Die Büßungswelt (Dante Alighieri/Schlegel)

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Autor: Dante Alighieri
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Titel: Die Büßungswelt (aus der Göttlichen Komödie)
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aus: Die unbekannten Meister – Dantes Werke, S. 151–169
Herausgeber: Albert Ritter
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Entstehungsdatum: 1307–1321
Erscheinungsdatum: 1922
Verlag: Gustav Grosser
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Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer: August Wilhelm Schlegel
Originaltitel: Purgatorio (La Comedia bzw. La Divina Comedia)
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Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung: Schlegels unvollendete Übersetzung des Purgatorio aus Dantes Göttlicher Komödie
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[151]

Die Büßungswelt

Die weiter vorn gegebende Darstellung der Erd- oder Weltstruktur, wie sie sich aus Dantes Epos ergibt, gestattet es dem Leser, sich den gesamten Weg des Dichters als einen fortlaufenden Aufstieg zu denken. Denn auch der Weg in die Tiefe der Hölle, der einem Abstieg gleicht, ist nur eine Etappe auf dem fortlaufenden Wege, der durch das Erdinnere zu dem ausgestülpten Läuterungsberge emporführt.

Die Gliederung der Büßungswelt ist ganz analog der in der Hölle. Auffallend ist vielleicht noch mehr als in der Hölle selbst die Abweichung von der volkstümlichen Vorstellung der Strafen, denen die Seelen in der andern Welt unterliegen und die durch das Wort Fegefeuer ja deutlich genug gekennzeichnet sind. Die Feuerqual fehlt, und Dante kann hier, in der Welt der Buße, mitbüßen, denn er muß den Zustand des Ringens selbst durchmachen. Durch diese Teilnahme erreicht er es, daß die ihm vom Pfortenengel in die Stirn geritzten Sünderzeichen allmählich gelöscht werden.

Im Purgatorium wird der römische Dichter Statius sein zweiter (christlicher) Begleiter (Pochhammer). Die Gliederung ist analog der der Hölle, doch in umgekehrter Reihenfolge: nach dem Vorraume für die Saumseligen erstrecken sich in Terrassen die Kreise für Stolz, Neid und Zorn, dann in der Mitte die Trägheit, weiterhin Geiz und Verschwendung, Schlemmerei und Wollust. Wie nach dem Mittelpunkt der Erde, dem Sitze des Teufels zu in der Hölle, steigert sich auch in der Welt der Büßer das Streben zum irdischen Paradiese mit dem Nahen zum Gipfel, der Gottesnähe. Die Bußen sind gewissermaßen umgekehrt wie in der Hölle, weil nunmehr der Sünder die Tugenden üben muß, die seiner Sünde entgegengesetzt sind.

Der Anruf der Musen im ersten Gesange spielt auf deren Wettkampf mit den Picriden an (V. 1–27):

Das Schifflein meines Geistes spannt nunmehr
Die Segel auf zur Fahrt auf bessern Fluten;
Denn es enteilt dem grauenvollsten Meer.
Und jenes zweite Reich will ich besingen,
Wo büßend sich des Menschen Seele weiht

[152]
Und würdig wird, gen Himmel sich zu schwingen.

Laßt hier die tote Poesie erstehn,
O heil’ge Musen, weil ich euch gehöre,
Und laßt Kalliope den Flug erhöhn!
Auf daß mein Lied in jenem Ton erschalle,
Der siegend einst die armen Elstern traf,
Zu ew’ger Schmach und zu verdientem Falle. –
Von östlichem Saphir ein milder Duft
Verbreitete bis hin zur ersten Sphäre
Sich durch die Heitre der entwölkten Luft.
Des labte sich mein Auge, jenen Schatten
Der toten Nacht entflohn, die mir vorhin
Die Brust beklemmt, die Sinn’ umnebelt hatten.
Gen Morgen stand der Liebe holder Stern
Und hüllt’ in Schimmer sein Gefolg’, die Fische;
Es lächelte der Ost ihm nah und fern.
Ich wandte mich zur Rechten und erblickte
Am andern Pol vier Sterne, deren Schein
Allein die ersten Sterblichen erquickte.
Der Himmel schien ob ihrem Licht erfreut!
O nördliche verwaiste Regionen,
Die ihr beraubt der schönen Funken seid!

Cato von Utica ist der Wächter zum Zugange des Berges. Er soll wegen seiner Gerechtigkeit beim Jüngsten Gericht erlöst werden.

Der Berg steht auf einer runden Inselfläche. Das rings wachsende Schilf (Demut) bildet die Voraussetzung zu dem Aufstiege, der allmählich immer leichter wird. In den unteren Regionen weilen diejenigen, die des Aufstieges nicht gewürdigt sind.

In den folgenden Gesängen wird der Beginn des Aufstieges geschildert. Die Seelen, die an der Insel landen, stimmen einen Psalm an, der, wie in Dantes Brief an Can Grande gesagt ist, den Weg in die Freiheit ewiger Herrlichkeit feiert. Unter den geretteten Seelen findet Dante den ihm befreundeten Sänger Casella, der eine von Dantes eigenen Kanzonen singt, wohl weil er sie selbst einst in Musik gesetzt hatte. Die Leiber der Abgeschiedenen sind schattenlos, weil das Sonnenlicht durch sie hindurchgeht wie nach Ptolemäus das Licht der oberen Himmelssphären durch die der unteren. Doch haben, wie Virgil [153] ihm erklärt, diese Schattenleiber Empfindungen, die ihnen als Voraussetzung für ihre Buße dienen.

