Die Gartenlaube (1872)/Heft 6

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1872
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 6.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Am Altar.


Von E. Werner, Verfasser des „Helden der Feder“.


(Fortsetzung.)


Auch der junge Graf schien sich unbehaglich zu fühlen in der Nähe jenes stummen Zuschauers, der ihm einen sichtlichen Zwang auferlegte. All’ seine Artigkeiten und Liebenswürdigkeiten gingen nur bis zu der Schranke, die man einer fremden Bekanntschaft gegenüber beobachtet, aber der Zwang war ihm augenscheinlich sehr lästig, und er machte einen kecken Versuch, ihn abzuschütteln.

„Wie ich sehe, mein Fräulein, waren Sie soeben im Begriff, zu gehen! Sie erlauben doch, daß ich Sie durch den Wald geleite? Wir stören ohnedies hier Herrn Pater Benedict“ – er warf einen Blick auf das noch immer am Boden liegende Buch –, „der mit wichtigen Studien beschäftigt scheint. Sie werden erfreut sein, die nöthige Ruhe und Muße zurück zu erhalten, Hochwürden. Darf ich bitten, mein Fräulein?“

Lucie war im Begriff, das Anerbieten anzunehmen, Ottfried stand bereits an ihrer Seite und wies nach dem Fußpfade hinüber – da auf einmal trat der junge Priester zwischen sie. Seine Hand legte sich schwer und kalt auf den Arm des jungen Mädchens, sie schauerte leise zusammen unter der Berührung.

„Sie thun besser, den Rückweg allein anzutreten, mein Fräulein! Der Wald ist sicher, vertrauen Sie sich immerhin seinem Schutze!“

Ottfried wendete sich bei der unerwarteten Einmischung hastig um, und maß den Störer mit einem halb zornigen, halb ironischen Blick.

„Ich habe nicht geglaubt, Hochwürden, daß irgend eine weltliche Angelegenheit im Stande wäre, Ihr Interesse zu erregen!“ sagte er spöttisch. „Bitte, bedenken Sie, daß die junge Dame nicht zu Ihren Beichtkindern gehört, und daß ihr jedenfalls allein das Recht zusteht, meine Begleitung anzunehmen oder abzulehnen.“

Die Hand Benedict’s lag noch immer schwer und kalt auf Luciens Arm, seine Stimme war tonlos, aber sie hatte eine eiserne Festigkeit:

„Ich zweifle ebenso sehr daran, daß der Bruder Fräulein Günther’s von diesem – Zusammentreffen und von dieser Begleitung unterrichtet ist, als daß er sie billigt, und ich glaube in seinem Namen zu handeln, wenn ich beides verhindere. Die junge Dame kehrt entweder allein nach Dobra zurück, oder sie geht unter meinem Schutze, nicht unter dem Ihrigen.“

„In der That, Sie maßen sich eine eigenthümliche Bevormundung über uns Beide an!“ rief Ottfried gereizt. „Wer giebt Ihnen das Recht zu solchen Befehlen, dem Fräulein und mir gegenüber?“

„Der Ruf, in dem Sie stehen, Herr Graf!“ gab Benedict eisig zurück.

„Herr Pater Benedict!“ fuhr Ottfried wütend auf.

„Herr Graf Rhaneck!“

Rede und Gegenrede klangen gleich drohend und herausfordernd. Bebend vor Zorn wandte sich Ottfried jetzt an Lucie.

„So muß ich Sie bitten, mein Fräulein, diesen unerhörten Eingriff in Ihren Willen zurückzuweisen! Sagen Sie dem Herrn Pater, daß Sie sich meinem Schutze allein anvertrauen, und nicht gesonnen sind, sich darüber Vorschriften machen zu lassen.“

Lucie – sagte gar nichts. Sie fand den Eingriff freilich auch unerhört, und jedem Andern gegenüber hätte sie sich mit vollster Heftigkeit dagegen erhoben, aber ihr sonst immer reger Trotz und Eigenwille sank hier machtlos zusammen. Sie konnte nicht trotzen diesem Manne gegenüber, der jetzt mit so furchtbarem Ernste auf sie niederschaute, aber sie fühlte mit tiefer Bitterkeit, ja mit einer Art von Verzweiflung, daß sie es nicht konnte. Ihre Ahnung, die sie gleich beim ersten Male diese „Gespensteraugen“ fliehen hieß, hatte sie nicht getäuscht, er bannte sie ja förmlich mit diesen Augen, er legte ihren ganzen Willen damit in Fesseln und lähmte ihr das Wort auf der Zunge.

Lucie hoffte trotzdem, der Graf werde ihr zu Hülfe kommen, und sie war entschlossen, sich dann auf seine Seite zu stellen; jedoch der Graf schien keine Lust zu irgend einem Gewaltstreich zu haben, er schoß einen haßerfüllten Blick auf den jungen Priester, aber er trat zurück.

„Sie werden die Güte haben, mir eine Erklärung über dies Benehmen zu geben, Hochwürden!“

„Sobald wir uns allein gegenüberstehen – zu jeder Stunde!“

Lucie fühlte, wie ihr Arm fester gefaßt wurde, sie sah sich fortgezogen, in der nächsten Minute lag die sonnige Wiese bereits hinter ihnen, und der tiefe Schatten des Waldes nahm sie auf.

