verdächtigen suchten. R. war contractlich verpflichtet, jedes neue Stück zuerst dem Hoftheater einzureichen, aber dieses mußte auch jedes, selbst das mißlungenste, im Fluge hingeschleuderte Stück zur Aufführung bringen. Außerdem erhielt R. ein erhöhtes Honorar, das bei anderen Dichtern allerdings nur 20 Thaler pro Act betrug. Wie er so Jahre hindurch nicht nur die Berliner Hofbühne, sondern alle deutschen Theater zu beherrschen vermochte, soll weiter unten beleuchtet werden. Hier sei nur noch erwähnt, daß auch seine Dictatur über die Schauspieler eine unumschränkte war; doch wird erzählt, daß er bei aller Strenge und Schroffheit niemals die Gerechtigkeit aus den Augen ließ. Im Großen und Ganzen war somit sein Verhältniß zur königlichen Hofbühne ein angenehmes und ehrenvolles; mit unermüdlichem Fleiße sorgte er für das „tägliche Brod der Bühne“, wie Goethe einmal sagt. Als aber sein Gönner, der Graf v. Redern, im Jahre 1842 sein Amt als Generalintendant niederlegte, achtete auch er seine Zeit gekommen, um sich von der königlichen Bühne zurückzuziehen, für seine fast zwei Decennien umfassende Thätigkeit reich belohnt durch viele Gnadenbezeugungen des Königs, der ihm auch einen jährlichen Ehrensold bewilligte.

Von nun an lebte er wieder fern vom öffentlichen Leben in stiller Zurückgezogenheit und widmete sich mehr allgemein-wissenschaftlichen Studien. Nur dem Kreise von Männern, welche damals den Kernpunkt des schöngeistigen Berliner Lebens bildeten und die R. bald nach seinem ersten Auftreten in ihre Mitte gezogen hatten, blieb er treu. Es war die „Litteraria“, deren fast niemals fehlendes Mitglied R. war und bis zu seinem Tode blieb. Hier verkehrte Alles, was nur irgendwie Anspruch auf Beachtung in wissenschaftlichen oder künstlerischen Kreisen machte. Und die bedeutendsten unter den Mitgliedern dieser Gesellschaft waren auch Raupach’s Freunde. So pflegte vor Allem Hegel mit ihm vertrauten Umgang; der große Philosoph wirkte besonders in der späteren Zeit sehr lebhaft auf R., und wir werden bei Besprechung der Werke Raupach’s manche der ästhetischen Anschauungen Hegel’s in den Dramen seines Freundes verkörpert finden. Auch in der „Litteraria“ blieben Beide verbunden in der Bekämpfung Tieck’s und seiner Bestrebungen. War auch R. niemals in persönliche Beziehungen zu Tieck getreten, so konnte ihm doch nicht verborgen [437] geblieben sein, wie vernichtend dieser sich über einige Raupach’sche Stücke, so besonders über „Isidor und Olga“ ausgesprochen hatte; bei aller Anerkennung des Verdienstlichen in der Bühnenthätigkeit Raupach’s war Tieck doch unerschöpflich in Schmähungen auf die Zumuthung, sich an der Darstellung solcher Zustände, wie sie in diesem Stücke geschildert werden, ergötzen zu sollen. Dazu kam nun noch die Feindschaft zwischen Hegel und Tieck; von vornherein war zwischen diesen beiden Männern eine innere Annäherung und Ausgleichung unmöglich, und auch eine persönliche Begegnung Beider verschärfte nur die Gegensätze. Tieck konnte sich niemals mit der Strenge und scharfen Dialektik Hegel’s befreunden, und diesem lag eine den Alten verwandte Kunstanschauung näher als das Gefühlsleben der Romantiker. Alles dies wirkte zusammen, um R. in Gegensatz zu Tieck zu bringen, ein Gegensatz, der sich merkwürdiger Weise niemals nach Außen hin Luft machte, wie man es doch bei Raupach’s Natur erwarten sollte. Aber von einem öffentlichen polemischen Auftreten gegen Tieck mag ihn wohl die innige Freundschaft abgehalten haben, welche ihn mit Friedrich v. Raumer verband, dem begeisterten Freunde Tieck’s und Vertreter desselben in den Berliner Kreisen. Raumer war infolge seiner mannigfachen Bestrebungen zur Hebung der deutschen Bühne von dem Generalintendanten Graf Redern in das Lesecomité, das über alle dem königlichen Theater eingereichten neuen Stücke zu entscheiden hatte, berufen worden; und hier näherte er sich R. Es entspann sich zwischen Beiden ein reger Verkehr, welcher durch die Gleichheit mancher politischen und künstlerischen Anschauung Nahrung empfing. Besonders wurde Raumer durch diejenigen Stücke Raupach’s angezogen, welche auf der Grundlage seines Geschichtswerkes die Schicksale der Hohenstaufen dramatisch behandelten; er betrachtete diese historischen Dramen nicht wie Tieck lediglich vom streng kritischen Standpunkte aus, sondern erkannte ihnen in nationaler Beziehung weittragende Bedeutung zu, in welchem Sinne er sie auch gegen Solger und Löbell vertheidigte.

