Blind und vergessen

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Autor: H. P.
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Titel: Blind und vergessen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 21, S. 335–336
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Ein Besuch in Görz bei W. v. Marsano
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Blind und vergessen.

Wo im österreichischen Küstenlande die blaugrünen Fluthen des Isonzo, aus dem engen, hohen Felsenbette tretend, plötzlich breit und mächtig in die Ebene strömen – liegt Görz, das „Paradies am Isonzo“, wenige Meilen von Aquileja entfernt, der altberühmten, nun zu einem elenden Flecken verdorbenen Patriarchenstadt.

Italisches Klima, italische Vegetation und die überaus gesunde Lage haben dem reizenden Görz den Namen „Oesterreichs Nizza“ eingebracht, und der berühmte Statistiker Baron Czörnig, der vor fünf Jahren hier Genesung fand, ist eben damit beschäftigt, das noch fast unbekannte und doch interessante Ländchen nach allen Richtungen zu beschreiben, um die Vorzüge desselben in den weitesten Kreisen bekannt zu machen.

Der ungemein milde Winter – den der Umstand am besten kennzeichnet, daß der Schnee, welcher wenige Stunden davon die Kuppen der Berge bedeckt, in dem lieblichen Thale selbst zu den fast unbekannten Erscheinungen gehört – führt alljährlich eine ziemliche Anzahl Fremder aus allen Theilen Oesterreichs, aber auch Engländer, Franzosen und Russen dorthin, die den Winter in Görz verleben. Die stetig fortschreitende deutsche Cultur hat auch diesem Städtchen, das theils von Italienern (Friauler), theils von Slaven (Slovenen) bewohnt ist, ihr „flammendes Siegel“ aufgedrückt, und deutscher Geist und deutsches Wesen machen sich bereits überall geltend. So haben sich hier namentlich aus Sachsen mehrere deutsche Familien niedergelassen, so bildete sich eine evangelische Gemeinde und erbaute ein ganz stattliches Bethaus. Daß dies mitten unter einer streng katholischen Bevölkerung möglich war, ist bezeichnend genug für die deutsche Willenskraft, umsomehr, als das kleine Görz der Sitz eines wichtigen Erzbisthums ist, dem die Bischöfe von Triest und andern Diöcesen unterstehen.

Wird also hier der Herbst von den letzten Ausläufern der Bora angezeigt, die wenige Stunden von der Stadt, an der Meeresküste, mit einer Heftigkeit wüthet, von der man sich in Deutschland kaum einen Begriff machen kann – und in Triest beispielsweise so stürmisch ist, daß längs der Häuser und Straßenübergänge Taue gespannt werden müssen, um die Passage zu ermöglichen – so treffen nach und nach die Wintergäste, eingehüllt in Shawls, Mäntel und Pelze, in Görz ein, um, kaum angekommen, diese wegzuwerfen und sich in leichtester Gewandung des überaus milden Klima’s zu erfreuen. Da geschieht es denn nicht selten, daß manche Berühmtheiten sich in Görz von der Last ihres Ruhmes erholen und mancher Unsterbliche seinen sterblichen Leib spazieren führt, im Hoff’schen Malzextract die Lethe suchend, aus der er „alles Weh’s Vergessen trinkt“ – wie der slovenische Dichter Presérn sagt, der einzige Dichter übrigens, welchen die Slovenen besitzen.

So ließ sich dort vor einigen Jahren ein Jünger Apollo’s nieder, der vornehmlich bis zum Jahre 1848 zu den gefeiertsten Dichtern Oesterreichs gehörte. Aber das Sturmjahr traf ihn, den k. k. Officier von anno Windischgrätz, wie etwas Niegeahntes, wie ein großes Unglück, von dem er sich nie wieder erholte, das ihn mit seinen Collegen auf dem Parnaß des Vormärz in Conflict brachte, so daß er sich von der Welt, in die er nicht mehr zu passen glaubte, grollend zurückzog.

Wir sprechen von Wilhelm Marsano, dem einst so beliebten Lustspieldichter, Novellisten und Lyriker, dessen „Helden“ – „Brautschau“ – „Spessart“ – „Fortschritt“ – u. s. w. den Weg über alle deutsche Bühnen machten und sich durch vierzig Jahre behaupteten, dessen „Brautschau“ erst vor Kurzem in Berlin neu in Scene gesetzt und mit außerordentlichem Erfolge aufgeführt wurde; – und der jetzt, vergessen von einem Geschlecht, das er und das ihn nicht mehr versteht, als k. k. österreichischer Feldmarschalllieutenant in Pension in Görz seinen Sitz aufgeschlagen hat. Aber geschlossen ist das einst so feurige Auge, gelähmt sind die kräftigen Glieder, die imposante Goethe’sche Gestalt ist gebrochen, und der in seiner Jugend der „Alcibiades von Prag“ genannt wurde, ist nun ein blinder, lahmer, zweiundsiebenzigjähriger Greis.

