Die Gartenlaube (1858)/Heft 36

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1858
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 36. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Leyer und Schwert.
Historische Novelle von Max Ring.


I.

Noch nie war das Burgtheater in Wien so gedrängt voll gewesen, als bei der ersten Aufführung des neuen Trauerspiels „Zriny“ von Theodor Körner. Die Jugend des Dichters, die Wahl des Stoffes und die vortreffliche Besetzung hatten ein überaus zahlreiches Publicum herbeigelockt, das mit gespannter Erwartung dem Beginn der Vorstellung entgegensah. Das Parquet war zum großen Theil von den anwesenden Ungarn eingenommen, deren nationaler Held in dem Stücke gefeiert werden sollte. In den Logen saß die Elite der Wiener Gesellschaft, die hochgestellte Aristokratie und die reiche Finanzwelt. Neben der liebenswürdigen Frau von Pereira bemerkte man den preußischen Gesandten, Wilhelm von Humboldt, der, ein Freund von Körner’s Vater, ein ganz besonderes Interesse an dem Erfolge dieser ersten Aufführung nahm.

Der Dichter selbst befand sich hinter den Coulissen, wo er noch einige nöthige Anordnungen zu treffen hatte, obgleich schon mehrere kleine Stücke von ihm auf der Bühne mit großem Beifalle gegeben waren, so konnte er sich doch einer gewissen Aufregung nicht erwehren, die sich in seinen hastigen Bewegungen und in dem stärkeren Pochen seines Herzens bekundete. Es ist ein eigenthümliches Gefühl, das wohl jeden dramatischen Schriftsteller bei einer ersten Aufführung zu ergreifen pflegt. Die größte Aehnlichkeit hat diese Empfindung mit der des Spielers, welcher eine hohe Summe auf eine Karte setzt. Wer mit dem Theaterleben nur einigermaßen bekannt ist, der weiß nur zu gut, daß alle Berechnungen hier täuschen können, und der Zufall seine wunderlichen Launen hat. Die Stimmung des Publicums ist so veränderlich, wie das Glück; sie hängt von einem Ungefähr, von der Lust oder Unlust der Schauspieler, von einer mangelhaften Decoration, von der Ungeschicklichkeit eines Statisten ab. Dennoch liegt ein wunderbarer Zauber in dieser Ungewißheit des Erfolges, und wer einmal mit den Bretern, welche die Welt bedeuten, genauere Bekanntschaft gemacht hat, der läßt nicht bald davon, und wird selbst von einem Mißlingen nicht so leicht zurückgeschreckt.

Aehnliche Gedanken bewegten die Seele des jungen Dichters, der von Hoffnung und Zweifel bestürmt wurde. Das Bild der geliebten Eltern umschwebte ihn, und er gedachte wohl auch des Kummers, den ein nicht vorauszusehender Durchfall seines Trauerspiels diesen bereiten würde. Der treffliche Vater, hinlänglich bekannt als der Freund Schiller’s, hatte die früh sich äußernde dichterische Thätigkeit des jungen Theodor eher zurückgedrängt, als gefördert. Aus eigener Anschauung kannte er das eben nicht beneidendswerthe Loos eines deutschen Poeten. Er rieth um so mehr von einer solchen Laufbahn ab, da er als fein gebildeter Kenner und Kritiker die höchste Anforderung an jeden Dichter stellte, und über alle mittelmäßige Leistungen entschieden den Stab brach.

Der erfahrene, lebenskluge Mann hatte dem Sohne erst vor Kurzem in diesem Sinne geschrieben:

„Zu bedauern ist Jeder, der von der Gunst der Musen Unterhalt erwartet. Nähren soll den Mann sein Geschäft, und hierzu soll sich der Jüngling vorbereiten. Zu der Kunst treibt ihn die Liebe, und was sie ihm dagegen darbietet, hat er blos als Geschenk anzunehmen, aber nie als auf einen Sold darauf zu rechnen. – – Die Kunst sei die Würde Deines Lebens. Widme ihr Deine schönsten Stunden, aber nicht immer zur Production, sondern oft auch zum Studium.“

Theodor besaß trotz seiner Jugend hinlängllche Besonnenheit, um die Richtigkeit dieser väterlichen Worte einzusehen, aber auf der andern Seite trieb ihn sein Genius und der jugendliche Schöpferdrang zu immer neuen Versuchen. Das Glück war ihm dabei in auffallender Weise günstig gewesen; mehrere kleine Lustspiele hatten von Seiten des nachsichtigen Wiener Publicums eine überaus freundliche Aufnahme erfahren, selbst ein größeres Schauspiel „Toni“, nach einer Novelle von Heinrich Kleist gearbeitet, wurde mit enthusiastischem Beifall aufgenommen, und machte den Namen des Dichters schnell bekannt. Um so mehr fürchtete er einen Umschlag der öffentlichen Meinung, zumal er sich in seinem neuen Trauerspiele „Zriny“ auf ein ihm bis jetzt fremdes Gebiet der Geschichte gewagt hatte.

Er verschwieg auch den Schauspielern, welche in seiner Nähe standen, nicht seine Besorgnisse, während diese dem jungen Dichter Muth einzusprechen versuchten.

„Verlassen Sie sich auf mich,“ sagle der erste Liebhaber Korn, welcher die Rolle des „Juranitsch“ in dem Drama spielte. „Ihr Zriny wird nicht durchfallen, dafür haben Sie gesorgt. Der Stoff ist herrlich und die Begeisterung, die aus Ihren schönen Versen weht, muß zünden. Ich kenne meine Wiener. Geben Sie Acht, das Stück macht Furore und bringt Ihnen Geld und Ehre ein.“

„Das gebe Gott,“ seufzte der ängstliche Dichter. „Je länger ich mit dem Theater zu thun habe, desto unsicherer fühle ich mich.“

„Das geht uns Allen so,“ sagte der tüchtige Charakterdarsteller Ochsenheimer. „Ich bekomme jedes Mal wieder das Lampenfieber, wenn ich in einer neuen Rolle auftrete. Für den Ausgang kann Einem kein Mensch einstehen. Ich habe in meiner [510] Bühnenpraxis Geschichten erlebt, die sich gar nicht erzählen, geschweige gar erklären lassen. Das Publicum ist ein vielköpfiges Ungeheuer.“

„Und was haben nicht Dichter und Schauspieler von der Kabale und den verwünschten Recensenten auszuhalten!“ bemerkte der feurige Schauspieler Grüner. „Die Kerle sollte man eigentlich alle hängen lassen.“

„Bis jetzt habe ich mich über die Kritik nicht zu beklagen,“ entgegnete bescheiden der Dichter. „Sie hat meine geringen Versuche mit einer anerkennungswerthen Nachsicht aufgenommen.“

„Wird noch kommen,“ brummte der erfahrene Ochsenheimer. „Mit jedem Erfolge wächst auch die Zahl der Feinde, aber trösten Sie sich nur, lieber Herr Körner! Mein Wahlspruch ist: besser Neider als Mitleider.“

Das erste Zeichen, welches jetzt der Inspicient gab, unterbrach die Unterhaltung, und sämmtliche Künstler eilten auf ihren Posten. Körner selbst stellte sich in eine Coulisse, und sah dem Treiben der Maschinisten zu, die noch mit dem Aufstellen der Decorationen beschäftigt waren. Die Bühne bietet hinter dem Vorhange dem Beobachter ein ganz verschiedenes Bild von ihrer gewöhnlichen Erscheinung dar. Der Zauber verschwindet, die Illusionen werden zerstört; die goldenen Paläste und bezaubernden Gärten verwandeln sich in der Nähe in grobe Pinseleien und Kleckse; die gediegene Pracht erweist sich als betrüglicher Flitter. Alles ist nur auf Täuschung aus der Ferne berechnet. Man sieht die grobe Schminke, die lügenhafte Pracht, den falschen Putz, welche durch die künstllche Beleuchtung erst ihre volle Wirkung thun. Die ungeschickten Statisten mit ihren nichtssagenden Gesichtern drängen und stoßen sich, die Schauspieler, denen der Dichter sein theuerstes Gut anvertraut, scherzen und lachen, reden von den gleichgültigsten Dingen oder treiben ihre Possen. Selbst die wahren Künstler sind nur mit sich und dem Triumph beschäftigt, den sie durch ihre Rolle zu erlangen hoffen. Das Ganze kümmert sie weit weniger, als der eigene Erfolg. Verlassen steht der Dichter voll banger Erwartung, ohne daß auf ihn die nöthige Rücksicht genommen wird. Er bleibt allein mit seinem Zweifel, seinen Hoffnungen und Befürchtungen.

Ein ähnliches Gefühl beschlich auch Theodor, je näher der entscheidende Augenblick herannahete. Er hörte das Brausen des sich immer mehr anfüllenden Hauses, die Unruhe des Parquets, die Ungeduld des sich drängenden Parterres, welches wie das Meer hin und her wogte, und sein Opfer zu verlangen schien. Zwar besaß er hinlänglichen Muth, aber in solchem Momente wird auch der Muthige verzagt, und die lebhafte Phantasie des Dichters erging sich wider Willen in schreckenden Bildern. Alle Schwächen und Fehler seines Werkes, die er selber nicht verkannte, die Einwürfe seiner Freunde, denen er es vorgelesen, fielen ihm jetzt ein, und hätte es noch in seiner Macht gestanden, so wäre die Aufführung wenigstens am heutigen Tage unterblieben. Er hatte sein Trauerspiel erst vor einigen Wochen den geistreichen Freunden seines Vaters, Wilhelm von Humboldt und dem berühmten Aesthetiker Friedrich Schlegel vorgelegt, die Beide sich äußerst vortheilhaft darüber geäußert hatten; aber selbst die Billigung dieser ausgezeichneten Kunstkenner vermochte nicht, in diesem Momente seine aufsteigenden Besorgnisse zu beschwichtigen.

Weit besser gelang dies einem reizenden Mädchen, das jetzt für die Rolle der „Helene“ vollkommen angekleidet aus der Damengarderobe heraustrat, und den ängstlichen Dichter mit einem vertraulichen Kopfnicken begrüßte. Es war dies die junge und höchst talentvolle Schauspielerin Antonie Adamberger, seit kurzer Zeit der Liebling des Wiener Publicums. Die anmuthige Künstlerin besaß in ihren Zügen, wie in ihrem ganzen Wesen, den Zauber echter Weiblichkeit, dem kein Herz, und am wenigsten das eines Dichters zu widerstehen vermochte. Sie war eine jener seltenen Erscheinungen im Theaterleben, welche in dieser geschminkten Welt voll Täuschung und Lüge sich die ganze Wahrheit und Unschuld einer ursprünglichen Künstlernatur zu bewahren wissen. Nicht der leiseste Flecken lag auf ihrem Leben, und die Verleumdung verstummte in ihrer reinen Nähe. Voll Begeisterung für ihren Beruf, hatte sie sich der Bühne gewidmet, einzig und allein ihrer Kunst lebend. Ebenso durch körperliche Reize wie durch ihr Talent glänzend, fehlte es ihr nicht an Verehrern und Bewunderern, aber noch hatte kein Mann einen Eindruck auf ihr Herz gemacht, und alle Bewerbungen um ihre Liebe wurden bald mit feinem Spott, bald mit würdigem Ernst von ihr zurückgewiesen. Sie lebte zurückgezogen unter der Obhut ihrer trefflichen Eltern und der alten Großmutter, welche von ihr mit rührender Zärtlichkeit gepflegt und verehrt wurde.

Was bis jetzt keinem Manne gestattet war, hatte sie Theodor erlaubt, sie in ihrem Hause zu besuchen. Sie war in einigen seiner Stücke mit dem größten Beifalle aufgetreten, und so mit ihm bekannt geworden. Natürlich fehlte es zwischen dem jungen Dichter und der reizenden Künstlerin nicht an vielfachen Berührungspunkten, aus denen nach und nach ein der Liebe verwandtes Gefühl erwuchs. Theodor achtete indeß Antonien zu hoch, um eines jener gewöhnlichen Verhältnisse anzuknüpfen, die in der Bühnenwelt oft eben so leicht geschlossen, wie gelöst werden.

Es war ihm heiliger Ernst mit seiner Neigung, und als er das Geständniß seiner zärtlichen Leidenschaft nicht länger zurückzuhalten vermochte, so bot er mit Bewilligung seiner vorurtheilslosen Eltern der überraschten Künstlerin mit seinem Herzen auch seine Hand, ohne sich um das Vorurtheil der Menge und um das Geschwätz gewisser Kreise zu kümmern, welche über die Verbindung mit einer Schauspielerin vornehm die Nase rümpften. Nur eine Bedingung hatte der Vater des Dichters dem Sohne auferlegt, nämlich mit seiner Verheirathung noch einige Jahre oder doch wenigstens so lange zu warten, bis er eine angemessene Anstellung gefunden haben würde, um sich und seine Braut hinlänglich zu ernähren. Die Liebenden fügten sich dem väterlichen Ausspruche, indem sie den weisen Grund vollkommen einsahen auf ihr gutes Glück bauten. Einige hochgestellte und einflußreiche Gönner des jungen Paares, welche mit seinen näheren Verhältnissen bekannt, bemühten sich im Stillen, ihm die vorläufig seinen Wünschen und seinem Talente ganz entsprechende Stelle eines kaiserlichen Hof-Theaterdichters mit einem nicht unansehnlichen Gehalte zu verschaffen. Zum Theil von der Aufnahme der heutigen Vorstellung hing das von ihm ersehnte Ziel und der Erfolg jener Bemühungen bei dem damaligen Intendanten, dem Fürsten Lobkowitz, ab.

Dieser Umstand und besonders der Stolz, seinen Eltern nicht länger zur Last fallen zu wollen, war ein zweites und bedeutendes Gewicht in der Wagschale der gegenwärtigen Aufregung. Zu dem Ehrgeiz des Dichters gesellte sich die Sehnsucht des Bräutigams, der sobald als möglich die Erwählte seines Herzens heimführen wollte.

In derartige Gedanken versunken, bemerkte er daher nicht eher die holde Künstlerin, bis ihn der Saum ihres Gewandes leise streifte und ihre Hand leise berührte. Er blickte auf, und ein unwillkürlicher Ausruf der Bewunderung entschlüpfte seinen Lippen. So schön war ihm seine „Toni“ noch nie erschienen. Sie war bereits für ihre Rolle vollkommen angekleidet; eine Tunika von weißer Seide umspannte ihre schlanke Gestalt, während der ungarische Kalpak mit wehenden Reiherfedern sich keck auf ihrem Lockenhaupte wiegte. Ein idealer Hauch umschwebte das anmuthige Mädchen, welches mit schwärmerischen, seelenvollen Blicken an den Zügen des Dichters hing. Sie schien in seinem Innern zu lesen und zu wissen, was in seiner Brust vorging.

