Christliche Ethik auf lutherischer Grundlage/Die von Gott gesetzten Grundbeziehungen des Christen zu Gott, zu sich selbst, zu dem Nächsten (der Gemeinschaft)

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1.
Die von Gott gesetzten Grundbeziehungen des Christen zu Gott, zu sich selbst, zu dem Nächsten (der Gemeinschaft).


§ 47.
Allgemeines.
 Die Betrachtung tritt aus der zentralen Einheit des inneren Lebens heraus in die Mannigfaltigkeit der Lebensverhältnisse und in den Umkreis des Lebens. Es kommen die verschiedenen Objekte| in Betracht und werden maßgebend für die Betrachtung, denen der Christ bei seinem Verhalten gegenübersteht, Gott, die eigene Person, der Nächste (der Bruder, die Gemeinschaft). Die Lebensaufgabe bringt die Pflicht vor Augen, das Ideal, nach dem der Christ strebt, das Musterbild, welches zeigt, wie sie gelöst werden soll, aber auch – wenn die Leistungen betrachtet werden – so viel davon gelöst ist, das ist vorhandene Tugend, und da die nicht vollkommen ist, die Mängel, Untugenden und Laster. Dieser Spiegel dient zur Selbstprüfung und richtigen Selbstschätzung.


§ 48.
Das Verhältnis zu Gott.

 1. Die Tugend in ihrem richtigen Verhalten Gott gegenüber heißt Frömmigkeit, Gottseligkeit (εὐσέβεια), cf. § 45; sie ist Gottesgabe und Frucht eigener Übung, 1. Tim. 4, 7. 8. Sie hat etwas Einheitliches und Universelles. „Sie ist die Mutter aller Tugenden“ (Harleß) und „der Inbegriff aller Sittlichkeit“ (Wiesinger).

 2. Das Wesen der Frömmigkeit. Ihr Grund ist Religion, Wiedergeburt und Bekehrung, der rechtfertigende und erneuernde Glaube, also die Gnaden- und Liebesgemeinschaft mit Gott in Christo Jesu. Diese zu erhalten und sich immer tiefer in sie zu versenken, alle Lebensverhältnisse mit ihr zu durchdringen und dieselben auf sie zurückzuführen, ist ihr Ziel. Ihr Werk ist Erbauung und Förderung in Anbetracht der eigenen Person und des Nächsten, der Gemeinschaft, des Reiches Gottes, d. h. mit Erfolg verbundene Arbeit an der Vollendung des göttlichen Lebens in den einzelnen und am Ganzen. Das erbauende Element ist die Liebe.

 Der Christ ist, wie die Kirche, ein Tempel Gottes; der soll erbaut werden zu einer würdigen Wohnung Gottes; er ist aber auch ein Priester Gottes, der an seinem Tempel Mitarbeiten und Gott darinnen dienen soll. Die Frömmigkeit ist ihrem Wesen nach innerer Gottesdienst des Herzens, Andacht. Die Wesenserscheinungen der Frömmigkeit sind Lauterkeit und Einfalt (s. o.) im Gegensatz zum Schein (s. u.).

 3. Die äußere Erscheinungsform der Frömmigkeit ist:

 a. Die stetige und andächtige Übung des äußeren Gottesdienstes, des äußeren geformten Kultus, sei es

einsam im Kämmerlein mit Gebet, Betrachtung des Worts und seiner eigenen Seelenzustände, Aufopferung seiner selbst, oder
im öffentlichen Gottesdienst in der Gemeinschaft der Heiligen| (Hören des Worts, Gebet und Gesang, gemeinsame Anbetung beim Sakrament), oder
im häuslichen, diesem schwachen Abbild des öffentlichen.

 Es ist Pflicht und Tugend (und Förderungsmittel), zugleich alle Arten und Formen des äußeren Gottesdienstes mit allem Fleiß zu pflegen und mit dem Geist der Andacht zu durchdringen.

 Zum äußeren Gottesdienst rechnet man auch den Gottesdienst des Wandels, da man das ganze übrige Leben mit der Religion durchdringt, um einen Gottesdienst daraus zu machen, damit das Leben ein Ganzes, aus einem Stück sei. (Ist zugleich Bekenntnis, cf. unter b, sofern im Blick auf die Umgebung geschehend.)

 Des Christen Wandel soll ein priesterlicher sein, ein Gottesdienst.

 b. Das treue und deutliche Bekenntnis und Zeugnis vor andern Christen, vor der ganzen Welt von dem, „wes das Herz voll ist“ in Beziehung auf das göttliche Leben (Röm. 10, 10). Das Bekenntnis ist eine notwendige Lebensäußerung der Frömmigkeit und eine segensreiche und eine erbauende zugleich. Das Bekenntnis darf nicht unmotiviert sein; es muß eine innere oder äußere Veranlassung dazu da sein. Das Bekenntnis kann geschehen in Wort, Zeichen oder That. In der Übung dieser Pflicht des Bekenntnisses erscheint die Bekenntnistreue, wozu auch die konfessionelle gehört, soweit die Konfession der Wahrheit die Ehre gibt, oder, was dasselbe ist: Gott die Ehre gibt. In dem Bekenntnis zeugt eigentlich Gott selber aus dem Munde seiner Bekenner. Der rechte Zeugengeist hat auch zeugende Kraft, die Wahrheit auszubreiten und Gott unter den Menschen zu verherrlichen.

 Bekennen seinen Glauben muß der Christ in allen Formen, in Zeichen, Wort und That; das ist Frömmigkeit.

 Das Bekenntnis geschieht:

entweder im gewöhnlichen Leben durch das ganze Verhalten oder durch besondere Zeugnisse vor den Brüdern oder gegen die Feinde – der Christ ist der Welt gegenüber immer in statu confessionis i. e. protestationis –
oder in der Teilnahme am Gottesdienste und an den einzelnen gottesdienstlichen Handlungen (Konfiteor, Kredo, Hymnus, Predigt u. s. w., besonders am Sakrament des Altars, notae professionis.

 Die gottesdienstlichen Handlungen sind zugleich Bekenntnisakte (trennende und gemeinschaftsbildende).

|  Als besondere Formen des Bekenntnisses, die zugleich Gottesdienst sind, müssen genannt werden:
Das Martyrium, der Gipfel der Bekenntnistreue, nämlich bis zur Aufopferung des Lebens. Würdigung desselben. Erziehung dazu.
Der Eid. Äußerliche Veranlassung oder innerlicher Trieb, nötig bei der Verwirrung menschlicher Dinge, der Unwahrheit und Lüge gegenüber. Der Eid ist eine Pflicht, ein Recht, ein Gottesdienst, Hebr. 6, 16; Deut. 6, 13. Die Eidesverweigerung und -Verwerfung bei den Wiedertäufern und Mennoniten ist eine Verirrung.
Anhang: Das Gelübde, ein freiwilliger Gottesdienst, ein Opfer. Berechtigung dazu. Verschiedene Ansichten. Es steht in der Freiheit, aber es muß freiwillig, in möglichen Dingen und ohne Verdienst bei Gott zu suchen, geschehen. Zum Bekenntnis gehört es nur, wenn es vor anderer Ohren geschieht.


Exkurs über den Eid.
 In den Stellen Matth. 5, 33–37 und Jak. 5, 12 ein Verbot des Eides zu sehen, ist Buchstabendienst. So absolut auch das Gebot des HErrn lautet: „ich sage euch, daß ihr allerdinge nicht schwören sollt“, so wird es doch schon im Folgenden eingeschränkt; denn hier führt der HErr nur ungöttliche Eide, nämlich solche bei Kreaturen an; kein Verbot aber trifft den Eid bei Gott. Ferner handelt es sich ja in beiden Fällen nur um die Gesinnung, die die Kinder des Reiches Gottes beseelen und in ihrem Verkehr zum Ausdruck kommen soll, nicht um Ordnungen des Staatslebens, der natürlichen Menschengemeinschaft. Im Verhalten der Christen untereinander soll aber freilich solches Zutrauen herrschen, daß das einfache „Ja“ und „Nein“ genügt. Anders freilich ist es, wenn die christliche Gemeinschaft von ihrer Idee abgefallen ist, da genügt das einfache „Ja“ nicht mehr. Dies sehen wir ja auch bei der korinthischen Gemeinde, die, von ketzerischen Männern aufgewiegelt, den Apostel Paulus für unbeständig erklärte, da er sein Wort, sie zu besuchen, nicht gehalten habe. Da nimmt nun auch der Apostel zu einer schwurähnlichen Beteurung seine Zuflucht, 2. Kor. 1, 23; um sie zu überzeugen, daß er nur, um sie nicht strafen zu müssen, nicht gekommen sei. Ist nun aber aus den ersten beiden Stellen klar, daß es sich da nur um die christliche Gemeinschaft und das Verhalten in ihr handelt, so ist auch klar, daß durch sie die andern Stellen nicht aufgehoben werden können,| wo der Eid in der bürgerlichen Gesellschaft nicht nur als recht, sondern sogar als ein Gottesdienst bezeichnet wird; Deut. 6, 13; 10, 20. Wäre der Eid nach mennonitischer und anderer Anschauung nicht erlaubt, so wäre ja Gott wankelmütig, daß er das eine Mal etwas gebietet, das andere Mal aber verbietet. Schon dadurch richtet sich diese Anschauung. Übrigens schwört der HErr ja selbst, um den Glauben des zweifelnden Menschen zu stärken und fest zu machen, Hebr. 6, 17-18; Luk. 1, 73; vgl. auch Matth. 26, 63–64. Deshalb ist es ein irrendes Gewissen, wenn etliche die Eidesleistung verweigern.