Das junge Mädchen eilte mit raschen Schritten vorwärts, sie wollte so bald als möglich der unwillkommenen Begleitung ledig werden, die sie gleichwohl nicht zu verweigern wagte. Benedict hatte ihre Hand in dem Momente losgelassen, als sie in den Wald eintraten, aber er blieb dicht an ihrer Seite. Nicht ein einziges Wort fiel zwischen ihnen während des ganzen, länger als eine halbe Stunde dauernden Weges, und wenn irgend etwas im [86] Stande war, Lucie noch mehr zu erbittern, so that es dies eisige Schweigen, denn sie fühlte ganz richtig heraus, daß eine Verurtheilung darin lag. Sie ging ja hier gerade wie eine Verbrecherin, die man nicht einmal mehr des Wortes würdigt, und doch war sie die Gekränkte, Beleidigte. Ihr Herz war zum Zerspringen voll von einer Bitterkeit, die sich jetzt zum Theil auch gegen den Grafen richtete. Warum ließ er sie so ohne Weiteres in der Gewalt dieses entsetzlichen Menschen, warum behauptete er nicht unter allen Umständen seinen Ritterdienst bei ihr? Er mußte es ja doch sehen, daß sie nur halb gezwungen folgte, und er stand doch sicher nicht unter jenem lähmenden Einflusse, dem sie fast willenlos sich beugte. Dem jungen Mädchen waren die Thränen nahe, es bedurfte nur noch eines einzigen Anstoßes, und sie brachen hervor.

Da endlich lag der Ausgang des Waldes vor ihnen, hier begann bereits das Gebiet von Dobra, von drüben schimmerte das Dach des Schlosses hinüber, und auf dem Felde waren eine Menge von Arbeitern beschäftigt; Benedict blieb stehen.

„Ich habe Sie, wie es scheint, sehr gegen Ihren Willen jener Gesellschaft entzogen, mein Fräulein. Sie werden den Eingriff wohl auch ‚unerhört‘ finden, ich habe ihn mir nichtsdestoweniger nun einmal erlaubt, und ich erlaube mir sogar noch eine Warnung, auf die Gefahr hin, daß Sie diese ebenso sehr verachten wie den – Mönch, aus dessen Munde sie kommt. Meiden Sie künftig dergleichen Verabredungen, Graf Rhaneck ist nicht der Mann, an dessen Seite der Ruf eines jungen Mädchens vor Verleumdungen sicher ist, selbst wenn sie es verstehen sollte, ihn in Schranken zu halten. Sie handelten sehr unvorsichtig, als Sie ihm diese Zusammenkunft bewilligten.“

Er stand mit der ganzen Strenge eines Richters vor ihr, das war zu viel und Lucie fuhr empört auf.

„Eine Zusammenkunft bewilligen? Habe ich etwa den Grafen nach dem Walde gerufen?“

„Wollen Sie mich vielleicht glauben machen, daß sein Erscheinen Ihnen unerwartet war?“ Es grollte dumpf und drohend in seiner Stimme, und seine Augen hefteten sich wieder so durchbohrend wie vorhin auf sie, aber jetzt hatten sie ihre Macht verloren, das Gefühl einer unverdienten Kränkung überwog bei Lucie jede Furcht, heiß und ungestüm brachen ihre Thränen hervor, mit ihnen aber auch der Zorn.

„Ich will Sie gar nichts glauben machen!“ rief sie in vollster Heftigkeit, „aber ich lasse mich auch nicht von Ihnen beleidigen, wie Graf Rhaneck es sich gefallen läßt. Ich will nicht!“ – sie stampfte zornig mit dem Fuße – „und solche ungerechte Vorwürfe ertrage ich nicht, nie, niemals –“

Das Weitere erstickte in ihrem Schluchzen, Benedict sah sie starr an.

„Nicht?“ wiederholte er langsam. „Sie haben den Grafen nicht erwartet?“

Lucie gab keine Antwort, sie weinte leidenschaftlich, aber es lag eine überzeugende Gewalt in diesem so plötzlich hervorbrechenden Trotze. Er trat ihr mit einer stürmischen Bewegung näher und faßte ihre beiden Hände, trotz ihrer eigenen Erregung sah sie doch, daß er sich in einer noch furchtbareren befand. Die Hände, welche die ihrigen festhielten, bebten, sein Blick senkte sich flammend tief in ihr Auge, und seine Stimme klang dumpf, gepreßt, als fehle ihm der Athem.

„Antworten Sie mir, Lucie! Bei Allem, was Ihnen heilig ist – Sie haben den Grafen nicht erwartet?“

„Nein!“ rief Lucie, außer sich gebracht durch dies Examen, und in diesem Moment war es wieder einmal Bernhard’s Schwester, die über das Kind siegte, so energisch und leidenschaftlich schleuderte sie ihm das Nein entgegen.

Ein tiefer, tiefer Athemzug hob Benedict’s Brust und ein schnelles blitzähnliches Aufleuchten flog über seine Züge; er ließ ihre Hände los und trat zurück.

„So bitte ich um Verzeihung!“ sagte er leise.

Lucie hielt plötzlich mit Weinen inne, ebenso sehr über diese ganz unerwartete Wendung, wie über den Ton seiner Stimme betroffen, die auf einmal von der rauhesten Härte zur vollsten Weichheit umschlug. Halb bestürzt blickte sie ihn mit den großen thränenvollen Augen an. Sein Blick hing jetzt wieder fest an diesen Augen; aber er machte keinen Versuch, sich ihr auf’s Neue zu nahen; im Gegentheil, es schien, als wolle er noch weiter zurückweichen.