Der untere Teil des Berges ist steiler als die jähesten Aufstiege im Hochgebirge, als dessen Beispiel Dante eine Bergpartie an der Riviera nennt. Unter den Seelen, die nicht die Büßungswelt betreten dürfen, befindet sich König Manfred, der Sohn Friedrichs II. Da er im Kirchenbanne war, bittet er Dante, seine Tochter Konstanze zu benachrichtigen, daß er nicht, wie sie wohl erwartet, in der Hölle sei, und daß er ihrer Fürbitte bedürfe, um in die Welt der Büßer zu gelangen.

Im folgenden Gesange verwahrt sich Dante dagegen, daß er wie die Platoniker selbständige vegetative, sensitive und intellektuelle Seelen übereinander annähme. Denn während er dem Gespräche lauscht, hat die Intelligenz in ihm den Aufstieg der Sonne nicht bemerkt. In einem Engpasse führt der Weg den Berg hinauf zu einem Abhange, der steiler als 45° emporragt. So gelangen die Wanderer klimmend zu der ersten Terrasse, wo nun die Sonne links im Norden zu erblicken ist, gemäß der oben geschilderten Weltstruktur. Auch dort sind noch Geister, die keine Aufnahme gefunden haben, darunter auch ein alter Bekannter des Dichters, der sich der Trägheit zum Guten schuldig gemacht hat.

Es ist inzwischen Mittag geworden. Sie begegnen Seelen von solchen, die durch gewaltsamen Tod verhindert wurden, rechtzeitig Ablaß ihrer Sünden zu erlangen, aber sterbend bereut haben. Sie bestürmen Dante, ihnen durch seine Fürbitte zu helfen.

Immer größer wird die Schar der um Fürbitte Flehenden (6. Gesang). Ihr Anblick veranlaßt ein Gespräch des Dichters mit Virgil darüber, ob denn solche Fürbitte das Schicksal der Verstorbenen ändern könne. – Sie wenden sich weiter und Virgil verweist ihn auf eine Seele, die einsam am Wege steht und ihm die Stätte und den Weg erklären könne (V. 61–151):

Wir traten zu ihm: o wie standest du,
Lombardengeist, mit stolzem, ernstem Wesen,
Wie rolltest du den Blick voll Würd’ und Ruh’!
Er ließ uns, ohn’ ein Wort zu uns zu sagen,
Vorübergehn und schaute nur uns nach:
So pflegt ein Löw’ in Ruh’ das Haupt zu tragen.
Doch da Virgil nun näher zu ihm trat,
Von ihm den besten Ausgang zu erkunden,
Erwidert’ er nicht das, was jener bat;
Nun fragt’ er nach dem Land, das uns geboren.
Mein holder Freund begann kaum: „Mantua“ –

[154]
Als schnell der Schatten, ganz in sich verloren,

Von seinem Stand sich ihm entgegenschwang
Und rief: „Ich bin Sordello, Mantuaner!
Aus deiner Stadt!“ und in die Arm’ ihn schlang. –
Weh dir, Italia, du Haus der Jammer!
Schiff ohne Steuermann im wilden Sturm!
Nicht Länderherrin, nein, der Unzucht Kammer!
Sieh, wie so eifrig dieser edle Geist
Nur um den süßen Klang des Vaterlandes
Dem Stadtgenossen Ehr’ und Lieb’ erweist:
Derweil in dir die Menschen sich befehden,
Und die Ein Wall, Ein Graben in sich faßt,
Einander stets zu plagen sich entblöden.
O schau’ dich um an deiner Meere Strand,
Unsel’ge! Dann blick’ in deinen Busen!
Von welchem Fleck ist Friede nicht verbannt?
Was hilft es, daß Justinian die Zügel
Dir angeschirrt, als zu vermehrter Schmach?
Denn leer ist, ach! dein Sattel, deine Bügel.
Du Volk, das du, dem Kaiser hold und treu,
Im Sattel gern ihn sitzen lassen solltest,
Du trägst vor Gottes Satzung wenig Scheu! –
Sieh, wie das Tier unbändig löckt und schlägt,
Weil es der Sporen Züchtigung nicht fühlte,
Seit du die Hand ihm ans Gebiß gelegt.
O deutscher Albrecht, der sich ihm entzogen,
So daß es wild und widerspenstig ward,
Statt dich zu schwingen in den Sattelbogen!
Dein Blut verzehr’ ein richtendes Verderben
Und mach’ an dir den Zorn der Sterne kund,
Zur grausen Warnung deines Thrones Erben!
Weil euch Gewinneslust nach drüben trieb,
Hast du und hat dein Vater es gelitten,
Daß öd und wüst des Reiches Garten blieb.
Die Filippeschi und Monaldi zagen;