 Der Eid ist aber eine heilige Sache, deshalb sollte der Eid nur bei wichtigeren Dingen abgenommen werden. Es gibt zweierlei Eid: den promissorischen – versprechenden – und den assertorischen – Zeugen-, Reinigungseid. Es ist aber nicht die Meinung, daß man sich durch einen versprechenden Eid unter allen Umständen unlöslich binde; dem ist nicht so, sondern sowie der Eid etwas wider Gottes Gebot verlangt, fällt er dahin und verliert seine bindende Kraft (zur Beruhigung ängstlicher Gewissen). Der Mensch setzt beim Eid seine ganze zeitliche und ewige Existenz ein, weshalb man die beim Landvolk herrschende Anschauung: „Gott verschworen, alles verloren“ nicht unvorsichtig bekämpfen darf, denn wiewohl noch Buße beim Meineid möglich ist, da Gott allein die Sünde wider den heiligen Geist als unvergebbar bezeichnet, so muß man doch auch sagen, daß der wissentliche Meineid schon auf dem Weg zur Sünde wider den heiligen Geist liegt und die Seligkeit ernstlich in Frage stellt, wie ja auch oft ein Meineidiger schnell von Gottes Gericht erreicht wird. Man darf jedoch auch nicht strenger als Gott sein und diese Sünde als unvergebbar hinstellen (cf. den falschen Eidschwur St. Petri Matth. 26, 74–75).

 4. Wie das Ebenbild Gottes in den genannten Punkten zur Erscheinung kommt oder, was dasselbe ist, die Frömmigkeit oder Gottseligkeit in allen ihren allgemeinen Formen (im innern und äußern Gottesdienste, in der Bekenntnistreue), wie in den besondern (im Martyrium, beim Eid, sogar auch beim Gelübde), sieht der Christ an dem vollkommenen Vorbilde Jesu Christi und seiner Zeugen. Das ganze innere und äußere Leben Jesu ist eine Darstellung lauterer und einfältiger Frömmigkeit, ein Versenktsein in die Liebesgemeinschaft mit seinem Vater, ein stetiger Gebetsumgang mit ihm, eine stetige Aufopferung seiner selbst bis zum Kreuze, ein priesterliches Thun und Walten, ein Gottesdienst; sein Ziel kein anderes als Gründung, Erbauung| und Förderung des Reiches Gottes. Auch im Fleiß der frommen Übungen und in der Teilnahme am öffentlichen Gottesdienst ist er vollkommenes Vorbild (seine Gebete, sein Fasten und seine Meditation, sein Besuch des Synagogengottesdienstes, des Tempels und der Feste). Vor allem aber leuchtet seine Bekenntnistreue und sein Zeugengeist (der treue Zeuge, Apok. 1, 5) in dem Selbstzeugnis vor dem willigen wie vor dem feindlichen Teil des Volks, sein Zeugeneid vor dem hohen Rat und das große Thatzeugnis, da er mit seinem Blut und mit seinem grausamen Tod die Wahrheit seiner Lehre zu Gottes Ehre bezeugte. Damit ist die Bahn gemacht für seine Nachfolger, die Bekenner und Blutzeugen, für einen Stephanus, Paulus etc. und die ganze Wolke von Zeugen (Hebr. 12; Apok. 7, 9).

 5. Die Mängel und Abwege in diesem Stück bis zur Verkehrung ins Gegenteil. Für den Christen ist die Gefahr vorhanden, statt das Wesen der Frömmigkeit, die Innigkeit der Andacht, die Lauterkeit und Einfalt anzustreben und festzuhalten, in ein Scheinwesen, in eine Scheinfrömmigkeit, Heuchelei und Aberglauben zu verfallen, so daß sein Gottesdienst Lippenwerk und seelenloses Plappern, sein Leben Gleißnerei und innere Lüge wird, was auf der höchsten Stufe Judasseelen gibt.

 Es kann Heuchelei entstehen infolge inneren Ungehorsams gegen die sittlichen Forderungen der Wahrheit (wie bei Verführern), aber auch unter dem Einfluß einer falschen Lehre, wie bei Pharisäern und Mönchen. Da kann einer meinen, die Form festhalten zu müssen, obwohl er an die Sache selber nicht mehr glaubt. In der weiteren Entwicklung wird sein Zustand aber eine schlimmere Gestalt annehmen.

 Auf der 1. Stufe der Abweichung, die verhältnismäßig harmloserer Art ist, hat das neue Leben bereits aufgehört, fortzubestehen. Es verjüngt sich nicht mehr in täglicher Reue und Buße. Der Mensch zehrt da noch sozusagen vom Reichtum des früheren geistlichen Lebens und bewegt sich noch auf dem ihm geläufig gewordenen Geleise der Gottseligkeit, während er in Gefahr ist, daß alle Äußerungen seines inneren Lebens zu Phrasenwerk erstarren, gewissermaßen verkühlte Lava werden.

 2. Schon ein förmlicher Abfall von der wahren Frömmigkeit und nicht bloß Alteration, sondern Korruption ist die Scheinfrömmigkeit, da man sich schon mehr mit Bewußtsein mit dem Schein eines gottesdienstlichen Lebens begnügt, ohne daß man sein| ganzes Leben von der sittlich erneuernden Lebenskraft durchdringen läßt, 2. Tim. 3, 5. Die äußere Gestalt der Frömmigkeit haben sie, aber die Kraft derselben, die rechte Beweisung im Leben und Wandel, die sittliche Frucht der Frömmigkeit, die fortwährende Besserung des Lebens wollen sie nicht, weil sie dadurch in ihrer fleischlichen Ruhe und Sicherheit gestört würden. Da gibt es dann diese Zwittergestalt, wo man bei weltlicher, fleischlicher Gesinnung nach außen durch Teilnahme am Gottesdienst, fromme Reden und einzelne Werke den Schein der Frömmigkeit zu erwecken sucht. Hier wird die Frömmigkeit ganz um ihre Lauterkeit und Einfalt gebracht; denn Frömmigkeit ist ja Lauterkeit, die nichts sucht, als Gott zu gefallen, während bei diesem Zerrbild der Frömmigkeit die Absicht ganz und gar auf das, was die Menschen sagen, gerichtet ist, auf den Eindruck, den sie bekommen. Der Typus dieser Verzerrung der wahren Frömmigkeit ist ausgeprägt im Pharisäertum. Äußere Scheinheiligkeit, äußerer Wandel nach den Geboten des HErrn, aber nur soweit das menschliche Auge reichte und Absehen auf das Wohlgefallen und die Bewunderung der Leute, dabei Haß gegen die Wahrheit Christi und arge sittliche Schäden gehen Hand in Hand. Immerhin kann auch ein Heuchler dieser Art sich noch selbst in gewissem Maße betrügen. Es kann der Selbstbetrug der Heuchelei dem Menschen das richtige Urteil über sich selbst, die richtige Selbsterkenntnis trüben. So waren auch die Pharisäer befriedigt mit dem Außenwerk, ohne sich des Zwiespaltes, der Auseinanderreißung von frommem Wandel und der rechten Herzensstellung zu Gott recht klar zu werden. Dies kann noch als ein mildernder Umstand bezeichnet werden. – (Eine Form der Heuchelei ist auch die Bigotterie, wiewohl sie zum Teil auch auf falscher Auffassung des Christentums beruht.)

 3. Wenn aber einer bewußt heuchelt, trotzdem er entlarvt ist, und, trotzdem ihm die Augensalbe der Selbsterkenntnis gereicht worden ist, in seinem Zustand beharrt, dann wird die Frömmigkeit zu einer Lüge, sie ist nicht mehr bloß Selbstbetrug, und hier wird dann der Mensch, wenn die sittliche Zerstörung weiter fortschreitet, zur Judasgestalt, die noch schlimmer ist als die der Pharisäer. Da wird die Heuchelei festgehalten trotz des erwachten Gewissenszeugnisses, der Heuchler wird zum Lügner, dem Teufel ähnlich, Kind dessen, der in der Schrift Vater der Lüge genannt wird. Bewußte Heuchelei führt unmittelbar zum Verlust der Seligkeit. Also das Maß des bei der Heuchelei vorhandenen Bewußtseins bestimmt die Größe der Schuld der Heuchler.

|  Die Heuchelei setzt natürlich die Erscheinungsform der Frömmigkeit, die in eifriger Teilnahme am Gottesdienst besteht, herunter zum Lippenwerk. Was das Bekenntnis anlangt, so ist die Abweichung und Verirrung hier Indifferentismus, welcher in milder Form das Bekenntnis aus Furcht vor Menschen, mit Rücksicht auf Menschen nicht in klarer Form gibt, ja es sogar unterläßt, verleugnet. Wenn der Eid ein Gottesdienst ist, so ist klar, daß die Heuchelei auf diesem Gebiet die schreckliche Sünde des Meineids ist. Hierher gehört auch das unheilige Fluchen und die Zauberei, mit dem falschen Eid die gräßlichste Art der Lüge mit Gottes Namen. Zum völligen Abfall von Gott, zum Materialismus führt die Heuchelei, wenn sie zur Sünde des Kreaturendienstes, des Bauch- und Wollustdienstes wird. Weil der Mensch etwas haben muß, eine Religion, zu der er angelegt ist, wird die Gottlosigkeit, der Atheismus zum Teufelsdienst, und somit das Ebenbild Gottes in sein Gegenteil verkehrt, in ein Scheusal. 2. Petr. 2.


§ 49.
Das Verhältnis des Christen zu sich selbst.

 1. Allgemeines. Der Mensch ist für Gott geschaffen und für andere, die Gemeinschaft, ist aber zugleich als freies sittliches Wesen auch Selbstzweck. Die sittliche Weltordnung verlangt eine Unterordnung des Menschen unter Gott. Ist der Mensch wieder Gott unterthan und ihm durch die Gemeinschaft mit ihm eingegliedert, dient er ihm in Frömmigkeit (§ 48), so ist die verkehrte Stellung beseitigt, nach der sich der Mensch durch den Sündenfall über Gott gesetzt hat, ja zu Gott erhoben und sich selbst zum Mittelpunkt seines Lebens und Wesens gemacht hat, die Selbstsucht. „Du sollst lieben Gott deinen HErrn u. s. w. und deinen Nächsten als dich selbst.“ Die Selbstliebe in der rechten Unterordnung unter die Liebe Gottes ist der Maßstab für die Nächstenliebe. Erst muß der Mensch, der Christ seine eigene Lebensaufgabe lösen, oder in einem gewissen Maße gelöst haben, ehe er die Aufgabe, die er an andern hat, recht lösen kann.