„Ich habe Ihnen wehe gethan mit meinem Verdachte, ich sehe es! Aber ich hatte allen Grund dazu. Graf Rhaneck hat Ihnen schon einmal von Liebe gesprochen, und Sie wiesen ihn nicht zurück!“ – Lucie machte unwillkürlich eine Bewegung des Schreckens. War denn dieser Mann allwissend? – „Aber was Sie Liebe nennen, kann der Graf nicht mehr empfinden, wenn er es überhaupt jemals empfunden hat. Er ist einer reinen Zuneigung nicht werth. Glauben Sie mir das, mein Fräulein, und gestatten Sie ihm keine weitere Annäherung; ich warne Sie davor, ich – ich bitte Sie darum!“

Er sprach noch leise, aber in einem eigenthümlichen erschütternden Tone, der die innere mühsam gebändigte Bewegung verrieth. Es war dieselbe Warnung, die Lucie vorgestern aus dem Munde des Bruders gehört; aber wenn Bernhard’s herrisches Verbot ihren ganzen Trotz wach rief, dies hier wirkte anders. Das „Ich bitte Sie darum!“, das fast unhörbar an ihrem Ohre hinwehte, weckte wieder jenen schmerzenden Stich, der ihr bis in’s innerste Herz drang; sie wußte nicht weshalb und woher, sie fühlte nur, daß es wehe that.

Das junge Mädchen senkte lautlos den Kopf und trocknete sich die Thränen ab. Sie gab keine Antwort, gab auch kein Versprechen; aber man sah es, die heutige Warnung war tiefer gegangen als jene erste. Stumm wendete sie sich zum Gehen. Benedict machte eine Bewegung, es sah fast aus, als wolle er ihr nachstürzen, aber plötzlich schlug er krampfhaft den Arm um den Stamm des Baumes, an dem er stand, und blieb unbeweglich in dieser Stellung. Lucie wandte sich noch einmal um, wie mit einem halben Gruße; es schien, als erwarte sie noch ein Abschiedswort oder ein Lebewohl, aber nichts dergleichen kam von den festgeschlossenen Lippen des jungen Priesters, nur sein Blick folgte ihr, als sie über den Abhang schritt und durch die Felder eilte, folgte ihr so lange, bis die helle Gestalt zwischen den Gebüschen verschwand, welche dort hinten die Wiese säumten.

Da tönten Schritte hinter ihm, und aufblickend gewahrte Benedict den Grafen, der jetzt gleichfalls aus dem Walde hervortrat. Ob er ihnen in einiger Entfernung gefolgt war oder ob er sich nur auf dem Rückwege nach Rhaneck befand, dessen Gebiet hier das von Dobra berührte, blieb unentschieden; jedenfalls sah er den jungen Geistlichen und näherte sich ihm rasch.

Benedict schien der nun unvermeidlich folgenden Erklärung sehr gelassen entgegenzusehen; er lehnte sich an den Baum und erwartete ruhig den Kommenden. Ein halb verächtlicher Ausdruck lag dabei auf seinem Gesichte; aber der Angriff sollte mit einer Waffe geführt werden, an die er nicht gedacht.

Ottfried trat ihm keineswegs in hellem Zorn entgegen; im Gegentheil, sein Gesicht war wieder vollkommen glatt und ruhig; aber ein boshaftes Lächeln spielte um seine Lippen und mit einem unverkennbaren Hohne begann er:

„Erlauben Sie mir, Hochwürden, Ihnen etwas zurückzustellen, was Sie im Eifer Ihrer Beschützerrolle ganz und gar vergessen zu haben scheinen. Das Werk hier ist doch wohl Ihr Eigenthum, oder ziehen Sie es vor, zu behaupten, daß Fräulein Günther sich auf ihrem Waldspaziergange mit Spinoza beschäftigt hat?“

Der Stich traf doch. Benedict erbleichte einen Moment lang und ein heftiger Blick glitt über den verrätherischen Band, den Ottfried in Händen hielt; aber er faßte sich sofort wieder.

„Das Buch gehört mir!“ sagte er ruhig, die Hand danach ausstreckend.

Ottfried jedoch schien die Herausgabe vorläufig noch weigern zu wollen.

„Ein höchst interessantes Studium ohne Zweifel!“ fuhr er boshaft fort. „Nur ist die Beschäftigung damit, so viel ich weiß, im Kloster auf’s Strengste verboten und mit den schwersten Bannstrafen belegt; oder sollte ich mich irren? Vielleicht können Sie mir darüber Auskunft geben, Hochwürden.“

Zu der Verachtung in Benedict’s Antlitz gesellte sich jetzt ein leiser Zug von Ironie, als er entgegnete: „Sie haben vollkommen Recht, Herr Graf. Sie sehen, ich lese das Buch auch nicht im Kloster; ich nehme es mit mir in den Wald hinaus. Uebrigens steht es Ihnen frei, bei dem Herrn Prälaten den Angeber zu machen, wenn Sie sich sonst mit diesem ritterlichen Geschäft befassen wollen.“

„Herr Pater, ich verbitte mir dergleichen beleidigende Aeußerungen!“ sagte der Graf in hohem Tone.

[87] „In Ihren Worten sollte doch wohl eine solche Drohung liegen,“ gab Benedict kalt zurück. „Ich habe nur diese eine Antwort darauf!“

Ottfried hatte jedenfalls geglaubt, einen ausgezeichneten Trumpf in der Hand zu haben; er sah jetzt, daß auf diesem Wege nichts zu erreichen war, und ließ deshalb den Gegenstand fallen.