„Muth, mein theurer Freund!“ flüsterte sie leise, ihm die Hand drückend. „Eine innere Stimme sagt es mir, daß der Abend für uns Beide ein schöner werden wird. Dein Trauerspiel muß dem Publicum gefallen.“

„Du bist eine bestochene Richterin,“ lächelte er ihr zu, „und überträgst die Liebe zu Deinem Dichter auch auf seine Werke.“

„Du irrst, mein geliebter Theodor! Wie oft hab’ ich nicht schon Deine Arbeiten einer strengen Kritik unterworfen und Dich getadelt. Die echte Liebe ist nicht blind, sie sieht die Schwächen und Fehler an dem geliebten Gegenstande; denn wenn sie nichts zu entschuldigen und zu vergeben hätte, so wäre ihr ja das schönste Vorrecht geraubt.“

„Und Du vergibst und entschuldigst so gern und viel. Toni! Du bist mein guter Engel.“

„Wenn ich der wäre, so würde ich heute bei dem lieben Gott ganz besonders für Dich bitten, daß er Dir einen glänzenden Erfolg schenkt.“

„Du wirst mehr thun. Du wirst auf den Schwingen Deiner Kunst mein Werk zum Himmel tragen und in Deinen Rollen das Publicum bezaubern, wie Du mich bezaubert hast.“

„Das will ich thun, so weit ich es vermag. Du sollst einmal sehen und selber urtheilen, wie ich die Helene spielen werde. [511] Die Rolle hast Du mir aus der Seele geschrieben. Es ist mir, so oft ich sie ansehe, gerade so zu Muthe, als wären es meine eigenen Gedanken und Gefühle, die Du mir abgelauscht, als wäre ihr Geschick das meinige, als müßte ich einst, wie sie, mit Dir für das Vaterland sterben und als ein heiliges Opfer der guten Sache fallen.“

Während die Schauspielerin so sprach, leuchteten ihre Augen von einem überirdischen Glanze und sie schien dem Dichter selbst wie die Verkörperung jener idealen Heldenjungfrau in seinem Trauerspiele, die, ihres Vaters würdig, den Tod der Schande vorzieht und durch die Hand ihres geliebten Juranitsch wie eine edle Römerin zu sterben weiß.

Eben wollte Theodor ihr mit gleichem Enthusiasmus antworten, als die Glocke des Souffleurs den Beginn der Vorstellung verkündigte. Er hatte nur noch so viel Zeit, um einen innigen Kuß auf die Hand der Geliebten zu drücken, welche auf die andere Seite eilte, wo sie ihr Stichwort zu erwarten hatte. Das kurze Gespräch mit Toni hatte ihn wunderbar gekräftigt und alle seine Befürchtungen verscheucht. Das alte Vertrauen war zurückgekehrt, die Spannung verschwunden, und als der Vorhang langsam in die Höhe rauschte, vermochte er der Aufführung mit einer Ruhe zu folgen, als handelte es sich um das Werk eines andern und ihm völlig fremden Dichters.

Eine athemlose Stille herrschte in dem vollen Hause bei den ersten Scenen, allmähllch wurde das Publicum wärmer und folgte dem Verlaufe der Handlung mit wohlverdienter Theilnahme, die sich bereits im zweiten Aufzuge zu mehrfachen Ausbrüchen des lauten Enthusiasmus steigerte. Besonders sprach die Scene zwischen den Liebenden an, welche meisterhaft gespielt wurde. Juranitsch stürzte fort zum neuen Kampfe und ließ die geliebte Braut zurück. Toni sprach als „Helene“ den schönen Monolog mit einer Innigkeit und Zartheit, welche das Publicum zur Bewunderung hinriß; sie hauchte in wunderbar rührenden Tönen ihre Klagen aus:

Leb’ wohl, leb’ wohl! – Müßt’ er mich jetzt verlassen?
Mir wird das Herz so voll, wenn ich ihn sehe,
Die Luft ist mir so süß in seiner Nähe –
Die Glückliche, sie darf ihn stets umfassen.
Daß all’ die schönen Farben so verblassen!
Daß ich den einen Strahl nie wiedersehe!
Ach Gott! – mir war so wohl in seiner Nähe,
Und jetzt bin ich so einsam und verlassen! –
Wo ist er hin? – wo ist mein Stern geblieben? –
Von kühnem Geist nach stolzer Bahn getrieben,
Nein, wie sein Herz, unendlich, wie mein Lieben! –
Ich träume schwer; die Burgen seh’ ich rauchen!
Könnt’ ich mein Herz in seine Seele tauchen,
Der Ahnung Qual in Thränen auszuhauchen!

Als sie geendet hatte, ging anfänglich nur ein leises Gemurmel des Beifalls durch die Räume des Theaters. Die Zuschauer waren noch zu ergriffen, um sogleich durch ein rohes Händeklatschen den mächtigen Eindruck zu stören. Erst wie sie langsam die Bühne verließ, folgte ihr der laute Sturm der Bewunderung nach. – Theodor selbst war auf das Tiefste erschüttert, seine eigenen Verse erhielten in dem Munde der Künstlerin eine fast prophetische Bedeutung. Ein Schauer erfaßte ihn und seine Augen wurden naß. Als sie an ihm vorüberging, vermochte er kaum, ihr zu danken. Sie schien ihn zu verstehen und lächelte ihn freundlich an.

Der fernere Verlauf der Darstellung entsprach vollkommen der erregten Erwartung, von Scene zu Scene wuchs der Beifall des Publicums und als am Schlusse die Gattin Zriny’s mit der Fackel auf dem Pulverthurme stand, die Heldenschaar zum Tode gerüstet sich auf die Feinde stürzte, da fiel der Vorhang unter dem tobenden Jubel der begeisterten Zuschauer, welche wiederholt den Namen des gefeierten Verfassers riefen. Besonders waren die anwesenden Ungarn entzückt von der Verherrlichung ihres vaterländischen Leonidas, aber auch die guten Wiener wurden von dem Heldentode Zriny’s mächtig ergriffen und fühlten die nahe liegende Bedeutung des zeitgemäßen Stoffes, welcher auf die immer mehr hervortretenden Sympathien für die Befreiung Deutschlands von dem Joche des fremden Unterdrückers anzuspielen schien.

Alle diese Umstände vereinigten sich, dem Verfasser eine bisher in den Räumen des Burgtheatsrs noch nie erhörte Auszeichnung zu verschaffen. Es war fast das erste Beispiel, daß ein Dichter, der nicht zugleich Schauspieler gewesen wäre, von dem Publicum in dieser Weise geehrt wurde. Körner nahm auch deshalb Anstand, dem immer stürmischer werdenden Rufe sogleich Folge zu leisten, aber das aufgeregte Haus gab nicht eher nach, bis er, von dem Schauspieler Grüner fast mit Gewalt fortgezogen, auf der Bühne erschien.

Es war ein in seinem Leben unvergeßlicher Augenblick.

Die Herren begrüßten ihn mit wiederholtem Zuruf, die Frauen, und darunter die schönsten und vornehmsten Damen der Wiener Aristokratie, lehnten sich weit vor über die Brüstung ihrer Logen, um den Gefeierten zu sehen.

Theodor bedurfte einiger Augenblicke, um sich zu sammeln und seinen Dank in schmuckloser Rede auszudrücken.

„Ich fühle es deutlich in mir,“ sagte er mit bebender Stimme, „daß ich diesen schönen Zuruf nicht meiner schülerhaften Muse, nein! nur dem schönen Eifer des edlen Künstlervereins und dem begeisternden Andenken an die große That einer großen Nation zu danken habe.“

Als der Vorhang zum letzten Mal am heutigen Abend gefallen, der Jubel verbraust und die Glückwünsche der ihn umringenden Schauspieler verstummt waren, suchten seine Blicke die holde Braut, welche mit vor Seligkeit strahlenden Augen ihm die Hand reichte.

„O!“ flüsterte sie, sich innig anschmiegend, „ich bin so glücklich mit Dir, daß ich mich fast vor unserem Glücke fürchte.“

„Wie kommst Du zu solchen Gedanken?“

„Mir ist es immer, als drohte unserer Liebe ein schweres Mißgeschick.“

„Was auch kommen mag, unsere Liebe wird jede Prüfung bestehen. Ich bin Dein auf ewig.“

„Ewig!“ wiederholte Toni mit nachdrucksvoller Bedeutung.




II.

Einige Tage war von nichts Anderem in Wien die Rede, als von dem Erfolge des jungen Dichters und von seinem Trauerspiele. Alle Welt wollte das Stück sehen und den Verfasser kennen lernen. Sämmtliche Plätze für die nächsten Vorstellungen waren schon im Voraus vergeben, die Billete wurden weit über den gewöhnlichen Preis bezahlt. Theoder fehlte es nicht an Einladungen und Beweisen der ehrenvollsten Theilnahme von Seiten der ersten Wiener Häuser. Selbst die Salons der Aristokratie standen ihm offen und mancher schöne und sonst so stolze Mund hatte für ihn ein freundliches Lächeln und ein aufmunterndes, selbst zuvorkommendes Wort.

Es gehörte schon ein hoher Grad von Charakterfestigkeit dazu, um nicht der gewöhnlichen Eitelkeit zu verfallen und sich von dem allgemein gestreuten Weihrauch nicht betäuben zu lassen. Zum Glück besaß Körner nicht jene Selbstüberschätzung, woran so manches schöne Talent schon zu Grunde gegangen ist. Außerdem hatte er an dem trefflichen Vater und an den Freunden desselben, besonders an Humboldt, die besten und zugleich schärfsten Beurtheiler seiner Leistungen, die ihn weder durch Schmeicheleien einwiegten, noch durch übermäßige Strenge entmuthigten.

Das Glück war ihm in dieser wie in jeder anderen Beziehung auffallend günstig. Mit zweiundzwanzig Jahren hatte er bereits einen hervorragenden Namen in der deutschen Literatur und noch dazu auf dem überaus schwankenden Boden des Drama’s eine fast gesicherte Stellung sich errungen. Seine Eltern legten ihm ferner keine Hindernisse in den Weg bei der Wahl seines Berufes und ihre Wohlhabenheit und Freigebigkeit schützten ihn vor der gemeinen Sorge des Lebens. Der bekannte und hochgeachtete Name seines Vaters erleichterte ihm den Eintritt in die Gesellschaft, öffnete ihm die besten Kreise, welche sonst selbst dem Verdienste schwer zugänglich sind, verschaffte ihm Freunde, die ihn nach allen Seiten förderten, und ebnete alle seine Pfade. Zu dem Allen kam noch die Liebe einer schönen, geistreichen und tugendhaften Künstlerin, die er in kurzer Zeit als sein holdes Weib heimzuführen gedachte. Und als wollte das Geschick nicht müde werden, seinen Liebling mit reichen Gaben zu überschütten, so fügte es zu dem Uebrigen noch neue und gewichtige Gunstbezeigungen hinzu.

Kaum waren einige Tage nach der ersten Aufführung des Zriny verstrichen, so beeilte sich der kaiserliche Theaterintendant, Fürst Lobkowitz, den Dichter für immer in Wien zu fesseln, indem er ihm jetzt von freien Stücken die Stelle eines Hof-Theaterdichters mit einem für die damaligen Verhältnisse ganz ansehnlichen Gehalte antrug. Körner nahm dies Anerbieten an, um so bald als [512] möglich selbstständig zu werden und die Unterstützung seiner Eltern, von der er noch zum Theil lebte, entbehren zu können. Wurden auf diese Weise seine materiellen Ansprüche und Wünsche erfüllt, seine Zukuft gesichert, so versetzte ihn ein Brief von Goethe, den er in jener Zeit erhielt, in wahrhaftes Entzücken. Der deutsche Dichterfürst, ebenfalls ein Freund von Körner’s Vater, bekundete in seinem Schreiben die größte Anerkennung für das Talent des strebsamen Jünglings, dessen kleinere Lustspiele er mit Beifall auf der Weimarschen Bühne, die unter seiner Leitung stand, zur Aufführung gebracht hatte. Der Meister ließ es dabei nicht an trefflichen Rathschlägen für den hoffnungsvollen Schüler fehlen, den er zu sich einlud, um unter seinen Augen das Bildungswerk zu vollenden.

Mit dem Decrete seiner Anstellung als Hof-Theaterdichter und den ehrenvollen Zeilen Goethe’s eilte Theodor zu der Geliebten, um sie an seiner Freude Theil nehmen zu lassen. In Toni’s Nähe verschwanden ihm die Stunden wie Augenblicke, indem sich Beide mit jugendlicher Schwärmerei den lachenden Bildern der Zukunft überließen.

„In wenigen Monaten,“ sagte er, sie sanft umschlingend, „wirst Du mein geliebtes Weib. Dann bauen wir uns in dem freundlichen Döblingen ein trautes Nest, umgeben von duftenden Blumen und rankendem Weinlaub. Da will ich für Dich dichten und die schönsten Rollen schreiben. Du wirst meine Muse, meine Göttin sein.“

„Und ich werde für meinen Dichter sorgen und ihm das Leben so behaglich und angenehm machen, wie ich nur kann. Es soll Dir an nichts fehlen und selbst die „gebackenen Händel“, die Du so gern ißt, bereitet Dir Deine Muse, welche über die Kunst nicht das Kochen verlernt hat, mit eigener Hand.“

So scherzte das anmuthige Mädchen und machte den glücklichen Dichter noch glücklicher durch ihre sonnig helle Heiterkeit und kindliche Naivetät.

Als Körner nach längerem Verweilen in seine Wohnung zurückkehrte, fand er daselbst einen Adjutanten des Erzherzogs Karl von Oesterreich, des berühmtesten deutschen Feldherrn, der in seinen Kämpfen gegen Napoleon sich ewigen Ruhm erworben hatte. Der überraschte Dichter fragte den Officier nach der Ursache seines Besuches.

