Die Gartenlaube (1868)/Heft 31

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1868
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 30.   1868.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Die Brüder.
Von Adolf Wilbrandt.
(Fortsetzung.)


Unterdessen hatte das junge Volk sich wieder gepaart; der Tanz sollte beginnen. Karl widerstand es, teilzunehmen oder einsam Zeuge zu sein. Er ging in’s Nebenzimmer, wo einige der älteren Herren spielten und rauchten; fand es auch hier unerträglich, sich ihren Bitten und Fragen auszusetzen, trat in’s Freie hinaus und überließ sich unter dem warmen Nachthimmel ganz seinen erregten Gefühlen.

Vor der Thür stand eine Bank; er saß hier lange, in eine Ecke gedrückt, Annettens weißes Kleid und helläugige Seele vor den geschlossenen Augen. Endlich fühlte er eine Hand auf seiner Schulter; Wilhelm war neben ihn getreten und sah ihn verwundert an.

„Hast Du geschlafen, Karl? Man sucht Dich überall, – nur nicht auf der Straße. Was ist in Dich gefahren, daß Du zwei Dutzend junge Mädchen nach Dir seufzen lässest?“

Der Träumer stand auf und rieb sich unwillkürlich die Stirn, wie um sich in die Wirklichkeit zurückzurufen.

„Uebrigens, Karl,“ fuhr Wilhelm mit einem fröhlichen Lächeln fort, „ich bin meiner neuen Liebe, meiner schönen Amalie, schon wieder untreu geworden. Es ist nichts mehr damit! Ich bin ganz verliebt. Ganz weg;“ – und er legte seine warme Hand von Neuem auf Karl’s Schulter und sah ihm auf’s Zutraulichste und Heiterste in’s Gesicht – „wieder einmal auf meine acute Weise! Du weiß noch, Karl, was unser alter Doctor einmal zu uns sagte: Du wärst eine chronische Natur, ich eine acute! Ich bin’s, das muß wahr sein. Ich bin weg. Auf dem Fleck könnt’ ich sie heirathen. Sie ist reizend, Karl; anders als die Andern. Aber leider will sie jetzt fort, und kein Mensch kann sie halten.“

„Von wem sprichst Du?“ fragte Karl. „Ich verstehe kein Wort.“

„Nun, von Demoiselle Annette! Von wem sonst? Du hast sie ja auch gesehen, aber Du bist ihr davon gelaufen. Sie fragte nach Dir. Ich habe lange, lange mit ihr gesprochen. Was ich da Alles geschwatzt habe, ich weiß es nicht mehr. Aber nun thut ihr der Kopf so weh, der Armen, und sie will nach Hause. Der Abend ist hin, denn ich mag mit Keiner von den Andern mehr tanzen.“

Indem er noch sprach, – ohne zu bemerken, wie mühsam der Bruder sich zu fassen suchte – trat Annette, in ein leichtes Mäntelchen gehüllt, von Demoiselle Merling und einer anderen Dame begleitet, aus der Hausthür hervor und stockte ein wenig, als sie die beiden Jünglinge so unerwartet vor sich stehen sah.

„Ich lasse es mir nicht nehmen, mon enfant,“ eiferte die Alte, „Sie nach Hause zu bringen. Ich habe Sie hier bemuttert und ich fühle die Obligation, Sie unversehrt wieder abzuliefern! Kommen Sie, Dorette!“ – Dorette, das Hausmädchen, erschien auf der Schwelle, den Hut auf dem Kopfe und die Enveloppe der alten Dame in der Hand. Im nächsten Augenblick sah sich schon Annette fortgezogen, hatte kaum noch Zeit, die Verbeugungen der Brüder mit einem flüchtigen Abschiedsgruß zu erwidern, und während Demoiselle Merling erst wahrnahm, wem dieser Gruß gegolten hatte, und nun eifrig zurückwinkte, verschwand sie schon mit ihrem Schützling und der Magd um die Ecke.

„Sie ist auch im Mäntelchen reizend,“ sagte Wilhelm mit einem herzlichen Seufzer und starrte ihr nach. „Karl, das ist mehr als Amalie, das ist ein höheres Wesen!“

„So sagt man, wenn man verliebt ist,“ antwortete Karl und suchte harmlos zu lächeln. „So sagtest Du vor vierzehn Tagen von Amalie, und so wirst Du nach zwei Wochen von einer Dritten sagen.“

„Meinst Du? Ich weiß nicht. Ich bin wenigstens – unendlich verliebt. Du hast Recht, man sollte sich nur unter dem Sternenhimmel aufhalten. O diese Nacht! Diese weiche, warme, weiche Luft! Wie steht es denn mit Dir, Du kalte philosophische Seele?“

„Ich lache ein wenig über Dich,“ erwiderte Karl und wandte sein Gesicht bei Seite. „Du schwärmst recht acut. Ich indessen –“ er wollte noch etwas sagen und wußte nicht, was; seine Gefühle flossen verworren durch einander, ein Scherz schien ihm Unwahrheit und Entweihung, und er verstummte.

„Dieses Sternengewölbe!“ sagte Wilhelm, der von des Bruders Worten nur die Hälfte gehört hatte, und staunte selig hinauf. „Diese Unendlichkeit! Ob man auch da oben auf den Plejaden verliebt ist? Karl, ich bin wie betrunken. Ich habe neuen Wein im Kopf – oder im Herzen. Wie ist es nur möglich, Karl, daß so ein paar Augensterne – ich meine, gegen die Unermeßlichkeiten da oben – uns vorkommen wie eine Welt? und daß uns dabei so groß, so weit, so unendlich wird? Es macht Einen schwindlig, Karl. Warum: mußte sie auch nach Hause gehen! Wenn man nur wenigstens unter ihrem Fenster –“ Er lehnte sich gegen die Wand, starrte nach oben, wie wenn er zu ihrem Fenster hinaufsähe, und schien alle seine Gedanken an das kleine Licht hinter ihrem Vorhang zu richten.

„Die Musik fängt wieder an,“ sagte endlich Karl und raffte [482] sich aus seinen verschlossenen Empfindungen aus. „Wir müssen hinein; komm’, mein Schwärmer. Wenn Du erst wieder eine Tänzerin im Arme hast, wird Deine arme angeschossene Seele genesen.“

Er nahm Wilhelm bei der Hand und zog ihn sanft mit sich fort. „Du irrst Dich ganz unaussprechlich,“ sagte dieser und seufzte. „Du kannst Dir nicht vorstellen, wie mir zu Muth ist, weil Du nie so unsinnig werden kannst, wie ich. Aber ich liebe Dich dennoch; laß Dich umarmen, Karl, laß Dich umarmen!“ Er legte seine Arme weich um des Bruders Hals und umschlang ihn sehr zärtlich. „Ewige Liebe, Karl! So ewig wie–“ Seine Zunge taumelte und verstummte, und in einem schwärmerischen Bruderkuß begrub er seine sehnsüchtigen Gefühle.




2.

Am nächsten Nachmittag saßen Demoiselle Merling und Annette im Wohnzimmer der alten Dame beim Kaffee sich gegenüber, jede einen Strickstrumpf in der Hand, und in leichtem Geplauder. Die Sonne schien durch die beiden Fenster herein, erleuchtete die Lichtbilder, die an den Scheiben hingen, spielte auf dem schlohweißen Tischtuch und den vergoldeten Kaffeetassen, und glitzerte über die Stricknadel, mit der sich Demoiselle Merling, während sie sprach, nach ihrer Gewohnheit hinter den Schläfen rieb. Es war für sie die behaglichste Stunde des Tages, und sie liebte es, um diese Zeit nie ohne Besuch zu sein. Neben ihrer Tasse lag ein geistliches Buch, aus dem sie vorhin einige Stellen vorgelesen hatte; indessen hatte das Plaudern diesen schweinsledernen Tröster abgelöst, und sie war jetzt damit beschäftigt, die Gesellschaft von gestern Abend zu mustern. Eben nahm sie, mitten im Satz sich unterbrechend, wieder ein Stückchen Zucker in den Mund, um ein Schlückchen Kaffee hinterher zu trinken, als Annette sich wie zufällig umwandte und sagte, indem sie zu den Oelbildern an der Wand hinaufsah: „Sind diese rothröckigen Knaben da oben nicht Ihre beiden Söhne, Monsieur Wilhelm und Karl?“

„Freilich, freilich, meine liebe Annette,“ erwiderte die alte Dame und ließ ihre Tasse stehen, „das sind die beiden Jünglinge, vor acht Jahren gemalt, als sie noch auf dem Gymnasium den Homer und den Livius exercirten. Nicht wahr, sie sind charmant, die kleinen grands seigneurs, in ihrem gepuderten Haar, mit dem Spitzen-Jabot und der gelben Weste? Diese rothen Röcke waren damals das Feinste. Und mein alter Wilhelm, was für ein schöner Junge er damals schon war! So distinguirt sieht er aus! Der arme gute Charles kann sich daneben nicht halten.“

„Meinen Sie?“ fragte Annette mit kaum hörbarer Stimme. „Seine braunen Augen – er sieht so interessant aus.“

„Interessant? Ein Freigeist ist er. Ein revolutionärer Mensch. Aber Wilhelm – das ist ein junger Mann comme il faut. So offen, so elegant, so gutherzig! Das ist mein Ideal von einem jungen Menschen, in den hätte ich mich verliebt,“ setzte sie mit einem etwas verschämt lächelnden Blick auf das Tischtuch hinzu, „wenn er zu meiner Zeit jung gewesen wäre.“

Annette schwieg, aber schüttelte unwillkürlich den Kopf, während sie, immer noch abgewandt, den feinen Mund und die ernsten braunen Augen des Andern studirte. „Sie haben Recht, Ihr Monsieur Wilhelm ist schöner,“ sagte sie endlich und verschwieg, was sie dachte.

Die alte Dame nickte eifrig und schien sich eben zu einem zweiten Hymnus auf den schönen Jüngling anzuschicken, als an die Thür geklopft ward und auf ihr „Herein!“ Wilhelm wie in der Fabel erschien. Hinter ihm folgte Karl, und die beiden schlanken Gestalten traten auf sie zu, um sie mit einem ehrerbietig zärtlichen Handkuß zu begrüßen.

„Ah, Mademoiselle,“ sagte Karl mit einem Blick der freudigsten Ueberraschung, als er jetzt Annette bemerkte, die bei dem Klopfen aufgesprungen und bei Seite getreten war. Ein hastiges Roth schlug ihr bis an die Stirn hinauf und färbte ihre durchsichtigen Schläfen. „Sind Sie heute wohl?“ fragte er. „Sind Sie heute – weniger verständig?“ – Sie nickte ihm lächelnd zu und ward wieder roth. Darüber bemerkte Karl, daß zwei beobachtende Augen auf ihnen hafteten; er setzte seine ruhigste Miene auf und wandte sich von dem Mädchen zu der Alten zurück. „Ich komme, um auf einige Zeit von Ihnen Abschied zu nehmen, liebe Tante,“ sagte er scheinbar gelassen. „Mein Inspector ist krank geworden, er hat keinen Vertreter, das Gut schreit nach seinem Herrn. Morgen früh – sobald ich hier Alles abgewickelt habe – fahr’ ich hinaus, um nach dem Rechten zu sehen. Und dann werd’ ich wohl so lange auf meinem Acker sitzen bleiben, – bis ich wieder hereinkomme.“

„Sie Armer!“ sagte Demoiselle Merling mit einiger Emphase und drückte ihm die Hand. „So werden Sie sich der Abschiedsfête entziehen, die wir unseren beiden Jünglingen geben wollten? Kommen Sie, mein lieber alter Wilhelm, setzen Sie sich. Das ist schön, daß Sie die Alte nicht verlassen, Sie sind ein prächtiger Mensch. Ich habe eben auch allerlei – Böses von Ihnen geredet,“ setzte sie mit scherzhaft blinkenden Augen hinzu und kniff ihn sanft in den Arm. „Sie werden dieser jungen Dame da sehr abschreckend geschildert, lieber Wilhelm, nehmen Sie sich vor meiner bösen Zunge in Acht!“ Und dabei lachte sie auf und winkte der erröthenden Annette so geheimnißvoll lustig zu, daß diese verwirrt in ihre Tasse starrte.

„Ich habe eine gute Nachricht für Sie, Tante Merling,“ erwiderte Wilhelm mit sehr neckischer Miene, ohne auf diese Späße einzugehen. „Sie können jetzt heirathen, Tante, Ihr alter Anbeter, der Herr Walter, hat sich von seiner Frau scheiden lassen und wird sich nun natürlich nach einer Anderen, – nach einer gewissen ungewissen Anderen umsehen.“

Mon dieu, mon dieu, was dieser tolle junge Mensch für Späße macht!“ rief die alte Dame mit ihrer höchsten Stimme aus und schien vor Lachen umkommen zu wollen. „Seine alte Tante so zu verhöhnen! Ich den Herrn Walter noch heirathen! ist das ein närrischer Junge!“

„Warum nicht, wenn man noch so liebenswürdig ist?“ erwiderte Wilhelm und sah ihr mit drolliger Koketterie in die Augen. „Der alte Herr Walter hatte gar keinen anderen Grund, sich von seiner Gattin scheiden zu lassen, als gegenseitige Abneigung. Also, wenn umgekehrt gegenseitige Zuneigung da ist –“

„Schweigen Sie, Bösewicht!“ unterbrach ihn Demoiselle Merling, ihre lachlustige Munterkeit unterdrückend, „wie können Sie in Gegenwart eines jungen Mädchens so abscheuliche Reden führen? Nein, nein, lieber Wilhelm, darüber läßt sich nicht scherzen. Mit so einer alten Tante wohl, aber nicht mit der jungen Welt. Sagen Sie nie mehr dergleichen. Der alte Herr Walter ist ein gottloser, gewissenloser, detestabler Mensch, wenn er aus so einem frivolen Grund seine Ehe auflöst. Lassen Sie sich sagen, lieber Wilhelm, daß die Ehe zu dem Ehrwürdigsten gehört, was es auf Erden und im Himmel giebt, und daß ich zwar keine Katholikin bin – das hat Gott verhütet – aber daß ich dennoch die Ehe für ein heiliges und unauflösliches Band halte.“

„Ich widerspreche Ihnen durchaus nicht, liebe Tante,“ erwiderte Wilhelm mit dem gutmüthigsten Lächeln, „durchaus nicht. Sie haben ja Recht. Ich halte die Ehe,“ und er warf dabei Annetten einen so lebhaften, glänzenden Blick zu, daß sie von Neuem vor sich niedersah, „ich halte die Ehe ebenfalls für etwas sehr Ehrwürdiges, liebe Tante.“

„Für ein heiliges und unauflösliches Band,“ wiederholte die Alte mit dem stärksten Nachdruck und sah Einen nach dem Anderen durchdringend an.

„Meinen Sie?“ sagte Karl ruhig, indem er ihr näher trat.

„Meinen Sie das so ohne jede Ausnahme?“

„Ohne jede Ausnahme,“ rief sie mit ihrer lauten Stimme, „ja wohl, ohne jede Ausnahme! Dieser Herr Walter hat nach meiner Meinung ganz detestabel gehandelt –“

„Ich rede nicht von Herrn Walter,“ unterbrach sie Karl, „ich rede von allgemeinen Möglichkeiten. Mir scheint es nicht nöthig, liebe Tante, mit den unehrenhaften Fällen auch die ehrenhaften auszuschließen.“

„Scheint Ihnen nicht nöthig? Nein, Ihnen natürlich nicht! Sie betrachten ja Alles mit revolutionären Augen, Sie sind ja ein Jakobiner, ein Franzose.“

„Wozu sich erhitzen, liebe Tante!“ erwiderte Karl ruhig, indem er ein leises ironisches Zucken der Mundwinkel unterdrückte. „Warum soll es von irgend einer Einrichtung – und mag sie an sich so vortrefflich sein, wie sie will – keine Ausnahme geben? Ist nicht bei allen menschlichen und irdischen Dingen auf Ausnahmen gerechnet? Und wenn es in neunundneunzig Fällen eine Sünde wäre, vor der großen sittlichen Aufgabe, die man sich in [483] der Ehe gestellt hat, feig davonzulaufen, kann darum nicht der hundertste so geartet sein, daß es hier eine Sünde wäre, zwei unglücklichen Menschen die Freiheit zu verweigern?“

„Die Freiheit!“ rief die Demoiselle Merling aus; „da hören Sie ihn! La liberté! Annette, da hören Sie den Jakobiner.“

„Es ist schade, daß Sie mich immer mißverstehen, liebe Tante. Ich rede nicht von der Freiheit, zu thun und zu lassen, was man will, sondern von der Befreiung aus einer unerträglichen und unmöglichen Lage.“

„Das wird ja wohl auf Eins herauskommen,“ rief die Alte zuversichtlich aus, doch ohne ihn anzusehen.