„Es handelt sich nicht darum,“ sagte er scharf, „sondern um Ihre unberufene Einmischung in meine Angelegenheiten. Ich weiß, daß mein Vater Sie zu meinem Beichtiger bestimmt hat, und diese Bestimmung gab jedenfalls den alleinigen Anlaß dazu; aber ich möchte Sie denn doch darauf aufmerksam machen, Hochwürden, daß ich Ihnen außerhalb des Beichtstuhls keine Befugniß zuerkenne, mein Thun und Lassen einer Kritik zu unterziehen, am allerwenigsten in der Art und Weise, wie es vorhin geschah. Den Bauern mag dies unfehlbare Auftreten imponiren, und ihnen gegenüber mag es auch am Platze sein – ich beanspruche andere Rücksichten!“

Die dunklen Augen Benedict’s richteten sich fest und stolz auf den Grafen. „Was mir das Recht zum Einschreiten bei den Bauern giebt, wird wohl auch Ihnen gegenüber am Platze sein, Graf Rhaneck. Uebrigens handelte ich diesmal nicht in meiner Eigenschaft als Priester, ich erfüllte einfach meine Pflicht als Mann, indem ich ein junges, unerfahrenes Kind vor Einflüsterungen und Betheuerungen bewahrte, denen es wahrscheinlich geglaubt hätte, und die in Ihren Augen jedenfalls so leicht wiegen, daß sie nicht über die Zeit Ihres Aufenthaltes hier hinausreichen. Wenn Sie sich überhaupt im Rechte fühlten, warum wichen Sie dann meiner Autorität? Ihrer Bewerbung steht ja wohl der Weg nach Dobra offen, ich bezweifle aber, daß Sie eine solche beabsichtigten.“

„Ich werde Sie schwerlich zum Vertrauten meiner Entschlüsse machen!“ unterbrach ihn Ottfried hochfahrend, „und ich wiederhole es Ihnen, ich dulde fernerhin dergleichen Einmischungen nicht. Wenn ich mich diesmal fügte, so geschah es aus Rücksicht für meinen Vater und meinen Oheim, nicht aus Rücksicht für Sie.“

„Ich weiß es! Auch beanspruche ich weder, noch wünsche ich eine Rücksicht von Ihnen, Herr Graf!“

Der kalte verächtliche Nachdruck, den Benedict auf die letzten Worte legte, hätte wohl auch einen Anderen als Ottfried gereizt, den jungen Grafen, der gewohnt war, sich für unnahbar anzusehen, empörte er.

„Erinnern Sie sich gefälligst, mit wem Sie sprechen, Herr – Bruno. Sie scheinen ganz zu vergessen, daß Sie das Priestergewand, das Sie allein so kühn macht, einzig der Gnade meines Vaters danken. Ohne diese Gnade ständen Sie jetzt im Bedientenrock hinter meinem Stuhle und müßten meiner Befehle gewärtig sein.“

Ottfried hatte, als er diese verletzenden Worte hinwarf, doch wohl nicht geahnt, welche furchtbare Wirkung sie hervorbrachten. Benedict war leichenblaß geworden, seine Hände ballten sich krampfhaft und seine Augen schossen einen Blick, daß der Graf einen Schritt zurücktrat und unwillkürlich sein Gewehr fester faßte.

„Sie werden diese Beleidigung zurücknehmen!“ stieß er heraus und der kochende Ingrimm erstickte fast seine Stimme. „Hier auf der Stelle werden Sie das thun!“

Ottfried hatte inzwischen seine augenblickliche Bestürzung überwunden und sich wieder gefaßt. „Ei, Hochwürden, das ist ja ein recht priesterliches Benehmen!“ höhnte er. „Wollen Sie mich nicht lieber gleich auf Pistolen fordern? Ihr Aussehen ist ganz darnach!“

Was die Beleidigung begonnen, das vollendete der Hohn: außer sich gebracht, that Benedict einen Schritt ihm entgegen und der Ausdruck seines Gesichtes war derart, daß Ottfried’s Hand nach dem Hirschfänger an der Seite zuckte, aber er hätte nichts Schlimmeres thun können, als gerade dies. Der junge Mönch sah die Bewegung und im nächsten Moment hatte er sich auf den Grafen gestürzt, ihm mit einem einzigen kraftvollen Griffe die Waffe entrissen und ihn selbst zurückgeschleudert, so daß er gegen die nächsten Bäume taumelte.

Jetzt aber wurde Ottfried’s Antlitz auch leichenhaft. Der Schimpf, der ihm soeben widerfahren, raubte ihm alle Besinnung, er riß die Büchse von der Schulter und legte an.

Da auf einmal ward der Lauf des Gewehrs zur Seite geschlagen und sein Arm mit Gewalt zurückgehalten „Bruno – Ottfried – auseinander!“ tönte eine fremde Stimme, und der alte Graf Rhaneck trat zwischen sie.

Der Graf war gleichfalls im Jagdanzuge, die laut streitenden Stimmen mochten ihn wohl herbeigezogen haben, er kam gerade im Moment, um ein Unglück zu verhüten.