„Ich komme,“ sagte dieser, „im Auftrage des Erzherzogs, der Sie persönlich kennen zu lernen wünscht, nachdem er Ihr herrliches Gedicht auf die Schlacht von Aspern gelesen und Ihren Zriny gesehen. Seine kaiserliche Hoheit erwartet morgen um die zehnte Stunde Ihren Besuch, um Ihnen mündlich seine höchste Anerkennung auszusprechen.“

Mit einem achtungsvollen Gruße verabschiedete sich der Adjutant und ließ Theodor in seliger Verwirrung zurück. Der Held, den er am meisten verehrte, in dem er das Ideal eines deutschen Mannes erblickte, hatte an ihn gedacht und sich mit den Leistungen seiner Poesie beschäftigt. Jetzt sollte er den hohen Herrn auf dessen ausdrücklichen Wunsch von Angesicht zu Angesicht sehen, ihn kennen lernen und ihm gegenüber seine Bewunderung aussprechen dürfen. – Wie schlug sein Herz, von gewaltigen Empfindungen bewegt, als er die Treppen des erzherzoglichen Palastes emporstieg. Derselbe Adjutant, der ihn vorher aufgesucht, empfing ihn und führte ihn in das Audienzzimmer, wo er ihn bat, einige Augenblicke zu verweilen. Die ganze Umgebung zeichnete sich durch würdevolle Einfachheit aus, fern von jedem Luxus und dem gewöhnlichen Prunk der Großen. An den Wänden hingen einige Portraits von berühmten Feldherrn aus früherer Zeit, wie Prinz Eugen und Laudon. Auf dem Schreibtische lagen mehrere Bücher und Landkarten, in denen der Besitzer so eben studirt zu haben schien. Dies Alles deutete auf einen Fürsten hin, der die Vorzüge seiner hohen Geburt durch eigene Tugenden zu überstrahlen und nicht durch äußeren Glanz, sondern durch inneren Werth zu imponiren liebte. Während Theodor sich ähnlichen Betrachtungen mit jenem ehrfurchtsvollen Schauer überließ, den uns die Nähe jeder wahrhaft großen Natur einzuflößen pflegt, öffneten sich die hohen Flügelthüren. Durch das Geräusch aufmerksam gemacht, wandte er sich um. Vor ihm stand ein Mann im kräftigsten Lebensalter von mehr untersetzter als hoher Gestalt, die jedoch durch eine gewisse würdevolle und feste Haltung gehoben wurde. Sein längliches Gesicht trug die bekannten Züge des österreichischen Kaiserhauses, umflossen von einer unbewußten Majestät und geadelt durch den Ausdruck einer geistigen Ueberlegenheit, welche sich, mit angeborener Bescheidenheit gepaart, hinter die einfachsten Formen seines Benehmens und wohlthuenden Herzlichkeit verbarg.

Er war das Bild eines echten Deutschen, bei dem eine fast unscheinbare Schale den trefflichen Kern umgab. Er wollle mehr sein als scheinen.

Nur in seinen Blicken, die bis in die Tiefe der Seele drangen, verrieth sich das Genie. Seine Augen leuchteten bald im milden Glanze, bald in flammender Gluth. Das Wetterleuchten der Schlachten zuckte dann und wann in diesen blauen Sternen.

Der Erzherzog warf einen prüfenden Blick auf die jugendliche, anmuthige Gestalt des Dichters, der sich tief verneigte. Mit wohlwollendem Lächeln trat er auf ihn zu, seinen ehrfurchtsvollen Gruß erwidernd.

„Ich habe Sie rufen lassen,“ sagte er freundlich, „um Ihnen meinen Dank zu bekunden. Nicht dem Dichter allein, sondern vor Allem bin ich dem deutschen Manne diese Anerkennung für die Gesinnung schuldig, welche Sie in Ihrem herrlichen Liede „Auf dem Schlachtfelde von Aspern“ ausgesprochen haben.“

„Ihre kaiserliche Hoheit beschämen mich durch Ihre Güte. Ich fühle nun in diesem Augenblicke, daß mein Talent an der Größe meiner Aufgabe scheitern mußte. Das Wort des Sängers schwindet vor der That des Helden.“

„Sagen Sie lieber, vor den Thaten eines Volkes, das zu jedem Opfer stets sich bereitwillig gezeigt, wenn auch leider die von uns gestreute blutige Saat nicht immer die gewünschte Frucht getragen hat. Doch wir haben unsere Pflicht gethan, unsere Ehre gewahrt; das Uebrige liegt in Gottes Hand.“

Plötzlich brach der Erzherzog diese schmerzlichen Ergießungen ab, indem er sich bemühete, dem Gespräche eine andere Wendung zu geben. Er lenkte die Unterhaltung auf das Gebiet der Literatur, deren neueste Erscheinungen und Fortschritte er mit überraschender Aufmerksamkeit verfolgt zu haben schien. Er sprach mit hoher Anerkennung von Goethe, mit Begeisterung von den Dramen Schiller’s, wobei er längere Zeit verweilte. Dann erging er sich mehr in allgemeinen Betrachtungen über den Beruf des wahren Dichters, indem er vor allen Dingen den nationalen Standpunkt hervorhob.

„Sie haben,“ bemerkte er, „mit Ihrem „Zriny“ einen höchst glücklichen Wurf gethan, weil die Wahl des Stoffes Ihnen die reichsten Anknüpfungspunkte an die Gegenwart bot, und die in Aller Herzen lebenden Sympathien dafür erweckte. Ich bin nicht der jetzt allgemein verbeiteten und selbst von den geistreichsten Männern vertheidigten Ansicht, daß die Kunst nur um ihrer selbst willen da sei. Sie darf sich nicht selbstgefällig isoliren, und über die schöne Form den Inhalt und ihre Beziehungen zu dem Leben und seinen Ansprüchen aufgeben. Wenn sie wirken und Segen bringen soll, so muß sie im Vaterlande und im Volke Wurzeln haben. Sonst bekommen wir eine Kunst- oder Stubenpoesie, die, auf die sogenannten Gebildeten berechnet, dem eigentlichen Volke ewig fremd und ungenießbar bleibt. Gerade in einer Zeit, wie die gegenwärtige, darf sich der Dichter nicht abschließen, er hat die schöne Aufgabe, die Liebe zum Vaterlande zu erwecken, den gesunkenen Muth zu erheben –“

„Und wenn der Augenbllck kommt,“ fiel Körner mit jugendlicher Schwärmerei ein, „die Leyer mit dem Schwerte zu vertauschen und mit seinem Tode die Wahrheit seiner Lieder zu besiegeln.“

„Von Ihnen glaube ich,“ entgegnete der Erzherzog, „daß Sie nicht bloße Phrasen bringen. Ich traue Ihnen zu, daß Sie eben so rasch zu dem Schwerte greifen werden, wie zu der sanften Cither, wenn das Vaterland Sie ruft.“

„O, daß die Zeit schon da wäre!“

„Die Zeichen deuten auf große Ereignisse; in Spanien hat sich das Volk erhoben und kämpft mit wahrem Löwenmuthe; der Brand von Moskau wirft seinen ersten Flammenschein furchtbar und erhaben in die Welt, wie das „Mene-Tekel“, von der Hand des Ewigen geschrieben. Die deutschen Herzen schlagen lauter, und wenn mich nicht Alles täuscht, so gehen wir einer gewaltigen Katastrophe, einem wahrhaften Befreiungskampfe entgegen.“

(Fortsetzung folgt.)




[513]
Das Jubelfest in Jena.

Ja, es ist viel Freude und Lust gewesen während des Jubiläums in dem alten Jena! Die schönen Tage sind vorüber, aber die Erinnerung wird Allen theuer und erquicklich bleiben bis an’s Ende ihres Lebens. Nicht ein einziger Mißton hat sich in die Erhebung und den Frohsinn gemischt, nicht eine einzige Störung das heitere Leben getrübt, und ich behaupte dreist: nie ist ein schöneres Fest gefeiert worden, nie eins gelungener ausgefallen.

Es war ein freier, frischer und froher Geist, der die vielen Tausende beseelte, welche aus allen Himmelsgegenden herbeigezogen waren. Von den Bergen winkten Fahnen ihren Gruß herab, und wie war das liebe Städtchen so prächtig geschmückt! Alle Ehre den Bürgern von Jena! Sie haben ihr Mögliches gethan. Die Häuser waren neu angestrichen, auf allen wehten Fahnen, die gleichsam einen Baldachin bildeten, bunt und farbig; hoch vom Stadtthurme flatterte die riesige Flagge der Universität; schwarz-roth-goldne Banner, die Symbole der Burschenschaft, spielten zu Hunderten in Sonne und Wind, und neben ihnen die Fahnen der verschiedenen Corps und die Farben des weimarischen Landes. Auch das weiße Kreuz der Schweizer winkte an manchen Stellen herab. Schon am Feiertage (13. August) und noch mehr am Sonnabend, zogen in jeder Viertelstunde ganze Schaaren alter Jenenser ein, zum Theil auf Leiterwagen; denn woher hätte die Post bedeckte Fuhrwerke für die Tausende nehmen sollen? Männer mit grauem Haar sangen das Fuchslied, abwechselnd mit dem: Stoßt an, Jena soll leben! und schwenkten die Hüte; sobald sie die Stadt erblickten, bemächtigte sich ihrer eine festliche, heitere Stimmung dann wurden die Straßen durchzogen, in denen frohe Menschen auf und ab wogten, und welche Erinnerungen tauchten auf! Man fand alte Freunde wieder; man erfreute sich einer Ueberraschung nach der andern, und während man eben mit dem Einen den Austausch der Gefühle und der Gedanken begonnen hatte, kam schon eine Anderer, und so ging es von früh bis spät ununterbrochen fort.

Jena kann stolz sein und kann Jene belächeln, von denen es bemäkelt wird. Wie viele äußerten an jenen schönen Augusttagen: „Es ist doch ein wahres Lebensglück, daß wir gerade hier studirt haben.“ Diese Hochschule hat eine so eigenthümliche Stellung, wie kaum eine andere. Sie ist Landesuniversität für die thüringischen Herzogthümer, deren Fürsten ihre Pflege anvertraut worden ist, aber sie trägt doch mehr als irgend eine andere Universität einen allgemein deutschen Charakter. Sie ist lange ein wahres Seminarium gewesen, aus welchem andere Lehranstalten sich ihre großen Männer holten, die in Jena gebildet waren oder dort die ersten Sporen in der Wissenschaft verdienten; sie hat auch auf die Entwickelung des Studentenlebens einen größeren Einfluß geübt, als irgend eine andere. Niemand darf ungestraft von seinen großen Traditionen abfallen, und Jena ist so glücklich, sich die seinigen zu bewahren. Es zeugt von Beschränktheit, wenn die Anhänger des starren Buchstabens dieser Hochschule das Gepräge des theologischen Dogmatismus von Anno 1550 aufdrücken möchten, wenn sie jammern und schelten, daß Jena nicht eine Beute jener Richtung geworden sei, welche die Wissenschaft an Formeln binden möchte, die vor dreihundert Jahren aufgestellt wurden und zu deren Sclaven sie den Geist im neunzehnten Jahrhundert machen möchten.

Seit man in mehreren Staaten Hochschulen in den Hauptstädten gegründet hat, sind jene in den kleineren Ortschaften theilweise allerdings in den Hintergrund getreten. Während die Ersteren mit reichlichen Mitteln ausgestattet werden und wissenschaftliche Sammlungen von europäischer Bedeutung haben, ist der Aufwand für die kleineren nicht nach Erforderniß gesteigert worden. Universitäten wie Berlin und München üben schon an sich eine große Anziehungskraft und entziehen den übrigen Tausende von Studirenden. Selbst Heidelberg und Bonn bringen es nie zu mehr als etwa achthundert Studenten, Göttingen hat kaum so viele, während die Zahl vor einem Jahrhundert die doppelte war; Leipzig und Tübingen halten sich Jahr aus Jahr ein auf derselben Höhe, weil dort die Landeskinder alljährlich ihr regelmäßiges Contingent liefern. Auch ziehen gegenwärtig die technischen Wissenschaften und die polytechnischen Schulen viele Köpfe an, welche früher Universitäten besuchten. Es ist, solchen Verhältnissen gegenüber, geradezu böswillig, die Abnahme der Frequenz auf der Universität Jena der freisinnigen Richtung ihrer theologischen Professoren schuld zu geben. Mit größerem Rechte könnte man sagen, daß Jena in unseren Tagen glänzender dastehen würde, wenn die thüringischen Staaten für dieses Kleinod mehr Geldmittel bewilligten, jährlich nur etwa 50,000 Thaler mehr, damit es möglich wäre, viele Männer der Wissenschaft ersten Ranges zu berufen und so zu besolden, wie es an den großen Universitäten geschieht. Das ist aber nicht der Fall. Ein zweiter Uebelstand liegt vielleicht darin, daß man in zu weitem Umfange den Brauch befolgt, Professorensöhne wieder als Professoren anzustellen. Gewiß sind dieselben tüchtige Männer, aber den Hochschulen thut es stets gut, wenn recht viel Elemente aus der Ferne gewonnen werden; dadurch wird die Reibung und Regsamkeit der Geister befördert.

Doch genug davon; den Anklagen gegenüber, welche gewisse Leute gegen Jena erheben, waren obige Bemerkungen nicht überschüssig.

Die Weltbedeutung Jena’s, als einer Univeritas literarum, sprang Jedem auf den ersten Blick in’s Augen der die Straßen durchwandelte. Es war ein guter Gedanke, die Häuser, in welchem einst bedeutende Männer gewohnt, mit Tafeln zu schmücken, auf welchen der Name und Jahreszahlen verzeichnet stehen. Und welche Namen treten uns entgegen? Kein London und Wien, kein Berlin oder Paris hat größere. Man fühlt deutschen Stolz, wenn man auf diese Tafeln sieht. Es ist eine wahre Milchstraße von Berühmtheiten aller Facultäten; vor Allem aber haben in Jena Männer gelebt, welche schöpferisch auf unsere Nation wirkten, und denen sie es verdankt, daß sie an der Spitze der Culturvölker steht, daß sie Herrscherin im Gebiete des Geistes ist. Kein Hauptpastor Götze und kein Formelgläubiger hätte Ruhm auf unser Deutschland gehäuft; wer wüßte von solchen Zionswächtern etwas, wenn nicht Lessing sie unsterblich gemacht hätte? Aber Männer, die ich nennen will, die auf den Tafeln in Jena verzeichnet stehen, die dort gelehrt oder gelernt haben, die sind es, auf welche das Vaterland mit Stolz blickt; sie, die vollen frischen Geist ausströmten, der die Wissenschaft belebte, und eine unberechenbare Summe von Wohlthaten in’s Leben brachte.