Neben Hegel und Raumer sind nun noch Adalbert v. Chamisso und der Schauspieler Pius Alexander Wolff als dem Freundeskreise Raupach’s angehörig zu betrachten; besonders war das Verhältniß zu Wolff ein recht inniges und herzliches, das nur zu früh durch den Tod Wolff’s im J. 1828 gelöst wurde. Aus dem ferneren Leben Raupach’s ist nur noch ein Punkt besonders hervorzuheben: das Verhältniß des Dichters zur Bewegung des Jahres 1848. R. hat zu seinen Lebzeiten und bald nach seinem Tode wegen seiner politischen Gesinnungen so viele Angriffe erfahren, daß hier nothwendigerweise eine genaue Darstellung seiner Anschauungen gegeben werden muß. R. war ein Mann einer vergangenen Zeit, mit allen Fasern seines Wesens wurzelte er in früheren Jahrzehnten: und was sein Geist einmal für gut erkannt, das hielt er für alle Zeiten fest, mochte auch Alles um ihn her vorwärts stürmen. So war ihm auch von früher Jugend auf ein Abscheu vor jeder eigenmächtigen Empörung der Völker eingeprägt worden; der lange Aufenthalt in Rußland, die Sympathien, welche er mit den dortigen Zuständen hegte, hatten seinen Glauben an das souverän bestehende Recht des Königs, an den Absolutismus, als die allein wahre Regierungsform, nur noch mehr entwickelt. So stand er denn allen liberalen Bestrebungen fremd, ja feindlich gegenüber und konnte und wollte niemals an eine Besserung der Volkszustände aus dem Willen des Volkes heraus glauben. „Gedankenfreiheit und Gleichheit vor dem Gesetze, das sind die beiden Güter, welche das Volk mit Recht von seinen Fürsten verlangen kann“, sagte er einst zu dem Schauspieler Genast, „was darüber hinausgeht, sprengt die Schranken der ewigen Ordnung.“ Noch schroffer tritt er in den meisten seiner späteren historischen Dramen den Forderungen der Menge entgegen:

[438] „Die Freiheit ist’s, die Sklavenketten schmiedet,
Weit mehr als Tyrannei ihr Glück ermüdet“

heißt es in Friedrich II., 3. Theil; und der große Monolog Cromwells verficht denselben Gedanken von dem Mißbrauche, der mit dem Schlagworte Freiheit getrieben wird. Ja das Drama Mirabeau, welches dem Jahre 1849 entstammt, ist vollständig dem politischen Kampfe gewidmet. Die Gegner blieben natürlich die Antwort nicht schuldig: man nannte ihn Fürstenknecht und verdächtigte ihn wegen der freundschaftlichen Beziehungen, welche ihn an den Berliner Hof und besonders an den Prinzen Wilhelm fesselten. Als er nun gar in einem politischen Flugblatte „die Aufgabe der jetzigen Kammern“ seine gegen alle constitutionellen Forderungen gerichteten Ansichten niederlegte, wandte sich die öffentliche Meinung vollkommen von ihm ab. Er war aber viel zu ehrlich, viel zu überzeugungstreu, als daß er um der Gunst des Volkes willen auch nur ein wenig nachgegeben hätte, und auf der anderen Seite verlangte man, daß vor Allem die deutschen Dichter berufen seien, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen, und so vereinsamte er immer mehr. Da brachte er einen Entschluß zur Reife, der ihn schon Jahre lang beschäftigt: er verheirathete sich mit der Schauspielerin Pauline Werner. Im Zusammenleben mit dieser Frau, welche bereits 18 Jahre hindurch ihm eine treue Freundin gewesen, in einer stillen Häuslichkeit, wollte er Ersatz finden für das, was er im öffentlichen Leben verloren. Aber nicht mehr lange sollte er das Glück dieser Ehe genießen: er starb plötzlich am 18. März 1852 nach nur zweitägigem Krankenlager.