„Auseinander, sage ich!“ wiederholte er gebietend, aber noch bebte die Todesangst in seiner Stimme. „Was ist vorgefallen? Was gab es zwischen Euch?“

Die beiden jungen Männer schwiegen, aber das Erscheinen Rhaneck’s wirkte sehr verschieden auf sie. Ottfried, gewohnt sich der Autorität des Vaters zu fügen, hatte die Büchse gesenkt und war gehorsam einige Schritte zurückgetreten, Benedict stand noch immer da wie ein gereizter Löwe, die Waffe in der hocherhobenen Hand, das Auge sprühend und zwischen seine Brauen grub sich tief die verhängnißvolle Falte. Nicht auf der des Majoratserben, auf seiner Stirn stand der finstere Familienzug des Rhaneck’schen Geschlechts, stand jetzt auch die ganze Härte und Grausamkeit desselben: so mußte der Graf, so der Prälat aussehen, im Momente der höchsten Erregung; die eine Linie veränderte auf einmal den ganzen Charakter des Gesichts und zeichnete dort eine Aehnlichkeit, die sich sonst nie in der leisesten Spur verrieth.

Auch Rhaneck sah sie und trotz Zorn und Angst glitt doch eine Secunde lang ein Ausdruck von Stolz und Zärtlichkeit über seine Züge, aber sie wurden sofort wieder ernst, als er sich dem noch immer trotzig Dastehenden näherte.

„Bruno, was soll die Waffe in Deiner Hand?“ fragte er mit schwerer Betonung.

Der junge Priester zuckte zusammen, er verstand die Mahnung, stumm blickte er wieder auf sein Ordensgewand und langsam entsank das Messer seinen Händen.

„Ihr waret im Streite!“ begann der Graf von Neuem, „was war die Veranlassung dazu, wer von Euch hat ihn angefangen?“

Stumme Pause, keiner der Beiden regte sich.

„Bruno!“ er wendete sich vorwurfsvoll an diesen, „Du zum Mindesten hättest das bedenken sollen, was Du Deinem Stande schuldig bist. Ziemt dieser wilde Jähzorn dem geweihten Priester?“

Benedict blickte finster auf. „Legt mein Stand mir auch die Verpflichtung auf, zu dulden, daß Graf Ottfried ihn mir als eine Gnade seiner Familie vorwirft? zu dulden, daß er mir die Bedientenstelle hinter seinem Stuhle zuweist?“

Der Graf fuhr auf. „Ottfried, das hast Du gewagt?“ Ein Blick glühenden Zornes traf den Sohn, aber dieser hob jetzt auch trotzig das Haupt.

„Ich habe Herrn Pater Benedict an die Schranken erinnert, die er mir gegenüber vergessen hat!“

„Wenn Du wirklich diese Worte ausgesprochen hast, so wirst Du sie zurücknehmen und Bruno um Verzeihung bitten!“ befahl der Graf mit einer Härte, die wenig Väterliches hatte.

„Mein Vater!“

„Ottfried, Du wirst!“

„Nun und nimmermehr!“ rief Ottfried heftig und der Blick, den er dabei auf seinen Gegner schoß, war so voll Haß, daß der Graf einsah, er dürfe den Conflict nicht bis zum Aeußersten treiben. Er trat zu Benedict und legte die Hand auf dessen Arm.

„Ottfried ist jetzt zu gereizt, er wird sich besinnen und in einer ruhigen Stunde Dir die Abbitte leisten. Gieb Dich zufrieden, Bruno, ich sage Dir, es wird geschehen.“

Benedict zog kalt den Arm zurück. „Herr Graf ich verzichte auf eine erzwungene Genugthuung! Ich stand im Begriff, mir gegen eine Beleidigung selbst Recht zu schaffen, fremdem Einfluß mag ich es nicht danken.“

„Fremdem? Bruno!“

Der Vorwurf klang beinahe schmerzlich, aber der Graf richtete nun einmal nichts aus mit dieser Milde seinem Schützlinge gegenüber, in dessen Auge lag wieder der alte Widerwille, die geheime Abneigung, mit der er jede Annäherung, jede Zärtlichkeit, die von dieser Seite kam, zurückwies.

„Ich muß jetzt wohl wünschen, Sie wären mir fremd geblieben mit Ihrer Gnade und Ihren Wohlthaten, Herr Graf!“ sagte er hart. „Ich habe diese Wohlthaten von jeher gehaßt: sie wurden mir aufgezwungen, als ich noch ein Kind war, und als ich zum Bewußtsein erwachte, hatte man bereits Sorge getragen, [88] daß mir jeder andere Lebensweg verschlossen blieb. Ich konnte und kann nichts von dem Empfangenen zurückzahlen, ich muß es zeitlebens als eine Schuld mit mir herumtragen, das ist auch eins von den gepriesenen Vorrechten meines Standes, der jede Selbstständigkeit vernichtet. Aber,“ hier brach eine heiße Bitterkeit mitten durch die erzwungene Ruhe, „aber ich wollte, Sie hätten mich nicht der Sphäre entrissen, für die ich geboren ward, ich wollte, Sie hätten mich zum Bauer, zum Tagelöhner werden lassen, der im Schweiße seines Angesichts das saure Brod verdienen muß, es wäre besser gewesen und ich hätte es Ihnen mehr gedankt, als dies Leben – am Altar!“

Ottfried hörte fast erstarrt zu, das schien ihm denn doch jedes Maß der Undankbarkeit und Unverschämtheit zu übersteigen, und sein Vater, an den sich all diese Beleidigungen richteten, der seine Gnade verschmäht, seine Wohlthaten mit Füßen getreten sah, Graf Rhaneck stand da, ohne sich zu regen, ohne auch nur mit einem Worte den wilden Ausbruch zu zügeln. Kein Zorn, nur eine immer zunehmende Angst sprach aus seinem Antlitz, als thue sich etwas Niegeahntes, Furchtbares vor ihm auf, und als Benedict die letzten Worte mit unverkennbarem Hasse herausschleuderte, da wendete er sich erbleichend ab und legte die Hand über die Augen.