Da sehe ich die Namen: E. M. Arndt, den Platoniker Ast, die Romantiker Clemens Brentano und Novalis, Hölderlin, Tieck und die Schlegel; Steffens, Hegel, Fichte, Schelling, Reinhold, Tannemann und Herbart; Fries, Krause und Krug; den alten Klopstock; den Symboliker Creuzer, Joh. Matthias Gesner, der in der Erklärung der Alten so correct war, Hase aus Paris, Eichstädt, Eichhorn, Gottfried Hermann, Göttling, Reisig, Jakobs, Ilgen, Lobeck, Schütz, Johann Heinrich Voß, Ersch, Gruber und den unsterblichen Winckelmann. Ich lese die Namen des Dichters von Hagedorn, Friedrich Schiller’s und von Knebel’s; des alten Jahn’s und Salzmann’s; jenen von Luden und Troxler, von Liscow und Musäus, Posselt, Manso und Woltmann; ich lese auch jenen Grollmann’s und der beiden Humboldt.

Und unter den Theologen finde ich Namen wie de Wette, Paulus, Reimarus, Augusti, Baumgarten-Crusius, Gabler, Griesbach, Credner und jenes Großmann welcher den Gustav-Adolf-Verein gestiftet; die Juristen können sich Thibaut’s, Feuerbach’s, Savigny’s und Justus Möser’s rühmen; während die Reihe der Naturforscher und Aerzte nicht minder Namen ersten Ranges in Menge zählt. Der wunderliche Helmstädter Beireis und Blumenbach, Döbereiner und Froriep, Gall und Lichtenstein, Heinly und Oken, Hufeland und Langenbeck, Loder und Pfaff, Rees von Esenbeck und Rudolphi, der Biolog Treviranus und Siebold, – sie alle gehörten Jena an. Solche Früchte hat Jena getragen unter der Obhut seiner Erhalter, und es wird trotz geringerer Studentenzahl seine Bedeutung für das gesammte Deutschland behalten, so lange es seinem eigenen guten Geiste treu bleibt. Ich habe die Todten genannt; auch unter den Lebendigen und rüstig in der Gegenwart Arbeitenden kann es mehr als einen Lehrer und viele Männer, welche in Jena ihre Bildung erhalten haben, andern [514] größeren Hochschulen dreist zur Seite stellen. Und deshalb sage ich mit dem alten Burschenliede: Pereant osores!

Der Zug am Sonntag Morgen war stattlich und wurde durch den Regen, welcher zwei Stunden lang fiel, nicht gestört. Großes Interesse erregten die berühmten Männer, welche als Abgeordnete anderer Hochschulen gekommen waren, um den großen Tag zu verherrlichen. Wenn keine deutsche Universität einen namhaften Theologen der Formelrichtung, sogen. Orthodoxen, zum Gruß und Glückwunsch geschickt hatte, so wurde ein solcher Mangel höchst freudig verschmerzt; was solche Theologen unterlassen hatten, geschah von Paris und Petersburg, Tiflis in Georgien und Straßburg, von Schweizern und Ungarn. Sie alle waren willkommen und huldigten froh dem Geiste, wie er in Jena stets gelebt und sich hoffentlich stets erhalten wird. Die Festpredigt des Kirchenraths Schwarz war Jena’s würdig; kräftig und mild, anregend und eindringlich; sie wirkte wohltäthig auch dadurch, daß sie nicht, was höchst unpassend gewesen wäre, dogmatisirte oder theologisch eiferte, während sie doch, um mit Luther zu sprechen, den Anfeindern der Universität und ihres Geistes „auf’s Maul schlug.“ Es wird wohl getroffen haben. Die Predigt ist gedruckt, und drei starke Auflagen wurden in zwei Tagen vergriffen.

Ueber das Festmahl, die Ernennung der Ehrendoctoren, unter welchen vielleicht einige Spreu ist, und die amtlichen Vorgänge überhaupt werden wohl die Zeitungen ausführlich berichten, und ich brauche derselben nicht zu erwähnen. Mir kommt es darauf an, einige Federzeichnungen zu liefern. Ein Maler würde in Jena zu Genrebildern eine große Menge Stoff gefunden haben. So zum Beispiel war das ganze Treiben der Studenten höchst malerisch. Sie zogen auf mit Marschällen und Fahnen, die Schläger blitzten, und die Gesichter sagen so frisch und munter darein, daß man seine rechte Freude daran hatte. Alle Verbindungen hatten neue Fahnen erhalten, die an jenem Tage eingeweiht wurden; auch die Bürgerschützen und die Innungen und Schulkinder fehlten nicht in dem Zuge, welcher dann die große Kirche füllte.

Schon am Sonnabend hatten viele alte Freunde sich zusammengefunden und gingen in Gruppen, Arm in Arm. Viele hatten ihre Verbindungsbänder und farbige Mützen mitgebracht, die sie vor Jahrzehnten getragen, und das ganze Treiben in Jena hatte etwas ungemein Farbiges, Buntes, Anmuthendes. Die Feier war, mit Ausnahme einer zweistündigen Unterbrechung am Sonntag Morgen, von heiterm Himmel begünstigt, der gewiß seine Freude an dem muntern, frischen Treiben gehabt hat. Prachtvoll wirkten Feuer, welche am Sonnabend Abend auf allen Bergen emporloderten, in’s Thal hinableuchteten, und sich in der Saale widerspiegelten. In der großen Festhalle im Paradiese saßen frohe Menschen bis spät in die Nacht beisammen, während zugleich alle Gasthäuser gefüllt waren, und die verschiedenen Verbindungen ihre Commerse hielten. Dabei will ich eine Bemerkung nicht unterdrücken. Während meines viertägigen Aufenthaltes in Jena habe ich auch nicht einen einzigen lärmenden Menschen gesehen, nicht gesehen oder gehört, daß irgend eine Irrung oder ein Zank vorgekommen sei. Das Benehmen Aller, der Studenten wie der herbeigeströmten Landleute, der Bürger wie der Fremden, war in der That musterhaft und in hohem Grade preiswürdig: der Großherzog von Weimar, welcher dem Feste seine lebhafte Theilnahme schenkte, muß auch an einem so anständigen Benehmen Aller seine Freude gehabt haben; überall wurde der Nutritor nicht nur, wie sich von selbst versteht, mit Hochachtung begrüßt, sondern ihm tönte auch überall freudiger Jubel entgegen. Er ist in der That ein Schirmer von Jena.

Das Standbild seines Ahnherrn, Johann Friedrich’s des Großmüthigen, Dichters des kernigen, von allem Dogmatismus freien „Kurfürstenliedes“, prangt stattlich auf dem Marktplatze, und wurde in der Gegenwart des Großherzogs enthüllt. Die Weihrede war zu lang, was bei dergleichen Gelegenheiten, wie überall, ein Fehler ist; aber am Ende sank die Umhüllung, und da stand, in schimmerndem Erze, kräftig und markig, der alte Recke, welcher so viel schwere Tage erduldet, aber doch mannhaft geblieben, er, der Gründer der Jenaischen Universität. Die Arbeit des Berliner Bildhauers Drake ist in der That ein Meisterwerk, und macht der Sculptur Ehre; die malerische Tracht war geschichtlich gegeben, und ist zugleich kleidsam und monumental. Aber allgemein war der Eindruck, daß das Postament für ein solches Standbild viel zu winzig sei.

Ein Fackelzug fehlte natürlich nicht; und das Gaudeamus klang voll in die Lüfte. Die meisten ehemaligen Jenenser schloß sich gruppenweise den Verbindungen an, zu welchen sie einst gehört, und waren bei diesen willkommen. Von den Corps sind manche eingegangen; die alten Teutonen mit schwarz-roth-gold-grün, die Constantisten, Vandalen und Westfalen verschwanden, waren aber an den Festtagen wieder durch Einzelne vertreten. Es hatte für sie etwas Wehmüthiges, wenn sie so in einem kleinen Häuflein beisammen saßen und sich der alten Zeit erinnerten. Ich sah sechs oder sieben alte Teutonen aus den zwanziger Jahren, unter welchen, ich wußte es im Voraus, der tapfere, schon früher von mir erwähnte „Rups“ nicht fehlen würde. Der Treffliche war in poetischer Stimmung, er blickte in’s Paradies und träumte vor sich hin, bis ihm dann jener Weimaraner, der ihm vor vierunddreißig Jahren den rechten Arm gelähmt, entgegentrat. Sie umarmten sich und – tranken einmal.

Ich ließ die officiellen Festlichkeiten möglichst bei Seite; mir lag daran, Gemüthseindrücke aufzunehmen, und zu sehen und zu hören, wie die heutige akademische Jugend denkt und fühlt. Ich mischte mich in die Gesellschaft aller verschiedenen Verbindungen. Es ist ein heiterer, frischer Muth unter diesen Studenten, sowohl unter jenen der Corps, als unter den Burschenschaften. Jena zählt drei Corps: Sachsen, Thüringer und Franken, und drei Burschenschaften: Teutonen, Germanen und Leute vom Burgkeller. Alle hatten ihre „Kneipen“ prächtig herausgeputzt, wie denn überhaupt Jena so grün aussah, als sei der ganze Birnamwald in dasselbe eingerückt.

Der Burgkeller ist nicht mehr er selbst, und ich habe ihn mit Wehmuth betrachtet. Zwar die Treppenstufen sind noch so schlecht wie vor dreißig Jahren, aber wo sind die alten Säulen im untern Zimmer geblieben, wo die angeräucherten Wände, welche Anspruch darauf machten, einmal weiß gewesen zu sein? Sie sind hin; man sieht tapetenartig überpinselte Mauern, braun lackirte Tische, Bilder an den Wänden, der forsche Tisch und der Trompetertisch haben ihren Auszug gehalten; – es behagte mir nicht mehr, der Trunk, den ich nahm, schmeckte mir nicht. Dort unten hausen die Burgkelleraner. Leute mit rothen Mützen; sie bildeten unter den burschenschaftlichen Parteien den linken Flügel, sind Männer des Progresses und verwerfen das Duell völlig; sie sind grundsätzliche Gegner desselben. Damit haben sie die reine Vernunft auf ihrer Seite; da sich aber im Raume oftmals die Sachen sehr hart aneinander stoßen, und das Abstracte schwer zur Geltung gelangt, so haben diese Männer des Progresses den andern Studenten gegenüber eine schiefe Stellung, und stehen außerhalb des allgemeinen Verbandes. Die oberen Räume des Burgkeller sind im Besitze der neuen Germanen, die, so viel ich erfahren habe, das Duell nicht unbedingt verwerfen, aber den Corps keine Satisfaction geben. Sie scheinen eine Art von burschenschaftlichem Centrum zu bilden, und hatten sich während des Festes mit den Leuten, die im Erdgeschoß des Burgkellers hausen, in bedingter Weise vereinigt. Ich ging mit einigen alten Freunden Abends auf ihren Saal, und wir kamen gerade recht, um eine interessante Mittheilung zu hören. Ein alter, noch sehr stattlicher und rüstiger Lützower Jäger, Prediger Horn aus Mecklenburg, erhob sich und erzählte, wie die Burschenschaft gestiftet worden sei:

Unter den Studenten Jena’s herrschte, gegenüber der Napoleonschen Schmach, ein patriotischer Ingrimm. Ein Theil von ihnen beschloß, die Waffen zu ergreifen und für das Vaterland zu kämpfen. Sie verließen bei Nacht und Nebel die Stadt, gelangten unter mancherlei Gefahren über die Elbe und erreichten Breslau. „Dort wählte,“ so sprach Pastor Horn, „kein geringerer Mann, als König Friedrich Wilhelm der Dritte von Preußen, für uns die Farben schwarz, roth, gold, als Sinnbild der vaterländischen Sache; das ist der Ursprung dieser herrlichen Farben; ein König hat sie gewählt und wer Euch sagt, daß sie einen revolutionären Ursprung haben, der lügt; ich sage, er lügt!“

Dann schilderte er ergreifend, wie nach erfochtenem Siege und nach Befreiung des Vaterlandes von fremdem Joch die Jugend sich zur Burschenschaft vereint habe. Die alten Landsmannschaften seien ein Abbild der Zerrissenheit Deutschlands gewesen, durch, Zerrissenheit sei das letztere eine Beute der Fremden geworben; aber die Jugend habe, so viel an ihr gewesen, dazu helfen wollen, daß eine solche Schmach nicht wiederkehre. Ihrer Vier seien zusammengetreten und hätten auf der Tanne, dem bekannten Gasthaus an der Saalbrücke, die Verfassungsurkunde der Burschenschaft entworfen. Pastor Horn [515] fügte die Namen derer hinzu, von welchen die einzelnen Abschnitte verfaßt worden seien.

Seitdem sind mehr als vierzig Jahre verflossen und in Jena haben sich durch alle Wechselfälle hindurch Burschenschaften erhalten. Sie sind ein Spiegelbild der verschiedenen Bestrebungen in der deutschen Jugend. Es ist löblich, daß ihre Angehörigen sich in vaterländischem Sinne ausbilden, sobald sie alle Ausschreitungen vermeiden. Es schadet nicht, wenn manchmal der Becher überschäumt, dagegen hatte selbst König Philipp II. von Spanien nichts einzuwenden; aber in’s staatliche Leben einzugreifen, ist niemals Beruf der Jugend, der die Erfahrung mangelt. Diesen Satz sprach auf dem Commers der Teutonen einer ihrer Sprecher, ein Hannoveraner, sehr scharf aus und bezeichnet die Grenze, innerhalb welcher die deutsche Jugend sich zu halten habe. Diese Teutonen bildenden rechten Flügel unter den Jenensischen Burschenschaftern; sie pauken mit den Corps. An diesen rüstigen, frischen Leuten hatten wir Aelteren unsere wahre Freude; der Redner, welcher ihren Commers eröffnete, ein Braunschweiger, ein noch junger Mann, hielt eine prächtige Rede, in welcher Weihe und Schwung mit großer Klarheit des Gedankens vereinigt waren. In Bezug auf den letztern Punkt scheinen diese Teutonen die Dinge richtiger zu treffen, als die Studenten vor zwanzig und dreißig Jahren; man sieht, daß die Erfahrungen, welche die Zeit gebracht, doch Früchte getragen haben. Der Patriotismus zog sich durch die Reden aller dieser jungen Leute, es war aber nichts Aufgepufftes darin, sondern Alles schlichte Natur, und politisirt wurde gar nicht. Das mag denen zur Beruhigung dienen, welche besorgt hatten, die Jubelfeier möchte für politische Demonstrationen zum Vorwande genommen werden.