 2. Die Wesensbestandteile der Person, Leib und Seele und ihr Machtgebiet, darin sie waltet, die irdischen Güter. Die Einheit und richtige Unterordnung der Güter und Lebensbeziehungen.

 Auch die Seele mit ihren Kräften und der Leib mit seinen| Kräften sind als Güter anzusehen, welche die Person als Mitgabe von Gott empfangen hat. Die Person des Menschen besteht aus zwei Wesensbestandteilen, welche eine Einheit bilden, von welchen der eine dem andern untergeordnet ist als das dienende Element. Sich selbst zu erbauen, d. h. an seiner Erziehung für das Reich Gottes und seiner Vollendung zu arbeiten, ist die erste Pflicht, die erste und heiligste Sorge des Christen und wesentlich eins mit der Frömmigkeit. Die Person des Christen hat sowohl einen irdischen als auch einen himmlischen Beruf. Dem Christen liegt ob die Fürsorge für das ewige Wohl seiner Seele (das ist sein himmlischer Beruf) und die Fürsorge für sein irdisches Wohl, sein irdisch-leibliches Leben (irdischer Beruf. Beruf jedesmal gleich Aufgabe). Der erstere ist der Hauptberuf des Christen. Doch erstreckt sich die Thätigkeit im himmlischen Beruf in gewisser Beziehung auch auf den Leib, während umgekehrt der irdische Beruf auch eine Ausbildung der verschiedenen Seelenkräfte für Erreichung irdischer Zwecke fordert. Was nun

 a. die Fürsorge für das Wohl der Seele anlangt, so soll der Christ seine Seele erbauen auf den Glaubensgrund, aus den er gesetzt ist, für das himmlische Ziel, ihre Heiligung und Beseligung. Das geschieht, wenn er mit Selbstverleugnung und Darangabe des Eigenlebens in dem Leben aus Gott aufgeht. Die Seele des Menschen ist teuer erkauft, durch das Blut Christi. Darum hat sie einen unendlichen Wert. Darum ist der Mensch nicht sein eigen in Beziehung auf seine Seele. Seine erlöste Seele zu bewahren und für ihre Förderung und Vollendung Sorge zu tragen, ist erste und oberste Aufgabe des Christen. Das ist sein himmlischer Beruf.

 b. Der Leib ist nicht Selbstzweck, sondern dazu bestimmt, der Seele treuer Diener und Geselle zu ihrem irdischen und himmlischen Beruf zu sein. Doch ist er ein wesentlicher Teil des Menschen und verlangt daher, daß man ihm seine Ehre thue nach seiner Notdurft (Kol. 2, 23); das geschieht und wird ermöglicht durch den irdischen Beruf. Der Leib ist aber auch wie die Seele mit Christi Blut erlöst und eine Wohnung und Tempel des heiligen Geistes. – Daher hat er, jedoch nicht in dem Maß wie die Seele, einen hohen Wert, und kraft der Auferstehung Christi eine ewige Dauer und Jugend wie die Seele und nimmt an ihrer Herrlichkeit teil nach der Verheißung und in Hoffnung, wiewohl er dem zeitlichen Tode unterworfen ist. Weil der Leib ein Geschöpf Gottes, von Christo erlöst, vom heiligen| Geist geheiligt ist, hat der Mensch kein Herrenrecht über seinen Leib, darum der Selbstmord eine Frevelthat. Damit er der Seele für ihre Zwecke dienen kann, bedarf er der sorgsamen, nicht aber üppigen Pflege, einer angemessenen Kasteiung, damit er gestählt werde und die Seele die Herrschaft über ihn gewinne, einer zweckdienlichen Ausbildung, um ihm die zum Berufe nötige Kraft und Geschicklichkeit zu verschaffen, einer gewissenhaften Schonung, soweit nicht höhere Rücksichten fordern, im Dienste Gottes und der Menschheit Gesundheit, Kraft und Leben zu verzehren und aufzuopfern. Sofern der Leib der Sitz der Lüste ist, die wider die Seele streiten, muß er, oder vielmehr müssen die Lüste an ihm ertötet werden.

 Die Seele des Christen muß ihren Leib so ziehen, daß sie die möglichst vollkommene Herrschaft über ihn hat, aber ihn auch als ihren Mitgenossen an der Seligkeit und Herrlichkeit ehren und darnach behandeln. Die Tugenden die sich daraus ergeben, sind Mäßigkeit, Keuschheit, Enthaltsamkeit, Bedürfnislosigkeit, Opfermut.

 Den Zweck des persönlichen Wohls erreicht der Christ nur in der Förderung der Gemeinschaften geistlicher, wie natürlicher Art, denen er angehört. Die Stellung, die er in dem Ganzen, zum Besten desselben einnimmt, ist seine Berufsstellung oder Beruf im gewöhnlichen Sinn. Es gibt Berufe in der Kirche (Haushalter, geistlicher Beruf; und allgemeiner Art, Röm. 12,3–6). Und es gibt auch solche in den natürlichen Gemeinschaften. Auf sie bezieht sich insonderheit die Bezeichnung: irdischer Beruf. Unter dem irdischen Beruf des Christen in diesem speziellsten Sinne versteht man jene dem Christen von Gott angewiesene Stellung, in welcher er als Mensch „wie die andern, den natürlichen und menschlichen Zwecken seiner eigenen Existenz und der Existenz der natürlichen Gemeinschaft dient.“ Der irdische Beruf ist nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck, und Schranke, darin der Christ auf dem Wege zum himmlischen Ziele läuft. Der Eintritt in den irdischen Beruf muß als göttliche Führung angesehen werden, die Arbeit im irdischen Beruf als ein Segen und Bewahrungsmittel vor dem Bösen. Der „geistliche Beruf“ dient unmittelbar der Förderung zum himmlischen Ziel, mittelbar dem Zweck der irdischen Existenz. Die Arbeit des Berufs aber verlangt einen Wechsel von Arbeit und Ruhe oder Erholung, wofür der Zweck des irdischen und himmlischen Berufs in ihrer Einheit das Maß bestimmt. Die Arbeit| in beiderlei Berufsstellung gehört dem Diesseits an. Die Wirkungen reichen weiter, in die Ewigkeit!

 Der Christ soll seinen Beruf ausfüllen und nicht über seinen Beruf hinausgreifen, den Beruf nicht ohne Not wechseln, den Segen desselben von der göttlichen Beihilfe und von seiner angestrengten Thätigkeit erwarten. Wie der Leib der Seele untergeordnet ist, so auch der irdische Beruf dem himmlischen. Der irdische Beruf darf den himmlischen nicht hindern, sondern muß ihn fördern, indem er eine Übungsschule für jenen bildet. Die Tugend, die sich darin zeigt, ist die Berufstreue.

 c. Die irdischen Güter. Jeder Mensch bekommt eine Mitgabe zu seiner Person, zu Leib und Seele, außer den Kräften des Leibes und der Seele (als Schönheit, Stärke, geistige Begabung für Wissenschaft, Kunst etc.) äußerlichen Besitz, Ehren- und Machtstellungen. Alle diese Besitztümer sind von Gott gegeben und haben den Zweck, das leibliche und geistige Wohlsein zu erhöhen und dem Menschen zu seiner Lebensaufgabe zu dienen. Sie sind entweder bona utilia oder jucunda und dem höchsten Lebenszweck (honestum) untergeordnet. Ihr Wert ist untergeordnet und vergänglich. Sie können auch schädlich werden und hören dann auf, Güter zu sein. Nur im rechten Gebrauch und im dankbaren Genuß als von Gott geschenkter Gaben sind sie Güter und erhalten ihren wahren Wert, wenn sie als Ausfluß und Abbild des höchsten Gutes selber gefaßt werden und in den Dienst des höchsten Lebenszweckes treten. In diesem Falle werden sie selber verklärt, werden Förderungsmittel zur Seligkeit, Führer zum höchsten Gut, Vorschmack des höchsten Gutes und selber zu Schätzen für die Ewigkeit. Daher gilt es, die zwei Wahrheiten zu beherzigen:

 „In den irdischen Gütern muß man das höchste Gut suchen und sie für den höchsten Lebenszweck verwerten.“

 „Der Christ hat sich nicht als Eigentümer, sondern nur als Verwalter derselben anzusehen und dafür Gott Rechenschaft zu geben.“

 Die Tugenden, welche hieraus entspringen, sind: Genügsamkeit, Zufriedenheit, Fleiß im Erwerben und Mehren, Sparsamkeit im Erhalten der Güter, Weisheit im Gebrauch derselben.

 3. An Christi Vorbild sehen wir das wiederhergestellte Ebenbild Gottes oder vielmehr das zum erstenmale dargestellte Bild Gottes in dem Stücke, was das richtige Verhältnis des Menschen zu sich selbst betrifft. Wir sehen an ihm das Ideal der rechten Selbstliebe in| der Unterordnung unter die Gottesliebe, oder die rechte und vollkommene Seelenverfassung, wie sie aus der vollkommenen Harmonie seines irdischen und zeitlichen und seines himmlischen und ewigen Berufs hervorgeht. Trotz der Grundverschiedenheit seiner Person von uns kann man doch von einem himmlischen Beruf reden und als solchen die Verherrlichung der menschlichen Natur bezeichnen, und von einem irdischen, sofern sein Erlösungswerk im Stande der Erniedrigung auszuführen war. (?) Die Einheit beider Berufe fällt in die Augen und diese Einheit gibt seinem Leben solche Vollkommenheit und erscheint doch auf jeder Stufe als eine Arbeit, ein Ringen nach Vollendung seiner selbst, die mit der Erfüllung seiner Aufgabe zusammenfällt.