Aber wenn irgend etwas im Stande war, Benedict zur Besinnung zu bringen, so that es dies stumme Abwenden, seine Lippen zuckten.

„Sie werden meine Undankbarkeit himmelschreiend nennen, und Sie thun Recht daran!“ sagte er ruhiger. „Ich habe nur Gutes von Ihnen empfangen und lohne Ihnen so dafür, es ist verdammungswerth, ich weiß es, aber ich kann nicht anders!“

Er neigte sich gegen den Grafen und wandte dann den Beiden den Rücken, Ottfried sah ihm nach, sah dann auf den Vater und schüttelte den Kopf, die Scene blieb ihm unbegreiflich.

„Papa, ist es möglich, das läßt Du Dir sagen! Du? – und schweigst dazu?“

Der Graf richtete sich auf, er hatte auf einmal seine ganze Energie wieder. „Schweig Du selbst, Ottfried!“ sagte er befehlend, „das sind Dinge, über die nur mir allein die Beurtheilung zusteht, aber vor Einem will ich Dich doch noch warnen. Du wirst Bruno nie wieder feindlich gegenübertreten, hörst Du? Niemals! Ich werde sorgen, daß es auch von seiner Seite nicht mehr geschieht. Wenn Ihr Euch nun einmal durchaus nicht vertragen könnt, so bleibt fern von einander, hassen dürft und sollt Ihr Euch nicht, und beleidigen,“ hier flammte sein Blick auf’s Neue drohend, „beleidigen wirst Du ihn nicht wieder, oder ich fordere Rechenschaft von Dir.“

Ottfried schwieg, aber zum ersten Male stieg ein argwöhnisches, grübelndes Nachdenken in ihm auf, welchen Grund denn sein Vater hatte, diesen seinen Schützling fortwährend mit einer Schonung und Nachsicht zu behandeln, die sonst keineswegs in seinem Charakter lag und deren sich der eigne Sohn fast niemals erfreute. Er und Benedict waren sich sonst stets fremd geblieben, nur in der Kinderzeit hatte man sie bisweilen zusammengeführt, und Ottfried hatte nie erfahren, wie weit die Fürsorge des Vaters für Jenen eigentlich ging. Jetzt zum ersten Male sah er sich gegen den Fremden offenbar zurückgesetzt, sah, wie mit augenscheinlicher Vorliebe für diesen Partei genommen ward, gegen ihn. – Was war es denn eigentlich mit diesem Benedict?

„Und jetzt komm!“ schloß der Graf hastig, als wolle er den Eindruck der eben durchlebten Scene verwischen, „laß uns nach Rhaneck zurückkehren, es ist hohe Zeit!“

Ottfried gehorchte, zuvor jedoch nahm er Benedict’s Spinoza von dem Feldsteine, auf dem er bisher gelegen, und schickte sich mit einiger Ostentation an, den Band in seine Jagdtasche zu stecken.

„Was hast Du da?“ fragte der Graf zerstreut.

„Die Lieblingslectüre des Herrn Pater Benedict!“ entgegnete Ottfried boshaft, ihm das Buch hinüberreichend.

Der Graf schlug den Titel auf und fuhr zurück. „Auch das noch! Allmächtiger Gott, was soll daraus werden!“

Er steckte das Buch zu sich und wendete sich dann kurz zu seinem Sohne. „Du schweigst gegen den Oheim, ich werde selbst mit Bruno darüber sprechen! Jetzt laß uns gehen.“

Ottfried folgte mit verbissenem Zorn, er sah, daß dem gehaßten Mönche nicht beizukommen war, der Vater war offenbar entschlossen, ihn mit seiner ganzen Macht zu schützen. –

Lucie hatte inzwischen den Garten von Dobra erreicht, wo Fräulein Reich sie mit einer Strafpredigt über ihr eigenmächtiges Davonlaufen und allzu langes Ausbleiben empfing, aber schon bei dem ersten Satze stockte Franziska, als sie die verweinten Augen und die niedergeschlagene Miene des jungen Mädchens gewahrte.

„Um Gottes willen, Kind, was ist denn vorgefallen?“ rief sie erschreckt. „Ist etwas passirt? Hat Ihnen Jemand irgend etwas zu Leide gethan?“

Lucie schüttelte den Kopf, sie wollte den alten übermüthigen Ton wieder anschlagen, wollte mit irgend einem Scherz ausweichen, aber die Lippen versagten ebenso sehr das Lächeln, als die Stimme den Scherz. Sie warf noch einen Blick zurück nach dem Walde, dann schlang sie plötzlich beide Arme um den Hals Franziskas, verbarg den Kopf an deren Brust, und brach ohne ein Wort, ohne eine Erklärung auf’s Neue in ein bitterliches Weinen aus.




Das Stift feierte eines der hohen katholischen Kirchenfeste, und wie stets bei solchen Gelegenheiten, bot die große prachtvolle Stiftskirche den Mittelpunkt und Versammlungsort für die Andächtigen der ganzen Umgegend.