„Das wird es nicht,“ liebe Tante, „diesmal nicht. Lassen Sie uns nur einen Augenblick die Fälle unterscheiden, – warum wollten wir das nicht thun? Ein Mensch, wie dieser Herr Walter, der sich scheiden läßt, weil er das Leben mit seinem Weibe satt hat, weil er vielleicht, so alt wie er ist, noch nach einer Anderen, einer Jungen, ausschaut, kurz, weil es ihm so beliebt, ein solcher Mensch ist mir so verächtlich wie Ihnen. Dagegen, wenn ein guter, unglücklicher –“

„Ja, das ist er,“ unterbrach ihn die Demoiselle eifrig, „ein ganz meprisabler Mensch. Und das sind sie Alle! Und das geistliche Gericht, das so sans conscience diese gottlose Scheidung ausgesprochen hat –“

„Er hat sich einfach den Dispens gekauft,“ erwiderte Karl und zuckte die Achseln, „wie das in unserem lieben, gemüthlichen, jakobinerlosen Vaterland den Reichen und Vornehmen erlaubt ist! Aber Sie haben mich unterbrochen, liebe Tante. Ich denke an einen ganz anderen Fall, und es wäre sehr liebenswürdig von Ihnen, wenn Sie mich ausreden ließen.“

„Ich lasse ihn nicht ausreden!“ rief die alte Dame mit starker Entrüstung aus. „Hören Sie wohl, liebe Annette: ich lass’ ihn nicht ausreden! Reden Sie, reden Sie. Ueberschütten Sie uns mit Fällen, lieber Charles, überschütten Sie uns mit Ihren anderen Fällen.“

„Ich denke nur an einen,“ sagte er, ohne auf ihre Entrüstung zu achten, und seine Stimme gerieth in einige Bewegung. „An einen Fall, den ich mir nur habe erzählen lassen’, und doch muß ich heut’ den ganzen Tag daran denken. Es handelt sich um einen edlen, vortrefflichen Menschen, der in gutem Glauben, daß man ihn lieb hat, ein wackeres Mädchen heirathet und nun hinterdrein erfährt, daß sie zu der Ehe gezwungen worden, daß ihr Herz längst vergeben ist, daß sie und noch Einer zu ewigem Unglück verdammt sind. Was soll dieser Mensch nun thun? Soll er sie an sich anschmieden und auf dem Buchstaben seines Rechtes bestehen und ihr und sich die Ehe zur Hölle machen? Was würden Sie thun, Mademoiselle?“ indem er sich plötzlich an Annette wandte, die athemlos lauschend und ihre großen Augen auf ihn gerichtet dasaß, „oder vielmehr, was würden Sie fordern, daß dieser Unglückliche thun soll? Wenn nun Sie selbst dies Opfer wären, das man am Altar durch zwei Buchstaben auf immer gebunden hat – und wenn Sie in Ihrem Innersten fühlten, daß dieser Bund eine ewige Lüge bleiben würde –“

„Aber mon dieu!“ rief Demoiselle Merling in verächtlichem Ton dazwischen, „warum hat ihm die Närrin nicht vor der Hochzeit gesagt, daß sie einen Anderen liebte? Warum mußte sie damit warten, bis sich die Sache so hübsch tragisch gemacht hatte?“

„Weil – – “ begann Karl zu erwidern, brach aber ermüdet und ungeduldig ab und wandte sich wieder zu Annette. „Würden Sie auch in diesem Falle die Ehe für heilig und unauflöslich halten, liebe Mademoiselle?“ Würden Sie auch hier sagen, daß es besser ist, drei unglückliche Menschenherzen durch die Regel zu brechen, als durch die Ausnahme zu retten?“

„Ich kann darüber nicht urtheilen,“ entgegnete Annette nach einer Pause mit sehr leiser Stimme. „Ich – ich weiß es nicht,“ und dabei sah sie schüchtern zu der alten Dame hinüber.

Karl schüttelte lebhaft den Kopf. „Warum sollten Sie es nicht wissen? Ist denn die Frage so schwer?“

„Ich kann mich vielleicht in den Fall nicht ganz hineindenken,“ erwiderte sie verlegen. „Ich meine, daß der Mensch dazu da ist, Alles, was Gott ihm schicken will, mit Ergebung zu tragen.“

„Sie haben Recht, Mademoiselle,“ rief Wilhelm, der sehr aufgeregt zugehört hatte, feurig aus und trat vor sie hin. „Ja, dazu ist der Mensch da! Sie hat Recht, Karl, und Du hast Unrecht; aber Du hast Deine Sache gut geführt, wie ein Cicero. Sagen Sie selbst, Tante Merling.“

Die Alte sah verstimmt in die Ecke und schwieg. Karl trat an das Fenster und starrte eine Weile hinaus, ohne ein Wort zu erwidern. Endlich kam er zurück, und seine Augen ruhten mit sichtbarer Bewegung auf Annettens zarter Gestalt und weichen, hingebenden Zügen. „Sie mögen so denken,“ sagte er, „ich will Ihnen auch nicht widersprechen. Aber was heißt das: ,was Gott uns schickt’? Schickt er uns nicht auch so manche Dinge, damit wir sie überwinden, damit wir sie abschütteln sollen? damit wir unsere sittlichen und geistigen Kräfte an ihnen üben? Und wenn wir irgend eine Thorheit begangen haben, muß denn das immer Gottes Wille sein? Ein Jeder von uns erlebt doch nur sein eigenes Schicksal, und darum find’ ich es unrecht, wenn Aeltere den Jüngeren ihre eigenen Ansichten als maßgebend aufdrängen, wenn irgend eine zufällige Erfahrung, die sie gemacht haben, für vielleicht ganz andersgeartete Menschen gelten soll.“

„Sprechen Sie von mir, lieber Charles?“ sagte die Alte mit sehr böser Stimme und stand auf.

„Ich spreche in diesen: Augenblick von meinem Vater,“ erwiderte Karl, „von meinem sonst so weisen und einsichtigen Vater, der aber in diesem einen Punkte was die Ehe betrifft – sich eine sehr starre Meinung gebildet hatte und es für seine Pflicht hielt, sie auf uns zu vererben. Weil er einmal in seiner Familie einen sehr kränkenden und tragischen Fall erlebt – mit jener allzu langen Brautzeit, von der Sie ja wissen – hat er uns in seinem Testament zur ausdrücklichsten Pflicht gemacht, auf unsere etwaige Verlöbniß ohne Aufenthalt die Hochzeit folgen zu lassen. Ich finde das unrecht, und ich gestehe es offen. In diesen Dingen meine ich –“

„Sie haben sehr wenig Pietät, lieber Charles,“ fiel Demoiselle Merling ein.

„Darüber lassen Sie mich meiner eigenen Meinung sein!“ gab ihr Karl etwas hastig zurück. „Wo es sich um das allerpersönlichste Wohl und Wehe handelt –“

„Gegen einen solchen Vater!“ rief die alte Dame aus, „gegen einen so distinguirten Mann und einen so sehr liebevollen Vater!“

„Ich bin sein Sohn, Tante Merling,“ unterbrach Karl sie mit erregter Stimme. „Ich gestatte Ihnen allerlei Vorrechte, aber ich gebe Niemandem das Recht, mich über mein inneres Verhältniß zu meinem verstorbenen Vater zu belehren.“

Demoiselle Merling starrte ihn sprachlos an. Diese Ausdrucksweise bei einem so jungen Menschen brachte sie ganz außer Fassung.

„Um Gotteswillen, Ihr werdet Euch doch nicht erzürnen!“ rief plötzlich Wilhelm’s helle, gutmüthige Stimme dazwischen. „Tante Merling, lassen Sie doch; – laß doch, Karl! Mein ! Gott, es ist ja nicht der Mühe werth! – Nun ja, und wenn man sich ein Mädchen gewählt hat, das Einem ganz gefällt, warum soll man da auch nicht sogleich mit beiden Füßen in die Ehe hineinspringen?“

Die Alte nickte eifrig zustimmend, war aber noch zu aufgebracht, um selbst zu Worte zu kommen.

„Streiten wir nicht, lieber Wilhelm,“ erwiderte Karl mit etwas bitterem Lächeln. „Ich war so pietätlos, mich nicht sowohl gegen die Sache an sich, als gegen die tyrannische Liebe unseres Vaters aufzulehnen. Ich lehne mich gegen Alles auf, was über mein Wohl und Wehe entscheiden will, ohne meine eigene Gesinnung zu befragen. Das ist freilich nicht Sitte, ist nicht kindlich gedacht. Was aber das Hineinspringen in die Ehe betrifft, lieber Wilhelm, wer bist Du? Doch wohl auch ein sehr gebrechlicher, irrthumsfähiger Mensch? Und wenn Dir plötzlich irgend ein Gelüste durch den Kopf schießt – und Dir in: Augenblick Alles herrlich, Alles in Ordnung scheint – – Doch was reden wir davon!“ setzte er abbrechend hinzu und that einen Schritt auf die Seite. „Wir reden in’s Blaue hinein. Jeder denkt, wie er fühlt. Wozu auch das ganze Gespräch! Man versteht sich nicht, und man ereifert sich, ohne zu wissen, warum man sich ereifert.“

Er sagte das mit einem scharfen Blick auf die alte Dame, die leidenschaftlich in die Luft hinaussah, und wandte sich dann unwillkürlich zu Annette zurück. Das Mädchen, mit leicht gerötheten Wangen und brennenden Lippen, sah in reizender Verlegenheit zu ihm hinauf und dann zur Tante hinüber und schien ihn mit ihren sanften Augen und Mäßigung, um Freundlichkeit zu bitten. Dieser Anblick wirkte ganz plötzlich auf ihn. Er [484] löste die finstere Falte zwischen seinen Brauen wieder auf, und ein sanftmüthiges Lächeln trat ihr auf die Lippen. Er blickte Annette herzlich an und ging auf die Alte zu.

„Sie müssen nicht böse sein, liebe Tante,“ sagte er leichthin. „Sie müssen mir verzeihen. Sie wissen, im Gespräch ereifere ich mich leicht. Geben Sie mir die Hand und sagen Sie mir freundlich Adieu! Ich muß fort, aber ich darf nicht eher gehen, als bis Sie sich in aller Großmuth mit mir ausgesöhnt haben.“

Demoiselle Merling stand auf und schlug ihn leicht auf die Hand. „Sie verdienen es gar nicht!“ sagte sie mit einem sauersüßen Lächeln und noch immer grollender Stimme. „Sie sind ein Mensch ohne Grundsätze, eine Mensch ohne Pietät – ja, ich muß es wiederholen, lieber Charles – ohne Pietät gegen mich! gegen mich, Ihre zweite Mutter! – Gehen Sie, reisen Sie und bessern Sie sich. Es ist nur gut, daß Sie mir wenigstens meinen alten Wilhelm zurücklassen.“

Karl gab dem Bruder die Hand, ohne etwas zu erwidern, und verneigte sich gegen das Fräulein, das sich zierlich, doch in einiger Bewegung erhob. Er fühlte sich verwirrt und eilte nach einigen hastigen, inhaltslosen Abschiedsworten hinaus. Die Luft in diesem Zimmer schien ihn zu bedrücken. Erst draußen kehrte seine Besinnung zurück; er mäßigte seinen Schritt, der sich anfangs überstürzt hatte, und blieb endlich mitten auf dem Marktplatze stehen, um. seinem ungestümen Blut ein wenig Ruhe zu gönnen.

„Ich hatte es schon fast aufgegeben, Dich einzuholen,“ sagte plötzlich eine Stimme hinter ihm, und Wilhelm’s Arm legte sich in den seinen. „Warum liefst Du denn auf einmal so davon? Ich hatte Dir noch Allerlei zu sagen; warum stürmst Du so, Karl?“

„That ich das?“ erwiderte Karl mit erzwungenem Lächeln. „Ich mußte ja fort! – Was hast Du mir denn zu sagen?“

„Karl,“ fragte Wilhelm und suchte seine Augen, „hast Du Dich vorhin über mich geärgert? Ich habe Dir so dumm widersprochen; hat Dich das gekränkt?“

„Du bist ein Narr!“ sagte Karl und lachte ihm in’s Gesicht.

„Wie soll mich das kränken?“

„Ich meinte nur, weil Du heut’ so eigenthümlich erregt bist! Uebrigens mit den unglücklichen Ehen, Karl, da hatte Demoiselle Annette Recht, da hatte sie Recht! Ich hab’s wohl auch bemerkt, wie sie Dich wieder sanft gemacht hat ohne ein Wort; ja, die kann’s! Eh’ ich eben davon lief, hab’ ich ihr dafür die Hand gedrückt und ihr gesagt – ich weiß nicht mehr, was. Ja, so ein Mädchen kann, was es will! – Leb’ wohl, Karl; auf Wiedersehen, Ich muß noch ein wenig umherlaufen – so für mich weg, durch die Straßen; da drin ward mir’s zu heiß. Auf Wiedersehen heute Abend, zu Hause!“

„Auf Wiedersehen!“ sagte Karl zerstreut und drückte ihm die Hand. Er sah ihm nach, wie er sich entfernte; er fühlte, wie wohl es ihm selber that, wieder allein zu sein. Das Bild Annettens trat ihm, da er sie nun für unbestimmte Zeit verlassen sollte, um so lebhafter vor die Seele. Unwillkürlich dachte er an den Tag, an dem er zurückkehren würde, suchte die Zwischenzeit hinwegzublasen, die ländlichen Sorgen und Nöthe, die ihn erwarteten, sich klein und kleiner zu denken. Der Blick, mit dem sie ihn vorhin besänftigt hatte, schien von Neuem auf ihm zu ruhen und ihn schüchtern um schnelle Rückkehr zu bitten. Seine ganze Seele wallte auf, und er eilte, es ihr zu versprechen. Es dünkte ihn fast unmöglich, davonzugehen. Er nickte ihr zu, wie wenn er sie vor sich sähe, bewegte die Lippen, wie um ihr laut zu sagen, daß er bald wiederkomme, und verlor sich in alle die herzlichen, empfindungsvollen Tändeleien, in denen sich ein jugendliches Herz mit dem Gegenstände seiner überwallenden Gefühle beschäftigt.

So wanderte er vor sich hin, zum Thor hinaus, auf der alten Landstraße, die an dem hügeligen Flußufer entlang führt, im vollen Nachmittags-Sonnenschein und in der lieblichsten Maienluft, die ein sanfter Wind von Süden her bewegte. Er sah um sich her und ward lebhaft gerührt; die Gegend, die ihn sonst nie von Herzen erbaut hatte, schien ihm heute so schön; der Fluß breitete sich so weit, so blau hinaus, die Wolken leuchteten wie Schneegebirge über dem Saatgelände, die Lerchen in der Höhe, die Wachteln im Feld sangen so eindringlich, und aus dem Wald, dem er entgegentritt, lockte der Finkenschlag und schienen die unermüdlichen Meisen ihn anzurufen. Er wanderte immer weiter, tief in’s Gehölz hinein, von der Straße weg; es that ihm wundersam wohl, über die knackenden dürren Aeste hinzuschreiten, das alte rothe Laub rascheln zu hören und dann wieder, mit einem Blick nach oben, das junge Grün der Wipfel, den dunkelblauen Himmel und die ziehenden Wolken überspinnen zu sehen. So glaubte er über seine eigene Vergangenheit hinwegzutreten und in ein neues Leben hinauszustarren. Wie singende Vögel umgaukelten ihn seine Hoffnungen und schienen von Ast zu Ast neben ihm herzufliegen. Wie man sich als Kind in zauberhafte Märchenwälder hineindenkt, wo tausend räthselhafte Stimmen uns aufregend und sanft betäubend umschwirren, so schien er heute unter lauter Wunderbäumen, unter einem unbekannten Himmel hinzugehen; der Maienwind wühlte in seinen Adern, seine Augen füllten sich mit Gluth, und ein ganz neuer Lebenshauch schien ihn, wie ein Lufthauch, der die Segel schwellt, leichter dahinzutragen.

So war er schon lange, auf keinen Weg mehr achtend, über Moos und Blätter und Baumwurzeln hingeschritten, als sich auf einmal der Wald vor ihm lichtete und an der tiefen Ecke, die hier ein Saatfeld in das Gehölz hineinschnitt, eine mächtige, wohlbekannte Eichengruppe ihm gegenüber aufragte. Er erkannte zu seiner Ueberraschung, daß er, ohne es zu wissen und zu wollen, an der Grenze des im Wald versteckten Vorwerks, am Lieblingsplatz Annettens angelangt war. Das hügelige Land dehnte sich zur Rechten, der breite Fluß lag wie ein See, wie ein blaues Auge mitten drin. Oben im jungen Laub sprangen die Eichkätzchen von Baum zu Baum; sonst war es hier wunderbar still. Karl ging träumerisch auf die Eichen zu; er glaubte ein helles Kleid zwischen ihnen schimmern zu sehen. Seine Schritte beschleunigten sich. Endlich stand er unter den hohen Bäumen. Am Fuß der letzten, herrlichsten Eiche, deren Zweige breiten Schatten ausstreuten, saß wirklich Annette und rief ihm mit überraschender Gewalt ein Bild vor die Seele, das daheim in seinem Herrenhaus hing, das er als Knabe so oft in schwärmerischer Träumerei betrachtet hatte. Ein junges Mägdlein im Wald, auf einer hohen Baumwurzel sitzend, mit sanften Augen herausblickend; den breiten Strohhut am Arm, die Füßchen in rothen Schuhen nachlässig ausgestreckt, ein Lied oder ein singender Gedanke auf ihren kindlichen Lippen. So sah er hier Annette vor all’ seinen Sinnen, in lieblichster Wirklichkeit. Sie bemerkte ihn nicht. Ihr Blick träumte schräg zur Seite hinaus, – was sie zu lieben schien. Ihr dunkles Haar legte sich ihr frei, in lockiger Verworrenheit um die Stirn, wie wenn es noch nie Band und Schleifen gekannt hätte. Die Hände ruhten im Schooß, ein aufgeschlagenes Büchlein lag daneben; der stroherne, rothbebänderte Sommerhut hing ihr am Arm, das blaßgelbe Kleid floß über die grünbemoosten, schlangenartigen Baumwurzeln hin; – nur die kleinen rothen Schuhe fehlten. Karl trat in seiner ganzen frühlingsseligen Erregung heran. Bei seinen knisternden Schritten fuhr sie aus ihren Gedanken auf, starrte zu ihm hin, und wie Purpur überlief es ihre Wangen.