[155]
Sorgloser! Komm und sieh, schon unterdrückt

Die Capelletti und Montecchi klagen!
Grausamer! Sieh, wie’s deinen Treuen geht!
Gedenk’ an ihre Drangsal, ihre Schäden
Und sieh, wie sicher Santafiore steht!
O komm und siehe deine Roma weinen!
Verwitwet, einsam, ruft sie Tag und Nacht:
„Mein Cäsar, willst du nie dich mir vereinen?“ –
Komm dann und siehe, wie so inniglich
Dies Volk sich liebt; und rührt dich Mitlied nimmer,
So komm und schäme deines Rufes dich! –
Und du, für uns zum Kreuzestod gesendet,
Darf ich mich unterwinden, höchstes Heil?
Hat sich dein gnädig Aug’ uns abgewendet?
Wie? Oder wird dadurch ein künftig Gut
Bereitet, unserm Denken ganz verschlossen,
Weil’s noch im Abgrund deines Rates ruht:
Daß jede Stadt Italiens voller Dränger
Und jeder Bube zum Marcellus wird,
Beweist er nun sich als Parteiengänger? –
Du, mein Florenz, magst wohl zufrieden sein
Mit dieser Abschweifung, die dich nicht kümmert;
Dank deines Volkes schlauen Grübelein!
Viel’ sind mit Wortespfeilen karge Schützen,
Obschon Gerechtigkeit im Herzen wohnt:
Dein Volk nur trägt sie auf der Zunge Spitzen.
Viel’ weigern sich gemeiner Stadtgeschäfte:
Dein Volk nur beut sich unberufen an
Und schreit: „Ich lade sie auf meine Kräfte!“
So juble dann! Du hast ja guten Grund.
Bist du nicht friedensvoll, bist reich, bist weise?
Die Tat macht meiner Rede Wahrheit kund.
Athen und Sparta, die die bürgerlichen
Gesetze klug im Altertum vefaßt,
Sind schwache Lehrlinge, mit dir verglichen,

[156]
Weil du so feine Vorkehrungen spinnst,

Daß kaum bis zu Novembers Mitte dauert,
Was im Oktober du mit Fleiß ersinnst.
Wie oft hast du Gesetze, Münzen, Sitten
Seit dieser Menschen Denken umgetauscht?
Wie oft Verwandlung der Gestalt erlitten?
Erprüfst du dich, und bist nicht gar verblendet,
So wirst du jener Kranken dich vergleichen,
Die hin und her auf weichem Flaum sich wendet,
Um ruhelosen Schmerzen zu entweichen.

Im 7. Gesang schildert Virgil auf Sordellos Frage den Zustand in der Vorhölle. Die Wanderer werden dann von ihm in eine Einbuchtung des Berges geleitet, die sich zwischen den Wänden talähnlich erweitert. Je höher der Weg steigt, desto niedriger werden entsprechend die Wände. Das Tal ist von reichem Blumenschmuck erfüllt, der mit allerlei Kostbarkeiten verglichen wird. Hier weilen Könige und Fürsten als Saumselige in der Buße und erwarten Einlaß in die Büßungswelt.

So naht (8. Gesang) der Sonnenuntergang (V. 1–6):

Schon kam die Stunde, die in weichem Gram
Des Schiffers Wunsch zur Heimat lenkt am Tage,
Da er von seinen Lieben Abschied nahm;
Und die des Wallers Brust mit regem Sehnen
Verwundet, wann er ferne Glocken hört,
Die sanft des Tages Sterbeklage tönen.

Die Herrscher singen eine Hymne, die Bitte um Schutz vor nächtlichen Anfechtungen; und darum erscheinen zwei Engel und wehren die Schlange ab, die sich einschleichen will. Ihre Schwerter sind stumpf, weil sie nur der Abwehr, nicht dem Angriffe bestimmt sind.

Auch in der Nacht sind die Züge der Schatten zu erkennen. So findet Dante einen Bekannten aus Pisa, einen Enkel und Gegner des Grafen Ugolino.

In der Nähe des Südpols gewahrt Dante im Dunkel der Nacht ein glänzendes Dreigestirn, die drei christlichen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung, so wie er in der vorigen dort die vier mystischen Lichter der vier Kardinaltugenden gesehen hatte.

Der Morgen bricht wieder herein (9. Gesang, V. 13–45):

[157]
Es war die Stunde, wo beim frühen Schimmer

Des Tags die Schwalb’ ihr Klagelied beginnt,
Als dächte sie ihr altes Leid noch immer;
Und wo der Geist dem Körper sich entzieht
Und, frei von irdisch drückenden Gedanken,
Tiefahnend göttliche Gesichte sieht.
Da träumt’ ich, auf vergoldetem Gefieder
Schwebt’ über mir ein Adler in der Luft
Und wägte sanft die Flügel auf und nieder.
Es deuchte mir, ich läg’ auf jener Flur,
Wo Ganymedes einst, geraubt den Seinen,
Empor zum hohen Götterrate fuhr.
Ich dachte still: Um Raub hinwegzutragen,
Verschmäht der Vogel andre Plätze wohl,
Und will nur hier nach seiner Sitte jagen.
Noch schwebt’ er so, dann, schrecklich wie ein Blitz,
Kam er herabgeschossen, wie mir deuchte,
Und riß mich hin bis zu des Feuers Sitz.
Die Flamm’ ergriff uns beide lichterloh;
Ich fühlte sie, die eingebild’ten Gluten,
Daß Traum und Schlummer alsobald mich floh.
Nicht anders fuhr Achilles auf im Schrecken
Und rollte sein erwachtes Aug’ umher,
Unfähig, wo er wäre, zu entdecken,
Als ihn im Schlaf, aus Chirons Höhl’ entführt,
Der Mutter Arm nach Skyros hingetragen,
Wo ihn nachher die Griechen ausgespürt:
Wie ich empor mich riß, erstaunt, erblichen,
Gleich einem, den ein Schauer überfällt,
Da nun der Traum von meiner Stirn gewichen.
Und sieh! Mein Hort allein stand mir zur Hand;
Zwei Stunden war die Sonne schon gestiegen,
Und mein Gesicht war auf die See gewandt.