 Ebenso kann man an ihm, als dem Urbilde die vollkommene Unterordnung des Leibes unter die Seele und die vollkommene Harmonie und Reinheit beider sehen. Der Leib, geübt und gestählt durch Arbeit und Entbehrung, ist ganz das geschickte Werkzeug zu seiner großen Aufgabe, nirgends ein Hindernis. Der HErr läßt seinem Leibe die nötige Pflege angedeihen durch Speise und Trank, durch Ruhe und Erholung, die im Wechsel der Thätigkeit liegt; er gönnt auch dem Leibe die Freuden des Mahles, ist aber in allen Stücken Herr seines Leibes, seiner Kräfte und Begierden, ein Vorbild der jungfräulichen Keuschheit, der Mäßigkeit, der Enthaltsamkeit und Bedürfnislosigkeit, wie der völligen Aufopferung des Leibes und aller seiner Kräfte bis zum Tode.

 Endlich sehen wir an ihm als dem Urbilde die vollkommene Unterordnung der irdischen Güter unter die Zwecke seines hohen Berufes. Sie blenden ihn nicht, wie seine Versuchungsgeschichte zeigt. Er ist vielmehr vollkommen unabhängig davon durch die freiwillig erwählte gänzliche Armut, die ihm allein ziemte. Er empfängt, was er bedarf, von wohlthätigen Händen, das gilt von Obdach, Wohnung, Kleidung, Speise und Trank. Damit hat er die Armut und den Reichtum, den Besitz und die Besitzlosigkeit geheiligt, indem er selbst, der Reiche, arm geworden ist; denn wie er die Tausende speist, beweist er, wie reich er ist. Auch in der Sparsamkeit hat er uns ein Vorbild gelassen, indem er seinen Jüngern befahl, die übrigen Brocken zu sammeln, wie im Fleiße der Arbeit, indem er unermüdlich seinem Berufe nachgegangen ist.

 4. Auch in diesem Stück sind die Gefahren und Abwege, die zum Verderben führen, groß. Die Selbstsucht ist auch in den| Wiedergeborenen noch immer eine Macht. Die Eigenliebe, der Eigendünkel, der Eigensinn spielen noch immer eine große Rolle. Das ganze sündliche Wesen, das noch übrig ist und recht tief im Herzen sitzt, und im Geheimen und Verborgenen, dem Christen selbst unbewußt, seinen starken Einfluß geltend macht, ist Eigenleben, der Gegensatz von dem, was St. Paulus sagt: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebet in mir.“ Wird dieses Eigenleben nicht mit allem Fleiß ertötet, so gewinnt es gar bald das Übergewicht über das geistliche Leben und damit tritt die Herrschaft der Sünde wieder ein. In der Seele wuchern Hochmut, Stolz und Eitelkeit und es tritt eine verwirrende Unordnung und Verkehrung der sittlichen Weltordnung ein. Man stellt sich wieder über Gott und treibt Abgötterei mit sich selbst, gibt in allen Stücken nicht Gott, sondern sich die Ehre, verläßt sich auf seine eigene Weisheit, Kraft etc. und sinkt so immer mehr herunter von der Höhe des geistlichen Lebens. Man vernachlässigt die Sorge für seine Seele und deren Seligkeit, seinen himmlischen Beruf, und wird dann auch untreu in seinem irdischen Beruf, indem man ihn vernachlässigt, oder aber man setzt ihn über den himmlischen zum Schaden seiner Seele. Es tritt das Irdische in den Vordergrund, der irdische und fleischliche Sinn des Materialismus stellt sich ein, der auf Genuß und Erwerb allein aus ist. Das Wohlsein des Leibes wird dann Gegenstand des Strebens, die Üppigkeit, das Wohlleben, die Wollust stellen sich ein. Unzucht und Völlerei verunstalten und verunreinigen die Seele und werden nur allzuleicht zur Gewohnheit, zum Laster, der Bauch zum Gott. Oder aber es tritt der Geiz und die Habsucht in den Vordergrund, die sich zuweilen mit der Verschwendung paart und Ungerechtigkeiten aller Arten in ihrem Gefolge hat und Mißbrauch der zeitlichen Güter. Diese Untugenden und Laster verunstalten und beflecken den Menschen, seine Seele nimmt die Natur der Dinge an, an die sie sich hängt, den Schmutz der Erde, sie wird ähnlich den unreinen Tieren, tierisch oder wenn die falschen Bestrebungen mehr geistiger Art sind, wie Ehrgeiz, den Dämonen ähnlich.


§ 50.
Das Verhältnis zum Nächsten (zu den Brüdern, zur Gemeinschaft).
 1. Allgemeines. Der Mensch, wie er sich in das Verhältnis zu Gott und zu sich selbst gesetzt sieht, ist auch in die Gemeinschaft der| Menschen, seinesgleichen, hineingesetzt. Er ist zur Gemeinschaft geschaffen und bestimmt und ist ein Glied in dem großem Organismus der Menschheit. Diese Gemeinschaft ist die natürlichste und allgemeinste, sofern er durch die Geburt ein Mensch überhaupt ist; spezieller schon, sofern er Genosse eines Volkes ist, und der geschichtlich gewordenen Gemeinschaft eines Staates, eines Ortes angehört. Etwas von den natürlichen Gemeinschaften Verschiedenes ist die religiöse Gemeinschaft. Die speziellste natürliche Gemeinschaft, sofern sie nur die Menschen seiner Umgebung befaßt, ist die Familie. Darum heißen die Menschen, die ihm zunächst sind, seine Nächsten, was sich dann auf alle Menschen ausdehnt, sofern sie, auch die entferntesten, in irgend welche Berührung mit ihm kommen können, und wenn auch nicht merkbar, doch in Wirklichkeit darin stehen. Die allgemeinste Pflicht, die es hier zu üben gilt, und Tugend ist die Nächstenliebe. Sofern aber der Christ den Gliedern der christlichen Kirche gegenübersteht, wird sie spezifisch Bruderliebe, die sich zur allgemeineren oder Nächstenliebe verhält, wie der engere Kreis zum weiteren (2. Petr. 1, 7). Als Brüder werden in verschiedener Rücksicht bezeichnet und zwar im weitesten Sinn alle Getauften, im engeren Sinn alle Konfessionsgenossen, soweit sie nicht im Banne sind (kirchliche Brüderschaft mit Ausschluß derer, die einer andren Konfession angehören, was bei der Abendmahlsgemeinschaft sonderlich in Betracht kommt); im engsten Sinn diejenigen, die man erfahrungsmäßig als lebendige und wiedergeborene Glieder am Leibe Christi erkennt, wozu nicht bloß die Genossen der eigenen Konfession gehören, sondern auch die dahin gehörigen lebendigen Christen andrer Konfessionen (geistliche Brüderschaft, die anerkannt und bezeugt werden muß, wenn auch beim Sakrament die Brüderschaft nicht anerkannt werden darf um der Wahrheit willen, vgl. Luthers korrektes Vorgehen bei der Verweigerung der Bruderhand Zwingli gegenüber). Daher kommt es, daß man mit solchen, denen man geistlich näher steht als den eignen Glaubensgenossen, doch nicht zum Sakrament geht. Den Unterschied fordert die Liebe, die in der Wahrheit wandelt. – Die Bruderliebe ruht auf der geistlichen Verwandtschaft und unterscheidet sich von der allgemeinen einmal durch das Bewußtsein, daß die Einverleibung in die Gemeinschaft der Heiligen in dem gegebenen Falle nicht mehr bloß in der Hoffnung, daß es geschehen könne, und in der Arbeit der Liebe, die das zu bewirken sucht, stehe und beschafft werde, sondern daß dies bereits Thatsache ist, und daß man auf einem| gemeinsamen Grund des Glaubens und der Hoffnung steht; ferner dadurch, daß die beiderseits vorhandene Erfahrung der gleichen Geisteswirkung, die gleiche Lebens- und Willensrichtung in Christo auch die Herzen in Liebe zusammenneigt und das Gefühl der Einigkeit, ja der Einheit in Christo erzeugt. Wie schnell finden sich lebendige Christen, die sich ganz unbekannt sind, zusammen! Freilich finden sich auch infolge der Sünde und der von der Sünde durchdrungenen Verhältnisse starke und mächtige, ja in gewisser Beziehung unüberwindliche Antipathien zwischen lebendigen, zum Teil hervorragenden Gliedern Christi (Augustin und Hieronymus), was zu den traurigen Selbstwidersprüchen gehört, in denen der Christ hienieden mit sich und mit andren lebt, die aber alle im jenseitigen Leben schwinden und nichts wider die Wahrheit und Kraft der Liebe (1. Kor. 13, 7) beweisen. – Die Aufgabe der Liebe ist, den Nächsten (Bruder) und damit die Gemeinschaft zu erbauen, geistlich und leiblich zu fördern, wie umgekehrt jeder durch die Gemeinschaft gefördert und getragen wird und keiner für sich das werden kann, was er soll, ohne die Gemeinschaft. Die Erbauung und Förderung besteht aber hauptsächlich in dem guten Beispiel und Vorgang, bewußt und unbewußt, aber auch darin, daß man des anderen sich annimmt, auch in der Fürbitte. – Was der einzelne auf irgend einem Punkte im Sittlichen Bedeutendes leistet, wirkt wohlthätig stärkend auf das Ganze (Karl Roth, Schulreden). Die Fundamente, auf welchen das Wohl der Gemeinschaft ruht, sind Wahrheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Diese göttlichen Eigenschaften sollen sich in der Gemeinschaft wiederspiegeln.