Ueberblicken wir noch einmal das Leben dieses Mannes, welcher, aus armseligen Verhältnissen hervorgehend, durch eigene Kraft und festen Willen sich einen weiten Wirkungskreis und berühmten Namen schuf, um schließlich noch bei seinen Lebzeiten der Vergessenheit anheimzufallen, so müssen wir sagen, er war ein Charakter; freilich ein Charakter voll rauher, abstoßender Züge, wie sie die Folge einer jede Herzensregung unterdrückenden Erziehung waren, aber gestählt und hart geworden im Kampfe mit dem Schicksal. R. hatte es mit wenig Ausnahmen niemals vermocht, sich Liebe und Zuneigung zu erwerben; man achtete, ja man fürchtete ihn, aber warme, entgegenkommende Liebe und Freundschaft erweckte er nur selten. Dazu hatte sein Aeußeres eben nichts Anziehendes: Eduard Genast schildert ihn als eine hagere, knochige Gestalt mit ehernem Gesicht, in dem kein freundlicher Zug zu erblicken, mit Augen, welche ungleichfarbig nach verschiedenen Richtungen hinblickten, kurz, er war ein Mann, der beim ersten Anblick durchaus keine Sympathien erweckte. Trat man dann aber in näheren, freundschaftlicheren Verkehr zu ihm, lernte man seinen Geist und Scharfsinn, seine oft bezaubernde Liebenswürdigkeit kennen, so konnte man kaum einen anziehenderen Gesellschafter finden. Wenn dagegen Jemand das Unglück hatte, ihm von vornherein aus irgend einem Grunde zu mißfallen, so zeigte er sich als das wahre Urbild seines „Till“; dann fand er seine Freude darin, durch schroffe, geradezu impertinente Zurechtweisungen sein Gegenüber in Verlegenheit zu bringen, überhaupt den Geist zu spielen, der stets verneint, wobei ihm seine außerordentlich entwickelte Dialektik vortrefflich zu statten kam. Aber alle Züge von Schroffheit, Sarkasmus, Bitterkeit und Menschenverachtung bildeten doch nur die äußere, rauhe Schale, unter der ein warm fühlendes, nur Liebe begehrendes Herz schlug; und diese abstoßenden, verletzenden Züge, sie verschwanden neben seiner strengen Wahrheitsliebe, seiner Fülle von Kenntnissen, seiner edlen und ehrlichen Gesinnung. Daher starb er auch, von der großen Menge, die nur nach Aeußerlichkeiten urtheilt, bereits vergessen, von wenigen wahren Freunden aber tief und aufrichtig auch als Mensch betrauert. – – –

Es wird auf den ersten Blick befremden, daß wir sagen: R. starb in Vergessenheit; [439] denn wie wenige Jahre trennen das Jahr seines Todes 1852 von den Zeiten, da er den Höhepunkt seines Ruhmes erreicht hatte, da die deutschen Bühnen nur Einen Dichter, R., zu kennen schienen! Und doch ist es so: Man lese den Nachruf, welchen Ludwig Rellstab in der „Allgemeinen Zeitung“ seinem langjährigen Freunde widmete: „Welch’ tiefern Eindruck hätte Raupach’s Tod gemacht, wenn der Trauerfall vor 10 oder 12 Jahren eingetreten wäre! Seit so langer Zeit ungefähr kann man den scharf denkenden, kritisch sichtenden Dichter als von seiner Thätigkeit für die Bühne zurückgetreten betrachten. – Wer sich aber einmal aus der regsamen Thätigkeit des Theaterlebens herausbegibt, wer in diesem wetteifernden Jagen nach Erfolgen, in diesem Kampf der Intriguen nicht selbst für sich sorgt, der ist schnell verabsäumt, bald vergessen.“ Und sehen wir, wie bald alle deutschen Bühnen die Dichtungen Raupach’s, welche nur wenige Jahr vorher das gesammte Repertoire beherrscht hatten, fallen ließen, wie z. B. am Berliner Hoftheater 1861 nur mehr an zwei, 1864 an vier Abenden Stücke unseres Dichters aufgeführt wurden, so finden wir Rellstab’s Urtheil nur bestätigt. Und heute ist Raupach’s Andenken vollkommen verschollen und verklungen, heute kennt man seine Dichtungen kaum mehr dem Namen nach, und wo man noch von ihm und seinem Streben spricht, da werden allein übertrieben scharfe, einseitig nur die Fehler heraushebende Urtheile laut. Der Historiker aber, welcher ein Bild unseres Jahrhunderts entwerfen will, muß unbekümmert um Urtheil und veränderten Geschmack der Menge, auch der Persönlichkeit, welche zwei Jahrzehnte hindurch die deutsche Bühne zu beherrschen vermochte, die ihr gebührende Stellung in der Entwickelung unserer Litteratur anweisen.

Man hat die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts wiederholt mit dem Alexandrinischen Zeitalter in Vergleichung gebracht, als eine Zeit, der jede schöpferische Kraft fehlte, die man einzig und allein mit der Verarbeitung gegebener, allerdings sehr nachhaltiger Aufgaben beschäftigt hielt. Und in der That, das Neue und Große, welches die Revolutionszeit der deutschen Litteratur gebracht, mußte noch auf lange Zeit hinaus der gesammten Geistesentwickelung Deutschlands die bestimmende Richtung geben. Aber trotzdem kann nicht behauptet werden, daß die dramatische Poesie Deutschlands, als Ein geistiges Princip gefaßt, in der Periode, da Goethe und Schiller die Höhe ihrer künstlerischen Thätigkeit erreicht hatten, sich erschöpft, daß sie eine solche Verkörperung gefunden, daß jede weitere Entwickelung entweder in den Grenzen bloßer Nachahmung, wie die Dichtungen Theodor Körner’s, hätte stehen bleiben, oder aus den Grenzen