Als er nach seinem Erwachen weiter wandert, gelangt er zum Eingang in die Büßerwelt, dessen Ornamentik sich auf die kirchlichen [158] Symbole der Sakramente der Buße beziehen. Siebenmal wird Dante mit der Schwertspitze ein P in die Stirn geritzt (Peccata = Sünde), ehe sich mit donnerähnlichem Laut das Tor öffnet.

Nun führt der Weg zunächst durch den ersten Kreis, ein schmaler, steiler Pfad, der sich zwischen Felswänden emporwindet. Hier büßen die Stolzen im Angesichte von Marmordarstellungen der Demut.

Um die Mittagszeit gelangen die Wanderer zu dem Aufstieg, der zum zweiten Kreise führt. Jeden Übergang zu einem neuen Kreise begleitet Dante mit einem Satze aus den Seligpreisungen.

Im zweiten Kreise (des Neides) ist alles glatt – und fahl wie dies Laster. Die Wanderer wenden sich nach rechts und vernehmen Stimmen, die das Gegenteil des Neides zum Ausdruck bringen. Skulpturen und andere Darstellungen fehlen, da die Büßer blind sind. Sie fingen eine Litanei an die Erben der himmlischen Güter, deren Besitz andere nicht benachteiligt. Hier im 13. Gesange findet sich auch eine Selbstkritik Dantes, der sich mehr Stolz als Neid zum Vorwurf macht.

Es ist inzwischen gegen 3 Uhr morgens geworden. Ein Licht blendet Dante: der Glanz des Engels, der den Aufgang zum dritten Kreise bewacht. Es ist der Kreis des Zorns, und Visionen schildern Beispiele der Versöhnlichkeit und Sanftmut. Dante spricht mit Marco, einem Lombarden oder Venezianer, über den Einfluß der Gestirne auf die zunehmende Sittenverderbnis. Er entwickelt Gedanken, wie sie sich in der „Monarchie“ und dem „Gastmahl“ finden. Mit Engelshilfe gelangen die Wanderer schnell zum nächsten Kreise, dem vierten – zu den Trägen. Die Nacht hindert sie am Weitergehen. Zur Stunde des Sonnenaufganges sieht Dante an dem schon lichter werdenden Himmel ein Sternbild erscheinen, dessen Gestalt nach Ansicht der Geomanten das größte Glück bedeutet: ::: (Ob Dante eine Sterngruppe im Delphin oder den Großen Bären meinte, weiß man nicht.) Im Traum erblickt er eine Sirene als Sinnbild der Sinneslust, deren Widerwärtigkeit nur durch Selbsttäuschung verborgen bleibt. Die Vernunft (Virgil) zerreißt unter dem Einflusse des heiligen Willens den Trug.

Den 5. Kreis (Geiz) erreichen die Wanderer bei Sonnenaufgang. Die Geizigen liegen im Staube und singen Psalm 119, 25. Dort finden sie Papst Hadrian V., dessen Tochter mit Dantes Gastfreund Malaspina verheiratet gewesen sein soll. Dante wendet sich andern Büßern zu. Er erfährt, daß die Büßer sich am Tage mit Beispielen heiliger Armut beschäftigen, des Nachts mit solchen des Geizes. Inmitten der Gespräche erbebt der Berg, aber dies Beben ist – wie ihnen ein Geist, der sich zu ihnen gesellt, erklärt – kein gewöhnliches Erdbeben durch das Walten der Naturkräfte. Er erzittert, weil wieder eine Menschenseele zum Himmel eingeht, da ihre Läuterung vollendet [159] ist und sie im Gefühle ihrer Entsühnung den Wunsch zu diesem Übergange lebhaft freudig empfindet. Vor ihrer völligen Entsühnung wird dieser Wunsch durch die Begier, entsühnt zu werden, aufgehoben. Eine solche frei gewordene Seele ist auch der Geist, der mit den Wanderern spricht und dem das Beben des Berges und der Freudengesang der zurückbleibenden Büßer galt: der römische Dichter Statius, der Dichter der Thebais und Achilleis, der damals fast die gleiche Wertschätzung genoß wie Virgil. Er wird von nun an der Begleiter der beiden.

Wieder tilgt (vor dem Aufstiege zum 6. Kreise) ein Engel eines der P von der Stirn Dantes. Statius berichtet auf dem Wege über sein Leben, und so gelangen sie (nach 10 Uhr vormittags) zum 6. Kreise (der Schlemmer). Hier sind Abbilder und Ableger des Baumes im Paradiese, von dem Eva die verbotene Frucht gepflückt hat. Den Hunger der Büßenden steigert noch der Anblick duftender Früchte. Die Dichter sprechen mit einigen Büßern, aber der Abend ist näher gerückt, sie müssen eilen. So gelangen sie zum 7. (letzten) Kreise, wo die Wolllüstigen einen Hymnus singen und der Worte der Jungfrau Maria gedenken: ‚Ich weiß von keinem Mann.‘

Dabei ist es gegen 5 Uhr nachmittags geworden; die Sonne geht unter. Vorbeiziehende Heere der Büßer kennzeichnen ihre Laster durch die Rufe: „Sodom und Gomorra“ und „Pasiphae“. Die letzteren sind solche, die maßlos im Genusse waren wie Tiere. Pasiphae hatte sich deshalb in dem Bilde einer Kuh verborgen. Der mit Dante redende Geist ist einer der berühmten Vorgänger des Dichters in der Kunst der Kanzonendichtung. Dante ist über diese Begegnung tief beglückt.