 2. Es handelt sich aber in den verschiedenen Beziehungen zum Nächsten:

 a. um seine Seele und um seinen himmlischen Beruf. Wer für seine eigne Seele sorgen gelernt hat, dem wird auch vor allen Dingen die Seele seines Nächsten, seines Bruders, aufliegen und ihr Seelenheil. Ein jeder soll des andern Seelsorger sein, aber in den gewiesenen Grenzen, nach der Gabe und Gelegenheit, die Gott gibt. Des irrenden, sündigenden, des irgendwie fehlenden Bruders soll man sich annehmen, Jak. 5, 19–20; 1. Joh. 5, 16–18; 1. Thess. 5, 14–15; Hebr. 12, 15, in rechter Liebe und Demut, nicht in hoffärtiger Selbstgerechtigkeit. Der Selbstgerechte hat weder Beruf noch Geschick zu solchem Liebeswerk, Luk. 6, 41–42. In gleicher Weise soll man sich aber auch annehmen des Schwachen (Röm. 14,1 – 15, 13),| des Verzagten (2. Kor. 2, 6–11), überhaupt einer des anderen (Hebr. 10, 24–25). Die Mittel sind das Wort (in Belehrung, Zurechtweisung, Ermahnung, Tröstung), Fürbitte, Beispiel.

 Das allgemeine, allen naheliegende und von allen zu gebrauchende Mittel aber, andere zu erbauen, ist die Pflege der heiligen Gemeinschaft, wie sie der gemeinsame (öffentliche und häusliche) Gottesdienst gewährt, fleißiger und andächtiger Besuch desselben, fleißiger und andächtiger Gebrauch der Gnadenmittel, des Worts, des Sakraments, fleißige und andächtige Fürbitte, möglichst reichliche und freudige Opfer für Zwecke des Reiches Gottes und für die Armen. Dieser Vorgang erbaut die Brüder und fördert sie und ihre Gemeinschaft. Was die Draußenstehenden betrifft (die auch Nächste sind), so gilt es, das Möglichste zu thun durch Zeugnis, Opfer an Gaben und Fürbitte, um sie auch des Segens der christlichen Gemeinschaft teilhaftig zu machen (Mission unter den Juden, Muhammedanern, Heiden, Christen, die in Gefahr des kirchlichen Verfalls und Abfalls stehen). – Sünde: Separatismus, ein Auswuchs des religiösen Lebens; das falsche Richten; Ärgernis geben durch rücksichtslosen Gebrauch der christlichen Freiheit.

 b. Es handelt sich beim Nächsten ferner um seinen Leib und um sein leibliches Wohlsein. Dieses muß untergeordnet sein unter das geistliche Wohl und kann nie als Selbstzweck hervortreten. Es ist hier in Betracht zu ziehen die Pflege des leiblichen Lebens und die Zucht desselben. Hier kommt das leibliche Leben des Nächsten in Betracht, welches Gott durch sein Gebot gegen jede Beraubung, Verletzung und Beschädigung gesichert hat als das teuerste Gut des Menschen hienieden nach der Seele und als Bedingung seines ganzen geist-leiblichen Daseins. Schonung von Leib und Leben beim Nächsten ist heilige Pflicht, also ist alles zu vermeiden, was Leib und Leben des Nächsten auf irgend eine Weise verletzen oder schädigen könnte. Nicht allein aber das, sondern die Liebe fordert nach dem Vorgang des Samariters, daß man ihm helfe und fördere in allen Leibesnöten, Luk. 10, 33, cf. Löhe über Barmherzigkeit. Hier hat die Barmherzigkeit ihr Werk, die sich an Kranken, Elenden, Gefangenen, Sterbenden etc. hilfreich und tröstend erweist, Jes. 58; Luk. 6, 36; Matth. 25, 35. Die Versäumnis dieser Werke ist Unbarmherzigkeit, welche bei den gebildeten Heiden zu Tage tritt gegen Sklaven, Alte, Hilfsbedürftige, die man ihrem Schicksal überließ oder sie geradezu umbrachte (Tiberinsel in Rom), und welcher ein unbarmherziges Gottesgericht gedroht| ist, Jak. 2, 13; Matth. 25, 45. Sie ist ja eine Versündigung gegen das 5. Gebot wider das Leben des Nächsten, wie auch die Leidenschaft des Hasses, des Neides, die schließlich auf den Wunsch hinausgehen, es möchte der andre tot sein. 1. Joh. 3, 15; Matth. 5, 21–22. Dagegen verlangt das Evangelium Versöhnlichkeit, Matth. 5, 23, und heißt Wohlthaten den Feinden erweisen, sie speisen und tränken, Röm. 12, 20.

 Es handelt sich im Vorhergehenden um den Nächsten, sofern er in Not sich befindet. Anders liegt die Sache, wenn er in Not bringt. Hier ist – abgesehen von Verfolgung um Christi und des Evangeliums willen – Notwehr erlaubt. Das Genauere siehe unter Staat.

 c. Es handelt sich beim Nächsten weiter um seine irdische Lebensstellung und zwar:

 Erstens mit Rücksicht auf seinen irdischen Beruf. Der Mensch ist zur Gemeinschaft geschaffen und lebt in Gemeinschaft. Diese ist eine von der Natur gesetzte, die Familien-, Stammes-, Volksgemeinschaft, durch die Geschichte gewordene Rechtsgemeinschaft im Staat. Es handelt sich hier nicht um das Spezifische dieser Gemeinschaften, sondern um das, was ihnen allen zumal eigen ist. Eine jede Gemeinschaft hat in ihrem Schoße mancherlei Gaben und Kräfte und mancherlei Bedürfnisse. Daraus erwachsen mit innerer Notwendigkeit mancherlei Berufsarten und Berufsstellungen, die mit innerer Notwendigkeit auch eine gemeinsame Ordnung und eine gemeinsame Leitung fordern; sonst würde einer den andern stören und in seinen Bereich greifen und es würde dann statt eines gedeihlichen Zustandes eitel Verwirrung und Unordnung sein. Ohne Ordnung und Leitung kann keine menschliche Gesellschaft bestehen. Es muß eine Scheidung der Berufsgebiete der einzelnen und eine Über- und Unterordnung derselben bestehen. Die Grundlage und die Grundzüge dieser Ordnung sind von Gott, der ein Gott der Ordnung ist (1 Kor. 14, 33); in ihren einzelnen Formen sind sie menschliche Ordnungen und Einrichtungen, die Gott um seinetwillen und um der Ordnung willen, welche die Bedingung alles gedeihlichen Lebens ist, gehalten wissen will (1. Petr. 2, 13). Zweck dieser göttlich-menschlichen Ordnung ist die gegenseitige Förderung der Wohlfahrt der einzelnen und der Gesamtheit. Jeder Christ hat sich willig und gehorsam in diese Ordnung, die besteht, zu fügen, nicht allein aus Nützlichkeitsgründen, sondern um des Gewissens willen (Röm. 13, 5). Jeder Christ hat, wie bei sich selbst (§ 49, 2b), so auch bei seinem Nächsten den ihm von Gott angewiesenen Berufskreis und| die ihm von Gott angewiesene Berufsstellung als eine göttliche Schranke anzusehen, die er gewissenhaft einzuhalten hat (Luk. 12, 13–14). Das Eingreifen und die Einmischung in fremden Beruf ist Sünde (1. Petr. 4, 15). Das gibt Verwirrung und Streit. Ordnung aber bringt Frieden. Es ist aber ferner die Aufgabe des Christen in dieser Gemeinschaft, mit seinen Gaben, ohne daß er den nächsten Zweck außer Augen zu setzen braucht, die Sorge für seinen eigenen Lebensunterhalt, seinem Nächsten und dem Ganzen zu dienen (manus manum lavat), 1. Petr. 4, 10.

 Der Christ gehört aber nicht nur natürlichen Gemeinschaften an, er ist auch ein Glied des Gnadenreiches, ein Glied der geistlichen Gemeinschaft der Kirche. Auch hier gibt es Ordnungen, Aufgaben, Kräfte und demgemäß auch verschiedene Berufe irdisch-geistlicher Art. Röm. 12, 1–8; 1. Kor. 12 u. 14; Eph. 4, 11–16 (irdisch-geistlicher Art, soweit diese Berufe diesseitig). Dies ethische Verhalten in Bezug auf diese Berufsarten ist dasselbe, wie es für die Stellung zu dem irdisch-natürlichen Beruf des Nächsten gefordert wird.

 In den verschiedenen Gemeinschaften finden sich Verhältnisse der Über- und Unterordnung. Über das Verhalten des Christen, soweit solche in Betracht kommen, ist im allgemeinen zu sagen, daß es besteht in Ehrfurcht und Gehorsam (doch in den Grenzen des Wortes Gottes, Akt. 5, 29) einerseits, in Achtung des Rechtes und der Ehre des Geringeren und der Fürsorge für ihn (1. Kor. 12, 21–25; Eph. 6, 1–9; 1. Petr. 5, 1–5) andererseits. Das Genauere siehe im folgenden Abschnitt.