Er zog seinen Hut, verneigte sich mit bescheidener Vertraulichkeit und redete sie an: wie glücklich es ihn mache, sie noch einmal zu sehen; sie an diesem schönsten Frühlingstage so unerwartet an diesem holden Platze zu entdecken. Er blickte auf ihr Büchlein herab und erkannte dasselbe Liederbuch, das auch ihn überall zu begleiten pflegte. Sein scharfes Auge sah, daß sie das „Mailied“ aufgeschlagen hatte. Unwillkürlich fing er an, den glückseligen Text mit leiser Stimme vor sich hin zu sprechen. Annette sah ihn mit halb beglückten, halb verlegenen Augen an. Sie erröthete von Neuem und warf dann ängstliche Blicke hinter sich. Er folgte ihnen und sah nun zu seinem Schrecken hinter einer andern Eiche, in einem hellgrauen Sommerkleid, einen mächtigen Hut auf dem Kopf, ein Buch auf den Knieen, die alte Demoiselle Merling sitzen. Sie schien zu lesen, schielte aber über das Buch hinweg zu den Beiden hinüber.

Der sehr verstörte Jüngling rang nach Fassung; er hatte sich mit Annetten ganz allein gedacht. Er vergaß fast zu grüßen. Indessen stand die Alte langsam auf, näherte sich mit einem zweideutigen Lächeln und fragte ihn, was für ein Zufall, indem sie das Wort betonte und Annette forschend dabei ansah, ihn gerade hierher geführt habe? – „Sie sind nur leider sehr spät gekommen, lieber Charles,“ setzte sie boshaft hinzu. „Denn wir Beide, wir werden uns wieder auf den Retourweg machen müssen. Der Weg ist weit, und die Sonne schielt schon sehr! Leben Sie wohl, lieber Charles. Es war schön von Ihnen, daß Sie sich uns noch einmal gezeigt haben. Reisen Sie glücklich.“

(Fortsetzung folgt.)
[485]
Für Hans Sachs ein Denkmal in Nürnberg!

Das projectirte Hans Sachs-Denkmal.

Es ist ein gutes Zeichen, daß wir in Deutschland wieder den Muth gewinnen, an Ehrenmale für unsere großen Männer zu denken, und daß der erste Aufruf dazu nach dem letzten deutschen Sturmjahre einem der edelsten und reinsten Vertreter bürgerlicher Kunst- und Gewerbsübung im Reformationszeitalter gilt, verleiht ihm noch höhere Bedeutung.

Die Gegenwart kann unserem großen Meistersänger und fruchtbarsten Dichter Hans Sachs nicht ein Denkmal setzen für Das, was er ihr ist – denn von seinen mehr als sechstausend Gedichten, Liedern, Erzählungen, Schwänken, Fastnachtsspielen, weltlichen und geistlichen Tragödien und Komödien sind nur die wenigsten in ihrem einstmaligen Werthe der heutigen Generation verständlich – sondern wir müssen uns an den Mann selbst halten, und für Das, was er seiner Zeit war, hat die unsere ihn zu belohnen.

Darum feiern wir ihn als den tapferen Verfechter und [486] warmen Freund alles Wahren, Guten und Schönen, als den kühnen Ankläger jeder Lüge, Schlechtigkeit und Nichtswürdigkeit, als einen wahren deutschen Mann und als den treuesten Dichter des neuen Glaubenslichtes. Von seinem berühmten Hochgesang auf „die wittenbergisch Nachtigall“ bis zu seiner „Klagred ob der Leich Dr. M. Luther’s“, dreiundzwanzig Jahre lang, war Hans Sachs der ebenso unerschrockene wie unermüdliche dichterische Wortführer der Reformation, für die er vor Vielen segensreich wirkte im deutschen Volke, welches seine geistlichen Lieder und Kampfgedichte längst abschriftlich über ganz Deutschland verbreitet hatte, ehe ihnen die Ehre des Buchdrucks zu Theil wurde. Gar wohl hätte Hans Sachs es verdient, am großen Wormser Reformationsdenkmal auch seine Stelle mit zu finden.

Nicht um dies als Versäumtes nachzuholen, sondern weil es gerecht ist, daß in Nürnberg neben dem großen bildenden Künstler – Albrecht Dürer– auch dieser an Vielseitigkeit und Fruchtbarkeit ihm ebenbürtige Dichter und Kämpfer des Reformationszeitalters von den dankbaren Nachkommen in gleicher Weise geehrt werde, ergeht an das patriotische Deutschland der Ruf: „für Hans Sachs ein Denkmal in Nürnberg!“

Wie bei dem großen Feste zu Worms die Deutschen jeden Glaubens nur Ein Stolz erfüllte, der auf die Ehre des deutschen Namens, der in den ehernen Gestalten des Monuments seine Verherrlichung gefunden, und wie dort das Gefühl dieser Ehre um die durch kirchliche, politische und sociale Risse tausendfach gespaltene Menge das Band der Einigkeit in Einem Geiste schlingen konnte: so, in demselben Geiste, wenn auch in angemessen bescheidenerem Maße, möge die Theilnahme sich zeigen, welche die Deutschen aller Farben und Fahnen diesem Aufrufe für die Ehre unsers Hans Sachs entgegentragen! Mögen sich Alle einen in dem Ausspruch, den Goethe unserem Nürnberger Dichter widmet:

„Einen Eichenkranz, ewig jung belaubt,
Den setzt die Nachwelt ihm auf’s Haupt!“

In welcher Weise der Künstler, Bildhauer Kraußer in Nürnberg, sich das einstige Erzbild des Meistersängers gedacht und im Modell ausgeführt hat, deutet unsere Abbildung in Holzschnitt an. Die Ausführung in Erz würde höchstens zwanzigtausend Gulden in Anspruch nehmen; wahrlich, so viel ist der deutschen Nation ihr Hans Sachs doch wohl werth, daß sie ihm in Nürnberg, der allen Deutschen als ein nationales Kleinod werthen Stadt zu Liebe, diese verhältnißmäßig so unbedeutende Summe in kürzester Zeit auf den Altar des Vaterlandes niederlegen wird.

Selbstverständlich legt die Gartenlaube diese Angelegenheit, zu deren Veröffentlichung das Comité sie beauftragt, vor Allen ihren Lesern an’s Herz, überzeugt, daß dieser Opferstock in Nürnberg nicht vergeblich aufgestellt ist!






Die Mutter unserer heutigen Scheidekunst.

Vortrag von Prof. Dr. O. L. Erdmann in Leipzig.

Am Golde hängt,
Nach Golde drängt
Doch Alles –

sagt Gretchen in Goethe’s Faust und spricht damit eine sehr alte Wahrheit aus. Zu keiner Zeit hat das Gold, welches die Erde liefert, dem Bedürfnisse, dem Golddurste der Menschen genügen wollen; je seltener es war, um desto größer die Sehnsucht nach dem Besitze desselben. Diese Sehnsucht erweckte in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung den Gedanken, das Gold, das die Natur so sparsam liefert, durch die Kunst zu schaffen. Man glaubte an die Möglichkeit, unedle Metalle in edle zu verwandeln, und die Kunst, auf diese Weise Gold und Silber zu erzeugen, sie erhielt, wenn auch später, den Namen Alchemie.

Der Glaube an diese Kunst beherrschte lange Zeit die ganze Menschheit. Fünfzehn Jahrhunderte hindurch haben die Menschen unermüdlich an der Lösung der Aufgabe, welche die Alchemie sich stellte, gearbeitet, aber – vergebens gearbeitet! Dennoch ist die Geschichte dieser Arbeiten nicht ohne hohes Interesse.

Obwohl von einer irrigen Voraussetzung ausgehend, ist doch die Alchemie, an welche viele der edelsten Geister, so Luther, Baco von Verulam, Kepler, Leibnitz, Spinoza geglaubt haben, die Mutter unserer heutigen Chemie geworden; ja die Alchemie war eben die Chemie selbst auf ihren ersten Entwickelungsstufen. Gar häufig wird die Behauptung ausgesprochen, die Chemie sei eine neue Wissenschaft. Dies ist durchaus unrichtig. Die ersten Anfänge derselben sind uralt. Unzählige Erfahrungen und Beobachtungen mußten gemacht, unzählige Versuche mußten angestellt sein, ehe die Menschen zur Erfindung der Weinbereitung, des Brodbackens, zur Ausscheidung der Metalle aus ihren Erzen, zu der Kunst, Zeuge zu färben u. s. w. gelangen konnten. Freilich war der Zweck jener Versuche zunächst nicht ein wissenschaftlicher, sondern ausschließlich die Erfüllung des Bedürfnisses, und der geistige Inhalt der Chemie jener frühen Zeit war gewiß sehr gering, aber erst mußte doch das Material für den Aufbau der Wissenschaft, mußten die Thatsachen herbeigeschafft werden, ehe Principien der Wissenschaft aus ihnen entwickelt werden konnten, denn überall ist es der Gang der Naturforschung und muß es sein, daß sie, ausgehend von Erfahrungen über das Einzelne, zu Betrachtungen über das Allgemeine sich erhebt.

Das heutige chemische System datirt von Lavoisier’s Zeit, es ist nicht viel über achtzig Jahre alt. Aber der Stoff, mit dessen Hülfe das System erbaut ist, ihn verdanken wir zum großen Theile der ungeheuern Arbeit der Alchemisten, und nur die Beschränktheit, welche sich mit selbstgefälligem Behagen daran erfreut,

„wie wir’s zuletzt so herrlich weit gebracht,“

kann die Bedeutung dieser Arbeit unterschätzen. Ehe man Pyramiden und Dome erbauen kann, muß im Steinbruche gearbeitet und muß in der Tiefe des Bodens das Fundament aus rohen Steinen gelegt werden.

Allerdings ist das Gold der Thatsachen, welches die Alchemisten zu Tage forderten, in den meisten Arbeiter, derselben mit Schlacken reichlich gemengt. Geistige Verirrungen aller Art knüpften sich an die alchemistischen Forschungen, die Schriften vieler Alchemisten sind voll mystischen Unsinns. Betrüger und habsüchtige Thoren tauchen auf unter den echten, vorn Forschertriebe beseelten Alchemisten; die Alchemie artet im Laufe der Zeit immer mehr aus, bis zuletzt die alte und doch nie zum Ziele gelangende Kunst der Verachtung und der Lächerlichkeit verfällt. Was aber echt war von ihren Früchten, das ist der neuen Wissenschaft, deren Licht nunmehr zu leuchten begann, der Chemie, zu Gute gekommen. Es ist einmal das Schicksal aller menschlichen Forschung, daß sie nur sehr selten, ja wohl nie sofort und auf geradem Wege ihr Ziel erreicht; nur auf Umwegen nähern wir uns allmählich der Wahrheit, und die größten Fortschritte der Wissenschaft bestehen im Wegräumen von Irrthümern, die einer vergangenen Zeit als Wahrheiten galten. Auch die Chemie hat diesen schweren Weg gehen, müssen, aber wahrlich die Irrthümer, in die sie in ihrer ersten Jugend verfiel, sind sehr erklärlich, wenn man sie nur – wie doch billig geschehen muß – vom Standpunkte der Zeit aus beurtheilt, in welcher sie begangen wurden.

Der Gedanke einer Metallverwandlung hatte damals durchaus nichts Widersinniges, ja er mußte sogar in einer Zeit, in welcher die Eigenschaften der Metalle nur sehr unvollkommen bekannt waren, ganz natürlich erscheinen.

Die Metalle haben den eigenthümlichen Metallglanz, einige sind im Feuer unveränderlich, die edlen, andere verlieren ihren Glanz, z. B. Blei, Zinn; es sind die unedlen. Eine Anzahl von Körper mit Metallglanz ist spröde: die Halbmetalle, Antimon etc. Sehr ähnlich im Aeußern sind nun diesen letzteren der Bleiglanz und der Schwefelkies; ersterer gleicht in der Farbe dein Blei, letzterer dem Golde. Was wie Gold glänzt, das gilt ja noch heute, dem Sprüchworte zum Trotz, Vielen für Gold! Bleiglanz und Schwefelkies, wenn sie erhitzt werden, geben Schwefel ab. Aus dem Bleiglanze läßt sich, wenn dem Rückstände von der Erhitzung desselben an der Luft Kohle zugesetzt wird, Blei gewinnen. Das galt für eine Verwandlung, für eine Veredlung des Bleiglanzes zu Blei. Aus diesem Blei aber ließ sich auch etwas Silber gewinnen, aus dem Schwefelkiese etwas Gold. Das galt als Verwandlung. [487] Man schloß aus den beschriebenen Versuchen, mit Recht, Schwefel sei ein Bestandtheil des Bleiglanzes und des Schwefelkieses, und kam auf die Vermuthung, die bald zur festen Ueberzeugung wurde, Schwefel sei ein Bestandtheil aller Metalle; gelänge es nur aus dem Bleiglanze und dem Schwefelkiese mehr Schwefel auszutreiben, so würde man mehr Silber, mehr Gold daraus erhalten, und wenn es gelänge, aus den unedlen Metallen allen Schwefel auszutreiben, so würden sie zu edlen verwandelt werden. Das Quecksilber, Mercurius, verfliegt im Feuer, die Verkalkung der unedlen Metalle im Feuer, z. B. des Bleies etc., erklärte man sich daraus, daß Mercur aus den Metallen verflüchtigt werde. Mercur galt als ein zweiter Bestandtheil der Metalle, und während es beim Schwefel darauf ankam, ihn zu vertreiben, so galt es beim Mercur, die Entweichung desselben zu verhindern, ihn fest zu machen oder nach dem Kunstausdrucke ihn zu fixiren. Dieses Fixiren des Mercurs spielt eine große Rolle in der Alchemie. Ueberall fand man Beweise für die Möglichkeit einer Bildung, einer Umwandlung von Metallen. Lehm mit Kohle geglüht gab Eisen. Eisen in gewisse Wässer, die sogenannten Cementwässer in Ungarn, oder was dasselbe ist, in eine wässerige Auflösung von blauem Vitriol getaucht, verwandelt sich in Kupfer (Cementkupfer); Kupfer mit dem Pulver eines grauen Steines, des Galmei, und Kohle zusammengeglüht, giebt ein gelbes, goldähnliches Metall. Wir können uns gewiß nicht wundern, wenn solche und ähnliche Erscheinungen den Gedanken zur Gewißheit machten, daß durch Zuführung oder Wegnahme gewisser Stoffe die Umwandlung in Metalle erfolgen könne. Erst sehr viel später hat man erkannt, daß alle diese scheinbaren Umwandlungen nur auf Ausscheidungen von Metallen aus den angewendeten Materialien oder auf Bildung von chemischen Verbindungen der Metalle unter sich und aus anderen Stoffen beruhen.