der Kunst überhaupt abirren müssen. Vielmehr reißen sich jetzt die in jener Periode vereinigten Momente von einander los und streben einer einseitigen Ausbildung zu, selbst vor den äußersten Folgerungen nicht zurückschreckend, indem bald der gemeine, nüchterne Verstand die Dichtkunst beherrscht, bald eine übermäßige Genialität alle Schranken durchbricht. Zunächst erhebt sich eine Richtung, welche, auf Diderot’s Princip begründet, das Streben nach unmittelbarer Naturwahrheit zu ihrer Hauptaufgabe macht. Vertreter dieser Richtung sind: noch im vorigen Jahrhundert Iffland, mit Anfang des unserigen Kotzebue. Freilich setzt Iffland ein Element hinzu, das den Franzosen vollkommen fremd ist, nämlich das moralische Ergebniß, welches aus jedem seiner Stücke gezogen werden kann. Und indem er nun diese moralische Tendenz nach und nach immer mehr ausbildet, wird ihm schließlich der Lehrzweck Hauptsache und ein wohlfeiles Ersatzmittel für die fehlenden künstlerischen Ideen. Konnte somit Iffland’s Muse in dem Lehrzweck immerhin noch ein Princip aufweisen, auf dem ihr Dasein beruht, so fehlt dieses vollkommen bei Kotzebue. Hier feiert allein die dramatische Form ihre Triumphe; denn sehen wir nach den behandelten Stoffen, nach den geschilderten Charakteren, fragen wir nach den etwaigen bewegenden [440] Ideen seiner Stücke, so gerathen wir sogleich in eine so bunte Mannigfaltigkeit, in ein solches Chaos von atomistischen Momenten hinein, die unter sich gar nichts gemein haben, daß man gezwungen wird, Alles auf ein formales Princip zurückzuführen, wonach viele seiner Fabeln nur dieser Situationen, dieser Collisionen, dieser Effecte willen erfunden sind. Dazu kommt nun noch, daß in Kotzebue’s Stücken der gesellschaftliche Indifferentismus, gemengt mit einer gewissen witzigen Frivolität, zur Herrschaft gelangt, so daß wir, im Hinblicke auf Iffland’s gutmüthige Pedanterie, in Kotzebue die ganze Richtung ihren letzten Entwickelungspunkt erreichen sehen. Es konnte nicht fehlen, daß diese eben besprochenen Tendenzen bald eine heftige Opposition hervorriefen: dem religiösen und moralischen Indifferentismus trat eine am Glanze des Mittelalters aufgezogene Mystik, dem gesellschaftlichen die Begeisterung der Freiheitskriege entgegen. Es ist bekannt, daß es das Verdienst der ersten Romantiker, Schlegel und Tieck, war, auch die Bühne frei gemacht, die dramatische Poesie von der nüchternen Prosa des gewöhnlichen Lebens gesäubert zu haben; und zwar wirkte Tieck vornehmlich zerstörend durch seine Comödien, Schlegel aufbauend durch die Uebersetzungen fremder Meisterwerke, der Engländer und Spanier. Beider Bestrebungen schufen nun bald eine Schule, freilich eine Schule, deren Gliedern es völlig an dem umfassenden Geist mangelte, der jene auszeichnete; vielmehr ist in Jedem irgend eine extreme Bestimmtheit ausgedrückt: so in Zacharias Werner die Mystik, in Müllner und Grillparzer eine mißverstandene antike Weltansicht, in Immermann eine sklavische Nachahmung von Shakespeare und Molière, bei Platen eine ebenso sklavische Nachahmung Aristophanischen Sinnes und Geistes. Diese innerliche Beschränkung verengt dann natürlich auch den darzustellenden Stoff zu entsprechender Bestimmtheit. Alle obengenannten Dichter zeigen aber gleichmäßig einen willkürlichen Subjectivismus in Auffassung und poetischer Durchführung, wie er aus der subjectiven Ironie entspringen mußte. Indem nun die beiden Richtungen, die Iffland-Kotzebue’sche einerseits, die romantisch-ironische andererseits sich gegenüberstehen, könnte man erwarten, nunmehr einen Dichter auftreten zu sehen, der die Gegensätze vermittelt, aus ihnen ihr wesentlich Gutes aufnimmt und dieses zu einer neuen Einheit herausgestaltet. Das trat nun nicht in vollem Maße ein, vielmehr erkannte ein scharf reflectirender Geist diese Nothwendigkeit und suchte die Aufgabe allein durch den Verstand zu lösen: es ist unser R.

Wir haben oben als Grundzug der Erziehung Raupach’s die einseitige Ausbildung einer strengen Verstandesthätigkeit erkannt; wie nun in dem starren Charakter des Mannes diese unglückselige Erziehungsart sich widerspiegelt, so tritt sie auch in seiner gesammten dichterischen Thätigkeit unverkennbar hervor: hier ist ein Mangel jeglicher Phantasie, ein Mangel eines reichen, überquellenden Dichterherzens, der uns immer und immer wieder zur Erkenntniß bringt, daß alle diese Dramen ihre Entstehung lediglich dem Zusammenwirken eines philosophisch streng geschulten Verstandes und einer großen Fertigkeit im Beherrschen der dramatischen Form verdanken. Die erste Nachricht, daß der Hofmeister im Hause der russischen Generalin auch dichterische Bestrebungen hege, gibt er selbst in einem Briefe an seinen Bruder Friedrich vom August 1811: „Vorigen Sonntag habe ich meine poetischen Arbeiten für dieses Sommerhalbjahr beendet. Sie bestehen in zwei dramatischen Gedichten. Das erste ist ein Trauerspiel in 5 Aufzügen, betitelt: Die Fürsten Chawansky – es ist das längste Stück, was ich bis jetzt geschrieben habe, denn es enthält 4000 Verse. Das zweite ist ein Lustspiel in 5 Aufzügen und in Versen, genannt: Die Matrone von Ephesus. – Dieses Stück ist viel kürzer als das vorige, es enthält nur ungefähr drittehalbtausend Verse.