Selbst die alte Wartburgsfahne gab zu dergleichen keinen Anlaß. Dieses Palladium der Burschenschaft war lange Zeit verborgen und in guter Obhut, nur Wenigen kam sie zu Gesicht. Nachher brachte man sie in die Schweiz, wo Professor Reinhold Schmidt in Bern sie lange treu verwahrt hat. Jetzt ist sie wieder in Deutschland, und gewiß hätte das Jubelfest eine passende Gelegenheit dargeboten, sie wieder an’s Tageslicht zu bringen und an irgend einer Stätte, als geschichtliche Merkwürdigkeit, für immer niederzulegen. Die Tausende von anwesenden Burschenschaftern würden sie ohne Zweifel mit ungeheurem Jubel begrüßt haben, aber das wäre sicherlich die ganze „Demonstration“ gewesen. Auch eine solche ist geflissentlich vermieden worden. Reinhold Schmidt war in Jena, er setzte die Lage der Dinge auseinander, und wenn auch seine Art und Weise, in welcher er die „Nichtherausgabe der Fahne für jetzt“ motivirte, nur Wenigen gefiel und sein Ton nicht behagte, so beruhigten sich doch Alle, weil sie begriffen, daß an den hohen Freudenfesten der geliebten alma mater auch nicht der entfernteste Anlaß zu Verdächtigungen gegeben werden dürfe, denn daß Gegner und Feinde, kirchliche wie weltliche, auf der Lauer lagen, um wo möglich Steine auf Jena zu werfen, das war Allen wohlbekannt. Die alte romantische Fahne wird indessen bald zum Vorschein kommen und man sollte dieser jedenfalls geschichtlich gewordenen Merkwürdigkeit einen Platz auf der Wartburg, neben anderen Merkwürdikeiten, gönnen.

Das patriotische Gefühl machte sich bei mehr als einer Veranlassung unwillkürlich Luft. Die Teutonen saßen am Montag Morgen in der Sonne am Markte. Da trat ein alter Herr unter sie, der die Achtzig längst zurückgelegt hatte, Man bot ihm einen Trunk, kam mit ihm in’s Gespräch und sah an seinem Hute die Jahresziffer 1789 bis 1792. Damals hatte er in Jena studirt; er hatte zu Friedrich Schiller’s Füßen gesessen, als dieser seine Collegia mit dem berühmten Vortrage über das Studium der Universalgeschichte eröffnete. Er erzählte von jenem Tage, und die Teutonen brachten Schiller und dem alten Burschen ein Hoch. Dieser erzählte aber mehr. Er war bis vor wenigen Jahren ein treuer Hirt einer deutschen Gemeinde in Schleswig gewesen, dann aber hatten die Dänen ihn abgesetzt, weil er treu am Deutschthum hält. Seitdem lebt der fast neunzigjährige Greis in der Verbannung.

„So seht Ihr mich, liebe Jugend; ich bin ein alter Mann und werde bald meinem Gotte Rechenschaft zu geben haben. Aber ich habe gelebt als ein guter Deutscher und will als ein solcher sterben. Thut Ihr desgleichen.“

Es versteht sich, daß „Schleswig-Holstein meerumschlungen“ angestimmt wurde. Am Nachmittage ereignete sich aber noch eine Episode, die nicht minder ergreifend war. Die Teutonen und mit ihnen Hunderte von Gästen waren nach Ziegenhain hinausgezogen. Auch der „Reichshausknecht“, der alte Herr von Zerzog (aus Regensburg, bekannt vom Frankfurter Reichstage), der 1818 in Jena studirt, manche andere alte Reichstagsmitglieder und Notabilitäten der Wissenschaft waren zugegen; auch Jakob Venedey war da. Es wurden heitere Reden gehalten und vaterländische Lieder gesungen, während die Kännchen in der Runde gingen. Da trat in Folge einer zufälligen Anregung ein alter Burschenschafter aus Schleswig-Holstein auf, dessen Sohn vor zwölf Jahren Mitglied der Jenenser Teutonia gewesen. Dieser Mann sprach ergreifende Worte. Er rief:

„Ich sehe Euch hier in den Farben, die ich vor langer Zeit getragen und die auch meinen ältesten Sohn geschmückt. Er hat Euch angehört, aber er kann heute nicht unter Euch sein. Ich habe zwei Söhne in den heiligen Krieg geschickt, den wir Schleswig Holsteiner für die deutsche Sache geführt, und er, der Euer Bruder war, ist gefallen und hat seine Treue für Deutschland mit seinem jungen Blute besiegelt. Glaubt nicht, daß ich als Vater über ihn trauere; er that nur seine Pflicht, er that nur, was das Vaterland von ihm verlangen konnte. Er ging wohlgemuth in den Kampf, ich hoffe, ich erwarte, ich fordere, daß Ihr Alle seine Verbindungsbrüder, desgleichen thun würdet, wie ich denn das von jedem jungen Manne in Deutschland verlange. Ich habe noch einen Sohn, er ist mein einziger. Aber ich sage Euch, wenn das Vaterland ruft, dann geht er zum zweiten Male in den Kampf, und er wird seine Schuldigkeit thun. Und auch ich werde sie thun, das glaubt mir.“

Man sah es dem Manne an, daß es ihm heiliger Ernst war, und seine wahrhaft spartanische Rede übte eine ungeheuere Wirkung.

„Ja, dieses Schleswig-Holstein ist die brennende Wunde; man wird ingrimmig, wenn man davon nur hört,“ rief ein Student, nachdem die Stille, welche den obigen Worten folgte, wieder verschwunden war.

Mehr als einmal zeigte sich in Jena, wie zuweilen das Lächerliche dem Erhabenen auf dem Fuße folgt. Als Pastor Horn seine obenerwähnte Schilderung über das Entstehen der Burschenschaften geendet hatte, trat ein Mann seltsamer Art an den Tisch. Ich mußte ihn schon gesehen haben, seine Züge schwebten mir vor. Richtig; vor dreißig Jahren war der Mann häufig in der Bierrepublik Ziegenhain gewesen; damals zählte er schon zehn Semester, jetzt lebt er noch Zimmer in Jena mit den Studenten und unter ihnen. Da stand er leibhaftig, dieser Demelius, weiland Ceres genannt, aber seit drei Jahrzehnten allen Jenensern als „Bierlatte“ oder „die alte Latte“ bekannt. Er hat den Musensitz nie verlassen, will in ihm sterben, wie er sagt: „als Studente.“ Er trat vor, erfüllt von süßem Gerstensaft, Die Germanen, welche ihn damit laben, hatten ihm zum Jubiläum eine neue Mütze geschenkt, in welcher er prangte, in der linken Hand hielt er eine neuangemalte Latte, in der rechten einen Krug. Er wollte reden, aber die Stimme versagte ihm den Dienst, und der Zuruf: „Latte, fall’ ab,“ verscheuchte ihn. Solcher alter Originale gibt es in Jena noch einige; doch ist die berühmte „Puppe“, welche seit 1823 inscribirt war, vor einigen Jahren gestorben. Die „Latte“ hat zur Jubiläumsfeier Gedichte drucken lassen.

Auf das erheiternde Intermezzo folgte ein widerwärtiges. Ein Mann, den ich als frischen, liebenswürdigen Studenten gekannt und den ich herzlich lieb gehabt hatte, ist Professor an einem Gymnasium geworden und noch heute ein kernbraver Mensch. Aber die moderne theologische Richtung hat ihn gepackt und er benutzte das Commerciren der Studenten, um ihnen eine Predigt zu halten. Sie müßten lernen „die Kniee beugen“, sonst sei es gar nichts mir ihren vaterländischen Bestrebungen. Dann redete er viel vom wahren und rechten Glauben (darüber sind alle in Streit, da dem Einen nicht wahr und nicht recht erscheint, was der Andere dafür hält), den er einst in Jena nicht gefunden habe. Dann klagte er die Lehrer an, jene Lehrer, die ihm doch einst so große Freundlichkeit und Güte erwiesen. Ein neben mir sitzender Germane war über solchen Undank und solche Herbigkeit empört und meinte, wenn der „rechte“ Glaube solche Früchte bringe, so möge der liebe Gott ihn davor bewahren.

Jakob Venedey, der ehrliche Mensch, war, wie gesagt, auch in Jena; er sprach bei den Teutonen, sie möchten sich mit den Germanen und den Leuten vom Burgkeller vereinigen, und meinte es gut. Ruhig besehen, schadet es gar nichts, daß die Burschenschaft [516] sich in mehrere Theile getrennt hat; in der deutschen Jugend sind einmal Gegensätze und sie werden bleiben. Mögen verschiedene Richtungen ihren Weg für sich gehen; sobald sie in einer Verbindung aufeinander prallen, werden doch wieder Trennungen stattfinden müssen; das liegt in der Natur der Sache. Laßt sie also nebeneinander gehen; aber zu wünschen wäre allerdings, daß es in freundlicher Weise geschähe. Aber dazwischen macht dann alle Mal die leidige Duellfrage einen Strich.

Da ich in den früheren Mittheilungen mancher alten Bekannten erwähnt habe, so will ich bemerken, daß sie in Jena nicht fehlten; namentlich waren die Mecklenburger stark vertreten, aber Stülpnagel, der alte wackere und heitere Mensch, hatte die schönen Locken nicht mehr; der „kleine Jahn“ trug einen runden Hut und der „lange Itze“ war zum Koloß geworden. Der altdeutsche Gelehrte aber, welchem er einst seinen Confirmationsfrack zum Promoviren geborgt und der aus der Schweiz gekommen war, sah noch immer aus wie ein Burggeist und steinerner Gast. Es that dem Herzen wohl, so viele alte Freunde so frisch und in guten Verhältnissen wieder zu sehen.

Am Graben in Jena liegt ein Haus, von welchem eine Schweizerfahne herabwehte. Es ist die bekannte Mäderei, die seit einem Jahrhundert windschief steht. Als im Jahre 1784 ein Lübecker Rathsherr seinen Sohn nach Jena schickte, gab er ihm die Warnung mit, ja nicht in die Mäderei zu ziehen, denn sie könne jeden Augenblick einstürzen. Der Sohn gab viele Jahre später seinem Sohne dieselbe Warnung, aber dieser zog in die Mäderei gleich seinem Vater und Großvater, und auch der Urenkel hat dasselbe Zimmer bezogen. Windschief ist die Mäderei freilich, aber sie ist aufgeputzt und sieht schmuck aus, kann auch reichlich noch ein Jahrhundert stehen.

Und nun will ich von Jena scheiden. Das Fest hat die Erwartungen Aller nicht nur erfüllt, sondern sie bei Weitem übertroffen. Ein froher, trefflicher, frischer Geist belebte das Ganze, und die Erinnerung an die herrlichen Tage des Jubiläums dieser Hochschule wird für die, welche zugegen waren, eine der schönsten Lebenserinnerungen bleiben.

Möge Jena sich selber treu bleiben!





Die Wassernoth in Sachsen.


II. Zwickau.

Vorüber sind die Tage des Schreckens, der Verwüstung, der Gefahr. Der Geist, für den Augenblick fast erdrückt von der Großartigkeit und Gewalt der in rascher Folge an ihm vorüberziehenden Erscheinungen, hat sich wieder sammeln können, läßt Bild für Bild von dem Geschehenen und Erlebten an dem Spiegel der Erinnerung vorüberziehen, durchlebt gleichsam das Einzelne noch einmal, aber ruhiger und bewußter, und webt nach und nach ein großes Gesammtbild zusammen, dessen Umrisse in scharfer Zeichnung für alle Zeit in seiner Erinnerung eingegraben bleiben werden.

Freilich wäre es ein vergebliches Bemühen, wenn wir diesem Bilde durch das Wort entsprechenden Ausdruck geben wollten: die großartigsten Ereignisse sind immer am wenigsten geeignet, sich treu in den engen Rahmen des Wortes fassen zu lassen; – aber doch gelingt es uns vielleicht, auch in denen eine mehr oder minder deutliche Vorstellung von der Macht der entfesselten Naturkraft hervorzurufen, welche sie bis jetzt nur in ihrem friedsamen Zustande sahen.

Ein schon lange anhaltender, über das ganze Muldengebiet verbreiteter Regen hatte sich in der Nacht vom 30. zum 31. Juli so gesteigert, daß der Muldenstrom bei dem Grauen des Tages, schmutzigrothes Wasser führend, in vollen Ufern brausend, an Zwickau vorbeischoß, und daß der Mühlgraben, nicht im Stande, die Wassermasse des in ihn mündenden hoch angeschwollenen Planitzer Baches zu fassen, anfing, den untern Theil der Eselswiese und den Turnplatz zu überfluthen. Auch die Mulde selbst wuchs zusehends, trat aus und vereinigte ihre Wasser mit denen des Mühlgrabens zu einem den Asch, die Lindenstraße und den Silberhof unter Wasser setzenden Strome. Vormittags 8 Uhr stand das Wasser schon 4 Zoll höher, als bei dem Sommerhochwasser im vorigen Jahre, welches für das höchste galt, das seit 1830 vorgekommen war. Und der Regen ergießt sich weiter; auf der Mulde treiben schon Breter, Stämme und Brückentrümmer, und bedenklich fragt Einer den Andern, was das so werden solle. Doch hat noch Niemand eine klare Vorstellung von der drohenden Gefahr, und die Menschen glauben noch, sie könnten ihre Werke vor dem weiter und weiter dringenden Feinde bewahren.

Um elf Uhr Vormittags ist von dem Wassermesser an der Bierbrücke, welcher bei mittlerem Wasserstande noch 51/2 Ellen über dem Spiegel emporsteht, kaum noch eine Elle zu sehen und unterhalb der Brücke ergießen sich die Fluthen rechts und links in mächtigen Strömen über die Ufer, setzen den größeren Theil der Leipziger Vorstadt unter Wasser und verwandeln die breite Aue, so weit das Auge reicht, in einen kochenden und brausenden See.

Aber auch der inneren Stadt ist ihre Stunde gekommen. Vom Silberhofe her schlängeln sich kleine Bäche der Mühlgasse zu, froh begrüßt von der Schaar der Kinder, die sich, nicht ahnend, für welche Ereignisse wohl diese unschuldig spielenden Wellen die Vorboten sein könnten, mit lärmender Lust darin umhertreiben; aber mit ernster Miene und unter Kopfschütteln betrachtet von den Männern, welche mit möglichster Eile die Kellerlöcher verschließen und die Thüren verrammeln. Dazu läßt der strömende Regen weiteres Steigen befürchten und die Befürchtung wird durch telegraphische Nachrichten aus dem Obergebirge zur Gewißheit.