Es ist nun Abend. Die Wanderer erreichen die Grenzen zwischen dem Purgatorium und dem irdischen Paradiese bei dem Klange der Seligpreisung: „Selig sind, die reinen Herzen sind.“ Sie haben nun den halben Berg umkreist und machen auf der letzten Stufe Nachtruhe (27. Gesang, V. 70–142):

Eh’ noch die Luft in ebnes Grau zerronnen,
So weit des Horizonts Gewölbe reicht,
Und eh’ die Nacht ihr ganzes Feld gewonnen,
Nahm unser jeder eine Stufe sich
Zur Ruhstatt, weil uns durch die Art des Berges
Zum Steigen mehr die Kraft als Lust entwich.
Gleichwie, wenn sie sich satt gegrast, die Ziegen
In Frieden wiederkäuen, die zuvor
Mit wildem Mut auf Bergeshöhen stiegen:
Sie ruhn im Schatten, weil die Sonne glüht,

[160]
Indes ihr Hirt, auf seinen Stab sich lehnend,
Alte Inschrift - Teufel im Pfuhl, Seite 160

Mit treuem Pflegerblick sie übersieht;
Und wie ein Schäfer, in der nächt’gen Stille,
In freier Luft bei seiner Herde wacht,
Auf daß kein Raubtier sie mit Schrecken fülle:
So ruhten wir daselbst nun, still vereint,
Ich wie die Geiß, und sie wie meine Hüter,
Von Felsenwänden rechts und links umzäunt.
Man sah den Himmel kaum an dieser Stelle;
Doch, wo die Aussicht frei war, schienen mir
Die Sterne wunderbar an Größ’ und Helle.
So sinnig blinkend nach dem Firmament
Fand mich der Schlaf; der Schlaf, der manches Mal
Ein Ding von fern, eh’ sich’s begibt, erkennt.
Und um die Stunde, wo die ersten Strahlen
Der stets von Lieb’ entglühten Cypria
Von Osten sich zu uns herüberstahlen,
Da wähnt’ ich träumend, eine Wies’ entlang
Säh’ ich ein Weib in Jugendschöne wandeln;
Und, Blumen pflückend, sagte sie und sang:
„Wer mich befragt, dem will ich es verkünden:
Ich heiße Lea und bewege rings
Die schönen Hände, einen Kranz zu winden.
Ich schmücke mich, dem Spiegel schön zu sein;
Doch Schwester Rahel weicht von ihrem nimmer.
Sie ruht und sieht den ganzen Tag hinein.
Der holden Augen Schau’n ist all ihr Schmachten,
Wie meins der Hände selbstgewähltes Werk.
Ich finde Wonn’ im Tun, sie im Betrachten.“ –
Das Frühlicht, das vor Tagesanbruch blinkt,
Dem Waller auf der Rückfahrt so willkommen,
Je näher schon ihm seine Heimat winkt,
Verjagte rings umher die tiefen Schatten
Und meinen Schlaf; ich raffte flugs mich auf,
Weil schon die Führer sich erhoben hatten.

[161]
„Heut wird vom Hunger dir die süße Frucht

Genesung schaffen, die an so viel Zweigen
Der Sterblichen vergebne Sorge sucht.“
Mit diesen Worten red’te mich Virgil
Begrüßend an, und keine Freundesgabe
Erregte je mir solch ein Lustgefühl.
Verdoppelt ward mein Trieb hinanzudringen
Durch neuen Trieb; es war bei jedem Schritt,
Als wüchsen zu dem Fluge mir die Schwingen.
So blieb die Stiege unter uns zurück:
Wir standen nun auf ihrer obern Stufe,
Da heftete Virgil auf mich den Blick
Und sprach: „Du sahst das ew’ge Feuer brennen;
Dann das der Büßung, Sohn! Nun bist du hier,
Wo ich, aus mir, nichts weiter mag erkennen.
Durch Kunst und Einsicht bracht’ ich dich hierher:
Jetzt wähle dir die Lust zur Führerin!
Hier ist nicht steiler Pfad noch Mühsal mehr.
Sie schon die Sonne deine Stirn beglänzen!
Sieh Blumen dort, und Rasen, und Gebüsch,
Die hier die Erd’ aus eigner Fülle kränzen!
Bis dir die Augen, wonnevoll und schön,
Begegnen, die dir meine Hilf’ erweinet,
Kannst du hier ruhn und kannst dich auch ergehn.
Erwarte länger nicht mein Wort, mein Winken!
Dein Will’ ist frei, gerecht, untadelig;
Verkehrt wär’s, nicht zu tun nach deinem Dünken.
Drum krön’ ich über dich zum Fürsten dich.

Der Beginn des 28. Gesanges schildert den Anblick des irdischen Paradieses (V. 1–75):

Schon sehnt’ ich mich, das frische, dichte Grün
Der gottgeweihten Waldung zu durchspähen,
Wo dämmernd nur der junge Tag erschien.
Und ohne Säumen wandt’ ich vom Gestade
Mich zu den Augen leise, leise hin,

[162]
Auf überall von Duft erfülltem Pfade.