Die weiten Hallen der Kirche vermochten kaum die herbeigeströmte Menge zu fassen, die sich dort Kopf an Kopf drängte. Der Prälat, unter Assistenz der gesammten Geistlichkeit seines Stiftes, hielt heute selbst das Hochamt, mit all dem kirchlichen Pomp und Glanz, der dem hohen Festtage ziemte. Von draußen her fiel der helle Sonnenschein durch die hohen Bogenfenster und die prachtvollen Glasmalereien warfen purpurfarbene und tiefblaue Lichter auf den Marmorboden. Vom Chore hernieder rauschte die Musik in vollen mächtigen Accorden, und der Gesang wehte an den hohen Wölbungen hin, dazwischen knisterte leise die schwere Seide der Kirchenfahnen, im Hintergrunde aber flammte der Hochaltar, von hundertfachem Kerzenglanze umstrahlt, von Weihrauchwolken umzogen, überragt von dem Bilde des Gekreuzigten und umgeben von der Priesterschaar, ein unnahbares, gottgeweihtes Heiligthum.

Auf seinen Stufen stehend vollzog der Prälat die heilige Handlung. Und wahrlich, hier war der Ort, wo seine Erscheinung zur vollsten Geltung kam, es lag etwas Erhabenes in der stolzen feierlichen Würde, mit der er die vorgeschriebenen Ceremonien verrichtete. Jetzt hob er die Monstranz, und auf die Kniee nieder stürzte Hoch und Niedrig und beugte demuthsvoll das Haupt zur Erde, nur die Priester standen aufrecht da und blickten nieder auf die knieende Menge, die sich vor dem Allerheiligsten beugte, es sah fast aus, als beugte sie sich jenen allein.

Unmittelbar an der Seite des Prälaten befand sich Benedict; auch er trug heut’ nicht das schwarze Ordensgewand, sondern war, wie alle Uebrigen, im vollen priesterlichen Ornate. Die kostbaren, reichgestickten und golddurchwirkten Gewänder hoben seine Erscheinung mächtig und wirkungsvoll, und sie verlor nichts durch die Blässe der Züge, die unter dem dunkeln Lockenhaar hervorleuchtete; manches Auge aus den Reihen der Andächtigen hing an dem jungen Priester, mancher Blick heftete sich bewundernd auf ihn, er aber sah kalt und unbewegt auf die Menge, die Ceremonie, bei der auch er betheiligt war, schien ihn allein zu beschäftigen.

Und doch waren seine Gedanken weit weg von dem Hochamt und dem geweihten Raume, sie suchten fern eine stille Waldeseinsamkeit; lauter rauschte die Musik vom Chore hernieder, dichter stieg der Weihrauch vom Altare empor, aber mitten in den jubelnden Tönen klang das leise träumerische Rieseln einer Quelle, aus den Weihrauchwolken hervor dämmerte ein rosiges Kinderantlitz mit langen braunen Locken, und ein Paar große blaue Augen blickten ihn bestürzt und thränenvoll an – die Lippen des Priesters zuckten, er rang sich gewaltsam los von diesen Bildern, die ihn Tag und Nacht umdrängten, die ihm selbst hier am Altar keine Ruhe mehr ließen, er war ja ein Mönch, und jene Bilder waren ein Verbrechen!

Die übrigen Geistlichen schienen es weniger gewissenhaft mit der Heiligkeit des Ortes und der Stunde zu nehmen, die lange Gewohnheit hatte sie abgestumpft dagegen. Zwar bewahrten auch sie die volle äußere Würde, aber als die Musik nun wieder mit vollster Macht einsetzend all die leiseren Töne verschlang, und die jetzt folgenden Ceremonien ihre Aufmerksamkeit nicht mehr so ausschließlich in Anspruch nahmen, da bewegte sich

[89]

In den Casematten von Ulm. Nr. 2.
Nach der Natur aufgenommen von R. Heck.

[90] manche Lippe, und leise, fast unhörbar flog Rede und Gegenrede zum Nachbar hinüber und wieder herüber, die hochwürdigen Herren waren längst an diese Art der Unterhaltung gewöhnt, von der man freilich in der Kirche nichts bemerkte.

„Der Benedict sieht heute prachtvoll aus!“ flüsterte Pater Eusebius dem Prior zu, der an seiner Seite stand „Im einfachen schwarzen Talar sollte man nicht glauben, daß er sich so ausnehmen könnte. Das ist eine Erscheinung, die unserm ganzen Stifte Ehre macht!“

„Einer Uniform würde er noch mehr Ehre machen!“ gab der Prior boshaft, aber ebenso leise zurück, während sein Blick nach dem Betstuhl der Rhaneck’schen Familie hinüberflog, wo neben den Epauletten des Grafen die seines Sohnes glänzten.

„Warum nicht gar!“ murmelte Eusebius.

„Und sieh nur, wie Graf Rhaneck zu ihm hinüberblickt; mir scheint, er sieht von der ganzen hochwürdigen Assistenz nur den Einen! Aber seltsam ernst und finster ist heute das Gesicht des Grafen, findest Du nicht?“

Das widrige Lächeln zuckte wieder um den Mund des Priors, während er zugleich in vorgeschriebener Weise den Kopf tief herabbeugte und die Hände ineinander legte.