Carl von Holtei hat vor einiger Zeit in Hackländer’sUeber Land und Meer“ einen Roman („Eine alte Jungfrau“) veröffentlicht, in dem er mit wenigen Worten jener Episode aus dem Leben Marsano’s erwähnt, die wie ein Maienmorgen in den Frühling seines Lebens leuchtete, sein Verhältniß zur berühmten Henriette Sontag. Marsano war damals ein blutjunger Lieutenant und Henriette ein sechszehnjähriges Mädchen, das noch in Prag die Gesangsschule besuchte. Ein zartes Verhältniß umschlang die beiden bedeutenden Geister, es war wie der Blüthentraum zweier Blumen, die im Maienlichte die Kelche gegen einander neigen, um dann abgesondert in goldenen Vasen zu duften und zu prangen, bewundert und erfreuend – und endlich verwelken und sterben, fern und einsam.

Wilhelm Marsano ist am 30. April 1797 zu Prag geboren und gehört seit dem Jahre 1813, wo er als „noch ganz grüner Officier“ den französischen Feldzug mitmachte, der österreichischen Armee an. Doch wir wollen keine trockene Biographie schreiben und verweisen auf das biographische Lexikon von Constantin Wurzbach; wir haben es jetzt mit dem greisen Dichter zu thun, dem, einem zweiten Milton, das Licht der Augen ein „verlorenes Paradies“ geworden.

Wenn man in Görz, über die Piazetta schreitend, die Straße gegen den Isonzo einschlägt, so gelangt man zu zwei Villen, die mit der Front nach dem ebenen blühenden Garten des Görzerlandes hinaussehen und deren Rückseite sich dem kahlen Felsgestein des Monte santo (heiliger Berg) zuwendet, dessen Gipfel die berühmte Wallfahrtskirche krönt. Die zweite dieser Villen bewohnt Marsano mit seiner liebenswürdigen Familie.

Die originelle Lebensweise des blinden Dichters hat ihm in der ganzen Umgebung den Ruf eines Sonderlings verschafft. Um fünf Uhr Nachmittags verläßt er sein Lager und frühstückt, um neun Uhr Abends speist er zu Mittag, um Mitternacht nimmt er den Thee und Morgens vier Uhr geht er zu Bette, um dasselbe wieder Abends um fünf Uhr zu verlassen. Seine Empfangsstunden sind von sechs bis zehn Uhr Abends. Während dieser Zeit ist sein Salon der Sammelplatz aller interessanten Fremden und aller auf irgend eine Bedeutung Anspruch machenden Görzer.

[336] Marsano ist ein schöner Greis, von hoher, imponirender Gestalt. Das volle, schneeweiße Haar, die breite, gedankenreiche Stirn, die energische Nase, der ganze geistige Ausdruck seines bedeutenden Gesichtes üben auf den Besucher einen mächtigen Eindruck, und wenn der Dichter in seinem Lehnstuhle ruht, eingehüllt in seinen Shawl, der ihn wie eine Toga umfließt, nur halb beleuchtet von dem durch grüne Schirme gedämpften Licht der Lampe, bietet er ein Bild, das traumhaft auf die Seele des Beschauers wirkt, wie ein Lied aus alten verklungenen Tagen.

Kaum giebt es eine Berühmtheit, zumal in Oesterreich und Italien, mit der er nicht in reger Verbindung gestanden hätte. Namentlich in Italien wirkte er nachhaltig für die Kunst. Als Erzherzog Rainer Vicekönig von Italien war und in Mailand residirte, war Marsano viele Jahre hindurch maßgebend für sämmtliche Mailänder Theater, arrangirte Ballets, daß die ältesten Balletmeister in Erstaunen geriethen, und war die competente Instanz für alle Inscenirungen. Die Opern Rossini’s, Donizetti’s, Bellini’s, Verdi’s etc. werden noch jetzt überall so gegeben, wie Marsano sie an der Scala in Mailand arrangirt, und alle Kunstcapacitäten fügten sich willig seinen Winken.

Er wohnte den Triumphen der Pasta bei, er sah das erste Auftreten der Malibran in jener „Norma“, die Bellini für die Pasta geschrieben und die Letztere kurz vor der Malibran gesungen, so daß Alles den Fiasco der Anfängerin mit Bestimmtheit erwartete. Marsano hatte gleich anfangs Vertrauen zu der damals noch so unbedeutenden, wenig versprechenden Sängerin. – Und wie sang sie die „Norma“, welch’ ein Jubel erschütterte die Scala!