Ein süßer Hauch, mit immer gleichem Zug
Dem Hain entwallend, wie ein Maienlüftchen,
Berührte mir die Stirn in lindem Flug.
Des hatten sanft erschauend sich gewendet
Die Blätter alle nach der Gegend hin,
Wohin der Berg den ersten Schatten sendet.
Doch ihre rechte Lage störte dies
Nicht so, daß sich der Sänger Volk in Wipfeln
Dadurch in seinen Künsten irren ließ.
Mit voller Lust begrüßten sie den Morgen,
Im Laub, das rauschend ihren Liedersang
In tieferm Ton begleitete, verborgen.
So, in dem Fichtenwald bei Chiassi, windet
Gemurmel sich von Ast zu Ast hinab,
Wenn den Scirocco Äolus entbindet.
Schon hatte mich der alte Hain empfangen,
So daß ich nun die Stelle nicht mehr sah,
Wo stillen Trittes ich hineingegangen.
Und sieh! ein Bächlein hemmte meinen Gang,
Das nach der Linken zu mit kleinen Wellen
Den Rasen bog an seines Bettes Hang.
Die reinsten Wasser, die hienieden quillen,
Sie würden trüb erscheinen und gemischt
Bei diesen Fluten, welche nichts verhüllen;
Obwohl ihr Pfad verstohlen hin sich schlingt,
Hoch überwölbt von ew’gem Schattendunkel,
Wodurch kein Strahl von Mond noch Sonne dringt.
Mein Fuß blieb stehn, und meine Augen flogen
Den Bach hinüber, von dem Lustgemisch
Der grünen Sommerstauden angezogen.
Und wie ein schönes Wunder, das den Geist,
Dem die Erscheinung plötzlich dar sich bietet,
Hinweg von allem andern Denken reißt,
Erschien mir da ein Weib, die mit Gesange

[163]
Sich einsam auf dem Wiesenschmelz erging

Und Blum’ auf Blum las auf ihrem Gange.
„O holdes Weib, belebt von Himmelsglut,
Wie mir die lieblichen Gebärden sagen,
In denen oft die Seele kund sich tut!
Vergib,“ so sagt’ ich, „wenn ich kühn dich bitte:
Komm näher! Wend’, auf daß mein Sinn dein Lied
Vernehmen mag, zu diesem Bach die Tritte!
Du rufst in mir ein täuschend Bild hervor
Von Proserpinens Reiz und jenem Tale,
Wo sie den Lenz, die Mutter sie verlor.“ –
Wie Tänzerinnen sich auf zarten Füßen
Behende drehn, so daß im engen Schritt
Die Fersen stets sich aneinanderschließen,
So wandt’ auf Gold- und Purpurblümlein sich
Das schöne Weib zu mir heran und senkte
Die Augen mädchenhaft und sittiglich.
Sie machte des mich froh, was ich begehrte,
Und nahte mir sich so, daß ich nunmehr
Den süßen Ton samt seiner Deutung hörte.
Sobald ich hinkam, wo in sanftem Lauf
Der schöne Fluß des Rasens Halme badet,
Schlug sie mit Huld die Augenlider auf.
Ich glaube, selbst von Venus’ Wimpern blitzte
Kein Licht wie dies, als ihres Sohnes Pfeil
Ihr einst den ungewohnten Busen ritzte.
Sie lächelte vom andern Ufer her
Und pflückte stets noch von dem Wunderboden
Der ohne Saat entsproßten Farben mehr.
Obwohl der Fluß drei Schritt’ uns nur entfernte,
So war der Hellespont, wo Xerxes einst
Die Ohnmacht seines Trotzes fühlen lernte,
Verhaßter doch Leandern nicht, wenn ihn
Der Fluten Ungestüm von Sestos bannte,
Als der mir jetzt ein Feind und Neider schien.

[164] Mathilde – ihr Name wird erst im letzten Gesange der „Büßerwelt“ flüchtig erwähnt – stellt die werktätige Seite der Heiligkeit dar. Wen Dante in ihr schildern wollte, ist nicht bekannt. Sie erklärt die frohe Stimmung an dieser Stätte, der Wiege des Menschengeschlechts: der Anblick der Herrlichkeit Gottes läßt die Seligen den Gram über Sünde und Tod vergessen. Sie begründet weiter den reichen Schmuck der Landschaft mit der sanften Luft, die zugleich fruchtbare Keime über die Erde verbreitet. Dann werden die Dichter von ihr am Flusse Lethe entlang stromaufwärts geführt. Ihnen kommt Beatrice in einem Zuge entgegen als Verkörperung der Kirche. Sieben goldene Leuchter symbolisieren die sieben Gaben des Heiligen Geistes: Einsicht, Rat, Weisheit, Wissenschaft, Frömmigkeit, Stärke, Gottesfurcht. Streifen aus ihren Flammen bemalen die Luft mit den Farben des Regenbogens. Die sieben Streifen sind die sieben Sakramente. Vor dem Wagen der Beatrice (Kirche) sind 24 Greise, die 24 Bücher des Alten Testaments nach der Zählung des Hieronymus. Der Greif vor dem Wagen ist das Symbol Christi, der die beiden Naturen des Adlers und Löwen in sich vereinigt, die göttliche und menschliche Natur. Rechts von dem Wagen wandeln die christlichen Tugenden: Liebe, Hoffnung, Glaube, in ihren drei Farben rot, grün und weiß; links die vier Kardinaltugenden, die schon oben erwähnt wurden. Dann folgen die Bücher des Neuen Testamentes.