“ – Es ist bezeichnend für die Art und Weise, wie R. sein [441] Dichten als „Arbeit“ auffaßt, daß er dem Bruder von seinem Streben nicht viel mehr als die Anzahl der verfertigten Verse mitzutheilen weiß. Diese zwei Dramen neben den schon vorher vollendeten Timoleon und Lorenzo und Cecilia waren auch die ersten, die R. an die Oeffentlichkeit gelangen ließ: sie erschienen als „dramatische Dichtungen“ 1818 in Liegnitz. Nur wenig Gutes kann von diesen Erstlingsarbeiten berichtet werden: es sind eben noch vollkommen unselbständige Versuche, unselbständig in Form und Sprache; und wenn auch vielleicht ein reicheres inneres Leben in ihnen quillt als in vielen der späteren Stücke Raupach’s, so kranken sie doch durchgängig an einer zu allgemeinen Idealistik in der Haltung der Charaktere, wir sehen Schattenbilder vor uns, keine Menschen von Fleisch und Blut, und ebenso gehen auch die Verhältnisse der Handlung zum großen Theile über die Sphäre der Wirklichkeit hinaus. Freilich dieselben Vorwürfe muß man fast allen nichthistorischen Dramen Raupach’s machen, wie sie in größerer Anzahl am Beginne seines dichterischen Schaffens und auch vereinzelt während seiner reifsten Zeit entstanden. Nur die Form lernt R. gar bald in hohem Grade beherrschen: vor Allem zeichnen sich die Expositionen aller seiner Stücke durch knappe Gedrängtheit und Uebersichtlichkeit aus, niemals wird die Handlung mit Episoden überladen, der Dialog ist gewandt und sicher. Dagegen wird man nur in wenigen Dramen wirkliche Menschen finden, seine Charaktere haben alle etwas Schemenhaftes und dabei Allzugleichförmiges, nur zu deutlich sieht man die Dialektik und Sophisterei ihres Herrn und Meisters in ihr Fleisch und Blut übergegangen.

Diese nichthistorischen Dramen sind es auch, die zuerst auf der Bühne erschienen: im December 1821 wurde in Berlin „Die Erdennacht, dramatisches Gedicht in 5 Aufzügen“, erstmalig aufgeführt. Das Stück rief vielfach getheilte Ansichten hervor, doch allgemein erkannte man, daß es durch Gedankenreichthum die anderen Bühnenerzeugnisse der Zeit weit überrage. Dies ist auch wahr, aber leider erstickt der „Gedankenreichthum“ jegliches dramatische Leben; man merkt, das Drama entstammt keiner Dichterseele, es ist das Erzeugniß eines scharfen Verstandes, der dramatisch den Satz erörtern und lösen wollte, den Cicero, de officiis aufstellt: „Wenn der Vater nach tyrannischer Herrschaft strebt, so soll der Sohn das Vaterland dem Vater vorziehen und den Vater anklagen.“ Diese zu Grunde liegende Idee wird nun der ganzen Wucht ihrer Tragik dadurch entkleidet, daß man nicht verkennen kann, der Vater, Faledro, ist im vollen Rechte, wenn er die eingenistete Herrschaft des Adels stürzen und sich selbst zum unumschränkten Herrn des Staates machen will; Rinaldo, der Sohn, aber verwechselt den Begriff des Vaterlandes mit dem der Regierungsform. Hierdurch wird es dem Autor unmöglich, die That seines Helden, der dem Vater und sich selbst den Tod gibt, anders als durch Scheingründe zu motiviren, welche in endlosen moralisch-politischen Gesprächen entwickelt werden. Auch die beiden folgenden Stücke, „Die Gefesselten“ und „Die Königinnen“ in den Jahren 1820 und 1821 entstanden, sind in derselben Weise componirt wie „Die Erdennacht“: eine frei erfundene Fabel, welche die Lösung einer ethischen Grundfrage geben soll. R. ringt auch hier noch mit seiner Aufgabe: wiederum erfolgt die Lösung nicht aus den Charakteren selbst, sondern aus philosophischen Erörterungen, wobei die Handelnden etwa dieselbe Stellung einnehmen wie die Sprechenden in einem Ciceronianischen Dialoge. Auf einer in dramatischer Beziehung entschieden höheren Stufe steht das Drama in 5 Acten „Isidor und Olga oder die Leibeigenen“, welches im März 1825 zum ersten Male in Berlin aufgeführt wurde. Der Stoff ist aus dem russischen Leben gegriffen: all’ der Jammer, das Elend, welches die Leibeigenschaft in Rußland mit sich brachte, wird vorgeführt, die Charaktere sind lebensvoll und wahr gezeichnet, da der Dichter sie uns zeigt, [442] wie er sie in Rußland gesehen hat, nicht so falsch idealisirt wie in den früheren Stücken; dagegen darf nicht verkannt werden, daß R. hier, wenn auch mit großer Sicherheit, nach dem Aeußersten strebt, das für den Effect in der Tragödie gestattet sein dürfte: Motive und Benehmen sind unedel, die Situation übertrieben roh, und auf die ὴδονή, das heißt auf Schönheit, Vergnügen und Anmuth, wie sie Aristoteles (Poetik, XIV, 5, 11) neben der Reinigung der Leidenschaften verlangt, ist gar keine Rücksicht genommen. Dennoch fand das Stück viel Beifall und war Jahrelang auf allen Bühnen sehr beliebt. Mit den „Leibeigenen“ und dem in derselben Zeit entstandenen Schauspiele „Alanghu“ schließt die erste Periode in Raupach’s Entwicklungsgange; der Dichter wendet sich jetzt für eine