Die ersten Anfänge der alchemistischen Bestrebungen fallen in eine sehr frühe Zeit. Mit Sicherheit können wir sagen, daß schon im vierten Jahrhunderte Alchemie getrieben wurde, und da griechische Schriftsteller dieser Zeit von ihr als von etwas Bekanntem sprechen, so mag sie Wohl viel älter sein. Ihren Ursprung hat sie, nach der übereinstimmenden Meinung der ältesten alchemistischen Schriftsteller, jedenfalls in Aegypten genommen und als ihren ersten Vorgänger erkennen die Alchemisten einstimmig einen Hermes Trismegistos an, von dem viel Wunderbares erzählt wird. Er soll ein ägyptischer König gewesen sein, aber die Regierungsgeschäfte scheinen ihn nicht sehr gedrückt zu haben, da er 25,000 Bände über die allgemeinen Principien geschrieben haben soll, nach anderen eben so glaubhaften Nachrichten sogar 36,525 Bände über alle Wissenschaften! Alexander der Große soll auf einem Zuge nach Aegypten das Grab des wunderbaren Mannes haben öffnen lassen, wobei man die bei den späteren Alchemisten hochberühmte tabula smaragdina, eine smaragdene Tafel, auffand, die eine Inschrift trug, worin der große Meister das Geheimniß der Alchemie niedergelegt haben soll. Diese kostbare Tafel existirt zwar nicht mehr, aber der Inhalt der Inschrift ist uns erhalten. Wie viel Wahres an der Geschichte dieser smaragdenen Tafel ist, wissen wir nicht, unsere Nachrichten über die Auffindung derselben stammen erst aus dem dreizehnten Jahrhunderte. Smaragd war das Material derselben schwerlich, da Smaragde von der Größe, daß man so lange Inschriften darauf schreiben könnte, wohl niemals existirt haben. Der uns überlieferte Text ist lateinisch, wahrscheinlich jedoch eine Uebersetzung aus dem Griechischen, wie mehrere darin vorkommende Gräcismen beweisen. Es ist sehr dunkel, und viele Commentare sind zur Erläuterung desselben geschrieben worden. Man könnte zweifeln, ob überhaupt von Alchemie darin die Rede sei, aber die Alchemisten aller Zeiten behaupten es und sind überzeugt, daß man den Text nur recht verstehen müsse, um darin das Geheimniß der Alchemie zu finden. Die dunkle Schreibart ist das Muster für alle Alchemisten geworden, ihre Schriften sind uns kaum verständlich. Jedenfalls ist die smaragdene Tafel eine der ältesten alchemistischen Urkunden, und so mag dieselbe als die Probe alchemistischen Styles in wortgetreuer Uebersetzung hier folgen:

„Es ist wahr, ohne Lüge und ganz gewiß: das Untere ist wie das Obere und das Obere ist wie das Untere, zur Vollbringung eines Wunderwerkes. Und so wie alle Dinge von Einem und seinem Gedanken kommen, so entstanden sie alle aus diesem einen Dinge, durch Anneigung (adaptio). Der Vater des Dinges ist die Sonne, der Mond ist seine Mutter. Der Wind hat es in seinem Bauche getragen und die Erde hat es ernährt. Es ist die Ursache aller Vollendung in der Welt. Seine Kraft ist völlig, wenn es zur Erde wird. Scheide die Erde vom Feuer und das Feine vom Groben gemächlich und kunstreich. Es steigt von der Erde zum Himmel empor, und es steigt wiederum zur Erde hinab und empfängt die Kraft des Oberen wie des Unteren. So hast du das Herrlichste der Welt, und alles Dunkel wird von dir weichen. Es ist das Allerstärkste, was alle Stoffe bewältigen, alle Körper durchdringen mag. So ist die Welt geschaffen durch solche Anneigungen. Darum nennt man mich Hermes den Dreimalgroßen, der drei Theile alles Wissens hat. Obiges ist das ganze Werk der Sonne.“

In dieser dunklen Schrift, die man als die Apokalypse der Alchemie bezeichnen kann, hat man bald diesen, bald jenen Sinn gefunden. Eine ziemlich nüchterne Ansicht aus neuerer Zeit deutet sie auf die Destillation, die vielleicht schon den ägyptischen Priestern bekannt war und sicher von den alexandrinischen Griechen geübt wurde, welche sie von den Aegyptern gelernt haben konnten. Allein früher fand man viel mehr darin, unter der Vollendung (telesmos) verstand man die Vollendung, d. h. die Veredlung, der Metalle, unter dem Allerstärksten aber, das alle Körper durchdringt, ein allgemeines Auflösungsmittel, den Alkahest der Araber. Dieses wurde eifrig gesucht von den Alchemisten; man suchte es durch Destillation zu gewinnen und gelangte dabei zur Entdeckung der Säuren. Das Werk der Sonne übersetzte man durch Bereitung des Goldes, denn Sonne, sol, hieß bei den Alchemisten das Gold, Mond, luna, aber das Silber.

Im achten Jahrhundert blühte die Alchemie vorzüglich bei den Arabern und von ihnen stammt der Name Alchemie, d. h. die Chemie, denn al ist nur der arabische Artikel. Die Araber brachten sie nach Spanien, von wo sie sich über alle europäischen Nationen verbreitete. Im Laufe der Zeit waren die alchemistischen Ansichten in ein gewisses System gebracht worden, welches um das zehnte bis eilfte Jahrhundert ziemlich abgeschlossen war.

Die Kunst der Alchemisten hieß bald die ägyptische, bald die hermetische, die spagirische oder auch wohl die heilige, die göttliche Kunst. Die Bezeichnungen Goldmacherkunst oder Goldmacherei werden erst in sehr später Zeit und mehr in tadelndem oder spöttischem Sinne gebraucht. Die sich mit der Kunst beschäftigten, hießen Alchemisten oder Philosophen. Die vollkommenen Meister, welche das Geheimniß wirklich erlangt hatten, wurden Adepten genannt. Daß es solche Glückliche gebe oder gegeben habe, war der allgemeine Glaube bis in sehr späte Zeit. Selbst der Verfasser einer 1832 erschienenen Geschichte der Alchemie – freilich kein Chemiker - ist noch der Ueberzeugung, daß es wenigstens fünf Adepten wirklich gegeben habe.

Die Lehren der Alchemie, wie sie in der späteren Blüthezeit derselben, im dreizehnten bis sechszehnten Jahrhunderte, sich ausgebildet hatten, lassen sich in drei Sätze zusammenfassen:

  1. Es ist möglich, aus Dingen, die kein Gold enthalten, durch Kunst Gold darzustellen. Das Mittel dazu ist ein Präparat der Kunst. Dieses wird genannt der Stein der Weisen, oder das große Elixir, das große Magisterium oder die rothe Tinctur.
  2. Es ist möglich, aus Körpern, welche kein Silber enthalten, durch Kunst Silber darzustellen. Das Mittel dazu ist der Stein zweiter Ordnung, das kleine Elixir, das kleine Magisterium oder die weiße Tinctur.

3. Dasselbe Präparat, welches die Metalle veredelt und das Gold erzeugt, ist zugleich eine wunderbare Arznei!

Hiernach verdient es der Stein der Weisen gewiß, daß wir uns etwas näher mit ihm bekannt machen. Er vermag alle Metelle in Gold zu verwandeln. Die Umwandlung (Transmutation) erfolgt gewöhnlich durch Aufwerfen auf das geschmolzene Metall – die Projection. Er kann in verschiedener Stärke bereitet werden. Ein Theil desselben, von der besten Qualität, soll mehrere Billionen Gewichtstheile unedles Metall in Gold verwandeln und dabei noch das Gewicht des Metalls vermehren, also Gold aus Nichts schaffen können. Raymundus Lullus sagt, er wolle das Meer in Gold verwandeln, wenn es Quecksilber wäre. Andere sind aber viel bescheidener; so versicherte James Price, der letzte anerkannte Adept in England, 1782, er habe eine Tinctur gehabt, die ihr dreißig bis sechszigfaches Gewicht Quecksilber in Gold verwandelte.

[488] Von den äußeren Eigenschaften des Steines der Weisen geben uns die Schriftsteller nach dem dreizehnten Jahrhunderte genaue Beschreibungen, die aber freilich unter einander nicht ganz übereinstimmen. Paracelsus im sechzehnten Jahrhundert sagt, er sei eine sehr fixe Substanz, in Masse lebhaft roth wie Rubin und durchsichtig wie Krystall, dabei biegsam wie Harz und doch zerbrechlich wie Glas; gepulvert gleiche er dem Safran. Van Helmont im siebenzehnten Jahrhundert beschreibt ihn nach eigener Anschauung als ein schweres Pulver von Safranfarbe, schimmernd wie nicht ganz feingestoßenes Glas.

Von dem Steine zweiter Ordnung weiß man sehr wenig; er soll ein weißes glänzendes Pulver sein.

Wir wollen uns nun zunächst zu den historischen Beweisen für die Existenz des metallveredelnden Steines der Weisen wenden und dann zu seinen schätzbaren Eigenschaften.

Die gewichtigste Autorität für die Existenz des Steines der Weisen und die Wahrheit der Transmutation ist der als Arzt und Chemiker ausgezeichnete van Helmont, geb. 1577, ein Mann von der höchsten Gewissenhaftigkeit, dem die Wahrheit über Alles galt. Er war ein brabantischer Edelmann aus der Familie der Merode, aber er entsagte seinen Gütern und gab alle Vortheile seiner Geburt auf, um sein Leben nur guten Werken zu widmen; alles aus Ruhmsucht unternommene Studium aber hielt er für eitel. Seine Forschungen waren vorzüglich der Heilkunde, weniger der Alchemie zugewendet. Und dieser Mann beschreibt in mehreren seiner Schriften mit solcher Bestimmtheit die Transmutation von Quecksilber in Gold, daß es in der That fast ebenso schwer ist, an eine Täuschung bei dem ausgezeichneten Chemiker zu glauben, als an die Wahrheit der Erzählung. Van Helmont hat den Stein der Weisen nicht selbst dargestellt, aber er erhielt mehrmals von unbekannter Hand kleine Proben desselben. 1618 erhielt er ein Viertel Gran davon und verwandelte damit acht Unzen Quecksilber in reines Gold. Er war von diesem Erfolge so erbaut, daß er seinen eben geborenen Sohn Mercurius taufen ließ, und Franciscus Mercurius van Helmont wurde und blieb ein eifriger Alchemist bis an sein Ende 1699.

Dr. Helvetius, Leibarzt des Prinzen von Oranien im siebenzehnten Jahrhundert, ein berühmter Arzt, welcher im Rufe hoher Rechtlichkeit und Wahrheitsliebe starb, war ein Gegner der Alchemie. Plötzlich trat er 1667 als ihr eifrigster Vertheidiger auf. Ein Fremder hatte ihm ein Pröbchen des Steins der Weisen gegeben von der Größe eines halben Rübsamenkorns. In Gegenwart seiner Frau und seines Sohnes schmolz Helvetius dieses mit sechs Quentchen Blei – und das Blei wurde in das reinste Gold verwandelt, das Münzwardeine und Goldarbeiter als solches erkannten. Helvetius machte diesen Vorfall 1667 in einer eigenen Schrift bekannt, und Spinoza, gewiß kein Leichtgläubiger, nahm an der Sache den größten Antheil und sprach nach eingezogenen genauen Erkundigungen brieflich aus, daß diese Transmutation für ihn vollkommen überzeugend sei.

Solche Erzählungen bekehrten die Zweifler, bestärkten die Gläubigen und waren den Alchemisten Lichtpunkte in der Nacht ihres Strebens. Unzählige Geschichten hat man den mitgetheilten nachgebildet, wo angeblich Adepten vor vielen Menschen Blei in Gold verwandelten und dann spurlos verschwanden. Unbekannte spielen überhaupt, wie in den Criminalgeschichten, so auch in der Alchemie, eine große Rolle. Nur noch ein Beispiel davon. Ein Professor Martini zu Helmstädt († 1621) war ein Feind der Alchemie und bestritt die Gültigkeit der Beweise, welche für die Metallverwandlung angeführt wurden, in seinen Vorlesungen. Aber er wurde in merkwürdiger Weise zum Schweigen gebracht. Ein fremder Edelmann, der gerade hospitirte, unterbrach den Professor höflich und erbot sich aus Gründen der Erfahrung zu opponiren. Es wurde eine Kohlenpfanne, ein Tiegel und Blei herbeigeholt, und der Fremde verwandelte dieses Blei in Gold, das er dem erstaunten Professor mit den Worten hinreichte: solve mihi hunc syllogismum!

Als recht entscheidende Beweise für die Alchemie führen die Alchemisten die Münzen an, welche man aus alchemistischem Golde geschlagen hat. Sie sind so zahlreich, daß besondere Bücher darüber geschrieben worden sind. So erhielt Kaiser Ferdinand III. 1648 zu Prag von einem gewissen Richthausen einen Gran rothes Pulver, mit welchem der Kaiser eigenhändig dritthalb Pfund Quecksilber in Gold verwandelte. Daraus wurde eine große Medaille geschlagen, die sich noch 1797 in Wien befunden haben soll. Von einigen solchen Münzen hat man freilich später gefunden, daß sie unecht waren, so z. B. die Ducaten, die Kaiser Leopold I. 1675 aus angeblichem Golde schlagen ließ, das ihm ein Augustinermönch Seyler aus Zinn verfertigte, und welche die Inschrift tragen:

Aus Wenzel Seylers Pulvers Macht
Bin ich von Zinn zu Gold gemacht.

Solche historische Beweise begründeten denn auch bei den sonst etwas schwergläubigen Juristen die Ueberzeugung von der Existenz des Steines der Weisen. Sie widerstanden hier der Strömung der Zeit ebenso wenig wie beim Hexenglauben. Es ist eine juristische Streitfrage gewesen, ob alchemistisches Gold, das vom gewöhnlichen nicht unterschieden werden könne, letzterem vollkommen gleich gesetzt und dafür ausgegeben werden dürfe, weil es doch fraglich sei, ob es auch die geheimen Kräfte des natürlichen Goldes habe.


(Schluß folgt.)





Der letzte Dictator Venedigs.
Von Adolf Stahr.

„Der Mond der scheint so helle,
Die Todten reiten schnelle!

Ja, „sie reiten schnell“, die großen Todten unserer Zeit, welche gefallen sind in dem heiligen Kampfe für die Freiheit und Selbstbestimmung der Völker, in diesem Kampfe, dessen Fortgang unaufhaltbar und dessen letztlicher Ausgang so unzweifelhaft sicher ist, wie das E pur si muove! („und doch bewegt sie sich!“) Galileo Galilei’s, jenes heimlich geflüsterte Wort des durch die Folter der Inquisition zum Abschwören der Wahrheit gezwungenen Märtyrers der freien Forschung.

Der Mann, der uns in den nachstehenden Blättern beschäftigen soll, ist dafür ein leuchtendes Beispiel.

Am 22. September des Jahres 1857 legte in Paris nach langen schweren Leiden ein verbannter Mann, der einstige Dictator der alten Lagunenstadt, Daniele Manin, gebrochenen Herzens sein müdes Haupt zur ewigen Ruhe. Nur wenige Freunde geleiteten seinen Sarg zur Ruhestätte in fremder Erde, und auch diesen war es versagt, ihrem Schmerze um den Todten anders als durch ihre Thränen Ausdruck zu geben und dem dahingegangenen großen Bürger Italiens Worte des Preises und Ruhmes nachzurufen in sein bescheidenes Grab. Denn in Frankreich durfte und darf nur Einer reden, oder nur die, denen dieser Eine es erlaubt, und Louis Napoleon’s Polizei hatte alles Reden am Grabe des großen Todten untersagt!

Als ich ein Jahr darauf, im Herbste 1858, die Heimathstadt Manin’s besuchte, deren Beherrscher dem Verbannten selbst den letzten Wunsch verweigert hatte, seine Asche in heimischer Erde begraben zu sehen, da scholl mir in Mercantini’s Todtenklage der trauervolle Ruf des Gondeliers entgegen:

Manin! sie haben Dich so fern begraben,
Da wir doch San Michele’s Kirchhof haben! –
O Grausamkeit! Gegönnt, Du arme Seele,
Nicht ’mal ein Kreuz ward Dir auf San Michele!

Wie sollte es auch? Wehte doch immer noch hoch vom Sanct Marcusthurme herab das schwarz-gelbe Banner der fremden Zwingherrschaft; starrten doch noch immer die Kanonen derselben auf ihren schwarz-gelben Laffetten zwischen den Marmorsäulen der eisenvergitterten Vorhalle des Dogenpalastes dräuend hervor auf die Piazzetta! Und wenig Aussicht schien vorhanden, daß sich die Hoffnung des alten Gondoliers erfüllen werde, mit welcher derselbe am Schlusse seiner Todtenklage um den Wiedererwecker Venedigs, dessen Asche er so gern aus Frankreich in die Heimath holen möchte, ausrief:

[489]

Kein Meerschiff ist mein schwanker Gondelnachen,
Schwach ist mein Ruder nur im Meeressturme,
Nach Frankreich dennoch wollt’ ich auf mich machen –
Doch immer noch weht Schwarz-Gelb aus dem Thurme!
Doch endlich werd ich, Schwarz-Gelb, Deiner lachen,
Und wenn Du fliehen mußt vom Marcusthurme,
Wird Manin’s Grab man in der Heimath machen.
Wenn wir Manin auf San Michel’ begraben,
Dann wird San Marco die drei Farben haben!

Und also ist es gekommen, schneller als ich, als irgend ein lebender Mensch es damals geahnt. Kaum ein halbes Jahr, nachdem ich die Lagunenstadt verlassen, sah sich derselbe Mann, der dem todten Manin die letzte Ehre der Grabesrede versagt hatte, von der unerbittlichen Nothwendigkeit – „dem Herrscher über Alle“, wie sie die alten Hellenen nannten, – gezwungen, sein „Frei bis zur Adria!“ zu sprechen, und damit das Programm Manin’s auf seine Fahne zu schreiben. Es blieb unerfüllt für Venedig. Fast schien es, als wolle das Schicksal dem Manne des zweiten December die Ehre seiner Verwirklichung nicht vergönnen, sondern dieselbe einem Andern vorbehalten. Aber nur sieben kurze Jahre vergingen, und siehe, es kam die Erfüllung durch den Tag von Sadowa, und am 4. November 1806 war es mir vergönnt, in Florenz, der Hauptstadt des nun vollständigen Italiens, das Freudenfest der Vereinigung der Stadt Manin’s mit dem Gesammtvaterlande zu erleben. Abends durch die in einem Lichtmeere schwimmenden Straßen von dem brausenden Strome der Volksmenge zu dem Platze des alten Signoriepalastes geführt, dessen schlanker Thurm, bis zur äußersten Spitze hinauf von flackernden Feuersternen besäet, mit der tageshell erleuchteten Loggia, dem schimmernden Wasserstrahl des Neptun und den in Licht gebadeten Marmorriesen vor der Palasttreppe einen unvergleichlichen Anblick bot – da gedachte ich Manin’s und der Stunde, in welcher ich elf Jahre zuvor von dem Verbannten an demselben Tage in seiner ärmlichen Wohnung zu Paris den letzten Händedruck empfangen hatte. Er war dahingegangen in der Blüthe des Mannesalters, ohne den Tag der endlichen Befreiung zu erleben! Aber der erste Gedanke des neuerstandenen Venedigs gehörte dennoch ihm. Seine Asche wenigstens wollte es in der befreiten Heimatherde haben. Und als der Morgen des 21. März des Jahres 1808 anbrach, da, mit dein Frühlingsanfänge, hielt der todte Manin seinen Einzug in die Lagunenstadt, einen Einzug, großartiger und feierlicher als er irgend einem Mächtigen der Erde in der Stadt San Marco’s je zu Theil geworden und wie er dem größten Bürger gebührte, den Venedig seit mehr als einem Jahrhundert hervorgebracht hat.