 Zweitens handelt es sich um die gesellschaftliche Stellung des Nächsten resp. seine Stellung und Geltung in der christlichen Brüderschaft, um seine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, natürlicher und geistlicher Art. Die Pflege der Gemeinschaft im täglichen Verkehr, Achtung der Menschennatur, sonderlich der erlösten und geheiligten, bei allen, Wohlwollen und Gerechtigkeit gegen alle, denen man nahe kommt, muß das unverbrüchliche Gesetz für den Christen sein im Umgang mit Menschen. Da aber die ganze menschliche Gemeinschaft von gegenseitigem Mißtrauen und gegenseitiger Geringschätzung von wegen der vielen Mängel, Sünden und Gebrechen aller, sowie von den Bestrebungen, dieselben unter falschem Schein zu verdecken und zu verbergen, angefressen ist, so thut es vor allem not, einmal, daß gegenseitig die Wahrhaftigkeit herrsche, und ebenso die tragende und| schonende Barmherzigkeit im Wort und Urteil. Das Mittel des geistigen Austausches und Verkehrs ist ja das Wort und die Sprache. In der Gemeinschaft braucht jeder einen Boden, auf dem er sich bewegen kann, eine Stellung, und das ist die allgemeine Meinung, die öffentliche Meinung, das Urteil, das man über ihn hat, oder mit andern Worten: die Ehre oder der gute Name, der gute Leumund (8. Gebot, 4. Bitte, 7. Bitte). Darauf ruht alles Vertrauen und der Glaube, ohne den niemand in der Gemeinschaft bestehen und fördernd wirken kann. Daher bedarf die Ehre und der gute Name des Nächsten besonderer gewissenhafter Schonung, umsomehr, als derselbe leichter zu beschädigen als wiederherzustellen ist. Daher soll man böse Gerüchte und nachteilige Urteile über den Nächsten mit großer Vorsicht aufnehmen, womöglich ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden, wenn andre sein Gutes verschweigen und nur sein Böses hervorheben, und alles zum Besten kehren, d. h. sein Thun und Lassen möglichst gut auslegen. Das fordert die Liebe im Bunde mit der Wahrheit. Beide sollen Zunge und Mund des Menschen regieren. Sie geben allein die Regel an die Hand, was man reden und verschweigen, wann man reden und schweigen soll. Denn so gewiß all unser Reden ein Ausdruck der Wahrheit, Lauterkeit und Aufrichtigkeit, nicht minder aber der demütigen, tragenden, barmherzigen Liebe sein muß: so gewiß ist, daß man nicht alles, was wahr ist, sagen darf; Schweigen ist eine ebenso große Kunst als richtig zu reden. Mannestugend ist, anvertraute Geheimnisse bewahren zu können. Wer das kann, ist ein treuer, zuverlässiger, auch in anderen Dingen vertrauenswerter Mann. Wer immer die Wahrheit zu reden beflissen ist, den nennt man wahrhaftig. Wahrhaftigkeit und Treue im Halten des gegebenen Versprechens, auch wenn es zum eigenen Nachteil gereicht, sind leuchtende Tugenden, der festeste Kitt menschlicher Gemeinschaft, einst an den alten Deutschen gerühmt, jetzt aber immer seltener bei den Jungen. Die Treue im Wort hat die treumeinende Gesinnung, die Liebe zur Wurzel, und hier zeigt sich abermals die Einheit der Wahrheit und der Liebe. Da wohnt und bleibt auch der edle Friede.
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 Nicht immer aber kann man den Nächsten, den Bruder schonen mit dem Wort; das würde ihm oft den größten Schaden bringen. Die Liebe muß auch scharf sein, angreifen und strafen können, wenn der Nächste ein Ärgernis, einen Anstoß durch seinen sündigen Wandel gibt, Gal. 2; 2. Thess. 3. Es ist ein Unterschied zwischen Nächsten und| Bruder. „Sündigt dein Bruder an dir, sagt der HErr, so strafe ihn zwischen dir und ihm allein.“ Hiemit ist die brüderliche Zucht gemeint, welche nicht gleichgültig gegen die Sünde des Nächsten bleibt. Die drohende Gefahr erweckt den Liebeseifer und gibt Mut und Weisheit zu reden, was der Nächste nicht gerne hört. Ja, sie läßt nicht ab, wenn er sich nicht gleich gibt, sie nimmt nach des HErrn Befehl, wenn die erste Ermahnung in der angemessenen Wartezeit unbeachtet geblieben ist, „zween oder drei Zeugen,“ und so erwächst mit steigendem Ernst eine ganze Stufenleiter des brüderlichen Zuchtverfahrens, Matth. 18, von der hier nicht weiter zu reden ist. Die Seele der Zucht aber muß die Liebe sein, welche das sonst harte Wort der Bestrafung mit linderndem Öl beträufelt, so daß es in das Herz des andern Eingang findet. Allerdings gilt die obige Regel zunächst für die Brüdergemeinschaft; wenn der Nächste einer anderen Kirchengemeinschaft angehört, läßt sich die Regel nicht in der strengen Weise durchführen, geschweige wenn es sich um einen Draußenstehenden handelt. Da kann man kein Zuchtgericht anrufen. Aber der Christ hält in jeder menschlichen Gemeinschaft auf Zucht, straft und gibt seinen Worten durch die That und das Verhalten Nachdruck. Ohne Zucht versumpft die Gemeinschaft, verdirbt das öffentliche Urteil und der Sittenverfall nimmt überhand. Es ist in unsrer Zeit ein Gewinn der freien Presse, daß sie eine Art Sittengericht über die vorkommenden Ärgernisse übt, die sonst in dem Schlupfwinkel der Heimlichkeit sich verbergen konnten, namentlich gilt das von Angesehenen und Mächtigen der Erde, die sonst, wo nicht etwa ein treuer Seelsorger sie strafte, eine Art Privilegium hatten, unbesprochen und unberedet die größten Sündengreuel zu begehen. Was im bürgerlichen Leben auf dem Wege nur unvollkommen erreicht wird, erscheint in vollkommener Weise in der Kirche, wo die vom HErrn befohlene Zuchtübung mit Ernst und Weisheit geübt wird. Da gilt das Wort: „Habt Salz und habt Friede bei euch.“
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 Hieher gehört drittens im weiteren Sinne das gesellige Leben, resp. die Pflege der Gemeinschaft im geselligen Leben. Das gesellige Leben ist eine besondere Art des täglichen Verkehrs. Es gibt auf diesem Gebiet feststehende Einrichtungen und ein mehr oder weniger bestimmt ausgebildetes Herkommen. Der Christ beweist sein Christentum beim Gebrauch dieser Einrichtungen darin, daß er das Maß beobachtet, auf Zucht, Anstand und gute Sitte hält, daß er auf| eine edle und menschenwürdige Geselligkeit hinzuwirken sucht, welche auch die höchsten Fragen des Menschenlebens zu Worte kommen läßt. Das gesellige Leben gründet sich auf ein wahres Bedürfnis des Menschen, indem es einesteils Ruhe und Erholung von der strengen Arbeit bietet, andernteils Mittel und Form, mit andern in freier Weise zu verkehren, wobei der Leib in der Regel nicht zu kurz kommt. Es darf sich aber Leib und Seele freuen in dem lebendigen Gott (Ps. 84, 3). Dazu hat Gott auch die Kreaturen geschaffen (Ps. 104, 13). Dahin gehört auch die Geselligkeit mit ihren festlichen Veranlassungen im häuslichen, engeren und weitern Kreise, zum Teil auch in Übung der Gastfreundschaft, soweit sie nicht Barmherzigkeit ist. Dahin gehören alle Formen der geschlossenen und öffentlichen Gesellschaft, in denen die Menschen zu ihrer Erholung mit einander, es sei bei Bier oder Wein, bei Thee oder Kaffee, verkehren. Dahin gehören die größeren Gastmahle bei festlichen Gelegenheiten.

 Diese alle sind dem Christen erlaubt zu besuchen, wenn sie nichts seinem Glauben Anstößiges oder sein geistliches Leben Störendes an sich tragen, so lange er sich in Unschuld und ohne Verletzung seines Gewissens freuen kann, solange er sich, was der eigentliche Zweck des geselligen Lebens ist, dadurch erfrischt und gekräftigt fühlt für seine Berufsarbeit, solange Anstand und Zucht in solchen Kreisen herrscht. Es heißt der Welt brauchen und nicht mißbrauchen (1. Kor. 7, 31). Die Liebesmahle standen auf der Grenze des Geselligen und Religiösen und sind die edelste Blüte heiliger Geselligkeit, die in der nächsten Nähe die Sakramentsgemeinschaft hat (1. Kor. 11). Der Christ fördert das Wohl des Nächsten auch durch die Art und Weise, wie er am geselligen Leben teil nimmt. (Des HErrn Vorbild.)

 Wo man sich aber im geselligen Leben „der Welt gleichstellen“ muß und die Welt ihren spezifischen Charakter herauskehrt, da muß sich der Christ entziehen, auch auf die Gefahr hin, engherzig zu erscheinen (Röm. 12, 2). Durch solches Zurückziehen gibt der Christ Zeugnis dawider. Die Welt liegt im Argen, ist voller Versuchungen und soll dem Christen gekreuzigt sein, 1. Joh. 5, 19; Gal. 6, 14. In ihr herrscht Fleischeslust, Augenlust und hoffärtiges Leben (1. Joh. 2, 16), daraus allerlei Fleischessünden, Völlerei, grobe und feine Buhlerei entspringt (6. Gebot), Jak. 4; Gal. 5, 19. Dahin gehören die weltförmigen Vergnügungen: Spiel, Tanz, Theater etc.,| in welchen die Welt ihren Götzen opfert und ihnen Leiber und Seelen hingibt zum Dienst, die recht eigentlich zur pompa diaboli gehören, denen jeder Christ in der heiligen Taufe absagt. Die Pietisten haben, wenn auch nicht in der Art und Weise, diese Grundsätze theologisch und praktisch geltend zu machen, doch mit dem Ernst recht gehabt, mit dem sie gegen diese Vergnügungen zeugten, wogegen die Orthodoxen die christliche Freiheit mit Unrecht geltend machten (1. Petr. 2, 16). So wenig der Christ etwas darin suchen soll, so muß er sich doch von der Welt geschieden halten, daß man ihn in keinem Augenblicke seines Lebens mit einem Weltmenschen verwechseln kann. Das Staatskirchentum hat in dem Stück je und je dem Ernst des christlichen Lebens viel geschadet.