Zeit von dem ernsten Drama, das ihm bisher zur Lösung ethischer und gesellschaftlicher Fragen gedient hatte, ab und erblickt die Hauptstärke seines Talentes im Lustspiele; erst später entstehen neben seinen reifsten historischen Dramen und seinen feinsten Lustspielen auch wieder einige Stücke nach Art der bisher besprochenen. Von ihnen nennen wir „Der Nibelungen Hort“, Tragödie in 5 Acten, zuerst aufgeführt im J. 1828, und „Die Schule des Lebens“, Schauspiel in 5 Aufzügen, aus dem Jahre 1835. „Der Nibelungen Hort“ führen wir mehr der Wahl des Stoffes als der Behandlung wegen an: Das Stück ist vielleicht die schwächste unter den vielen dramatischen Bearbeitungen der Sage, in seine fünf Arte ist die ganze Erzählung von Siegfried’s Kampfe mit Fafner bis zu dem Blutbade in Etzel’s Palaste zusammengedrängt; aber leider ist das Ganze mehr eine Art Inhaltsangabe aus dem Heldengedichte als ein Drama. R. hat einfach Zeichnung der Charaktere, Motive, Situationen dem Epos entnommen, ohne sie dramatisch neu zu beleben, er steht zu seiner Quelle etwa in demselben Verhältnisse wie in den „Hohenstaufen“ zu Raumer’s Geschichtswerke. Dadurch wird die Handlung eine Reihe von Ereignissen, die in einem gewissen Zusammenhange ohne innere Nothwendigkeit auf einander folgen. Bei weitem mehr Anerkennung und Beachtung verdient „Die Schule des Lebens“, zuerst aufgeführt zu Berlin im Mai 1835. Das Stück ist eigentlich kein Schauspiel, wie es R. benennt, steht auch nach Form, Inhalt und Ausführung durchaus außerhalb der übrigen „Schauspiele“ des Dichters; vielmehr könnte man es ein Lustspiel im Sinne der letzten comedies Shakespeare’s nennen. Der Stoff scheint einer älteren spanischen Novelle entnommen zu sein: Isaura, einzige Tochter und Erbin des Königs von Castilien, ein trotziges, launisches und herrschsüchtiges Mädchen, wird, nachdem sie aus Eigensinn selbst die trefflichsten Freier ausgeschlagen, eines Liebeshandels mit einem Edelknaben beschuldigt. Vom Vater verurtheilt, flieht sie und muß nun vom Schenkmädchen bis zur Bettlerin eine gewaltige und grausame Schule durchmachen, aus der sie aber geläutert als ein Engel des Lichtes hervorgeht. – Der Einheit der Handlung entsprechend ist der Charakter Isaura’s einheitlich gestaltet, voll wahren Lebens und nur wenig idealisirt, entwickelt er sich aus sich selbst. Auch die anderen wenig hervortretenden Personen zeigen dieselben Vorzüge, die wir bisher in Raupach’s Stücken nicht beobachten konnten. Die Sprache endlich ist bei R. etwas seltenes, edel, ohne hochtrabende Phrasen, anmuthig und sein ausgearbeitet; kurz, das Ganze kann als eine der gelungensten Schöpfungen Raupach’s bezeichnet werden, fand aber vielleicht gerade wegen seiner vielen Vorzüge bei Kritik und Publicum weniger Beachtung als die rohen, kunstlosen Possen. Nur am Schlusse wird der einheitlich-dramatische Eindruck, den die „Schule des Lebens“ macht, etwas gestört: wir erfahren nämlich, daß alle die Prüfungen, welche Isaura durchzumachen gehabt, von ihrem eigenen Vater veranstaltet gewesen, zu dem Zwecke, sie zu läutern. Diese Art und Weise, Personen, Charaktere und dadurch die Handlung gleichsam als Drahtpuppen von einem Menschen, der inmitten des [443] Stückes steht und Alles überschaut, Alles voraussieht, leiten zu lassen, ist eine Lieblingsidee Raupach’s, die er in seinen Lustspielen besonders herausbildet; ja diese Idee wird zum Princip, auf dem er seine Lustspiele aufbaut. Er construirt sich da einen lebenden Mittelpunkt, einen Mann ohne Leidenschaften, der mit satirischen Augen die ganze ihn umgebende Welt betrachtend und bespöttelnd, die Fäden der Handlung in seinen Händen hält. Am Anfange eines jeden Stückes erfahren wir, welche Schwierigkeiten sich den Hauptpersonen entgegenstellen, da tritt dieser deus ex machina hervor, zeigt uns, wie das Schicksal es machen müßte, um die wider einander streitenden Gegensätze und Interessen zu vereinigen, und erklärt sich schließlich bereit, die Rolle des Schicksals zu übernehmen. Er läßt nun vor unseren Augen die Leute nach seinem Plane mit einander und gegen einander spielen und löst dadurch die Schwierigkeiten. Er ist demnach das verkörperte Schicksal oder vielmehr ein Mensch, der mit dem Schicksale zu spielen vermag, er ist das Glied, welches die Schicksalstragödie Müllner’s und Grillparzer’s mit den indifferenten Schauspielen eines Kotzebue verbinden soll. Dort schleicht ein geheimnißvolles Schicksal hinter der Bühne, schwebt über den Handelnden und tritt in dem Ergebnisse des Stückes wieder hervor; hier steht uns das Fatum verkörpert gegenüber als ein Mensch, der mit den anderen Menschen sein Spiel treibt, sie dreht und wendet wie er will, um schließlich die streitenden Gegensätze zu vereinen. Dieses Spielen mit dem Schicksal, mit dem außerweltlichen, soll, wie Hegel in seinem Aufsatze über Raupach’ „Bekehrte“ ausführt (Hegel’s Werke, XVII, 414 ff.), das wahre Wesen, Natur und Aufgabe des Lustspiels sein. Beispiele hierzu sind fast alle Lustspiele und Possen Raupach’s.