In der langen Reihe der Dogenbilder des alten Herrscherpalastes zu Venedig erblickt der besuchende Tourist als letztes das Bild des letzten „Dogen von Venedig“, der vor siebenzig Jahren unter weibischen Thränen die tausendjährige Unabhängigkeit der Republik kampflos dem französischen Räuber überantwortete, welcher schon vorher den Raub zu Campo Formio an Oesterreich verhandelt hatte. Dieser letzte Beherrscher Venedigs aus den Reihen seiner verfaulten Aristokratie hieß Ludovico Manin.

Sieben Jahre darauf, am 10. Mai 1804, wars ein anderer Mann dieses Namens geboren. Es war Daniele Manin, der einzige Sohn Pietro Manin’s, eines venetianischen Advocaten jüdischer Abkunft. Bei dem Uebertritte desselben zum Christenthume war ein Manin, der Bruder des Dogen, Taufzeuge gewesen und hatte dem Neubekehrten zugleich, – ähnlich wie weiland die altrömischen Patricier ihren Freigelassenen, – die Annahme seines Namens gestattet. Es ist, als ob er geahnt hätte, daß der Sohn des armen Plebejers, in dessen Adern das Blut der Propheten und der Apostel floß, den stolzen Patricier-Namen Manin aus seiner späteren historischen Schande wieder zu Ehren bringen sollte. Daniele’s Vater war ein strenger Republikaner, ein Todfeind der Franzosen und Bonaparte’s, die Venedig und Italien, welche sie zu befreien gelobt, so schmählich ausgeraubt und schließlich verrathen und unter das Joch gebracht hatten. In der Gesinnung und den Grundsätzen dieses Vaters war der junge Daniele erzogen, auf dessen ungewöhnliche Begabung der Vater früh große Hoffnungen baute. Es geht eine Sage in Venedig, daß derselbe dem Knaben den Hannibalseid schwören ließ, sein Leben der Befreiung Venedigs von der Fremdherrschaft zu weihen. Mit siebenzehn Jahren promovirte der Sohn als Doctor der Rechte in Padua, mit einundzwanzig verheiratete er sich, einer Herzensneigung folgend. Bis zum vierundzwanzigsten Lebensjahre, dem gesetzlichen Alter für den Beginn der advocatorischen Praxis, mußten ihm – arm wie er war – schriftstellerische Arbeiten in seinem Fache den kargen Unterhalt gewinnen. Später besserte sich seine äußere Lage, ohne indeß jemals eine glänzende zu werden.

Ohne jemals einer geheimen Gesellschaft anzugehören, gegen die er, wie gegen alle verschwörerische Geheimbündelei, von jeher eine lebhafte Abneigung hatte, hielt der junge Advocat seine Aufmerksamkeit auf das höchste Ziel seines Interesses, auf die Wiedererweckung des politischen Geistes in Venedig, gerichtet. Die Stunden, in denen er, zur Erholung von den Mühen seines Berufes, in dem Obergestock seines auf dem Campo di San Paternian gelegenen Häuschens Tischlerei trieb, waren die Zeit, in welcher sich seine nächsten Freunde bei ihm einfanden, um die politische Constellation Europas, die Zukunft Italiens und die Möglichkeit einer Befreiung Venedigs von der Fremdherrschaft zu besprechen. Die nächste Aufgabe sah er dabei nicht, wie Mazzini, in Schürung von Aufstandsversuchen, selbst wenn dieselben keinen Erfolg versprachen, sondern vielmehr darin, überhaupt nur politische Bewegung auf den Gebieten des täglichen bürgerlichen Lebens in das Volk zu bringen. Das Volk zu gewöhnen, sich selbstthätig seiner Angelegenheiten anzunehmen, und vor Allem den Versuch zu machen, die getrennten Provinzen Venetiens und der Lombardei durch die materiellen Interessen miteinander in Verbindung zu setzen, das war sein nächstes Ziel bei seinem ersten politischen Hervortreten. Sein ganzes Verfahren bei demselben war ein durchaus praktisches, sein erster Kampf gegen die österreichische Regierung ein finanzökonomischer und industrieller. Eisenbahnanlagen und Handelsverhältnisse, der Weg der Ueberlandpost, Finanzreformvorschläge und dergleichen waren die Themata und Mittel seiner Agitation. Seine Zeitungskämpfe über die Richtung der projectirten Eisenbahn von Mailand nach Venedig, in denen er vollständig Sieger blieb, legten den ersten Grund zu seiner Bekanntheit und Popularität, und wenngleich der von ihm zu Stande gebrachte Actienverein durch einen Gewaltstreich des Gouvernements aufgelöst wurde, da dieses vielmehr darauf bedacht war, die einzelnen Provinzen zu scheiden und auseinanderzuhalten, statt sie, wie Manin und seine Freunde beabsichtigten, durch Gemeinsamkeit der materiellen Interessen einander freundlich anzunähern, so waren doch Fehlschläge, wie diese, weit entfernt, ihn zu entmuthigen, sondern nur ein Sporn für einen Mann, der als geborener praktischer Staatsmann instinctmäßig fühlte, wie in jeder politischen Agitation wahrhaft praktischer Art jedes Stück zurückgelegten Weges immer einen bedeutenden Gewinn liefert.

Bei all seinem Thun war Manin in einem nicht blos bei einem Italiener ungewöhnlichen Grade frei von aller leidenschaftlichen Ueberstürzung. Klare Einsicht und ruhige, aber feste Ueberzeugung, nicht Leidenschaft und Temperament waren es, die ihn zum Revolutionär machten. In der politischen Literatur waren es daher auch weder der phantastisch überschwängliche Mazzini, noch der für ein Italien unter dem einheitlichen Regimente des Papstes schwärmende Gioberti, welche ihn anzogen, sondern weit mehr Balbo’s Programm, der in seinen Speranze d'Italia eine Conföderation aller italienischen Staaten und Fürsten unter Sardiniens Führung und die Befreiung Italiens von der Fremdherrschaft als nächstes Ziel hinstellte. Mit Azeglio endlich theilte er dessen Motto: „Verschwörung im hellen Sonnenlichte“, Verwerfung aller Geheimbündelei und statt dessen: offenes, von gesetzlichem Boden ausgehendes Auftreten im beharrlichen Kampfe gegen alle Mißbräuche der heimischen wie der fremdherrlichen Regierungen. Er wies dabei unablässig seine venetianischen Mitbürger hin auf die vielen Punkte der von dem österreichischen Gouvernement früher selbst erlassenen und gegebenen, aber meist nicht beobachteten oder nicht in Vollzug gesetzten Institutionen und Verordnungen, welche man als ebenso viele Ausgangspunkte einer legalen Opposition benutzen könne und benutzen müsse. Freilich standen ihm bei seiner Agitation nicht, wie seinem Vorbilde O’Connell, mit dem man Manin’s Agitationsweise verglichen hat, jene mächtigen Hebel zu Gebote, welche der große irische Agitator zur Verfügung hatte. Manin’s Venedig besaß kein Versammlungsrecht, keine Tribüne, keine freie Presse, kein Associationsrecht, keine Jury mit öffentlichem und mündlichem Verfahren; wohl aber standen dem kühnen Agitator, auf den schon früh die Regierungspolizei ihr Auge gerichtet hielt, bei dem geringsten Versehen der heimliche Inquisitionsproceß und – die [490] Kerker des Spielbergs in sicherer Aussicht. Es galt also, sich gegen Beides dadurch zu schützen, daß er sich nie auf ungesetzlichem Boden finden ließ. Manin aber war dazu völlig der Mann. Niemand war in ganz Venedig dem „profunden Legisten“ (wie ihn schon damals ein Bericht der geheimen Polizei nannte) gleich in der genauesten Kenntniß aller Gesetze, aller Verheißungen, die Oesterreich jemals seinen italienischen Provinzen gemacht hatte und die Manin gleichsam das Kampfterrain seiner Agitation lieferten.

Das große Rednertalent, das seinen Vater ausgezeichnet hatte, war in noch erhöhtem Maße auf den Sohn vererbt worden. Da ihm aber zur Ausbildung und Bethätigung desselben die politische und selbst die advocatorische Tribüne fehlte – denn die österreichische Regierung hatte das öffentliche und mündliche Gerichtsverfahren abgeschafft –, so benutzte er zur Uebung seines Talentes die Versammlungen der Venetianischen Gelehrtengesellschaft, zu welcher bald der Ruf seiner ungewöhnlichen Beredsamkeit immer zahlreichere Zuhörer aus allen Ständen und Classen der Bevölkerung hinzog. Erst im Jahre 1847 aber sollte sich dem zukünftigen Tribunen die Gelegenheit bieten, zu einer großen Versammlung von Italienern aller Staaten der Halbinsel öffentlich zu sprechen. Es war dies die Versammlung jenes großen italischen Gelehrtencongresses, welche am 13. September in dem majestätischen Rathssaale des Dogenpalastes zu Venedig eröffnet ward.

Diese Versammlungen, welche seit dem Jahre 1838 in Italien aufgekommen waren, bilden überhaupt ein wichtiges Moment in der Geschichte der neueren italienischen Bewegung. Sie waren der erste gelungene Versuch, die verschiedenen getrennten Theile des Landes in der Person ihrer angesehensten und intelligentesten Vertreter einander anzunähern. Sie gaben Gelegenheit, den gegenseitigen Ideenaustausch zu befördern, Reformwünsche und Hoffnungen anzuregen und auszusprechen, die, wie sorgsam sie sich auch vor allzu offenem Hervortreten zu hüten hatten, doch der Beziehung auf staatliche Verhältnisse und politische Aussichten nicht fern bleiben konnten. Selbst Neapel – wo ich im Jahre 1845 einen solchen Congreß tagen sah – hatte diese Versammlungen, nach einigem Widerstreben, gestattet. Nur die päpstliche Regierung hatte mit dem ihr eigenen Instincte die Gefahr erkannt, welche aus solchen Versammlungen für den Status quo, für die Bewahrung des Bestehenden hervorgehen möchte, und Gregor der Sechszehnte war durch keine Vorstellungen zu bewegen gewesen, dem Gelehrtencongresse das Tagen in Rom zu gestatten.

Venedig selbst galt damals in den Augen der italienischen Patrioten für stumpf und nutzlos und durch das langgetragene österreichische Joch der Nationalsache entfremdet. Selbst die österreichische Regierung theilte die Ansicht. Während sie Mailand und die Lombarden fürchtete und deshalb schonender behandelte, glaubte sie sich gegen das anscheinend in Schlaffheit versunkene Venedig kaum irgend eine Rücksicht auferlegen zu dürfen. Nur über Manin, der ebenfalls bei den italienischen Patrioten für lau und theilnahmlos galt, war sie besser als diese unterrichtet. In einem später nach der Revolution von 1848 in den Regierungsacten aufgefundenen geheimen Berichte der k. k. Polizeibehörde hieß es von dem Agitator Venedigs: „Der Advocat Manin genießt die allgemeine Achtung seiner Mitbürger durch die Reinheit seines sittlichen Lebenswandels sowie durch die unbestreitbaren Talente, mit denen er begabt ist, und durch die Uneigennützigkeit seines Charakters. Er ist ein ebenso profunder Rechtskenner als zugleich ein höchst gewandter Redner, der seine Gedanken mit großer Klarheit auszudrücken weiß. Seine Gefährlichkeit ist um so größer, da nicht Ehrgeiz und eigennütziges Interesse, sondern ein falsches(!) Nationalgefühl ihn bei seiner agitatorischen Thätigkeit und seinen Reformumtrieben leitet.“ - - Schwerlich hat jemals eine fremdherrliche Regierungspolizei von einem ihrer Gegner eine für denselben ehrenvollere Charakteristik entworfen, der es sicherlich keinen Eintrag thut, wenn im weiteren Verlaufe derselben von Manin ausgesagt wird: daß er daneben „ein unruhiger Kopf, händelsüchtig, eitel und voll starken Selbstgefühles“ sei.

Jener Gelehrtencongreß zu Venedig rückte Manin mit einem Schlage in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Ungeschreckt durch die Maßregelung des Prinzen Lucian Bonaparte, der gleich nach seiner ersten Rede von dem Gouvernement aus Venedig ausgewiesen wurde, benutzte er die ihm eröffnete Tribüne zur offenen Darlegung seiner Reformwünsche. In Gegenwart des Gouverneurs von Venedig, Grasen Palffy, der den Sitzungen regelmäßig beiwohnte, sprach er das schneidend sarkastische Wort aus: „Venedig bedürfe keiner großen Reformen, weil es ja die von anderen italienischen Staaten erstrebten Institutionen bereits lange und besser besitze – nämlich auf dem Papiere!“ In allen Fragen, bei denen er das Wort nahm, entwickelte er eine Kenntniß der Zustände und Verhältnisse, der früheren Verheißungen und Zusagen der Regierung, der bestehenden, zum Theil unausgeführten, theils in der Praxis wesentlich alterirten Gesetze und Verordnungen und daneben eine Sicherheit und Mäßigung seiner stets legalen Taktik, deren Uebergewicht bald allgemein anerkannt ward. „Ihr werdet der Erlöser Venedigs sein!“ rief ihm am Schlusse einer solchen Sitzung der Lombarde Terzaghi, Rath des Appellhofes von Venedig, beim Herausgehen zu. „Mit oder ohne Kreuzigung?“ erwiderte lächelnd Manin. „Ich hoffe das Letztere,“ versetzte der Lombarde, „aber ich verbürge es nicht!“

Seitdem war Manin der populärste Mann in Venedig. Als Cobden die Lagunenstadt besuchte und ihm zu Ehren ein Banket veranstaltet wurde, gab das Gouvernement seine Erlaubniß dazu nur unter der ausdrücklichen Bedingung: daß Manin sich bei demselben alles Redens enthalte! Da ihm öffentlich zu reden versagt war, griff er zur Feder, um bei jeder Gelegenheit seine Mitbürger über ihre Zustände aufzuklären. Sein Stil, ausgezeichnet durch einfache Klarheit, bei knapper phrasenloser Kürze und schlagender Treffkraft, bald scharf sarkastisch, bald humoristisch in den Wendungen, entsprach dem kernigen Gedankengehalte. Bei Gelegenheit des Gelehrtencongresses mit der Abfassung eines Führers für die Fremden beauftragt, benutzte er diesen Anlaß, um in demselben die altvenetianischen mit den neuen österreichischen Einrichtungen und Gesetzen zu vergleichen und unter Anderm zu zeigen: daß das österreichische Criminalverfahren an Härte dasjenige des verrufenen Raths der Zehn in der republikanischen Zeit übertreffe. – Ein Hauptgesichtspunkt seiner Taktik war: den Beweis zu führen, daß Oesterreich nicht im Stande sei’, die versprochenen oder verliehenen nationalen Institutionen zu verwirklichen, weil es dadurch seine Herrschaft in Italien gefährden würde. Er wußte nur allzu wohl, daß eine Befreiung Venedigs und Italiens nicht möglich sei, ohne die Gunst eines großen revolutionären Umschwunges in Europa überhaupt, und es war daher sein Bestreben, die Geister auf die Benutzung einer solchen Gunst, wenn sie sich zeige, vorzubereiten, zugleich aber auch sie von unreifen Erhebungen zurückzuhalten. Aber im Gegensatze zu dem populärsten Dichter Italiens, zu Silvio Pellico, der, gebrochen durch die grausame Kerkerhaft des Spielberg, die resignirende Unterwerfung predigte, erhob er seine Stimme, um sein Volk zu belehren über die wahre männliche Resignation, die sich nur beuge gegenüber der Einsicht in die Unmöglichkeit des Erfolges, nicht vor der Gefahr des Mißlingens. „Die Resignation des Einzelnen,“ so rief er seiner Nation zu, „kann eine Tugend sein; bei einem Volke ist sie es niemals. Denn das Unglück eines Volkes ist nie hoffnungslos, so lange dasselbe das Gefühl seines Unglücks bewahrt. Daher müssen zur Bekämpfung des Unglücks einer Nation alle geistigen, sittlichen und physischen Kräfte aller ihrer Mitglieder angewendet werden. Eine Generation, welche dies thut, darf hoffen, daß eine zweite erreicht, was ihr selber durchzusetzen versagt ist; denn die Nationen sterben nicht. Wer daher einer Nation als solcher absolute Resignation predigt, der predigt ihr als ein Feiger die Feigheit, und die Nation, die solcher Lehre folgt, drückt sich selbst das Brandmal der Feigheit auf!“

Die offene Reformbewegung des österreichischen Italiens begann bekanntlich in Mailand, wo der Deputirte Nazari (am 9. December) seinen Reformantrag durchgesetzt hatte. Schon vierzehn Tage darauf folgte Manin in Venedig nach. Ohne Mitglied der dort zusammenberufenen Centralcongregation zu sein, übergab er derselben einen ähnlichen energisch abgefaßten Antrag auf Reformen in der Regierung zum Schutze der Nationalität und der öffentlichen Interessen. Eine andere Petition betraf die ungesetzliche und willkürliche Handhabung des – seinem Wortlaute nach sehr liberalen – Censurgesetzes. Bei dieser Gelegenheit sprach er es als das Recht und die Pflicht jedes Staatsbürgers aus: allen nicht öffentlich bekannt gemachten Gesetzen den Gehorsam zu verweigern. Die Aufregung, welche diese in ganz Venedig durch [491] Abschriften verbreiteten Anträge und Petitionen hervorriefen, war außerordentlich. Sie ward noch gesteigert durch die Nachrichten aus Sicilien, wo offener Aufstand ausgebrochen war, aus Rom, Toscana und Piemont, wo der Weg nationaler Reformen beschritten wurde, aus der Lombardei, wo sich unruhige Bewegungen zeigten. Es kam auch in Venedig zu Demonstrationen nationalen Sinnes im Theater, man sammelte Geldbeiträge für die Opfer des in Mailand blutig gestillten Cigarrencrawalls. Da geschah das Unglaubliche. Das österreichische Gouvernement in Venedig wandte sich an Manin, an einen Mann ohne Stellung, ohne Rang und Vermögen, mit dem Ersuchen: die Aufregung zu beschwichtigen! Manin forderte als nothwendige Bedingung schleunige Erfüllung der gestellten Reformwünsche und wies auf die Gefahr hin, welche bei einer Zögerung drohe. Die Antwort war: erst müsse die Aufregung gestillt sein, ehe man die Reformgesuche in Wien empfehlen könne. Und als Manin dies für unmöglich erklärte, griff man zu und setzte ihn (18. Januar 1848) mit seinem Freunde, dem Schriftsteller Tommaseo, gefangen unter die „Bleidächer“.