Man gewinnt nun endlich eine klarere Vorstellung von der Gefahr; der Gedanke, daß das Wasser, welches die Menschen schon in ihren Wohnungen aufsucht, diesen wohl auch an das Leben gehen könne, gewinnt Raum. Darum ordnet der Stadtrath an, daß die Kähne vom großen Teiche hereingeschafft und an verschiedenen, am meisten bedrohten Punkte der Stadt vertheilt werden. Zugleich wird die Erbauung von Flößen kräftig in Angriff genommen. Freilich erfordern diese Geschäfte erhebliche Zeit, und inzwischen wächst das Wasser so weit, daß der Messer an der Bierbrücke ganz unter der Fluth verschwunden ist.

Um drei Uhr Nachmittags erhebt sich der ganze Vorrath von Floßholz von seinem Lager; in ruhiger Majestät und in geordneten Zügen setzen sich, gleichsam einem geheimen Befehle folgend, 3000 Klaftern Holz in Bewegung; aber bald werden die Schragen durch Anstoßen an Bäume oder Zäune umgeworfen und in ein wildes Chaos von Holz dringt stoßend und wirbelnd mit unwiderstehlicher Gewalt durch die Gärten am linken Muldenufer, um sich von da in kleineren oder größeren Abtheilungen weithin über das Land zu verbreiten. Auf dem Hauptstrome der Mulde treiben in fast ununterbrochener Folge Hausgeräthe aller Art, Trümmer von Häusern, Brücken, Mühlen und Wehren, mächtige Stämme und Bäume mit Kronen und Wurzeln. Die Ueberbrückung des Rechens, aus gewaltigen, zusammengeschraubten Balken bestehend, weicht von ihrem Lager, zertheilt sich in Stücke und diese schaukeln und tanzen wie spielende Fische über die Wogen hin, und Fässer, dem communlichen Pichschuppen entrissen, Hüpfen in langer Reihe von Welle zu Welle.

Um sechs Uhr ist der größte Theil der Stadt unter Wasser gesetzt; mächtige Ströme dringen von verschiedenen Seiten in die Straßen, füllen die Keller und zwingen die Bewohner von Paterrestuben, ihre Habe dem Wasser zu überlassen und in die Oberstuben zu flüchten. An der Fleischerpforte stürzt das erste Haus zusammen und sendet seine Trümmer mit trauriger Mahnung an das Geschick, welches noch vielen Gebäuden bevorsteht, durch die Straßen. Nur noch das einzige Schneeberger Thor ist vom Wasser frei und Taufende von Menschen sind in ihrer oder Anderer Wohnungen abgesperrt und sehen mit Grausen, wie sich die Fluthen mit jeder Stunde neuen Raum verschaffen.

Nun galt es, die Kähne mit muthigen und geschickten Männern zu besetzen, hinauszufahren in die reißenden Fluthen und dem Menschen die helfende Hand zu reichen oder wenigstens anzubieten. Nur Wenige aber konnten sich schon am Sonnabend entschließen ihre Wohnungen zu verlassen; von Stunde zu Stunde hofften Alle, daß der Regen nachlassen und das Wasser wieder zurückgehen werde. So kam es, daß ein Kahn, welcher von der Treppenmühle [517] aus am Sonnabend drei mühevolle Fahrten nach dem Asch und der Lindenstraße ausführte, nur acht Menschen nebst einigen Hausthieren und Habseligkeiten an das Land bringen konnte. Es war aber der Kahn so groß, daß er ohne Ueberfüllung außer den sechs Schiffern noch funfzehn Mann aufzunehmen vermochte. So große Kähne wurden gewählt, weil es sich schon bei den ersten Versuchen zeigte, daß die kleinen keineswegs im Stande waren, dem Andrange der Fluthen nur einigermaßen zu widerstehen. Ebenso waren die meisten Flöße, weil sie wegen ihres zu geringen Umfanges zu wenig tauchen, nicht zu gebrauchen.

Mit dem Anbruche der Nacht mußten die Fahrten in das Freie ganz eingestellt werden, denn sie hätten bei einem Terrain, das allenthalben durch Zäune und andere Hindernisse durchzogen war und die Kähne bald vorn oder hinten, bald rechts oder links der heftigsten Strömung aussetzte, nur zum Verderben führen können. In den Straßen der innern Stadt aber, in welchen das Wasser weniger strömte, fuhren die ganze Nacht Kähne auf und ab, wenn auch nur wenig Hülfesuchende bei der Finsterniß der Nacht ihre Personen denselben anvertrauen mochten und die Meisten es vorzogen, ihr Leben bei drohender Gefahr auf andere Weise in Sicherheit zu bringen.

Die Erlmühle bei Zwickau nach der Wasserfluth.

Aber die schrecklichen Stunden waren nun mit der Nacht herangenaht, schrecklich nicht nur für die vom Wasser Umgebenen, sondern schrecklich auch für die der Gefahr noch nicht Ausgesetzten. Die Fluth nahm immer riesigere Verhältnisse an, das Gefühl der Hülflosigkeit wurde von der Finsterniß verstärkt und das Toben und Brüllen des Wassers brachte die Gefahr in vergrößertem Bilde vor die geängstigten Gemüther.

Bleich sitzen die Glieder der Familie in der Stube umher; du wankt der Boden unter den Füßen und die Mauer, worauf er ruht, sinkt, erweicht vom Alles durchdringenden Wasser, in sich zusammen. Der Vater und die Mutter ergreifen entsetzt die schreienden Kinder und fliehen in ein anderes Zimmer; auch hier dieselbe Gefahr. Sie rufen nach Hilfe, aber diese zu erwarten, ist nicht Zeit. Es bleibt ihnen nichts übrig, sie nehmen die Kinder auf den Rücken und den Arm, steigen hinunter in die kalte Fluth, waten bis unter die Arme im Wasser über den Hof, erzwingen sich mühselig über Zäune und Gärten den Weg und kämpfen, bis sie in des Nachbars festem Hause einen sicherern Aufenthalt gewonnen haben. Andere brechen, wenn ihr Haus dem Einsturz droht, durch den Giebel des Nachbars, müssen sich aber, weil auch hier ihres Bleibens nicht ist, mit den Nachbarn vereint gewaltsam weiter den Weg von einem Hause zum andern bahnen, bis ein festes und sicheres erreicht ist. Auf diese Weise erhielt der Stadtförster Richter in der Leipziger Vorstadt 64 Gäste, denen er in seinen beiden Stuben nicht nur nothdürftiges Lager, sondern auch, so weit seine Vorräthe reichten, Erquickung durch Speise und Trank angedeihen ließ.

Einer nahm den Andern gern und willig auf, theilte mit, so viel und so lange er etwas hatte. Man hat nicht gehört, daß ein Hülfesuchender da, wo überhaupt Hülfe noch möglich war, zurückgewiesen oder verabsäumt worden wäre. Solche Zeiten machen die Herzen weit und groß; die kleinlichen Rücksichten fallen und die gewöhnlichen Verhältnisse des Lebens sind nicht mehr maßgebend; der Mensch wird Mensch und erkennt in jedem Andern ein gleichberechtigtes Wesen; selbst Feinde reichen sich, wenn sie ihr Weg zusammen führt, schweigend die Hand und feiern ein stilles Fest der Versöhnung.

So nur, indem Alles half, wo nur zu helfen war, ist es möglich geworden, da in der grausigen Nacht vom 31. Juli zum 1. August bei hundertfacher Lebensgefahr auch nicht ein Menschenleben zu Grunde gegangen ist. Wem die verzweifelten Hülferufe und Nothschreie während der ganzen Nacht in fast allen Theilen der Stadt durch die Seele gedrungen sind; wer die Wuth des noch immer steigenden Wassers gesehen und gehört hat, welche um Mitternacht einen unerschrockenen Mann bewog, von seinem ihm gegenüberwohnenden Nachbar über das Brausen des unten strömenden Mühlgrabenarmes hinüber laut mit den Worten Abschied zu nehmen: „Nachbar, wir sehen einander nicht wieder; leb’ wohl, leb’ auf ewig wohl, wir sehen einander nicht wieder!“ – dem muß es als ein Wunder erscheinen, wie dem Wüthen des Alles verschlingenden Elementes auch nicht eines einzigen Menschen Leben zur Beute geworden ist.

Endlich früh ½ 2 Uhr hatte das Wasser seinen Höhepunkt erreicht und behauptete diesen eine halbe Stunde lang; dann aber fing es an, langsam zu fallen, und mit dem Dämmern des Tages dämmerte auch in den am meisten geängstigten Seelen der Glaube [518] an Erlösung und Rettung wieder auf. Sofort nach dem Anbruche des Tages wurden die Kahnfahrten nach den in der oberen Stadt vereinzelt stehenden Häusern des Asches und der Lindenstraße wieder aufgenommen. Die Schiffer, deren Hülfe man am Abend vorher noch nicht gebrauchen zu können glaubte, wurden jetzt mit dem größten Verlangen erwartet und mit Freudestrahlen auf den bleichen Gesichtern begrüßt. In zehn Fahrten, die alle glücklichen Verlauf hatten, wurde der Asch fast vollständig geräumt und aus den neuen Häusern der Lindenstraße kamen Alle, die es wünschten, an’s Land. Gegen Mittag war hier das Rettungswerk, so weit es sich auf Menschen erstreckte, zu Ende; nur die Bewohner des Silberhofes mußten noch, weil der Zugang zu ihnen durch eine mächtige Barrikade von Langholz gesperrt war, weiter in ihren theilweise nicht unerheblich beschädigten Häusern aushalten, konnten aber doch wenigstens wieder Menschen sehen und wahrnehmen, wie die Fluth, zwar langsam, doch stetig sank.

In der inneren Stadt hatte man alle Hände voll zu thun, um in der Eile die dem Einsturz drohenden Häuser zu stützen. Der Stadtrath hatte zu diesem Behufe schnell Stammholz herbeischaffen lassen und Zimmerleute beordert, überall, wo nöthig, beim Stützen behülflich zu sein. Gar manches Haus würde ohne solche Vorsicht weit mehr beschädigt oder wohl ganz eingestürzt sein.

In der Leipziger Vorstadt, welche mit der inneren Stadt bis jetzt ganz ohne Verbindung gewesen war, ertönten Vormittags acht Uhr Nothschüsse und auf dem an dem linken Ufer der Mulde liegenden Stadtkrankenhause wurden auf dem Dache Nothfahnen aufgesteckt. Die Verbindung konnte, da erst noch ein großer Kahn vom großen Teiche hereingeschafft werden mußte, erst um die Mittagsstunde hergestellt werden und man fürchtete traurige Nachrichten; doch ergab es sich, daß die Menschen in den festen Häusern zusammengepfercht waren und daß meist Mangel an Lebensmitteln die Ursache zu den Nothsignalen abgegeben hatte. Diesem Mangel wurde denn auch so schnell als möglich, wenn auch in dem Stadtkrankenhause nur nach ziemlich gefährlichen Fahrten, abgeholfen.

Inzwischen hatte die Rettung von Menschen, deren Leben mehr oder minder gefährdet war, den ganzen Tag hindurch ununterbrochenen Fortgang und der Berichterstatter glaubt, den Lesern dieses Blattes eine nicht unwillkommene Gabe zu bieten, wenn er bei einigen Rettungen die näheren Umstände vorführt.

Nur wenig oberhalb des über die Mulde führenden Röhrensteges soll für eine neue Kohleneisenbahn nach Hohendorf und Reinsdorf eine Brücke über die Mulde gebaut werden. Als Bauexpedition ist auf dem rechten Ufer ein kleines Haus von Steinfachwerk errichtet worden. Darin wurden zwei Baubeamte von dem Hochwasser so überrascht, daß sie den Rückzug durch das Wasser nicht für räthlich hielten. Als sie die zunehmende Gefährlichkeit ihrer Lage erkannten, suchten sie durch verschiedene Zeichen die Aufmerksamkeit Anderer auf sich zu richten. Es gelang dies auch, indem sie in der etwa 300 Schritt davon liegenden Hering’schen Bierbrauerei bemerkt und verstanden wurden. Dort wurde sofort ein Floß, soweit sich Materialien dazu vorfanden, hergerichtet und ein Brauerbursche und noch einige Andere unternahmen es, auf diesem gebrechlichen Fahrzeuge, das von hinten her zu wenigstens einiger Sicherheit an einem Seile gehalten wurde, nach der im vollen Strome stehenden Bauhütte zu fahren. Als sie aber in die unmittelbare Nähe derselben kamen, zerbrach in dem starken Strome ihr Floß, sie stürzten in das Wasser und mußten nun auf ihre eigene Rettung bedacht sein. Der Brauerbursche rettete sich in die Bauhütte an einer Stange, die ihm von dort aus entgegengehalten wurde, und die Uebrigen gelangten glücklich wieder an’s Land. Nun waren in der Bauhütte drei Menschenleben gefährdet. Die Lage der Gefangenen fand namentlich in dem nicht fernen Hohendorf die regste Theilnahme.

Am Sonnabend war wegen der eingebrochenen Nacht nichts mehr zu thun. Aber am Sonntag wurde das Rettungswerk mit wahrer Begeisterung angegriffen. In verhältnißmäßig kurzer Zeit wurde ein festes Fahrzeug kahnartig hergestellt. Man besetzte dasselbe mit fünf kräftigen Männern und ließ es vom Fuße des Hohendorfer Berges aus, etwa 8–900 Ellen von der Bauhütte entfernt, an zwei aneinander gefügten langen Schachtseilen langsam hinaus in die Fluth. Die Männer kamen unter harter Arbeit und Gefahr hinunter bis zur Bauhütte, waren aber nicht im Stande, den zwischen ihnen und der Hütte befindlichen reißenden Strom zu überwinden. Unverrichteter Sache kehrten sie wieder zurück und mußten bei ihrer Erschöpfung die Weiterführung der Rettung fünf anderen noch vollkräftigen Männern überlassen. Diese nahmen bei ihrer Fahrt eine Leine mit und banden an deren Ende einen Stein. Glücklich erreichten sie dieselbe Stelle, an welcher der Versuch ihrer Vorgänger gescheitert war. Von hier warfen sie das durch den Stein beschwerte Ende ihrer Leine nach der Bauhütte, wo man es begierig auffischte. Von der Leine gehalten, vertraut sich einer der Gefangenen den Fluthen, wird kräftig durch den Strom gezogen und steigt gerettet in den Kahn, und ihm folgen glücklich die beiden Gefährten. Nachmittags fünf Uhr lief der Kahn mit den Geretteten unter allgemeinem Jubel im Hafen wieder ein.