Am 13. Juni 1825 erschien auf der Berliner Hofbühne als erstes Lustspiel Raupach’s „Laßt die Todten ruhen!“ Bereits dieses Stück beruht auf den oben gezeigten Principien, und ebenso tritt auch hier schon die Person auf, welche bestimmt ist, das Schicksal zu verkörpern, Till, der, wie seine Aufgabe immer dieselbe ist, auch in seinem Charakter stets unverändert erscheint, mag er nun als Bedienter oder als Steuerbeamter, als Chirurgus oder als Kaufmann auftreten. Er ist demnach ein Typus, und in ihm finden sich Züge von Eulenspiegel, Harlekin und – Raupach selbst. Was die übrigen vorkommenden Personen anbetrifft, so liegt es in der Natur der Auffassung, welche R. vom Lustspiele hegt, daß ihre Charakterisirung stets eine oberflächliche bleibt, es sind eben Puppen in der Hand Till’s. – Die Sprache, in der alle diese Lustspiele geschrieben sind, muß im Allgemeinen als roh, die Witze, welche den Dialog beleben sollen, als plump und gewöhnlich bezeichnet werden. Und dennoch fanden diese Producte der Raupach’schen Muse allgemeinen und ungetheilten Beifall, so daß immer neue Possen und Lustspiele entstanden; wir nennen als die beliebtesten: „Kritik und Antikritik“, Lustspiel in 4 Aufzügen, 1825; „Die Bekehrten“, Lustspiel, 1826; .,Die Schleichhändler“, 1828; „Die feindlichen Brüder“, Posse, 1829; „Der Zeitgeist“, Posse, 1830; „Denk’ an Cäsar“, Posse, 1833.

Die dritte und letzte Stufe in Raupach’s Entwicklungsgang wird gekennzeichnet durch seine historischen Dramen (histories), nämlich die Reihenfolge von Stücken, welche die Hohenstaufengeschichte behandeln, und die Cromwelltrilogie. Für unsere Betrachtung besonders wichtig sind die 15 Hohenstaufendramen. Sie wurden in den Jahren 1825–1832 geschaffen und verdanken ihre Entstehung einer eigenthümlichen Ansicht von Wesen und Zweck des vaterländischen historischen Dramas. Es ist kein rein künstlerischer Antrieb, dem die „Hohenstaufen“ entspringen, sondern R. will mit diesen Dramen ein nationales Bildungsmittel schaffen: die Bühne soll eine Lehrstätte für das Volk werden, das Lehrmittel die deutsche Geschichte sein. Von diesem Gesichtspunkte aus will R. seine geschichtlichen [444] Dramen beurtheilt wissen, wie er selbst in seiner Vorrede zu den „Hohenstaufen“ ausführt: „Das Theater hat, selbst wenn man es als eine bloße Gauklerbude handhabt, immer einen bedeutenden Einfluß auf den Geist des Volkes; es scheint mir daher wünschenswerth, ja der Vernunft wie der Klugheit angemessen, daß man es sogleich als eine Schule der Volksbildung betrachte und behandle. Dies aber würde unstreitig am sichersten erreicht, wenn man die Sagen und die Geschichte des Volkes zum Inhalt der dramatischen Erzeugnisse machte, denn immerdar bleibt unsere eigene Vergangenheit unsere beste Lehrerin, und die Vergangenheit eines Volkes ist seine Geschichte.“ Ja, ein echtes deutsches Nationaltheater sei erst dann möglich, wenn die deutsche Geschichte von Heinrich I. bis zum westfälischen Frieden in 70–80 Dramen auf der Bühne dargestellt würde. Was nun die Ausführung dieses Planes betrifft, so geht R. von dem Grundsatz aus, daß der Dichter die Geschichte, soll sie wirklich ihren Lehrzweck auf der Bühne erfüllen, in nichts verändern oder umgestalten, am allerwenigsten mit eigenen Erfindungen ausstatten dürfe. Die geschichtlichen Bühnendarstellungen sollen also ungefähr ebenso gestaltet sein, wie die biblischen im Mittelalter. Hiermit stellt sich R. in bewußten Gegensatz zur Lehre des Aristoteles, welcher mit Bezug auf das Drama sagt, der Dichter müsse sich des Gegebenen angemessen bedienen, aber auch erfinden (εὺρίσχειν, Poetik, XIV, 11). Und im neunten Capitel der Poetik, welches das Verhältniß der Dichtkunst zur Geschichte behandelt, heißt es: nicht die Darstellung dessen, was geschah, ist die Aufgabe des Dichters, sondern dessen, wie es hätte geschehen können; d. h. der Dichter soll sich nicht bloß auf das wirklich Geschehene beschränken, sondern er soll erdichten, erschaffen. Hiergegen wendet sich R. mit dem einseitigen Lehrzweck, den er seinen Dramen gibt, indem er behauptet, die Geschichte überwiege durch die Kraft der Wahrheit ihres Inhaltes alle dichterischen Erfindungen, sie sei eben deshalb lehrreich und philosophisch. Daher