So goß man Oel in’s Feuer. Selbst das Criminalgericht weigerte sich, eine Untersuchung gegen die Verhafteten einzuleiten. Die Aufregung wuchs allgemein, die Demonstrationen häuften sich. Der Carneval blieb ungefeiert, die Schauspielhäuser blieben leer, selbst der sonst so zahme Adel Venedigs stellte seine Gesellschaften und Festbälle ein, und Mitglieder der Nobelgarde forderten in Wien ihre Entlassung aus dem Dienste. Vor Manin’s Kerker aber zogen täglich Tausende aus allen Ständen in Trauerkleidern vorbei, die Mauern mit abgenommenen Hüten und geschwenkten Tüchern grüßend. Bis in das unterste Volk drang die Begeisterung für den allgemein geliebten Tribunen. Die uralten Parteien desselben, bekannt unter dem Namen der Nicolotti und Castellani, feierten zu Ehren des Gefangenen, der ihnen früher oft vergeblich Frieden und Eintracht gepredigt hatte, in der Kirche Madonna della Salute ihre Versöhnung und Verbrüderung. Der ihres Ernährers beraubten Familie Manin’s wurden von allen Seiten Unterstützungen geleistet und angeboten, während er selbst durch die Kühnheit und Unumwundenheit seiner Sprache bei den mit ihm angestellten Verhören die Beamten in starres Erstaunen setzte. Vergebens bot die Regierung Alles auf, aus seiner Sache einen Hochverrathsproceß zu machen. Was vor Jahr und Tag noch leicht gewesen wäre, war jetzt plötzlich schwieriger geworden. Schon war man entschloßen, ihn fort von Venedig und auf den Spielberg zu bringen. Aber man wagte es nicht, und da sich die Aufregung durch die Nachricht von der Verleihung einer Constitution in Neapel noch steigerte, so wurden endlich Abgesandte mit Bitten zur Gewährung von Reformen nach Wien entsendet.

Die Antwort war: Verkündigung des Belagerungszustandes und des Martialgesetzes in Venedig!

Doch diese alterprobten Beruhigungsmittel des Metternich’schen Regierungssystems sollten sich diesmal nicht bewähren. Die Februarrevolution brach aus, und am 17. März erscholl von dem in den Hafen Venedigs einlaufenden Triester Dampfer der Ruf: „Constitution in Wien!“

An eine Abführung Manin’s nach Oesterreich war jetzt nicht mehr zu denken; statt dessen stürmte ein Volkshaufe das Gefängniß desselben. Manin jedoch weigerte sich, den Kerker ohne einen ausdrücklichen Freilassungsbefehl der österreichischen Behörde zu verlassen, und erst als derselbe erfolgte, durfte ihn das Volk unter tausendstimmigem Jubelrufe auf den Schultern aus dem Gefängniß in seine Wohnung tragen.

Das Gouvernement erbat jetzt auf’s Neue seine Hülfe zur Herstellung der Ordnung und bewilligte ihm zu diesem Zwecke die Errichtung von zweihundert Mann Bürgerwehr, die er bald auf ebensoviele Tausend brachte. Aber der von ihm ersehnte günstige Augenblick der Erhebung gegen die Fremdherrschaft war jetzt gekommen, und Manin war entschlossen, ihn zu benutzen. Der Revolutionär trat an die Stelle des geduldigen Reformers. Jetzt oder nie! hieß für ihn die Losung. „Eine Erhebung Venedigs ist unmöglich ohne den Besitz des Arsenals!“ rief er seinen Vertrauten zu. Aber fast Allen schien ein solches Unternehmen ein verzweifeltes und hoffnungsloses. Der Commandant der Bürgerwehr versagte jede Mitwirkung, ja er verweigerte Manin sogar die von demselben befehligte Compagnie. Dennoch beschloß Manin, während die städtischen Behörden kostbare Zeit in Verhandlungen mit dem Gouvernement verloren, den kühnen Handstreich auf eigene Faust zu wagen. Am Abend des 21. März sprach er zu seiner Gattin Teresa: „Morgen um diese Zeit ist Venedig in meiner Hand, oder ich lebe nicht mehr!“

Der kühne Streich gelang. Nur von seinem sechszehnjährigen Sohne und einigen zwanzig Nationalgardisten begleitet, die er unterwegs auf etwa hundert Mann verstärkte, begab er sich in der Morgenfrühe des 22. März nach dem Arsenal. Er nahm den commandirenden Admiral Martini gefangen und bemächtigte sich ohne Blutvergießen aller dort aufgehäuften Vorräthe. Er bewaffnete die Arsenalarbeiter, ernannte den Obersten Graziani zum Commandanten der Marine und zog sodann an der Spitze der unterdeß zahlreich herbeigeströmten Nationalgarden, unter Entfaltung der dreifarbigen Fahne Italiens nach dem Marcusplatze, wo er begleitet von dem Jubelrufe: Viva San Marco! die Republik proclamirte.

Der Gouverneur Graf Palffy, der noch vor Kurzem das hochmüthige Wort gesprochen: „Gegen die Venetianer brauche ich keine Kanonen, nur den Stock!“ legte sofort seine Amtsgewalt in die Hände des Militärcommandanten, Grafen Zichy, nieder, der eben so kopflos wie er noch am selbigen Tage eine unrühmliche Capitulation abschloß, welche ihm freien Abzug mit allen deutschen Truppen gestattete, während die italienischen Regimenter mit allen Kriegsvorräthen und Cassen zurückblieben. Eine provisorische Regierung ward eingesetzt, an deren Spitze der einstimmige Wille des Volks seinen Liebling Manin berief, und am 23. März ertheilte die Geistlichkeit, ihren Patriarchen an der Spitze, öffentlich der glücklich vollzogenen Revolution Venedigs ihren feierlichen Segen.

So hatte denn der brave Patriot den Gedanken der Befreiung seines Vaterlandes, für den er in jahrelanger mühsamer Thätigkeit besonnen und maßvoll gewirkt, durch kühnen Entschluß im Ergreifen des günstigen Augenblicks glücklich verwirklicht. Aber dieser Erfolg berauschte ihn nicht. Wie er früher in fester Zuversicht alle Genossen übertroffen hatte, so war er ihnen jetzt voraus in sorgender Thätigkeit für die Sicherung des errungenen Erfolges. Er glaubte an denselben, und dieser Glaube verstärkte seine Kraft; allein auch für den Fall des Unterliegens wollte er wenigstens Eines sichern: die Wiedererhebung Venedigs in der Achtung der Welt, die Ehre seines Vaterlandes. Und diesen Vorsatz hat er treulich gehalten. Er hat Venedig nicht retten, seine Freiheit nicht erhalten können, aber es unterlag glorreich. Es fiel erst, als in ganz Italien bereits die Sache der Befreiung unterlegen war, und seinen Fall begleitete in ganz Europa die Anerkennung seines Heldenmuthes und seiner Würdigkeit zur Freiheit und Selbstständigkeit. Das war vor allen Anderen das Werk Daniele Manin’s.

(Schluß folgt.)




Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.
Nr. 26. Am Thiergarten.
Von Guido Hammer.


Von jeher übte schon der bloße Anblick eines so recht verwetterten, mit graugrüner Flechte überwucherten Wildzaunes einen ganz unbeschreiblichen Zauber auf mich aus. Was träumte da mein Sinn sich Alles dahinter! Und lag denn dabei nicht auch die Wirklichkeit vor, daß da drinnen, im eingehegten, stillen Forste, das von mir so sehr geliebte Wild verborgen sein mußte, da ja sonst eine Einfriedigung zwecklos gewesen sein würde? Um nun, wenn es auch nur von außen sein konnte, möglicherweise ein Stück Wild davon in Sicht zu bekommen, war es mir ein Geringes, eine vielleicht viele Meilen weit umschlossene Wildbahn ohne Aufenthalt zu umkreisen. Oder ich konnte wohl auch dicht an der Vermachung einer solchen im Grase oder auf duftiger Erica tagelang [492] auf einer Stelle liegen bleiben, hier auf das etwaige Erscheinen von Wild zu lauern. War dies ja noch außerdem Wonne genug für mich, dabei im Schatten überhängenden Gezweiges zu rasten und träumerisch durch dasselbe nach den im endlosen Aether schwimmenden Wolken zu schauen oder dem Fluge über mich hinziehender Vögel folgen zu können. Aber auch die im heißen Sonnenschein munter dahinschlüpfenden grünschillernden Eidechschen, wie die über Blüthen hingaukelnden bunten Falter, summende Bienen und andere Netzflügler, Ameisen und Käfer – kurz Alles, was lebte und webte – ergötzten mich dabei; allerdings nur so lange, bis endlich mein eigentliches Sehnen sich erfüllte und die Blicke durch die Vergatterung, wohin sie zunächst doch immer und immer wieder schweiften, einen dunkeln oder lichten Fleck entdeckten, den mein Instinct als ein Stück Wild erkannte. Wie pochte mir da schon bei einem selbst so ungenügenden Anblick das Herz! Rückte aber nun gar das Erspähte, etwa ein Damhirsch, näher heran, daß ich mit scharfem Auge die volle Gestalt zu betrachten vermochte – wie still-, doch tiefbeglückt erfreute ich mich dann dieses für mich wahrhaft köstlichen Genusses!

War der unbehinderte Eintritt in ein solches Wildgehege gestattet, dann schweifte ich natürlich nicht außerhalb seiner Grenzen umher, sondern durchzog dasselbe nach allen Richtungen mit fröhlichem Sinn und gespanntester Erwartung und war nicht müde dabei, den verschiedenen Fährten zu folgen oder jedes in Sicht bekommene Wild zu beschleichen, um es in möglichster Nähe mit stiller Herzenslust zu belauschen. Manches Mal bin ich so, vom genossenen Anblick wie berauscht und verzaubert, weiter gezogen durch Wald und Busch, über nassen Bruch und schwankendes Moor, mich dabei so tief in das Leben eines vielleicht eben gesehenen Rothhirsches hineindenkend, daß ich, unwillkürlich des Edelgeborenen Gebahren nachahmend, auf Momente – und dies sind die glücklichsten meines Lebens gewesen – vergessen konnte, daß ich – „Herr der Schöpfung“ sei!

Aber auch später, nachdem ich die Sache mehr vom rein waidmännischen Standpunkt auffaßte, behielt das Thiergartenleben noch alle seine Reize für mich; betrachtete ich es doch jetzt außerdem als eine lehrreiche Schule für den lernbegierigen und gern beobachtenden Jäger. Welche Freude gewährte es mir daher, als ich einmal auf längere Zeit Gelegenheit fand, eine sowohl in ihrer Größe ganz bedeutende, wie auch durch vortrefflichen Wildbestand sich auszeichnende Wildbahn in gediegener waidmännischer Begleitung begehen und – bejagen zu dürfen. Hier war es auch, wo das Original meiner beigegebenen Zeichnung mir leibhaft vor Augen trat.

Einer frischen, ja schon reifkalten Octobernacht war eben der erste bleiche morgenverkündende Dämmerstreifen am östlichen Horizonte gefolgt, den überall tiefdunkler Wald begrenzte, als mein gastfreundlicher Wirth, der alte Wildmeister des fürstlichen Thiergartens zu X., mit mir hinausschritt, die frischverpflügten Waldwege, die den Wildpark umliefen, abzuspüren, ob etwa Hirsche aus den angrenzenden freiliegenden Forsten an die Einsprünge[1] gezogen und wohl gar eingefallen wären, da es eben Brunftzeit war. Still, in unbestimmter Dämmerung, lag der meilenweite Thiergarten vor uns, umschlossen von noch weit mächtigeren freien Forsten, daß, soweit und wohin das Auge auch blickte, es auf düsterm Föhrenwalde haften blieb. Nur da, wo Gewässer die unabsehbare Haide durchrauschten oder als stille Weiher lagen, stiegen die weißen Schwaden aus dem geschlossenen Nadelholze empor und wogten und wallten in lichten Streifen dem morgenschimmernden Aether zu, bis sie, von den ersten aufblitzenden Sonnenstrahlen getroffen, als rosiger Duft über den dabei noch immer beschatteten Wipfeln der in leichtem Morgenwinde rauschenden Kiefernbestände hinzogen. Gleich darauf lagen jedoch auch sämmtliche weitgestreckte Forsten in goldener Sonnenpracht vor dem entzückten Auge, und die erwärmenden Strahlen verklärten überall, wo sie nur hindrangen, die starren, mattsilbernen Reifkrystalle, welche die kalte Nacht geboren, zu wunderbar farbenschillernden, leise erzitternden Tropfen, während da, wo bleibend die tiefern Waldesschatten lagerten, sich noch lange scharf begrenzt der eisige Schmelz vom demantglänzenden, lebendig geküßten Naß abzeichnete.

Und wie nun so der lichte Tag gekommen, da regte sich’s allüberall voll Lebenslust und Fröhlichkeit in tausend und abertausend Geschöpfen. Besonders aber waren es die lieben Vögel, welche jetzt mit ihren lustigen, lockenden Stimmen den Wald belebten, denn da gab es ganze, unzählbare Flüge dieser leichtbeschwingten trauten Sänger, die, zur großen Südreise gerüstet, sich schaarenweise gesammelt hielten, während andere in kleineren Gesellschaften oder auch vereinzelt die Dickichte durchflatterten. Doch auch gewaltigere Töne, als die melodischen Lockrufe der sich umhertummelnden geflügelten Schaaren, vernahm das gespannte Ohr dann und wann, denn trotz des nun schon volllichten Tages drang zuweilen noch der dröhnende Schrei eines Hirsches durch die übrigens so heilig stille Haide. Mit Wonnegefühl horchte man auf und nahm die Richtung wahr, ob der sehnsüchtige Ruf außer- oder innerhalb des Thiergartens erklang.

So hatten wir eben wieder, und diesmal zweifellos auf freiem Walde, das Gurgeln eines alten Hirsches vernommen, welcher, der Richtung nach, voraussichtlich nach einem eine kurze Strecke vor uns liegenden Einsprunge zuzuziehen schien. Vorsichtig, den Wind dabei scharf beobachtend, pürschten wir uns deshalb bis an eine kleine Lücke, von wo aus man, zog der Schreier wirklich nach gedachtem Platze, ihn leicht beobachten konnte. Und richtig! Kaum zehn Minuten mochten wir gestanden haben, in welcher Zeit wir den Erwarteten noch manchmal im Weiterziehen hatten murren hören, da knackte und brach es im nahen Dickicht und der Kopf eines sehr starken Hirsches schob sich vorsichtig hervor, um mit gehobener Nase den Wind einzuholen. Aus unserem sicheren Versteck konnten wir nun durch einen Feldstecher, den der brave Wildmeister stets bei sich zu führen pflegte, deutlich die zwölf Enden des capitalen Geweihes zählen und uns außerdem an des Trägers Anblick und Gebahren erquicken. Eine ziemliche Weile blieb so der Hochgeweihte lugend stehen, bis er endlich ruhig majestätischen Sehrittes in seiner ganzen Gestalt hervortrat. Dann übersprang er mit graciösem Anstand einen vor ihm liegenden tiefen Graben, drüben, auf einem alten Waldwege, der am Thiergarten hinlief, wiederum einen Augenblick lang Halt machend. Hierauf aber, in kurzen Absätzen wie verdrossen dazu brummend, zog der Stattliche ruhig eine Strecke am Zaune hin, bis er plötzlich seiner Leidenschaft wieder in einem langgezogenen, dröhnenden Ruf Ausdruck gab, daß der Hauch seines heißen Athems helldampfend gegen den violettduftenden Wald hinzog. Und nun fuhr das dunkelgemähnte, hochgekrönte Thier in immer gesteigerter Aufregung fort, lang hin an der Vermachung zu trollen, glücklicherweise nach uns zu, bis er an die freie Lücke des Einsprunges kam und plötzlich still stand.