Nunmehr übernimmt Beatrice an Stelle Virgils die Führung des Dichters (30. Gesang, V. 1–145):

Der Nordstern, der am höchsten Himmel funkelt,
Der nimmer Untergang noch Aufgang kennt,
Von keinem Nebel als von Sünd’ umdunkelt,
Und der von ihrer Pflicht die Sel’gen dort
Belehrt, wie der an unsrer niedern Feste
Den Steu’rmann leitet zum gehofften Port,
Stand nun in Ruh’: als jene Bundsgefährten,
Die vor dem Greifen hergezogen, sich
Zum Wagen, wie zu ihrem Frieden, kehrten.
Und Einer, wie von Gott gesendet, sprach
Und sang es dreimal laut: „Komm, meine Traute,
Vom Libanon!“ und alle riefen’s nach.
Wie sich, wenn einst der letzte Ruf erschallt,
Die Sel’gen schnell der Höhl’ entreißen werden,
Gekleidet in verherrlichte Gestalt:

[165]
So standen hundert Diener Gottes, Boten

Der ew’gen Ruh’, vom Siegeswagen auf,
Sobald das Wort des Greises sie entboten.
„Gesegnet, der da kommt!“ rief all die Schar;
Und, Blumen übers Haupt und um sich werfend:
„Bringt Lilien mit vollen Händen dar!“
Ich sah zuweilen, wann der Tag begonnte,
Des Ostens Regionen rosig blühn
Und schöne Bläue sonst am Horizonte;
Und sah die Stirn der Sonne wie im Schatten
Der Dünste sich erheben, so daß lang
Die Augen sie ertrugen, ohn’ Ermatten.
So, in der Blütenwolke, die empor
Aus Engelhänden stieg und, wieder fallend,
Sich in dem Wagen und ringsum verlor,
Erschien ein Weib mir, über weißem Schleier
Mit Öl bekränzt; ein grüner Mantel flog
Um ihr Gewand, von Farbe licht wie Feuer.
Und meinem Geist, der schon so lange Zeit
Vordem in ihrer Gegenwart gewohnet,
Betäubte nicht des Staunens Bangigkeit.
Geheime Kraft, die von ihr ausging, weckte
Die Allgewalt der alten Lieb’ in mir,
Eh’ meinem Schau’n ihr Auge sich entdeckte.
Kaum aber wurde mein Gesicht geblendet
Vom Strahl der hohen Kraft, die mich durchblitzt,
Eh’ ich der Kindheit Tage noch vollendet,
So wandt’ ich mich zur Linken, so bewegt,
Wie sich ein Kind zum Mutterbusen flüchtet,
Wenn es erbangt und wenn es Kummer hegt.
„Mir bebt in Adern jedes Tröpflein Blut,“
So wollt’ ich zu Virgilen sagen: „siehe,
Das sind die Zeichen meiner alten Glut!“
Doch ach! Virgil war schon uns weggeschwunden,
Virgil, mein Vater und mein holder Freund,

[166]
Virgil, den ich zu meinem Heil gefunden.

Was Eva einst verlor, half da mir nicht,
Um unbetaut die Wangen mir zu wahren;
Es trübten Tränen doch mein Angesicht.
„Du weinest, weil Virgil sich dir entrissen?
Nein, Dante, weine noch, o jetzt noch nicht!
Du wirst ob andrer Dolche weinen müssen.“ –
Wie ein Seeheld, der am hohen Bord
Das Schiffervolk in seinem Tun beachtet
Und es ermutigt durch sein Herrscherwort,
So sah ich an des Wagens linker Lehne,
Als ich mich wandt’ auf meines Namens Ruf,
Den ich, weil Not es fordert, hier erwähne,
Das Weib, das mir zuvor die Jubelschar
Der Himmlischen verschleiert, deren Auge
Von drüben her auf mich geheftet war.
Obschon der Schleier, der von ihrem Haupte,
Von Pallas Laub umgeben, niederfiel,
Ihr Antlitz frei zu schauen nicht erlaubte,
Fuhr sie doch stolz, nach königlicher Art,
Zu reden fort, wie einer, der im Herzen
Noch glühendere Reden aufbewahrt.
„Wohl bin ich Beatrix! Schau her und siehe!
Wie mühtest du dich doch den Berg hinan,
Und wußtest nicht, daß Menschenheil hier blühe?“
Mein Aug’ fiel nieder in die klare Flut;
Ich sah mich drin und wich bestürzt zum Rasen,
So lastete die Scham mir Stirn und Mut.
Sie schien mir übermütig, wie dem Sohne
Die Mutter scheint, wenn sie ihn bitter schilt.
Grausame Güte war in ihrem Tone.
Sie schwieg; die Engel sangen plötzlich nun:
„Ich trau’, o Herr, auf dich!“ doch bei der Zeile:
„Auf weiten Raum“, da ließen sie’s beruhn.
So wie sich zwischen den bemoosten Stämmen

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Des Apennin der Schnee zu Eis verdickt,