 Die Sünden aber, welche die Gemeinschaft untergraben und den Frieden wegnehmen, dagegen Unfrieden, Streit, Zank gebären, sind besonders alle Zungensünden. Dahin gehört die eitle und selbstgerechte Geschwätzigkeit, welche redet, was nicht sein soll und die größten Widerwärtigkeiten verursacht. Sie ist Thorheit und Sünde. Dahin gehört die Falschheit, die nach Art der Katzen schmeichelt und heuchelt, inwendig aber Böses sinnt und Arges im Herzen hat (Ps. 41). Vor allem gehört hierher die Lüge, diese Erfindung des Teufels (Joh. 8, 44), die wie keine andre Sünde die Seele des Menschen in ihrer innersten Tiefe verdirbt und die Mutter aller Schlechtigkeit ist, zum Truge führt und den Menschen im verächtlichsten Lichte zeigt, ihn auch für alles Edle und Göttliche immer unfähiger macht, aber wohl dem Teufel eine offne Pforte und einen Sitz im Menschenherzen bietet. Eine Äußerung dieser Schlechtigkeit ist der Verrat, der des Nächsten Heimlichkeit zu seinem Schaden offenbart und meist das Vertrauen des andern schändlich mißbraucht. Die Geschichte nennt eine Reihe solcher Schandthaten; keine aber kommt an Größe und Tiefe dem Verbrechen des Judas gleich, dieser Bastardgestalt, die eine grauenerregende Mischung von Licht und Finsternis ist und ein ewiger Schandfleck der Menschheit und christlichen Gemeinschaft. Dahin gehören, wenn sie auch nicht so grauenhaft wie die letztgenannte Sünde sind, die Verleumdung und das Afterreden, wodurch des Nächsten Ehre und guter Name untergraben, Haß und Feindschaft erweckt und die menschliche Gemeinschaft (oft die zartesten und edelsten Bande) zerrissen wird.

 Nicht allein aber diese Sünden, sondern hundert andere erwecken in der Brust des einzelnen und im Schoße der menschlichen Gemeinschaft| die aus der Hölle stammende Leidenschaft der Feindschaft mit der ganzen Schlangenbrut verwandter Leidenschaften. Wir nennen den Zorn, der in aufwallender Hitze seiner selbst nicht mehr mächtig ist (Jak. 1, 19. 20), den Grimm, den bis zur Wut gesteigerten Zorn, die Bosheit, die auf Arges sinnt (Kol. 3, 8), den Zank (Zanksucht), Hader, die Leidenschaft, die die bittre Galle unablässig in giftigen Worten ergießt (Gal. 5, 20; Jak. 3, 16), die Rachsucht, die Leidenschaft, die nicht ruht, als bis sie dem Beleidiger den bittersten Schaden gebracht hat, ja, die sich oft in dessen Blut kühlt; sie will Gleiches mit Gleichem vergelten (Röm. 12, 19), der Haß, die mit Bewußtsein in der Tiefe des Herzens unterhaltene Glut der Feindschaft (1. Joh. 2 9; 3, 15), der Neid, welcher den Beinamen des Blassen führt, weil er am Menschen zehrt, der an dem Glück des Nächsten eine beständige Quelle des Verdrusses hat und der nur eine andere Form des Hasses ist (1. Petr. 2, 1), die Schadenfreude (Spr. 24, 17). Alle die genannten Sünden sind Äußerungen und Arten der Ungerechtigkeit und Unbarmherzigkeit. Wer sich solchen Sünden hingibt, verfällt der Gerechtigkeit Gottes und einem unbarmherzigen Gericht (Jak. 2, 13). Dagegen fordert und gibt das Evangelium Feindesliebe, Matth. 5, 44. (Es gibt Menschenhasser. Der Menschenhasser ein moralisch Unterlegener, Ps. 116, 11, und Ungerechter.)

 d. Das Verhalten des Christen in Bezug auf die Güter des Nächsten.

 α. Im allgemeinen. Über den Begriff und die Bedeutung der irdischen Güter und ihr Verhältnis zum höchsten Gut siehe § 49 c. Jeder Mensch hat eine Summe von Gütern, welche das Machtgebiet bildet, das ihm von Gott gegeben ist, sein Besitztum, worunter man hauptsächlich seine bewegliche und unbewegliche Habe versteht, wozu aber auch seine Nahrung, sein Erwerbszweig gehört (im weiteren Sinn gehören auch seine persönlichen Gaben und Fähigkeiten, seine Berufs- und Ehrenstellung, seine Familie und Familienverbindung, seine Ehre und sein guter Name hieher, von welchen hier aber zunächst, mit Ausnahme des letzteren, cf. oben c, 2, nicht die Rede ist). Diese Güter hat Gott ungleich ausgeteilt, dem einen außerordentlich viel, dem andern außerordentlich wenig, dem Dritten ein bescheidenes Teil gegeben. Diese Verschiedenheit soll bleiben nach Gottes Willen. Der Christ hat sie anzuerkennen. Jeder Versuch, gewaltsam sie auszugleichen, wie der Sozialismus will, ist Raub. Gott hat durch das siebente Gebot| um jedes Eigentum eine Schranke gezogen, die nicht überstiegen oder durchbrochen werden darf, was durch Diebstahl oder Raub oder Betrug (3. Mose 19, 13; Eph. 4, 28) geschieht, lauter Sünden und Frevel, wodurch Gottes sittliche Weltordnung untergraben wird und was die Obrigkeit verhüten, oder wenn es geschehen ist, streng bestrafen muß. Die Grenzen zwischen dem Mein und Dein müssen gewissenhaft eingehalten werden. Im geschäftlichen Verkehr, im Handel und Wandel, wo ein Erwerben und Gewinnen erlaubt ist, muß doch darauf gesehen werden, „daß dein Bruder neben dir leben könne“, womit alles Wuchern und Übersatznehmen verboten ist (Ex. 22, 24; 1. Thess. 4, 6) und alles listige und ränkevolle Ansichziehen fremden Gutes, worauf ein Unsegen ruht (Hebr. 13, 5 u. 6; Spr. 16, 8). Die gewissenhafte Achtung vor fremdem Gut erzeugt die Tugend der Ehrlichkeit und Redlichkeit (ehrlich währt am längsten!), der Treue mit fremdem Gute (namentlich mit anvertrautem) [nicht wie der ungerechte Haushalter Luk. 16, 2]. Dazu wird die Genügsamkeit mit dem, was Gott einem gegeben hat, 1. Tim. 6, 6–8 – das Gegenteil von der Habsucht, welche nach des Nächsten Gut unablässig trachtet – und die Neidlosigkeit, mit der man des Nächsten Reichtum an Gütern sehen kann, wesentlich beitragen; dazu die Arbeitsamkeit (Sparsamkeit) und das Gebet, welches den göttlichen Segen bringt.
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 Auch die Ehre und der gute Name gehören zu den hier besprochenen Gütern, der letztere weil er gleichbedeutend ist mit dem Kredit, welchen jemand genießt, und Kredit mehr als Geld ist. Der gute Name ist das vorteilhafte Urteil der Menschen, namentlich des Standesgenossen (und der Umgebung) über eine Person. Ehre ist die in Worten und Benehmen kundgegebene Achtung und Anerkennung einer Person, rücksichtlich ihrer Stellung, Eigenschaften, Leistungen, sittlicher oder anderer. Das Gegenteil ist die allgemeine Mißachtung und der üble Ruf, in dem ein Mensch steht. Man kann in der Welt mit und ohne Schuld seinen guten Namen verlieren. Die Schmach Christi ist eine Ehre vor Gott: „durch Ehre und Schande, durch böse Gerüchte und gute Gerüchte,“ 2. Kor. 6, 8. „Eitler Ehre aber soll der Christ nicht geizig sein,“ Gal. 5, 26. Unsere Ehre sollen wir vor allem bei Gott suchen und nicht bei Menschen (Joh. 5, 44), sonst aber jedem seine Ehre geben, 1. Petr. 2, 17, auch für die Ehre und den guten Namen andrer ritterlich einstehen, Spr. 31, 8. 9; 25, 23; cf. 1. Sam. 22, 14, und in Liebe die Fehler| des Nächsten decken, ohne jedoch der Wahrheit zu nahe zu treten, 1. Petr. 4, 8; 8. Gebot.

 β. Das Rechtsverhältnis. Verhalten des Christen in Rechtsstreitigkeiten mit dem Nächsten. Das Eigentumsrecht beruht auf göttlicher Fügung, der die irdischen Güter nach seinem Wohlgefallen austeilt und einen jeden auf seinem Gebiete geschützt haben will. Die Abgrenzung des Eigentums macht das Recht aus, das jeder von Natur zu bewahren sucht und bei dem die Obrigkeit gesetzt ist, Übergriffe in fremdes Gebiet zu hindern und zu strafen. Ist das Recht streitig, so hat die Obrigkeit zu entscheiden (Rechtsprechen). Ungewißheit der Rechtsgrenze oder Habsucht bringt Rechtsstreite (Prozesse) hervor. Solche darf der Christ führen, wenn er eine gerechte Sache und eine Pflicht hat. In den meisten Fällen aber ist es weiser und vorteilhafter, nachzugeben und sich gütlich zu vergleichen. Der Christ soll nicht auf sein Recht pochen, sondern nachlassen um des lieben Friedens willen (für beides cf. Akt. 22, 25 ff., Matth. 5, 40 ff.). Wenn der Christ auch mit gutem Gewissen einen Rechtsstreit führen kann, so ist er doch kein Prozeßkrämer, der das Rechthaben zu seinem Abgott macht und um desselben willen, d. h. um Recht zu behalten, alles dran setzt, auch Hab und Gut, das Wohl der Familie, Leben und Seligkeit. Unter Christen rät der Apostel Schiedsgerichte von Glaubensgenossen an, die frei gewählt sind. Noch viel lieber soll der Christ Unrecht leiden und sich übervorteilen lassen (1. Kor. 6, 1–8; Matth. 5, 39–41). Es ist besser Unrecht leiden, als Unrecht thun. Überall auf seinen Vorteil sehen, verdirbt den Charakter und macht schmutzig. Es ist Geiz und Habsucht, die auch den Beinamen „schmutzig“ führen und eine Wurzel aller Übel sind und die gemeinste Sünde (1. Tim. 6, 10; Luk. 12, 15). Die entgegengesetzte Tugend ist die Genügsamkeit (Hebr. 13, 5) und die Liebe zur Armut, auf die man, weil sie Christus erwählt hat und weil sie viele Vorzüge hat, ein großes Lob häufen könnte (Luk. 6, 20).