Hier, wo ihm der Blick unbeengt in sein vermeintliches Eldorado gestattet war, erhielt seine Leidenschaftlichkeit neue Nahrung, und mit einer Stimme, in der Begehrlichkeit, Eifersucht, Zorn und Kampfeslust sich kund gaben, schrie er den Thiergartenhirschen seinen gewaltigen Fehderuf entgegen; doch keine streitsüchtige Antwort der Genossen erfolgte. Er aber, der Mannhafte, den es unwiderstehlich nach Kampf und den gefangenen Odalisken gelüstete, säumte nun in seiner Erregtheit, die ihn selbst minder harmlos erscheinende Hindernisse zu überwinden veranlaßt haben dürfte, nicht einen Augenblick länger, in die für ihn nichts bedeutende Grube hinabzuspringen, um jenseits, im Bereich des Thiergartens, an sanft anstrebender Sandlehne aufzusteigen, sich dadurch auf einmal im vollen Besitz aller geträumten Herrlichkeiten fühlend. Wohl zog der Kühne jetzt unangefochten weiter, wohl mochte der Stattliche auch bald sein Ziel, wenn auch gewiß nicht ohne harten Strauß, erreicht und dann mit stolzem Trotze den erkämpften Trupp geführt und seine dadurch errungenen Rechte zu vertheidigen verstanden haben – der Eindringling war ein gar reckenhafter Kämpe – ; doch schweren Preis hatte er daran gesetzt, denn der edle Freigeborene von weiter, unbegrenzter Haide war und blieb für immer ein Gefangener.



[493]

Hirsch auf der Brunft.
Nach der Natur gezeichnet von Guido Hammer.

[494]
Der Teufel.
(Fortsetzung.)


„Franziska war krank geworden,“ fuhr der kleine Bucklige fort; „eigentlich krank nicht, sie hatte ein starkes Schnupfenfieber, oder ein Zahngeschwür, oder wie ähnliche prosaische Indispositionen heißen, die den Menschen an Stube und Bett fesseln, ohne ihm herzhaft oder gefährlich zuzusetzen, die man aber gleichwohl Krankheiten nennt. Zu diesem Zustande erhält sie eines Tages ein anonymes Billet, in welchem ihr mitgetheilt wird, der Lieutenant Hille habe seit einigen Tagen Besuch von einer jungen fremden Person mit einem Kinde von etwa einem Jahre. Er sei über die plötzliche Ankunft der Fremden in hohem Grade erschreckt, könne sich ihrer aber nicht entledigen und habe sie heimlich in einem obscuren Gasthofe, zum Bären, glaube ich, einquartiert, wo er sie nur des Abends heimlich in Civilkleidern besuche.

Franziska gerieth außer sich und wurde wirklich ernsthaft krank. Sie phantasirte mehrere Tage in heftigem Fieber. Als sie wieder zu klarem Bewußtsein kam, sah sie sonderbar theilnehmende Gesichter um sich.

‚Muß ich denn sterben?‘ fragte sie.

‚Nein, nein, Du Theure. Der Arzt hat Dich im Gegentheil außer aller Gefahr erklärt. In drei Tagen kannst Du wieder aufstehen, in acht Tagen ausgehen.‘

‚Aber was ist es denn, was Ihr habt?‘

Sie sagten es ihr nicht, sondern sie wandten verlegen die Gesichter ab. Sie ahnte, was es war, denn woran man selbst immer und immer wieder denken muß, das glaubt man auch in den Augen Anderer zu lesen. Aber auch sie konnten es nicht sagen.

Eine Mutter hatte sie nicht mehr. Sie war die älteste der Geschwister, ihre jüngere Schwester ein Kind von vierzehn Jahren. Das Kind hatte vorher nicht die Vertraute ihres Herzens sein können; sie durfte es auch jetzt nicht dazu machen, wenngleich sie sah, daß auch das Kind etwas wußte. Der Vater war kalter Geschäftsmann und niemals der Vertraute der Tochter gewesen. Franziska hatte es für ihre Pflicht gehalten, ihm ihr geheimes Verhältniß zu dem Lieutenant zu entdecken, ihn um seine Einwilligung zu der Verbindung zu bitten. Er hatte sie widerwillig gegeben; er liebte die Officiere überhaupt nicht, die armen bürgerlichen erst recht nicht. So hatte er zur Bedingung seiner Einwilligung gemacht, daß das Verhältniß nach wie vor geheim bleibe, der Lieutenant Hille eben so wenig wie früher in das Haus komme, kurz, äußerlich Alles bleibe, wie es war, bis der Lieutenant Rittmeister werde. Vater und Tochter hatten seitdem einander noch ferner gestanden.

Eine alte Tante war noch im Hause und stand seit dem Tode der Mutter dem Haushalte vor. Sie war gutmüthig, aber der Adelstolz in der Familie; sie haßte daher den Lieutenant Hille, seitdem sie wußte, daß er der Verlobte ihrer Nichte war. Franziska mit ihrer Geburt, ihrer Schönheit, ihrem Geiste mußte künftig eine höhere Stellung im Leben einnehmen, als die Frau eines Gensd’armerierittmeisters in einer kleinen Stadt zu werden. Das Fräulein kannte die Avancementsgrundsätze in der Armee. Das Verhältniß zwischen Franziska zu Vater und Tante war fast ein gespanntes geworden, als mein alter Freund, der Regierungsrath von Römer, in das Haus gekommen, der Anbeter Franziska’s geworden, von ihr kalt und launisch und höhnisch aus der Thür gewiesen, aus dem Hause geworfen worden war und doch in seiner zärtlichen und treuen Liebe, oder, wie man es auch übersetzen kann, in seiner selbstsüchtigen und herrschsüchtigen, zuletzt geradezu rachsüchtig gewordenen Leidenschaft immer und immer wieder kam und zu ihren Füßen schmachtete.

So hatte Franziska im Hause Niemanden, dem sie sich entdecken und mittheilen durfte. Sie genas, wie der Arzt es gesagt hatte, allein sie konnte das Bett nicht verlassen. Sie magerte täglich mehr zum Skelet ab und fühlte sich täglich matter. Der Arzt schüttelte den Kopf, da doch die Krankheit beseitigt war. Tante Leonore spionirte, fand das zerknitterte, vielleicht hundert Mal von der Kranken gelesene anonyme Billet und sprach darüber mit dem Arzt.

‚Die Ungewißheit würde sie tödten; sie muß Alles wissen,‘ entschied der Arzt.

Die Tante sprach mit Franziska offen und ehrlich.

‚Franziska, während Du gestern schliefst, habe ich das Zettelchen gelesen, welches Du unter Deinem Kopfkissen hältst.‘

In das schneeweiße Gesicht Franziska’s ergoß sich die dunkelste Röthe.

‚Es ist leider Alles wahr,‘ fuhr die Tante fort. ‚Die Person ist noch da mit dem Kinde. Der Lieutenant Hille geht noch jeden Abend heimlich zu ihr. Es ist ein Scandal. Die ganze Stadt spricht davon. Wir durften es Dir lange nicht sagen, Du armes Kind. Aber endlich –‘

Die Tante wollte trösten. Franziska unterbrach sie.

‚Ich danke Dir, liebe Tante. Verlaß mich jetzt; ich muß allein sein.‘

Sie sprach es bittend, aber in einer entschlossenen Weise, der nicht zu widerstehen war. Die Tante ließ sie allein und horchte draußen an der Thür. Sie hörte ein unterdrücktes Weinen, das in seiner Heftigkeit plötzlich gewaltsam und laut durchbrach. Zu der Tante hatte sich die jüngere Schwester Emma gesellt.

‚Sie weiß Alles?‘ fragte das Kind.

‚Was wußtest Du denn?‘

Das Kind antwortete nicht. Das Herz wollte ihm bersten, denn es liebte die ältere Schwester. Es stürzte zu der Kranken.

‚Du arme, arme Franziska! Es ist Alles wahr.‘

‚Was weißt Du denn?‘ fragte auch Franziska, aber in welch’ einem anderen Tone!

‚Sie sprechen schon in der Schule davon,‘ sagte das Kind.

‚Erzähle mir, was sie in der Schule sprechen.‘

Emma erzählte. Es war dasselbe, was in dem Billet stand und was die Tante mitgetheilt hatte. Das Kind wußte nur noch Einzelnheiten. Als sie mit ihrer Erzählung zu Ende war, hatte Franziska ihre Thränen getrocknet.

‚Verlaß mich,‘ bat sie auch das Kind.

Als man Franziska nach einer Stunde wiedersah, war eine auffallende Veränderung mit ihr vorgegangen. Sie war ruhig, klar, entschieden; ihr Auge blickte hell, ihre Züge hatten jeden Ausdruck von Schmerz verloren. Sie mußte einen ebenso entscheidenden, wie starken und festen Entschluß gefaßt haben.

Am nächsten Tage konnte sie das Bett verlassen, am zweiten in das Gärtchen hinter dem Hause in die warme, milde, stärkende Frühlingsluft hinaustreten, in den Duft des Flieders und der Rosen. Und Frühlingsluft und Frühlingsduft stärkten sie von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde. Am fünften Tage fragte sie den Arzt, ob sie schon in die Abendluft gehen dürfe.

‚Wenn Sie sich in Acht nehmen.‘

‚Ich werde es.‘

Als es Abend geworden war, nahm sie den Arm der Schwester.

‚Gehen wir in die Vorstadt zum Bären.‘

Sie gingen hin. Der Gasthof zum Bären lag an der Landstraße, die durch die Vorstadt lief. Ihm zur Seite war ein großer Garten; in denselben führte ein in der dichten Hecke halb verstecktes Pförtchen, zu dem man durch einen sich zwischen Gärten hinziehenden schmalen Weg gelangte. Auf diesem Abends menschenleeren Pfade gingen die beiden Schwestern zu dem Pförtchen.

‚Vor halb neun Uhr kommt er nicht?‘ fragte Franziska die jüngere Schwester.

‚Niemals früher.‘

Auf den Thürmen der Stadt schlug es acht, als sie durch das Pförtchen in den Garten traten. Es war ein großer Obst- und Gemüsegarten und es befanden sich mehrere Lauben darin; eine von ihnen lag dicht an einer Seitenhecke, Franziska zeigte nach ihr.

‚Dort soll sie sein?‘

‚Dort kommen sie jeden Abend zusammen.‘

Sie gingen zu der Laube. Sie mußten leise und vorsichtig gehen, denn der Mond schien hell. Aber zu der Laube führte ein dunkler Gang, den auf der einen Seite die hohe, dichte Gartenhecke, auf der anderen Spaliere von Aepfel- und Birnbäumen einfaßten. Sie kamen in die Nähe der Laube, es war still darin, doch auf ihrer anderen Seite bewegte sich ein langsamer Schritt hin und her.

‚Dort ist sie,‘ flüsterte die jüngere Schwester, ‚sie wartet auf ihn.‘

Der Schritt kam näher und schien um die Laube herumkommen zu wollen. Die beiden Schwestern drückten sich in die Hecke, denn hinter der Laube her kam Jemand zum Vorschein; es war eine Frauensperson in ländlicher Tracht. Der Mond beschien sie hell. [495] Es war eine große, volle, schöne Gestalt, man unterschied frische, anmuthige Gesichtszüge. Sie trug ein Kind auf dem Arme und blieb wenige Schritte von der Laube stehen; dann schaute und horchte sie nach dem Pförtchen hin, durch welches die beiden Schwestern eingetreten waren. Als sie nichts wahrnahm, kehrte sie zurück, langsam, wie sie gekommen war; jenseits der Laube ging sie wieder auf und ab.

‚Gehen wir,‘ sagte Franziska zu der Schwester.

Sie sagte es mit der vollen Ruhe, die sie seit fünf Tagen hatte. Sie gingen den Weg zurück, den sie gekommen waren, allein nur bis an das Pförtchen, denn nicht weit von diesem war ebenfalls eine Laube; in diese begaben sie sich, Franziska wollte darin die Ankunft des Lieutenants erwarten.

Emma sagte ängstlich: ,Wenn er zufällig hierher käme und uns fände!’

‚Und was sollte das?‘ erwiderte Franziska mit ihrer Ruhe.

‚Was würdest Du ihm sagen?‘

,Ueber meine Lippen würde kein Wort kommen, aber der Mond scheint hell, und er würde in meinen Augen lesen.’

Nach zehn Minuten öffnete sich leise das Pförtchen. Jemand trat rasch in den Garten. Franziska blickte nach ihm durch eine Oeffnung der Laubenwand.

,Er ist es!’ sagte sie.

Es war der Lieutenant Hille, der zu der Laube ging, an welcher die Frauensperson mit dem Kinde auf ihn wartete. Die beiden Schwestern glaubten bald dort leises Geflüster zu hören.

,Gehen wir,’ sagte Franziska wieder. Sie sagte es mit jener Ruhe, die jetzt eine unzerstörliche geworden war. Sie hatte ja jetzt Gewißheit, volle, zweifellose Gewißheit. Am andern Morgen -“ der Erzähler wurde unterbrochen.

„Wozu,“ fragte der Herr von Römer, „willst Du mir Dinge mittheilen, die ich kenne, vielleicht besser kenne, als Du?“

„Ah,“ sagte der Buckelige, „auch was ich bisher erzählte, war Dir schon bekannt.“

„Was Du vom Lieutenant Hille sprachst, war eben Stadtgespräch.“

„Und der anonyme Brief? Man sagte, er sei von Dir!“

„Es war erlogen.“

„Und was das Stadtgespräch betrifft, wer hatte es gemacht?“

„Weiß ich es?“

„Ich werde es Dir sagen –“

„Sage mir vorher, wie weit und wie lange Du mich in dieser finsteren Schlucht noch führen wirst?“

„Wir sind bald am Ziele.“

„Und wo ist dieses Ziel?“

„Bei einer Leiche.“

Es war eine Auskunft, die der Consistorialpräsident wohl nicht erwartet hatte. Er trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

„Du fürchtest Dich?“ fragte Sebastian Brand.

„Nein,“ erwiderte der Präsident kurz.

Sie setzten ihren Weg fort und der Buckelige sprach weiter: „Ich bin auch bald mit meiner Erzählung zu Ende, doch ehe ich sie fortsetze, eine Frage. Wo war Deine Frau, als Du das Haus verließest?“

„Wozu die Frage?“ sagte der Herr von Römer.

„Sie könnte zur Sache gehören.“

„Zu welcher Sache?“

„Alle Wetter, Römer, zu Deiner. Antworte mir.“

„Meine Frau war vor mir ausgegangen.“

„Wohin?“

„Zu einer Freundin.“

„Hm. Und wie lange wollte sie ausbleiben?“

„Sie ließ zurück, der Bediente solle sie um neun Uhr mit der Laterne abholen.“

„Wir werden jetzt bald halb sieben haben. Aber kommen wir auf meine Erzählung zurück. Am anderen Morgen also schrieb sie drei Zeilen an Dich:

‚Mein Herr, ich ersuche Sie, mir heute um zwölf Uhr Ihren Besuch zu schenken.
     Franziska von Wangen.’

Du kamst. Flogst Du auf Flügeln der Liebe oder der Angst des Verbrechers hin? Merke wohl auf, ich spreche nicht von der Angst des Gewissens; Menschen, wie Du, kennen die nicht. Du kamst. Du fandest sie in Gesellschaft ihres Vaters. Sie hatte zu ihm gesagt: ,Vater, ich bitte Dich, Punkt zwölf in meinem Zimmer zu sein. Herr von Römer wird zu mir kommen.’

‚Was will er?’ hatte der Vater gefragt.

,Du wirst es erfahren.’

Mit dem Glockenschlag zwölf warst Du da. Das Herz bebte Dir doch; Du warst sogar sehr blaß. Sie empfing Dich mit den Worten:

,Herr von Römer, Sie baten mich mehrmals um meine Hand.’

‚Gnädiges Fräulein –’

‚Wünschen Sie meine Hand noch?’

Du machtest eine banale Phrase über höchstes Glück, Seligkeit des Himmels, über Deine Liebe bis zum Tode, und dergleichen Dinge. Sie reichte Dir ihre Hand hin, Du bedecktest sie mit Küssen; der Vater sprach gerührt seinen Segen, und Ihr wart Verlobte. Der Lieutenant Hille nahm vier Wochen später seinen Abschied und verließ die Stadt. Gensd’armerierittmeister hatte er auch jetzt nicht werden wollen. Vier Wochen nachher war Franziska von Wangen Frau von Römer.