Wenn Winterstürm’ ihn hoch zusammendämmen;
Dann in sich selbst zertaut, sobald der Wind
Dem schattenlosen Teil der Welt entwehet,
Wie eine Kerz’ am Feuer schnell zerrinnt:
So war ich tränenlos und ohne Stöhnen,
Eh’ jene sangen, deren Lieder stets
Akkorde mit den ew’gen Sphären tönen.
Doch als ich in den süßen Melodien
Ihr Mitleid so vernahm, als ob sie sagten:
„O holdes Weib, warum zermalmst du ihn?“
Da ward der Frost, der rings mein Herz umschlossen,
Zu Hauch und Tau, die aus beklommner Brust
Sich nun durch Mund und Auge frei ergossen.
Sie stand zur Rechten auf dem Wagen dort
Noch stets und wandte zu den heil’gen Wesen
Ihr Antlitz nun, und nahm also das Wort:
„Euch ist des Lebens ew’ger Tag beschieden,
Und Nacht und Schlaf entzieht euch keinen Schritt
Der Sterblichkeit auf ihrem Wege nieden.
Allein, auf daß mich jener Sohn der Erden
Vernehme, red’ ich doch mit solchem Fleiß:
Denn Buß’ und Schuld soll gleich gemessen werden.
Nicht durch die Macht der Himmelskreis’ allein,
Die, je nachdem die Sterne sich gesellen,
Jedwedem Keime Form und Art verleihn;
Nein, auch durch Gottes reiche Gnadenfülle,
Die aus so hohen Wolken sich ergießt,
Daß nie ein Aug’ erforscht, woher sie quille,
War er beim Eintritt in sein neues Leben
Berufen und bestimmt, sich wunderbar
Hervorzutun in jedem edlen Streben.
Doch wüster wird und dorniger ein Feld,
Mit schlechter Saat besät und unbeackert,
Je mehr ihm üpp’ge Kraft den Boden schwellt.

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Auf kurze Zeit bewahrt’ ihn meine Jugend:

Ich ließ ihn in mein kindlich Auge schaun
Und führt’ ihn so mit mir den Weg der Tugend.
Doch kaum, daß ich hier oben Bürgerin,
Noch früh am Tage meines Lebens, wurde,
Verließ er mich und gab sich andern hin.
Als ich, befreit von meinem Erdenschleier,
Zu höh’rer Schön’ und Tugend war gediehn,
War ich ihm minder lieb und minder teuer.
Nach Glücksphantomen trieb ihn nun sein Hang,
Die stets in dem, was sie verheißen, lügen,
Und trieb aus Irr’ in Irre seinen Gang.
Der Himmel hat ihn, mir zulieb’, gelockt,
In Träumen oft, und oft mit leisen Stimmen;
Allein umsonst! Er ward nur mehr verstockt.
Und fiel so tief, daß alle Mittel nun
Ihn nicht mehr retten konnten, außer dieses,
Ihm der Verworfnen Wohnung aufzutun.
Darum durchwandelt’ ich der Toten Pforte
Und rührte den, der ihn hierhergebracht,
Durch bange Seufzer und durch fleh’nde Worte.
Gebrochen würde Gottes hoher Rat,
Dürft’ er sogleich in Lethes Flut sich baden,
Und müßte nicht zuvor für solche Tat
In bittern Tränen sich der Reu’ entladen.“

Nunmehr redet Beatrice, die bisher nur von Dante in dritter Person gesprochen hat, direkt mit ihm, richtet die Spitze des Schwertes auf ihn und fordert das Geständnis seiner Schuld. Nach dem Freispruche wird er von Mathilde in den Lethe getaucht und von den vier Kardinaltugenden empfangen. Die drei anderen Tugenden schärfen seine Augen, und schließlich entschleiert ihm Beatrice auf Bitten der drei heiligen Nymphen ihr Antlitz.

O Strahlen ewiger, lebend’ger Helle!
Wer sann so blaß sich in Parnassus’ Schatten,
Und trank so tief Apollos reine Quelle,

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Daß sein Gemüt nicht schiene zu ermatten

Bei dem Bemühn, zu sagen, wie ihr waret,
Wo euch die Himmel tönend überschatten,
Nun hüllenlos den Lüften offenbart.

So erblickt er sie nach zehnjähriger Sehnsucht wieder; sein geblendetes Auge muß sich erst an den Anblick gewöhnen. – Dann schließt er sich mit Statius und Mathilde dem Zuge an. Er entschläft bei dem Gesange und erwacht, wie die drei Jünger auf dem Berge der Verklärung erwachten – er sieht in einer Vision die Schicksale der Kirche: der Wagen verwandelt sich durch die Macht des irdischen Besitzes in ein Ungetüm, auf dem die apokalyptische Hure als Sinnbild des entarteten Papsttums thront, mit einem Riesen (dem französischen Königshaus) buhlt und zum Lohn mißhandelt und entführt wird.

Diese Vision, die auf Verlegung des päpstlichen Sitzes nach Avignon hindeutet, löst einen Gesang der heiligen Frauen aus, und Beatrice spricht tröstende Worte: Sie weissagt dem Kaisertum eine bessere Zukunft, in der sich auch das Dunkel dieses Anblicks lichten würde. Noch sei aber Dante allzusehr durch weltliche Gedanken überkrustet und könne die Gesichte nicht deuten.

Inzwischen sind sie im Gespräch mit ihrem Gefolge zum Rande des Waldes gelangt, und durch eine Taufe in dem zweiten Flusse des Paradieses, Eunoe, wird die Läuterung des Dichters vollendet (31. Gesang, V. 139–145):

Ich kehrte von den heil’gen Wellen wieder,
Wie junge Pflanzen mit verjüngten Sprossen.
Voll Jugendkraft die neugebornen Glieder,
Zum Sonnenflug geweihet und entschlossen.