 γ. Wie der Christ mit seinen Gütern dem Nächsten, der Gemeinschaft dienen soll. Welche Forderung die Not des Nächsten an den Christen stellt. Gott hat dem Menschen Güter gegeben, daß er sie zu seiner Notdurft brauche, aber nicht ausschließlich. Es sind auch andere mit ihrer Notdurft auf seine Güter angewiesen, deren Verwalter, nicht Eigentümer er ist. Es ist eines jeden Christen Gut im gewissen Sinne Gemeingut, doch so, daß es| lediglich in seinem freien Willen steht, ob und wieviel er davon mitteilen will. Der göttliche Wille will es, die Liebe gibt dazu den Antrieb, Gesetz, Regel und Maß (2. Kor. 8, 12). Die Liebe soll nach Gottes Willen den Unterschied zwischen reich und arm, wenn auch nicht ausgleichen, so doch mildern und erträglicher machen (2. Kor. 8, 14). Bekommt die Gabe die Beziehung auf Gott, so wird sie zum Opfer: „Wohlzuthun und mitzuteilen vergesset nicht, denn solche Opfer gefallen Gott wohl“ (Hebr. 13, 16). So ist es zunächst die Tugend der Wohlthätigkeit oder Milde, eine Art der Barmherzigkeitserweisung. Diese Tugend gefällt Gott und hat besondere Verheißung, Luk. 6, 38. Gegenstand der Barmherzigkeit ist der Arme, Elende, der uns von Gott durch die Umstände nahe gebracht ist, Nächster, besonders aber die Hausgenossen, 1. Tim. 5, 8, und Glaubensgenossen, die Brüder, Gal. 6, 10; 1. Joh. 3, 17; Jak. 2, 15. (Es gilt aber nicht allein die leibliche Not des Nächsten ins Auge zu fassen, sondern vor allem seine Seelennot cf. oben). Dahin gehören auch die Opfer und Gaben, die man in Zeiten der Not oder aus Liebe zur Wohlfahrt der Gemeinschaft dem Vaterlande darbringt. Man kann aber nicht allein mit Geld und Gut, sondern auch mit andren Gaben Leibes und der Seele dem Nächsten dienen, 1. Petr. 4, 10) und es ergibt sich daraus die Tugend der Dienstfertigkeit, welche so sehr zur Erbauung und Förderung der Gemeinschaft beiträgt. Wie wichtig ist oft ein kleiner Dienst und welche Belohnung ist darauf gesetzt, Matth. 10, 40–42! Eine höchst nötige und förderliche Übung der Barmherzigkeit ist die Gastfreundschaft (1. Petr. 4, 9; Hebr. 13, 2), welche für das Reich Gottes besondere Bedeutung hat, die reichlich geübt, aber von der anderen Seite nicht gemißbraucht werden soll.
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 Die Tugend der Wohlthätigkeit und des Gebens verlangt beständige Übung, daher Almosengeben zu den guten Werken im engsten Sinn des Worts oder zu der asketischen Übung gehört, Matth. 6, 1–4; Akt. 9, 36; 10, 31) und Einfalt der Gesinnung, wenn das Thun nicht seelenschädlich werden soll. Die christliche Kirche übt aber die Wohlthätigkeit nicht bloß privatim und vereinzelt, sondern in Gemeinschaft und macht daraus eine organisierte Liebesthätigkeit, welche die zweckmäßigste und fruchtbringendste Art der Liebeserweisung ist. Das ist die Diakonie oder κοινωνία, wie sie in der apostolischen Zeit erst in Jerusalem, Akt. 4, 32–36, in nicht allgemein| nachzuahmender Form (denn jene Zeit trug End-Charakter, Luk. 12, 33), aber auch ohne diese Besonderheit in anderen apostolischen Gemeinden geübt wurde, 1. Kor. 16; 2. Kor. 9; vgl. Löhe, Katechismus des apostolischen Lebens (s. auch weiter unten).

 Exkurs: Armut und Reichtum. Die Vorzüge beider, die Gefahren beider; wie diese vermieden werden, nämlich durch Ausgleichung. Der öffentliche, der verschämte Arme. Auch der Arme kann geben; Beispiel: der berühmte heilige Bettler Servulus. Der christliche Reiche; die freiwillige und gänzliche Armut (s. unten).


§ 51.
Der HErr Vorbild im Verhalten gegen den Nächsten.
 Was das Verhalten zum Nächsten betrifft, ist das wiederhergestellte Ebenbild Gottes im Menschen in dem vollkommenen Vorbilde Christi und in dem unvollkommenen Nachbilde der heiligen Kirche dargestellt. – Christus ist das vollkommenste Ideal der Nächsten- und Bruderliebe und damit der Erfüllung des ganzen Gesetzes. Viele haben in dem barmherzigen Samariter Ihn selbst sehen wollen. Die Liebe aber vollendet sich in der Feindesliebe, indem ersterbend für seine Mörder bat. Seine Liebe umfaßt die ganze Menschheit, Juden und Heiden (Matth. 15, 24. 28; Joh. 10, 16) aller Zeiten und Orte, und hat eine Innigkeit und Fülle, eine Höhe und Tiefe, die alle Erkenntnis übersteigt (Eph. 3, 18). Seine Liebe ist es, die die ganze erlöste Menschheit einigt und belebt (Joh. 17, 21). Was der Apostel Paulus 1 Kor. 13 zum Lobe der Liebe sagt, das ist alles an Christo erfüllt zu sehen. Sein ganzes Leben ist ein Leben der Liebe. Aus ihr sind alle seine Tugenden, Freundlichkeit, Leutseligkeit, Barmherzigkeit gegen die Armen, Elenden und Hilflosen (fast alle seine Wunder sind Krankenheilungen oder Hilfeleistungen irgend welcher Art), Sanftmut, Geduld etc. hervorgewachsen. In der Nächstenliebe liegt neben der Gottesliebe seine große sittliche Leistung, welche sein Verdienst und den Kern seiner erlösenden und versöhnenden Thätigkeit ausmacht. Seine Hauptsorge ist auf das Seelenheil seiner Brüder gerichtet. Keiner hat für die Seelen so gesorgt als unser großer Hirt und Erzhirte, Joh. 10; 1. Petr. 2, 25; 5, 4. Er hat eine so große Achtung und Wertschätzung der unsterblichen Seele, daß er nicht will, daß jemand, auch nur ein einziger, verloren gehe (2. Petr. 3, 9). Er scheut nicht das Urteil der Menschen und geht mit Zöllnern| und Sündern um (Matth. 9, 11; Luk. 5, 30). Er verwirft die Ehebrecherin nicht (Joh. 8, 11). Er nimmt sich der Verlassenen und Verachteten im Volke an, der Proletarier (Matth. 11, 28). Er ist ein Freund und Liebhaber der Kleinen, der Kinder und Unmündigen (Matth. 19, 13–15; Matth. 11, 25). So groß und allgemein aber seine Liebe ist, so ist sie doch eins mit der Wahrheit. Er scheut sich nicht, die Seinen zu strafen, wo sie es bedürfen (Matth. 15, 16; 16, 8; 16, 23; Luk. 22, 24 etc.). Sein Mund, der von Trost übergeht gegen die Elenden, trifft wie ein zweischneidiges Schwert die Widerwärtigen. Seine Reden voll strafenden Ernstes gegen die Pharisäer und Sadduzäer sind trotz ihrer Schärfe voll erbarmender, rettender Liebe. Sein Reden und Schweigen, das was er redet und wann er redet, resp. schweigt, ist unser heiliges Vorbild für unser Reden und Schweigen. Um das zeitliche Leben seiner Brüder zu fristen, ließ er sich’s viele Mühe kosten, indem er unzählige Kranke heilte; um ihnen aber das ewige Leben zu erwerben, achtete er es nicht zu hoch, sein zeitliches Leben in den Tod zu geben (Joh. 15, 13).

 Die verschiedenen Berufsstellungen in der Welt, die ihm entgegentreten, erkennt er an: die Priester Luk. 17, 14; die Schriftgelehrten Matth. 23, 2 u. 3; die Obersten Matth. 26, 63; die Obrigkeit Joh. 18, 28 etc. Er hält sich in den Grenzen seines Berufes, Matth. 15, 24; Luk. 12, 13–14; Matth. 26, 52; Joh. 18, 36.

 Im geselligen Umgang ist er ebenso frei von finstrer Strenge gegen die Menschen, als von der Gleichstellung mit der Welt, unbekümmert um das Urteil der Menschen. Er ißt mit Zöllner und Sündern, wenn es gilt, sie für sein Reich zu gewinnen (Matth. 9, 10–13). Er geht mit den Jüngern auf die Hochzeit (Joh. 2, 2). Er folgt den Einladungen zu Tisch, nicht allein im Hause Simons des Aussätzigen in Bethanien (Matth. 26, 6), sondern auch bei Pharisäern, so bei Simon (Luk. 7, 40). Er übt die edelste Art der Geselligkeit und Tischgenossenschaft mit seinen Jüngern, vor und nach seiner Auferstehung. Er geht mit den Frauen auf untadelige Weise um, mit Maria und Martha, mit Magdalena, mit den Frauen, die ihm überallhin folgten auf dem Wege und ihm und seinen Jüngern dienten, Luk. 8, 3. Er ist ein unerreichbares Vorbild als der Sündlose in heiliger Zucht und Sitte (Joh. 6, 8). Selbst völlig arm, sorgt er doch für die Armen, und von dem Almosen, das er selbst empfing, gab er wieder (Joh. 12, 6). Jesus ist ein vollkommenes| Vorbild in allen Verhältnissen zum Nächsten. Ihm nach soll unser Sinn und Wesen und Leben erneuert werden, so daß wir immermehr ihm ähnlicher werden und sein Bild in uns verklärt werden möge, oder, was dasselbe ist, daß er in uns Gestalt gewinne (Gal. 4).