läßt er in den meisten der Hohenstaufendramen das ästhetische Moment vollkommen bei Seite und gibt uns eigentlich nichts mehr als eine Dialogisirung seiner Quelle. Dazu kommt nun noch, daß diese Quelle nicht etwa eine Chronik aus der geschilderten Zeit selbst ist wie bei Shakespeare, sondern eine moderne Darstellung, die Geschichte der Hohenstaufen von Friedrich v. Raumer. Die „Hohenstaufen“ beginnen mit Friedrich Barbarossa; der Dichter führt uns in 4 Dramen die Hauptabschnitte aus dem Leben und Wirken des großen Kaisers vor: Friedrich und Mailand, Friedrich und Alexander, Friedrich und Heinrich der Löwe, Friedrich’s Abschied. Die Figur des Kaisers steht zwar stets in der Mitte der Handlung, aber trotzdem können wir nicht zu einem concentrirten und klaren Bilde von seinem Charakter kommen. Mit voller Umständlichkeit sehen wir die Verhandlungen mit dem Lombardenbunde, mit dem Papste, mit Heinrich dem Löwen sich abspielen, der Kampf mit Mailand, mit dem Sachsenherzoge zieht vor uns vorüber, aus allen Bedrängnissen geht der Kaiser siegreich hervor, aber vergeblich suchen wir rein menschliche Züge als Gegengewicht gegen die einseitige Hervorhebung des Staatsmannes und Kriegers. Am schwächsten, weil am wenigsten Handlung enthaltend, ist der zweite und vierte, besser der dritte Theil, welcher das Hinausgreifen eines gewaltigen Menschen über seine Bahn, endlich sein Unterliegen unter das Schicksal zeigt. Die folgenden zwei Stücke, welche der Geschichte Kaiser Heinrich’s VI. gewidmet sind, können auch in künstlerischer Beziehung viel mehr Beachtung beanspruchen als die vorhergehenden. Sie sind vor Allem einheitlicher gestaltet, ein Held, Heinrich selbst, der trotz aller seiner Schwächen unser Interesse für seine Pläne, unser Mitgefühl mit seinem Schicksale rege erhält, trägt die Handlung. Besonders der zweite Theil, Heinrich’s Tod, ist eine vortreffliche, abgerundete und in ihren Theilen wie in ihrem Schlusse ergreifende Tragödie, in [445] der Schuld und Sühne im rechten Verhältnisse zu einander stehen. Freilich erlaubt sich R. hier doch eine Abweichung von dem historisch Feststehenden, indem er Heinrich an Gift, das ihm mit Wissen Constanze’s gereicht wird, sterben läßt. Auch das folgende Stück, König Philipp, wirkt durch seine reich bewegte Handlung, mehr noch durch das traurige Geschick des edlen Königs anziehend. Dann kommen aber 5 Dramen, welche die Geschichte Friedrich’s II. behandeln, die kaum als dramatische Gebilde bezeichnet werden können. In breiter Einförmigkeit fließt Act auf Act dahin, und der Mangel an Handlung wird weder durch treffende Charakterzeichnungen noch durch inhaltsreiche Dialoge ersetzt. Was sollte nun bei dieser Art der Ausführung auf die Zuschauer belehrend wirken? War ja die Macht des Stoffes infolge der Ueberladung mit zwar historischen, aber für die dramatische Entwicklung hemmenden Einzelheiten erstickt und gebrochen. In der That vermochten die „Hohenstaufen“ niemals festen Boden in weiteren Kreisen zu fassen; man bewunderte den Fleiß und den Muth des Autors, der so gewaltige Stoffmassen beherrschte, indessen der Lehrzweck war verfehlt.

R. hat auf der mit den „Hohenstaufen“ beschrittenen Bahn keine Schüler und Nachfolger gefunden, wie er selbst geglaubt hatte. Ein reicher, poetischer Geist hätte vielleicht den Trugschluß, auf dem sich diese neue historische Tragödie aufbaute, überwinden können; aber Poesie, das ist es gerade, was R. fehlt: er ist kein Dichter. Keines seiner Werke ist den Eingebungen der Phantasie entsprungen, bei keinem fühlt man Herz und Gemüth des Dichters. Sie alle, Lustspiele, Dramen, Tragödien sind viel mehr Combinationen eines scharf denkenden Verstandes als Dichtungen. R. ist ein geschickter Arbeiter, dessen Gebilde zwar gut geformt sind, die aber doch nur Formen bleiben, da ihnen ihr Meister den göttlichen, belebenden Odem der Poesie nicht einhauchen konnte.

Pauline Raupach, E. B. S. Raupach 1854. – Nekrolog, 1852, Nr. 63. – Eduard Genast, Aus dem Tagebuche eines alten Schauspielers, III, 21–51. – Karl von Holtei, Charpie, I, 124. – Morgenblatt, 11. April 1852. – Allgemeine Zeitung, 26. März und 28. März 1852.

[435] *) Dramatische Dichtungen von Ernst Raupach, Liegnitz.