Ein Maurerlehrling, ein kräftiger Bursche von achtzehn Jahren, der als vater- und mutterlose Waise schon seit Jahren Wohnung und Verpflegung im Armenhause hat, wollte am Sonntag gegen Mittag, nachdem er etwas vorwitzig in das Stadtkrankenhaus und von da in ein Haus der Leipziger Vorstadt, immer in tiefem Wasser watend, gekommen war, wieder in das Armenhaus zurückkehren. Als er sich aber diesem nähert, ergreift ihn der Strom und reißt ihn fort, bis er dem Armenhause gegenüber, etwa 12 bis 15 Ellen von diesem entfernt, an einem kleinen Apfelbaume wieder einigen Halt gewinnt. An diesem klebend, wird ihn der Aufseher im Armenhause gewahr und ruft ihm zu, am Baume in die Höhe zu klettern. Als er dies gethan hat, versucht man, ihm vom Armenhause aus Hülfe zu bringen; aber Stangen fehlen und den Strom kann Niemand passiren. Es muß gewartet werden, bis andere Hülfe erscheint.

Endlich kommt von der Leipziger Vorstadt her ein Kahn, geführt von einem jungen Manne, dem Zeichner der unserem Texte eingefügten Bilder. Der einsame Schiffer bemerkt bald das Rufen vom Baume her und richtet seinen Weg dahin. Die Strömung faßt ihn, aber noch zu rechter Zeit drängt er seinen Kahn seitwärts und legt an dem erstrebten Baume an. Der Lehrling jedoch, jedenfalls von der Nässe, Kälte und gezwungenen Haltung etwas erstarrt, zögert mit dem Einsteigen und muß nun sehen, wie der Kahn von der Fluth gepackt und ohne ihn niederwärts gerissen wird. Noch einmal gelingt es dem Schiffer, mit Aufbietung aller Kraft stromaufwärts zu kommen und an dem verhängnißvollen Baume anzulegen. Hier drängt er zur Eile, streckt ermuthigend die Hand entgegen; aber leider dieselbe Zögerung. Und wieder packt die Fluth den Kahn mit solcher Macht, daß an ein Halten nicht mehr zu denken ist. Wie ein Pfeil schießt er davon, und sein Führer gilt in den Augen derer, die ihn sehen, für einen verlorenen Mann. Aber dieser springt, als er über ein Kornfeld weggerissen wird, mit kühner Entschlossenheit aus dem verrätherischen Fahrzeuge, arbeitet sich mit Aufbietung der letzten Kraft, an zusammengerafften Kornähren einigen Halt gewinnend, aus der ärgsten Strömung heraus, erreicht endlich die höher liegende Straße, und kommt nach einer Stunde, bis zur Ohnmacht erschöpft, in einem zur Stadt gehörigen Gute an, wo er freundliche Aufnahme und Pflege findet.

Es ist nun schon die sechste Stunde gekommen, und unser armer Lehrling hängt immer noch auf dem Baume. Da kehrt ein Floß mit neun Zimmerleuten vom Stadtkrankenhause zurück, wohin sie Lebensmittel und Kohlen gebracht haben. Auch sie bemerken den auf dem Baume klebenden Menschen, und schlagen sofort die Richtung nach ihm ein. Doch auch sie werden von der Strömung fortgerissen, und können sich nur mit größter Mühe bis an einen dem Apfelbaum zunächst stehenden Kirschbaum wieder heraufarbeitene. Hier stemmen sie sich ein, halten dem Gefährdeten eine Ruderstange entgegen, fordern ihn auf, dem Floß zugewendet in die Fluth zu springen, und sobald als möglich die Stange zu fassen. Er läßt sich endlich bewegen, thut, wie ihm geheißen ist, es geht Alles gut, – er ist gerettet, nachdem er sechs Stunden auf dem schwachen Baume in Todesangst zugebracht hat.

Drei Männer gingen am Sonntag Nachmittag unterhalb der Bergkeller am Bergrand hin, um Kunde über das Schicksal der Erlmühle, von der es hieß, daß sie ganz verschwunden sei, einzuziehen. Da kommt es Einem vor, als habe sich in dem gerade gegenüber einsam am Muldenufer stehenden und schon arg beschädigten Würker’schen Hause noch ein Mensch am Fenster hin bewegt. Während sie nun scharf nach dem Hause hinblicken, kommt eine Frau desselben Weges und erzählt ihnen, daß allerdings noch ein alter Mann in dem Hause sei. Man habe schon versucht, ihn herauszuholen, aber es sei nicht gegangen, und der Schwimmmeister, der auch mit dabei gewesen sei, habe gesagt, man könne ihm tausend [519] Thaler geben, er führe nicht mehr mit. Auf diese Rede kehren die Männer sofort um, steigen in den dort bereitstehenden großen Kahn, verstärken sich durch zwei andere Männer, worunter sich der Schwiegersohn des zu rettenden Alten befindet, und fahren hinunter nach den rings von den Fluthen umtobten Hause. Sie dringen in den Garten und gelangen, mit Macht kämpfend, unter einigem Schutze der Bäume bis in die Nähe des Hauses. Hier aber wird der Strom so reißend, daß mit dem Kahne kein Fortkommen mehr ist. Da springen drei der Männer heraus in die Fluth, und arbeiten sich, gegenseitig sich haltend und stützend, hinüber in das Haus. Oben finden sie den alten 72jährigen Mann, anscheinend ganz unbesorgt.

„Nun, Alter,“ wird er angeredet, „macht, daß Ihr mit fort kommt.“

„Iech kah net miet,“ antwortete er, „iech hoh kähne Stiefeln ah.“

Aber Zeit ist nicht zu verlieren, die Weigerung des eigensinnigen Alten wird nicht beachtet. Der Stärkste der Männer nimmt ihn auf den Rücken, die beiden Andern decken von hinten, der Widerstand des Alten durch Einstemmen in der engen Treppe und in der Thüre wird schnell überwunden, und der Strom bis zum Kahn, wie das erste Mal, mit vereinter Kraft glücklich durchschritten. Als der Alte gerettet das Land betritt, meint er: es sei doch gut, daß er nun aus dem Wasser sei, und zwanzig Minuten darnach war das Haus, aus dem er geholt wurde, ein Trümmerhaufen.

Wir könnten noch andere hochherzige Handlungen dieser und anderer Art erzählen; aber wir dürfen die Geduld unserer Leser nicht allzusehr auf die Probe stellen. Wir bemerken nur noch, daß den ganzen Sonntag hindurch das Wasser fortwährend langsam fiel. Die niederen Stadttheile waren zwar sämmtlich noch bedeutend überfluthet; aber neue erhebliche Unglücksfälle kamen nicht vor, und am Montag ging die Mulde beinahe ganz in ihr durch die Eroberungen der Fluth allerdings erweitertes Bette zurück. Von allen Hochwassern, die Zwickau erlebt hat, ist das gegenwärtige das größte gewesen; denn seine Höhe hat die der Fluth vom Jahre 1694, welche die größte in Zwickau vorher dagewesene war, um eine halbe Elle überstiegen.

Der Schaden, den diese Ueberschwemmung an Gebäuden angerichtet hat, ist sehr groß: 112 zur Stadt Zwickau gehörige Häuser sind beschädigt, darunter mehrere so arg, daß ihre Ruinen nur noch zum Abbruch taugen. Aber der Schaden an Ufern, Wehren, Brücken, in Gärten, auf Wiesen und Feldern ist ungeheuer.

Sehr erfreulich ist, daß trotz der vielen großen Verluste die Thatkraft der Leute nicht gebrochen worden ist. In den Häusern hat man sofort nach dem Rückzug des Wassers die Ausbesserung der Schäden kräftigst begonnen; auf den Straßen und Wegen verschwinden mit jedem Tage mehr und mehr die traurigen Spuren der Fluth; die gebrochenen Dämme sind nothdürftig wiederhergestellt, und theilweise sind die Mühlen schon wieder in Gang gekommen. Es wird nicht lange mehr dauern, so wird Zwickau sein altes Aussehen, vielleicht sogar etwas schöner und solider, wieder gewonnen haben. Nur die Fluren werden noch manches Jahr trauriges Zeugniß ablegen von der verheerenden Wasserfluth des Jahres 1858.

Das Würker’sche Haus am Muldenufer.



Blätter und Blüthen.


Ein bedecktes Grab. Erst jüngst in die Stadt S. gekommen, suchte ich, meiner alten Neigung folgend, einsame Spaziergänge auf, und so wanderte ich eines Tages wieder hinaus, um auf einem Höhenpunkte eine freundliche Aussicht zu gewinnen. Dunkle Kiefern umsäumten den Bergesabhang und rauschten düster-gedankenvoll zur Erde, während auf der andern Seite die Landstraße sich hinzieht, auf der schwer beladene Wagen langsam vorüberknarren.

Weiterhin tönt aus einem Garten Musik. Es athmet Alles ringsum Freude und Glück, nur hier oben ist es still, still wie bei den Todten, und bei denen sind wir in der That. Aber so still es hier ist, die Sonne ruht doch auch auf diesem verlassenen Fleck Erde und zittert warum und belebend um kaum bemerkbare Hügel. Aber keine Blume wiegt sich auf den kahlen, leicht hingeworfenen Gräbern, kein Denkmal der Liebe kündet die Namen derer, die hier einschifften zum fernen, uferlosen Ocean des Todes, denn es ist der Begräbnißplatz weiblicher Sträflinge.

Welche Kämpfe, welche Leidenschaften, welch’ wilde Fieberträume und Verbrechen deckt hier die kühle Erde!

Sonderbar, dort im Winkel, von einer Kiefer beschattet, liegt ein Grab, das gegen die andern kahlen Hügel freundlich absticht, es ist bedeckt, ein frisches Grün breitet sich darüber, ein mächtiger Rosenstrauch mit den schönsten weißen Rosen prangt auf dem mit Buxbaum eingefaßten Hügel, der einen eigenthümlichen Contrast bildet gegen die übrigen Sandhaufen.

Es blieb mir dieses bedeckte Grab lange räthselhaft, Niemand wußte mir Auskunft zu geben, bis mich der Zufall mit dem Prediger der Straf-Anstalt zusammenführte.

„Glauben Sie noch an Justizmorde, an bestrafte Unschuldige?“

„Offen gestanden, nein!“ entgegnete ich, „unsere jetzige Gerichtspflege –“

„Ich glaub’ es auch nicht,“ war seine Antwort, und er lächelte bitter.

Er erzählte:

„Vor einigen Jahren kam in unsere Anstalt ein junges Mädchen; sie war in ihrem National als ein heuchlerisches, verstocktes Geschöpf aufgeführt, die zwar verurtheilt, aber trotz aller Maßregeln nicht zum Geständniß hatte gebracht werden können. Ich las ihre Acten, wie ich dies bei neuangekommenn Strafgefangenen immer thue. Sie war wegen ersten, gemeinen Diebstahls zu zwei Jahren Zuchthaus verurtheilt worden und obwohl sie, wie erwähnt, hartnäckig geleugnet, lagen zu viele Indicien vor, die ihre Schuld ohne Zweifel ließen. Marie Krauß war von armen, aber rechtschaffenen Eltern, sie hatte früh dienen müssen, und bisher einen unbescholtenen Lebenswandel geführt, ihre letzte Dienstherrin, eine verwittwete Baronin, war mit dem Mädchen sehr zufrieden gewesen, weil sie still und fleißig und, ganz gegen die Gewohnheit der übrigen Dienstleute, alle Vergnügungen gemieden, und von ihrem Lohne ihre Eltern unterstützte. Die Baronin hatte Mariens bescheidenes Wesen lieb gewonnen und ihr mehr Vertrauen geschenkt, als es für schwache, von der Gelegenheit leicht verführte Menschen räthlich ist. Marie durfte in den Zimmern bleiben, auch wenn sich die Baronin entfernte, selbst Geld aus der Cassette herbeiholen; und wenn Freunde die Baronin vor solchen Experimenten warnten, entgegnete sie ruhig: „Marie ist treu, ich verlase mich auf meine Menschenkenntniß.“ Diese Bevorzugung Mariens mußte natürlich bei ihren Mitdienenden Haß und Neid erregen, man verspottete ihr stilles Wesen, nannte sie eine Heuchlerin, eine Frömmlerin, die es faustdick hinter den Ohren habe, und die Frau Baronin werde es schon noch sehen. Der Kutscher allein, ein heimlich dem Trunke ergebener Mensch, hatte sie anfangs in Schutz genommen, weil ihm, dem wilden Gesellen, nach dem Gesetz der Anziehungskraft entgegengesetzter Pole, das hübsche, stille Mädchen gefallen, aber als Marie sein Werben entschieden zurückgewiesen und ihm seine brutalen Zärtlichkeiten vor dem ganzen Dienstpersonal mit einer Ohrfeige erwidert, war’s mit seiner Freundschaft vorbei. er wurde von seiner Umgebung so lange geneckt und verspottet, bis seine frühere Liebe in Haß übergegangen, denn er war es wenigstens, der den ersten Verdacht auf Marie lenkte.