Marsano fand die Ristori, als sie noch bei einer Gesellschaft von ärmlichen Possenreißern gaukelte, die nur lustige Farcen gaben, höchstens sich zu den Lustspielen Goldoni’s verstiegen. Er fand sie in tiefster Armuth mit Vater, Mutter und Geschwistern in einer schlechten, engen Kammer zusammengedrängt, und war der Erste, der auf das bedeutende Talent der jungen Schauspielerin aufmerksam machte und entgegen dem damaligen Gebrauche der Kritiker in Italien, die sich nur mit der Oper beschäftigten, auch auf die Leistungen der Ristori hinwies.

Die damals in Mailand erscheinende deutsche Zeitschrift „Das Echo“, deren Hauptmitarbeiter und zeitweiliger Redacteur Marsano war, brachte eine reiche Auswahl seiner Kritiken, Gedichte etc.

In Italien holte sich der Dichter auch seine Lebensgefährtin, ein Mädchen von blendender Schönheit, einer der angesehensten Adelsfamilien von Bologna angehörig. Diese seine Frau beschenkte ihn mit zwei Söhnen und zwei Töchtern, liebenswürdigen hochgebildeten Mädchen, die anmuthvoll im Hause des greisen Dichters walten und ihm die letzten Tage bis zu seinem Heimgange verklären.

So lebt Marsano in seinem Heim, umgeben von den Bildern berühmter Menschen, die er gekannt in den Tagen seiner Triumphe. Das verlorene Augenlicht hat den Dichter sehr weich gestimmt, und erschütternd wirkte es auf mich, als einst ein alter Bekannter zu Marsano kam und, nichts von seiner Blindheit wissend, den unbeweglichen Greis anrief: „Ja, kennst Du mich nicht mehr?“ Da brach der alte Sänger in Thränen aus, und schluchzend rief er: „Siehst Du denn nicht, Unglückseliger, daß ich blind bin?“ Bei dieser schwermüthigen, oft geradezu schwarzen Stimmung ist es erklärlich, daß Marsano keine tiefe, schwere Lectüre verträgt, sondern es besonders liebt, wenn man ihm Humoristisches oder Theaterskizzen vorliest, von denen namentlich die letzteren ihn an die schönste Zeit seiner Wirksamkeit erinnern. Nur Friedrich Hebbel’s „Nibelungen“ war er begierig kennen zu lernen, und ich las ihm dieselben vor.

Was aber an dem Greis bewunderungswürdig erscheint, das ist sein sonores, prächtiges Organ, um das ihn noch jetzt junge Schauspieler beneiden könnten, und an freundlichen, schmerzlosen Tagen sein umfassendes Gedächtniß. Zudem hat Marsano ein schauspielerisches Talent, welches ihn, würde er die theatralische Laufbahn erwählt haben, zu einem der bedeutendsten Mimen gemacht hätte.

Seit langer Zeit hat der kranke Dichter nichts geschrieben, aber seine Mappe birgt einen Schatz von frühlingswarmen Liedern, die er, als er sich noch des Augenlichts erfreute, auf dem Gute seiner Frau bei Bologna gedichtet. Er ist auch ein großer Freund der Musik und selbst musikalisch, in seinem Salon wird viel und meist gute Musik gemacht. Nur von Richard Wagner will er nichts hören und pflegt denselben härtnäckig einen „Wahnsinnigen“ zu nennen.

Kommt er jedoch auf seine Erlebnisse im Elsaß, seine theatralischen Verbindungen, seine Begegnung mit Ludwig Tieck und anderen Berühmtheiten, seine Abenteuer in Rom und Neapel, überhaupt sein Wirken in Italien zu sprechen, da möchte man stundenlang seinen Worten lauschen und – dabei lernen. Nicht selten springt er auch zur Gastronomie über, denn Marsano ist ein großer Gourmand, trotz seiner gichtischen Leiden, die oft so überhand nehmen, daß er sich wochenlang einsperrt und nur für ein paar vertraute Freunde sichtbar wird, zu denen zu zählen auch Schreiber dieses so glücklich ist.

Mögen diese Zeilen dazu beitragen, die Aufmerksamkeit wieder auf den blinden Dichter zu lenken, der, wie ein Geschichtsschreiber Oesterreichs sagt, „einer unverdienten Vergessenheit entgegen geht“! Möge kein Fremder von Bedeutung, der das reizende Görz berührt, versäumen, den Salon des liebenswürdigen Sängergreises zu besuchen, und möge es ihm dann gelingen, jene Saite dieses so reichen Herzens zu treffen, die einen Sonnenstrahl ehemaligen Glücks auf die edlen Züge zaubert und tausend Lieder erklingen macht, wie sie einst so viele Leser entzückt haben!

Triest, April. H. P.