Und jene Geliebte Hille’s mit ihrem Kinde? Sie war seine Schwester, eine ehrliche, verheirathete Bäuerin. Sie war mit ihrem Kinde hinten aus der Provinz Westphalen gekommen. Sie war gut situirt und hatte die Reisekosten daransetzen können, um einmal nach langen Jahren den Bruder wieder zu sehen. Sie hatte auch noch ein Anliegen, das sie ihm mündlich an’s Herz legen wollte. Der jüngste Bruder sollte Soldat werden; er war schwach und engbrüstig, da sollte der Bruder Premierlieutenant ihn frei machen. Die wohlhabende Bauernfrau hatte die Reise mit der Post gemacht, denn Eisenbahnen gab es damals noch nicht. Unterwegs war sie mit einem älteren Officier zusammengetroffen und eine Strecke zusammen mit ihm gereist. Dem hatte die hübsche, frische westphälische Bauernfrau mit dem offenen, natürlichen Wesen gefallen, und sie hatte ihm erzählen müssen, wohin sie wolle. Sie hatte ihm Alles mitgetheilt, auch ihre Freude, den Bruder wiederzusehen, der damals, als sie ihn zum letzten Male gesehen, Pferdejunge gewesen sei und nun bald Rittmeister werde und sich wundervoll ausnehmen müsse, wenn er in der braunen, silberbetreßten Uniform an der Spitze seiner Escadron reite. In Münster habe sie die grünen Husaren mit den goldenen Tressen gesehen, aber sie habe sich sagen lassen, daß die braunen noch besser aussähen. Wenn sie nun so an der Seite des vornehmen Officiers in der Stadt einhergehe, sie, die einfache Bauerfrau mit der altmodischen Bauerntracht, wie würden sich da die Leute verwundern, und auch die anderen Herren Officiere. Da hatte der alte Officier im Postwagen bedenklich den Kopf geschüttelt.

‚Meine liebe Frau, ich kenne Ihren Herrn Bruder nicht. Aber wenn Sie wissen, daß er Rittmeister werden soll, so sprechen Sie ihn doch zuerst ohne Zeugen, bevor Sie offen zu ihm oder gar mit ihm gehen.‘

Die Frau hatte gestutzt. ,Wie denn das sei?’

‚Wie das sei? Bürgerliche Officiere sehe man überhaupt ungern in der Armee, zumal in den höheren Chargen, und wenn ihr Bruder sich einmal öffentlich mit einer Bäuerin zeige und man höre, daß es seine Schwester sei, so würden seine Cameraden, die adeligen Herren Officiere, so viele Witze darüber machen, daß es mit seinem Avancement für immer vorbei sei.’

Die arme Frau weinte über diese Entdeckung ihre bitteren Thränen. Umkehren konnte sie nicht mehr; sie war nahe an dem Ziele ihrer Reise. Aber ihr Entschluß war gefaßt. Sie bat ihren Reisegefährten, Niemandem zu sagen, was sie ihm mitgetheilt hatte, und dieser versprach es ihr. Er fuhr weiter, sie stieg in dem Gasthof in der Vorstadt ab, entdeckte keinem Menschen, wer sie war, spähete die Wohnung ihres Bruders aus, schlich sich Abends im Dunkel zu ihm, weinte sich vor Freude aus, ihn wiederzusehen, und theilte ihm dann die Worte des alten Officiers und ihren felsenfesten Entschluß mit, nur unter der Bedingung zu bleiben, daß kein Mensch hier erfahre, daß sie seine Schwester sei. Er mußte einwilligen; er that es auch wohl im Hinblick auf das, was er seiner heimlichen Verlobten schuldig sei. Daß die Bosheit der Welt ihren Verkehr mit dem Bruder dennoch erfahren und ihm eine andere Bedeutung, die giftigste von der Welt, geben könne, daran hatten die beiden arglosen Menschen nicht gedacht. Ein Schurke gab sie ihm. Erst Frau von Römer erfuhr die Wahrheit. Sie war die Frau des raschen, aber auch des energischen, festen Entschlusses. Niemals hast Du auch nur eine Ahnung davon haben können, daß sie Deinen Schurkentrug kannte. In dieser Stunde hörst Du es zum ersten Male. Und ich bin nun [496] am Ende meiner Erzählung, und dort liegt auch das Ziel unserer Wanderung vor uns.

Siehst Du das trübe Licht dort unter den Bäumen? Aber gehen wir langsamer; tritt leise auf, Wir müssen im rechten Moment eintreffen und dürfen vorher nicht stören. Oder noch besser, setzen wir uns hier, denn wenn ich auch mit meiner Erzählung zu Ende bin, so habe ich Dir doch noch einige Eröffnungen zu machen.“

Sie waren noch immer in der engen Bergschlucht, um sie her lag die vollständige Finsterniß der Nacht. Sie waren vorangegangen auf einem Pfade, den sie nicht sahen, den sie aber auch nicht verfehlen konnten, da fast unmittelbar zu ihren beiden Seiten nur Berg und Felswand sich befanden. Der Pfad führte unter dicht belaubten Bäumen. Menschen waren ihnen nicht begegnet; an Häusern waren sie nicht vorbeigekommen. Kein Laut hatte ihr Ohr getroffen. Die Finsterniß und die Stille herrschten noch um sie her. Nur in einiger Entfernung von ihnen sahen sie durch die Zweige der Bäume das Licht, von dem der Bucklige gesprochen hatte. Es war unten in der Schlucht und schien aus einem Hause zu kommen und seinen trüben Schein durch ein Fenster zu ebener Erde zu werfen.

Am Wege lag ein umgehauener Baumstamm. Der Bucklige setzte sich auf ihn und lud seinen Gefährten ein, sich neben ihm niederzulassen. Herr von Römer setzte sich zu ihm. Er war in diesem Augenblick wohl mehr in der Gewalt einer großen Neugierde und Spannung, als in der des Buckligen, der schon auf der Universität den Beinamen „der Teufel“ geführt und der noch vor kaum einer halben oder Viertelstunde erklärt hatte, er wolle sein, des Consistorialpräsidenten, Teufel sein, er sei es schon.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Warnung für Auswanderer. In der Kölnischen Zeitung vom 2. Juli lese ich, daß die chilenische Regierung mit einem Hamburger Hause einen Contract über schweizer, tiroler und deutsche Colonisten abgeschlossen habe. Die Auswanderer müssen gute, vom chilenischen Consul in Hamburg visirte Zeugnisse besitzen, werden auf Kosten der Regierung nach Hamburger Reglement als Zwischendeckspassagiere und bei ihrer Ankunft an Ort und Stelle nach – Arauco gesandt, wo ihnen nach den gesetzlichen Bestimmungen Land angewiesen wird. Der Contract erstreckt sich über vier Jahre und sind nach demselben im ersten Jahre einhundert, im zweiten zweihundert, im dritten dreihundert und im Vierten vierhundert Familien zuzulassen.

Arauco ist ein fruchtbares und gesundes Land und die chilenische Regierung die anständigste und zuverlässigste von allen südamerikanischen Republiken, aber – die Sache hat einen Haken, und ich möchte wirklichen Familien mit Frauen und Kindern wohlmeinend rathen, sich eine Auswanderung nach Arauco gerade sehr zu überlegen, ehe sie die Ihrigen vielleicht in eine hier gar nicht geahnte Gefahr bringen. Arauco ist jenes schöne und weitausgedehnte Gebiet, das etwa zwischen dem einundvierzigsten und dem dreiundvierzigsten Grad südl. Breite in Chile liegt und noch bis vor kurzer Zeit die chilenische Republik – als unabhängiges indianisches Gebiet – in zwei Theile schied.

Die Araucaner sind noch vollblütige unvermischte Indianer und dabei ein kriegerischer tapferer Stamm, den es die chilenische Regierung – bis vor ganz Kurzem – unmöglich fand zu unterjochen. Verschiedene Kriege wurden geführt, die chilenischen Soldaten zogen aber stets den Kürzeren und in Arauco herrschten deshalb eigene, von den Indianern allein gegebene Gesetze, nach denen ein Weißer nicht einmal ihr Land betreten durfte, ohne bei ihnen Erlaubniß einzuholen. Das hat sich jetzt geändert. Das Militärwesen in Chile wurde – meist auf französischem Fuß – verbessert. Die Artillerie bildete sich vorzüglich aus, und vor noch nicht langen Jahren, nach einigen indianischer Seits verübten Viehdiebstählen und sonstigen Grenzbelästigungen, fielen sie in Araucanien ein und schlugen die Araucaner in die Flucht.

Aber selbst damals konnten sie sich nicht im Lande halten, sondern zogen sich wieder in ihre eigenen Grenzen zurück. Die Araucaner hielten aber keine Ruhe; eine neue Züchtigung wurde nöthig, und soviel ich weiß, hat die chilenische Regierung jetzt das ganze Land im Besitz, für das sie sich natürlich keine bessere Einwanderung wünschen könnte, als eben eine deutsche. Gerade die Deutschen aber, so vortreffliche Colonisten es sein mögen, sind am wenigsten geeignet, den Grenzschutz gegen einen unruhigen Volksstamm zu bilden, oder gar in dessen Mitte den Acker zu bauen. Der Deutsche ist ruhiger, friedliebender Natur und langsam in seinen Bewegungen; er wäre bei indianischen Ueberfällen den meisten Gefahren ausgesetzt. Und selbst angenommen, daß keine Ueberfälle mehr zu fürchten wären, was ich aber keineswegs behaupten will, kann es gar nicht ausbleiben, daß sie sich steten Belästigungen und Viehdiebstählen ausgesetzt sehen und die Ansiedler selbst auf Jahre hinaus noch immer für ihre Familien in Sorge zu leben haben würden.

Besonders der Mädchenraub ist von diesen mit den Penchuenchen eng verwandten Stämmen getrieben worden, und welche Hülfe kann den Einwanderern selbst die chilenische Militärmacht bieten, wenn sich die Räuber über die Cordilleren flüchten? Eine Auswanderung nach Chile, insofern der Deutsche unbedingt auswandern will, werde ich immer befürworten. Chile ist ein reiches und gesundes Land und der Deutsche dort geachtet und gern gesehen, aber wohlmeinend möchte ich meine Landsleute warnen, sich in das erst eroberte indianische Gebiet von Arauco, so schön und fruchtbar das Land selber sein mag, vorschieben zu lassen.

Man hat in neuester Zeit überhaupt mehrfach gesucht, gerade Deutsche zu Ausfüllseln zu gebrauchen, und eifrige Versuche sind ebenfalls gemacht worden, sie nach dem Süden der Vereinigten Staaten zu locken, wo sie die verlorenen Sclaven ersetzen sollen. Die freie Ueberfahrt hat dabei für den Unbemittelten etwas außerordentlich Verführerisches, und er denkt sich gewöhnlich: „Wenn ich nur erst einmal drüben in Amerika bin, dann ist Alles gut.“ Aber wie furchtbar sieht er sich oft dabei getäuscht und wie manche Familie hat sich nicht allein dadurch in’s Elend gestürzt, sondern auch ihre einzelnen Glieder hinsterben und verkommen sehen!

Wieder und wieder hat man sie allerdings gewarnt, allein immer wieder treten neue Speculanten auf, welche Deutsche in ihr Netz zu locken suchen, und das hier Gesagte kann deshalb gar nicht zu oft wiederholt werden. Das Gefährlichste für die deutschen Auswanderer sind die in Deutschland unterzeichneten Contracte, die dem Auswanderer selber gewöhnlich Hand und Fuß binden, während sie den Agenten freie Hand lassen. Es ist dabei unglaublich, mit welchem Leichtsinn solche Leute, denen Amerika einmal im Kopfe steckt, derartige Schriftstücke unterzeichnen.

Ich habe einen Contract in meinen Händen, welcher, ebenfalls von Hamburg ausgegangen, von sämmtlichen Auswanderern ohne Weiteres unterschrieben wurde und trotzdem die Leute den überseeischen Plantagenbesitzern dergestalt in die Hände gab, daß sie nicht allein wie Sclaven verwendet werden konnten, sondern auch nicht die geringste Controle in Händen behielten, selber zu überwachen, wann ihre Arbeitszeit, mit der sie ihre Passage bezahlen sollten, zu Ende sei.

Das ist hier bei dieser chilenischen Auswanderung allerdings nicht der Fall. Die chilenische Regierung verlangt von den deutschen Einwanderern keine Arbeit für sich, sondern nur die Besiedelung eines leerstehenden und ihr dadurch unbequemen Terrains. Sie will Araucanien so rasch wie möglich dicht besiedeln, um den Indianern die Möglichkeit zu nehmen, sich wieder darin fest zu setzen. Aber gerade dagegen möchte ich meine deutschen Landsleute warnen, denn vor allen Dingen verlangen sie doch persönliche Sicherheit, besonders für ihre Familien, und die kann ihnen bis jetzt noch, meiner Meinung nach, Araucanien nicht bieten.

Friedr. Gerstäcker.




Opferstock für Ostpreußen.


Es gingen noch ein: N. N. in Turxdorf in Schl. 5 Thlr.; die Hüttenleute zu Hirzenhain am Vogelsberg 14 Thlr. 25 Sgr. 1 Pfg.; Louis Schütz, Gastwirth in Lauterbach, Sammelbüchse 2 Thlr. 251/2 Sgr.; die Wachtstube in New-York 3 Dollars; von K. J. 1 Rubel; S. B. 2 Thlr.; T. Brune in Levern 9 Thlr. 13 Sgr.; Gottlieb in Charleville 1 Thlr.; Rest der von der Gesellschaft „Eintracht“ in Pest veranstalteten Sammlung und einer Einsendung von C. Ohm in Pest 10 Thlr.; R. J. in Petersburg 1 Rubel; gesammelt auf dem Gut Tersa bei Wolsk, Gouvernement Saratow, durch J. Mittrasken 30 Rubel; N. N. in Helmstedt 2 Thlr.; ein Schlesier in Moskau 5 Rubel; von den Lehrern der Conferenz in Callenberg 3 Thlr.; vom Theater- und Gesangverein in Groß-Berndten 8 Thlr.; August 1 Thlr.; N. N. aus Herford 2 Thlr.; Sammlung der Unterbeamten des Postamtes Naumburg 3 Thlr. 121/2 Sgr.; eine deutsche Gesellschaft im Hotel Brun in Bologna 60 Gulden rh.; G. G. und G. 5 Thlr; Ertrag einer durch Herrn Dr. Ehrt in Hubertusburg veranstalteten Collecte 23 Thlr.; Freiesleben in Straßburg 15 Thlr. 11 Sgr. 8 Pfge.; Stoll in Heiligenstadt 4 Sgr.; Hemdenkragen-Differenz von Schr. in Lgza. 15 Sgr.; Leser der Gartenlaube in und um Malchin 4 Thlr. 20 Sgr.; Expedition der „Henne“ in Ilmenau 11 Thlr.; Resultat einer Wette über Baumwolle 2 Thlr. 15 Sgr.; Scatclub in Liverpool, durch Herrn Kühn 20 Thlr.; Th. Dobler in Wien 2 fl.; Locher in Lancaster 21/2 Dollars; Leseverein und einige Bürger Herschbergs 3 Thlr. 161/4 Sgr.; M. P. 3 Thlr.; von Julie, Katchen und Wilma in Frankenthal 30 fl. rhn.; mein erster nicht sauer, aber doch mühsam erworbener Verdienst 1 Thlr.; ein Gelöbniß von M. S. in G. 2 Thlr.; eine nach schwerem Leid wieder ganz glückliche Gattin und Mutter 5 Thlr.; Concordia-Gesellschaft in Baltimore, durch F. A. Köhler, C. A. Kune, M. Heß und A. W. Hintze 265 Thlr. 16 Sgr.; Sammlung von Deutschen in Kalamazoo (Vereinigte Staaten) 46 Thlr.; Sammlung von Deutschen in Dubuque, Iowa, und Umgegend durch W. H. Rumpf 514 Thlr.; von den Deutschen in Berlin, County Waterloo, Provinz Ontario, Canada durch den Herrn Kranz u. Sohn 159 Pf. St. 13 S. 6 P. oder 1084 Thlr. 17 Sgr. Ein donnerndes Bravo allen deutschen Brüdern in Amerika, die sich so wacker unserer Nothleidenden angenommen!

Nachdem der Ertrag vorstehender Quittung mit 2163 Thlr. 21 Sgr. 7 Pfg. theils früher, theils in den letzten Tagen an die bezüglichen Comités abgesandt worden, betrachten wir unsere Sammlung als geschlossen. Dieselbe hat im Gesammtergebniß die Summe von 8174 Thalern 24 Neugroschen 4 Pfennigen geliefert.
Die Redaction.



Inhalt: Die Brüder. Novelle von Adolf Wilbrandt. (Fortsetzung.) – Für Hans Sachs ein Denkmal in Nürnberg. Mit Abbildung. – Die Mutter unserer heutigen Scheidekunst. Vortrag von Prof. Dr. O. L. Erdmann in Leipzig. – Der letzte Dictator Venedigs. Von Adolf Stahr. – Wild-, Wald- und Waidmannsbilder. Nr. 26. Am Thiergarten. Von Guido Hammer. Mit Abbildung. – Der Teufel. Novelle (Fortsetzung.) – Blätter und Blüthen: Warnung für Auswanderer. Von Fr. Gerstäcker. – Opferstock für Ostpreußen.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Einsprünge sind in den Thiergartenzaun gemachte Lücken, die durch weite Gruben geschirmt sind, welche nur nach der Thiergartenseite lehnan verlaufen, während sie am äußeren Rande tief und steil abfallen, so daß ein Stück Wild wohl von außen leicht hinabspringen, dann aber nur nach der Seite des Thiergartens wieder emporsteigen kann und so für diesen eingefangen ist.