„In Kurzem kamen mehrere kleine Diebstähle vor, zuletzt war aus dem Schlafzimmer der Baronin ein goldenes Armband und zwei Louisd’or entwendet worden. Die Baronin wurde unruhig, sie mußte unwillkürlich an Marien denken, aber so viel dies für sich hatte – denn Niemand anders war in das Zimmer gekommen, als sie – die gute Frau wollte dennoch ihren Verdacht unterdrücken, und verbot jedes Geschwätz hierüber, weil es ihr peinlich, ihre Hausangelegenheiten in dem Munde der Leute zu wissen. Ihr Dienstpersonal dagegen wußte unter sich um so mehr zu schwatzen. „Man wisse es schon,“ hieß es da, „stille Wasser seien tief, freilich dürfe man nichts sagen, aber die Sperlinge auf dem Dache zwitscherten schon


[520] davon,“ und dergleichen Redensarten. Endlich schlug der Kutscher „Schlüsseldrehen“ vor, jene Albernheit, die schon Tausende um ihren ehrlichen Namen gebracht. Hier sollte sich diese Kunst bewähren. Der Schlüssel dreht sich bei allen Namen, nur bei dem Mariens bleibt er stehen. Man wiederholt das Experiment – dasselbe Resultat. Alle jubeln, am meisten der Kutscher, als ob damit wirklich die Thäterin entdeckt, denn das Orakel hat ja nur die Gedanken ihres Herzens bewahrheitet. Die Baronin kommt zu dem Treiben hinzu, man erzählt’s ihr triumphirend; sie schüttelt verächtlich den Kopf. „Aber ich will nicht mehr mit der Diebin dienen!“ ruft die alte Köchin erbittert. „Wir Alle nicht mehr!“ stimmen die Andern trotzig ein. „Und untersucht wollen wir sein!“ bemerkt der Kutscher, „damit wir Unschuldigen nicht mit leiden!“ – „Ja wohl, gnädige Frau Baronin,“ rufen Alle, „das muß sein, damit wir unschuldig werden!“ – „Nun gut, mein Secretair wir alle Eure Sachen untersuchen und das auf der Stelle,“ entgegnet die gnädige Frau, um endlich die Sache los zu werden.

Alle schleppen freudig und bereitwillig ihre Sachen herbei, sie kramen Alles bis auf den Boden heraus, das Geringste wird durchsucht, keine Tasche, kein Schlupfwinkel wird verschont, aber von dem Gestohlenen nirgends eine Spur. „Wo ist Marie? jetzt kommen ihre Sachen dran!“ ruft man jubend. „Vielleicht hat sie den Braten gerochen, und sich unsichtbar gemacht,“ ruft die Köchin, da tritt sie schon zur Thür herein, sie erblaßt, als sie der Secretair zur Oeffnung ihrer Schränke auffordert, sie wird verleqen und weigert sich. „Aha,“ rufen die Andern jauchzend, „jetzt kommt’s.“ Der Secretair dringt heftiger auf Oeffnung, sie weigert sich und will endlich nur öffnen im Beisein der Frau Baronin und wenn sich das übrige Personal entfernt. Die Frau Baronin kommt, verstimmt und unangenehm berührt von dem ganzen Treiben. Marie öffnet jetzt, man durchsucht die dürftige Wäsche, dort auf dem Boden liegt ein Packet, das Armband und ein Louisd’or fällt heraus.“

Der Pfarrer machte eine Pause und blickte düster vor sich, dann fuhr er fort: „So steht’s in den Acten und dort ist nichts als Wahrheit. Marie hat kein Wort sprechen können, sie hat nur ihre Umgebung starr und versteinert angesehen, und bekennen Sie, das war ziemlich gut die Unschuldige gespielt. Aber die Baronin fühlte sich auf’s Schmerzlichste berührt, von der frommen Heuchlerin sich so hintergangen zu sehen, sie sagt ihr in herben, scharfen Worten, wie elend, wie schlecht sie sei und daß sie augenblicklich das Haus zu verlassen habe, solle nichts Schlimmeres folgen.

„Leugne nicht länger!“ ruft die Baronin außer sich, „Du freches, undankbares Geschöpf, bekenne wenigstens Deine Schuld und ich will Dir die Strafe schenken, wenn nicht –“

„Ich kann es nicht, ich bin unschuldig!“ schluchzt das Mädchen und ringt die Hände.

„Dann fort mit ihr!“ ruft die Baronin mit einer bezeichnenden Handbewegung und zieht sich, reicher an Menschenkenntniß, ärmer an Vertrauen, in ihr Zimmer zurück, um das verstockte Frauenzimmer ihrem Schicksale zu überlassen.

„Marie wurde in’s Gefängniß geschafft und inquirirt. Sie leugnete eben so hartnäckig vor Gericht, wie vor der Baronin, und war entweder ehrlich oder die vollendetste Heuchlerin, und daß sie nur das Zweite war, ließ keinen Zweifel zu. Niemand anders hatte das Zimmer betreten, ihr Weigern, den Schrank zu öffnen, das Finden der gestohlenen Sachen, ja, noch ein Umstand stellte ihre Schuld bis zur Evidenz heraus – sie hatte ihren Eltern vor kaum acht Tagen einen Louisd’or geschickt, nur noch ein Louisd’or war im Schranke gefunden worden – Alles das genügte, ihre Schuld festzustellen. Zwar behauptete Marie, das sei ein altes Ersparniß, und da ihr Vater so dringend um Geld gebeten, habe sie ihren letzten Sparpfennig hingegeben, und daß sie stets ihre Ersparnisse in dieser Münzsorte aufbewahrt, weil sie eine besondere Vorliebe für Gold habe.

„Begreiflich,“ hatte man ihr lachend entgegnet, „nur hätte die Vorliebe für dies edle Metall nicht in dieser Weise ausarten sollen.“

„Ihr Weigern des Schranköffnens aber wollte die Angeklagte damit entschuldigen, daß sie sich geschämt, ihre geringe, defecte Wäsche zu zeigen, aber diese Vertheidigung war doch zu unhaltbar den schlagendsten Thatsachen gegenüber, sie konnte nicht einmal eine Vermuthung aufstellen, wie dies Gold ohne ihr Zutun in ihren Schrank gekommen, und sie wurde von Rechts wegen zu zwei Jahr Zuchthaus verurtheilt.

Nach dem Lesen der Acten war ich gespannt, die abgefeimte Heuchlerin zu sehen. Es war ein blasses Mädchen mit einem hageren Gesicht, ziemlich niedriger Stirn und hartnäckig zur Erde gerichteten Augen. Das Gesicht drückte Verschlossenheit aus, auch die zusammengepreßten Lippen schienen gern schweigen zu wollen. Die ganze Erscheinung machte auf mich keinen günstigen Eindruck. Ich empfahl ihr, sich ordentlich zu führen, und der Himmel würde dann schon ihre Unschuld an den Tag bringen, denn sie schien mir eine von denjenigen Verbrecherinnen zu sein, die so lange lügen und ihre Unschuld betheuern, bis sie selbst daran glauben, und ich wollte gerade in dem Eingehen auf ihre Thorheit am ehesten der Sache auf den Grund kommen. Ich hatte nun ein freudiges Zutappen erwartet, aber statt aller Antwort sah sie mich mit ihren großen, dunklen Augen forschend an, als wolle sie in meiner Seele lesen, und als ich sagte:

„Wenn ich nun doch an Deine Unschuld glaubte?“ entgegnete sie ruhig:

„Es ist zu spät, ich gebe mich schon drein.“

„Das war nicht das Benehmen einer Intriguantin, ich blickte forschend in ihr Auge, das sie klar und hell aufschlug; es lag eine Reinheit und wahre Unschuld in ihrem Auge, wie sie keine befleckte Seele zeigt.

„Anfangs,“ fuhr sie jetzt fort und ihre Stimme zitterte, „da wollt’ ich verzweifeln und rasend werden, daß es mir Niemand, Niemand glaubte, auch meine gnädige Herrin nicht, ich hielt mich von Gott und aller Welt verlassen und wünschte mir den Tod.“

„Aber wenn Du unschuldig bist, da konntest Du ruhig sein,“ war meine Antwort.

„Nein, nein,“ entgegnete sie, „wenn uns Niemand hört, Niemand glaubt, den höchsten Schwüren und Betheuerungen nicht, das ist das Schrecklichste, darüber geht nichts – jetzt haben sie mich verurtheilt und nun kann ich ruhig sein.“

„Ihre Ruhe hatte etwas Zwingendes, ich mußte ihr glauben. Wäre sie so vor dem Richter erschienen, wer weiß, ob es nicht anders gekommen; aber dort hatte sie sich wahnsinnige gebehrdet, sich verwünscht und verschworen, wenn sie schuldig sei, und gerade diese Heftigkeit, die in solchen Situationen bei den ruhigsten Naturen am ehesten anzutreffen, hatte gegen sie vollends eingenommen und ihre Schuld zweifellos gemacht. ich sprach mit dem Director über das arme Mädchen und bat für sie um eine mildere Behandlung; er lachte mich aus.

„Da spielt Ihnen wieder Ihre Gutmüthigkeit einen tollen Streich, lieber Pfarrer,“ sagte er spottend; „käme es auf Sie an, so wären meine hartgesottensten Sünder bald so weiß und unschuldig, wie Engel. Gerade dies Mädchen ist eine abgefeimte Spitzbübin, wir wollen sie auf Rosen betten, aber ich kann nicht dafür, wenn sie den Schnupfen hat und nur die Dornen fühlt.

„Auch hier in der Anstalt wurde das arme Mädchen nur verspottet und gehänselt. Man hieß sie, die Unschuldige, „das Lamm“, und eben weil sie so ruhig, wenn auch mit etwas verbissenem Trotz, jeden Schimpf, jede Mißhandlung ertrug, hielt man es für Stumpfsinn, der durch eine noch strengere Behandlung aufgerüttelt werden müsse.

„Ich sah, wie sich das arme Mädchen langsam verzehrte, wie sie zusammenbrach unter der Last ihres Geschickes, und überzeugte mich immer mehr, daß dies keine Heuchelei, keine Verstellung, uind doch, wenn ich ihre Acten las, wie klar fügte sich da Alles ineinander und deutete auf ihre Schuld! Da ich in jener Stadt, wo der Diebstahl vorgefallen, Verbindungen hatte, schrieb ich an einen Freund, daß dies Mädchen unschuldig sein müsse, er möge mir noch einmal über den Verlauf der Sache berichten und womöglich neue Nachforschungen anstellen. Ich erhielt die Antwort, daß man dort am Orte von dem verstockten, heimtückischen Charakter Mariens und von ihrer Schuld völlig überzeugt sei. Es schmerzte mich tief; wollte das Mädchen wirklich nur eine Rolle spielen und wenigstens Jemand haben, der sie für unschuldig hielt, oder war sie es dennoch? Ihr Gesicht erschien mir seitdem wieder verschlossener und weniger vertrauenerweckend und ich vermied es, mit ihr zu sprechen, gab ihr aber wenigstens auf ihre Bitten Gebetbücher, mit denen sie sich in ihren Freistunden eifrig zu schaffen machte, und gerade dieses nahm mich gegen sie ein.

„Sie lächeln?“ fuhr der Erzähler fort, „daß ich, ein Pfarrer, nichts davon halte, aber eine langjährige Erfahrung hat mich überzeugt, daß Verbrecher, die am zerknirschtesten, reuevollsten das Gebetbuch zur Hand nehmen, die elendesten und schändlichsten sind. Es ist für sie ein Kunstgriff, mit dem sie sich die Gunst ihrer Aufseher erschleichen – weiter nichts.

„Darüber war ein Jahr vergangen, ich hatte in Familien-Angelegenheiten eine Reise gemacht und kam eben davon zurück, als ich von meinem Freunde einen Brief erhielt mit citissime, da ist er. Ich las: „Du hast Recht gehabt, alter Freund! Das arme Mädchen ist unschuldig, es ist eine Tollheit, ich würd’s nicht glauben, wenn es nicht bittere Wahrheit. Der Kutscher der Baronin ist der Schurke gewesen, der die Aermste so elend gemacht, er hat Alles gestanden jetzt im Angesicht des Todes. Doch ich will ordentlich erzählen. Der nichtswürdige Kerl war schon lange dem Trunke ergeben und bei einer Ausfahrt, wo er wieder zu viel getrunken, fällt er vom Bock und zwischen die Räder. Der Doctor gibt ihn auf und jetzt schlägt ihn das Gewissen. Er hat aus Rache und Bosheit die Sachen gestohlen und das Armband und ein Goldstück in den Schrank des Mädchens gebracht. Ein Goldstück nur, weil er gewußt, daß sie einen ersparten Louisd’or an ihren Vater abgeschickt. Er hat Alles so geschickt und heimlich ausgeführt, daß Marie aus dieser Schlinge nicht herausgekonnt, vielleicht mit Hülfe der alten Köchin, die gefänglich eingezogen worden. Das Alles hat der nichtswürdige Kerl noch eidlich bekräftigt und dann die Seele ausgehaucht. Die Entlassung des armen Mädchens ist schon verfügt. Hier ist die Theilnahme allgemein, man sammelt für sie, die Baronin will ihr einen Jahrgehalt aussetzen; für ihr unverdientes Leiden freilich macht das Alles nicht das Vergangene gut. Ich schreibe Dir, damit Du der Aermsten die Freudenpost, die sie tödten könnte, schonend mittheilen kannst.“

„Ich eilte in die Anstalt.“ erzählte der Pfarrer weiter, „vielleicht war sie schon entlassen. Welche Seligkeit, welch’ unendlich Glück mußte es für sie sein, dieser Sonnenstrahl neuen Glückes nach solch’ einer düstern, verzweiflungsschweren Nacht. Ja wohl! die Nachricht von ihrer Unschuld war endlich eingetroffen, aber, wie Alles, wie die Erfüllung der schönsten Erdenträume – zu spät! – Sie lag auf der Bahre, still und einsam, die ewig nagende Qual hatte ihr geräuschlos das Herz abgedrückt. Wirklichen Verbrechern naht der Tod nicht mit dem Strahle der Hoffnung und Versöhnung im Auge, sondern nur mit leerem, kaltem, glanzlosem Blicke, die Kette lösend, daß es ihnen dünkt, als wäre das Sterben nur ein Wechseln der Zelle; hier auf diesem Antlitz lag Frieden und Versöhnung. Der Director trat hinzu, auf meine Aeußerung „sie war doch unschuldig!“ zuckte er nur mit den Achseln und schwieg. Jener grüne Rasen dort ist das Einzige, womit die Welt der gekränkten und zertretenen Unschuld lohnen konnte.“

„Aber Sie sagten vorhin, Herr Pfarrer,“ warf ich ein, „daß Sie an Justizmorde nicht glauben, und was war dies anders?“ – „Weil ich es nicht zu glauben brauchte, weil ich es weiß,“ entgegnete der Pfarrer bitter. „Glück der Welt, wie blindgedankenlos streust du deine Perlen aus!“ schloß er tiefbewegt seine Erzählung. „Den Unwürdigsten überhäufst du oft mit deinen glänzendsten Gaben, um edle Gemüther in die Nacht des Unglücks zu stürzen, und darum bleibt uns dieses unerschütterliche Vertrauen auf ein ewiges Leben, auf die Ausgleichung in einer andern Welt.“

Das war die einfache Geschichte eines bedeckten Grabes.