„Seine gräfliche Gnaden zögen es vielleicht vor, Pater Benedict als Majoratserben an seiner Rechten zu haben, und dafür den Grafen Ottfried am Altare zu sehen. Wer weiß es!“

„Thorheit!“ flüsterte Eusebius, die Bewegung des Priors nachahmend, „glaubst Du etwa auch gewissen dunklen Gerüchten?“

„Ich glaube nur meinen eignen Augen und die sehen ziemlich scharf. Hüte Dich übrigens, daß jene Gerüchte Benedict nicht zu Ohren kommen, er ist schon hochmüthig genug, und wenn –“

Die laute volltönende Stimme des Prälaten unterbrach ihn, er sprach die Worte des Segens, die beiden Priester schwiegen, Todtenstille legte sich über die ganze Versammlung.

Das Hochamt war zu Ende, die Menge drängte nach den Kirchthüren und auch die vornehmeren Zuhörer erhoben sich aus ihren Stühlen, während der Prälat mit seiner Geistlichkeit sich zurückzog. In der gleichfalls leeren Sacristei lehnte Benedict am Fenster, er trug noch die kirchlichen Gewänder und schien gar nicht daran zu denken, daß er sie ablegen mußte. Den Kopf in die Hand gestützt, blickte er hinaus in die sonnige Welt da draußen, nach den Bergen hinüber, die in voller Majestät dort in der Ferne aufstiegen; da ward eine der Seitenthüren geöffnet und der Prior trat ein.

„Wie, Pater Benedict, noch im vollen Ornate?“ fragte er scharf. „Die Messe ist längst vorüber, warum legen Sie die Gewänder nicht ab?“

„Ich hatte es vergessen. Ich werde sogleich –“ Benedict wollte sich entfernen, doch der Prior hielt ihn zurück.

„Sie haben vorhin den Herrn Prälaten um eine Unterredung ersucht?“

„Ja!“

„Und das gerade heut an diesem vielbeschäftigten Tage? Ihr Anliegen scheint sehr dringender Art zu sein.“

„Interessirt Sie das, Hochwürden?“ fragte der junge Priester ruhig.


(Fortsetzung folgt.)




Erinnerungen aus dem heiligen Kriege.


Nr. 11. In den Casematten von Ulm.



In Nr. 22 der Gartenlaube von 1871 ist das Leben jener buntfarbigen Söldnertruppen geschildert, welche nebst den Mitrailleusen die Schlachtenpopanze für die deutschen Heere hatten abgeben sollen, schon damals aber zum größten Theil richtig aufgehoben hinter Schloß und Riegel der deutschen Festungen lagen. Aus der Fülle der Bilder, welche bei einem Gange durch die von den Turcos bewohnten Räume dem Auge sich boten, sei hier eins herausgehoben, nicht gerade wegen besonderer Lebendigkeit der Handlung, sondern mehr wegen der Originalität der dargestellten Menschen, welche nebst ihrer Umgebung streng nach der Natur gemalt wurden.

Aus einem vergitterten Fenster des äußersten Vorwerks der deutschen Reichsfestung Ulm schaut das Auge hinab auf die im Thale ausgebreitete Stadt mit ihrem Dome, die blaue Donau und die nach allen Richtungen sternförmig auseinandergehenden Linien der Schienen und die qualmenden Dampfrosse auf denselben. Das Auge des Schauenden, eines Sergeantfouriers der Turcos, war das einzige in der wilden Bande, in welches man mit Ruhe sehen und in dem man etwas Ebenbürtiges, geistig Stammverwandtes spüren konnte. Virgile Dhuicq aus Brest, blauäugig, mit rothblondem Haar und Bart, tiefer Baßstimme und einem großen, ebenso schön wie kraftvoll gebauten Körper, war aber auch eine Erscheinung, welche man viel eher in den Reihen der deutschen Gardegrenadiere als unter den quecksilbernen Turcos gesucht hätte. Auf die Bemerkung, daß er in seinem ganzen Wesen eigentlich gar nichts Französisches habe, erwiderte er denn auch: „Wir sind keine Franzosen, wir sind Saxons,“ also hindeutend auf die schon im fünften Jahrhundert aus England herübergekommenen Bretonen, die Hauptmasse der Bewohner der Bretagne, die ihre staatliche Selbstständigkeit erst zu Anfang des siebenzehnten Jahrhunderts an Frankreich verloren, aber, wie wir hier sehen, noch heute nicht vergessen haben. Dhuicq war unter die Turcos eingereiht worden, um in der Verwaltung seiner Compagnie Ordnung zu halten.

An Körper und Geist der schneidendste Gegensatz zu dem Sergeanten war der neben demselben auf dem Boden kauernde Neger Saad ben bu Azas. Ein wunschloseres Genügen, ein süßeres Faulbehagen läßt sich nicht denken, als wenn Saad nach reichlichem Vesper die zweite Halbe vor sich stehen hatte und mit gekreuzten Beinen am Boden hockend den Qualm seiner Cigarre von sich blies. Dieser Erscheinung gegenüber kamen jedem Beschauer, auch bei sonst noch so sehr abweichenden Ansichten, dennoch Darwin’sche Schöpfungsgedanken, wenigstens für diese Sorte von Menschen, weshalb Saad auch bei der ganzen schwäbischen Wehrmannschaft „das Thierle“ hieß. Dabei war er in all seinem Thun und Lassen ein sanftes, fröhliches, harmloses Geschöpf, das mit den kurzen Rollhaaren auf dem milchhafenförmigen Schädel eher einem schwarzen Schaf als einer besondern Species der Schöpfungskönige glich. Und doch zeigte gerade auch dieses Wesen einen rührend feinen Zug. In einer Pause beim Malen vesperten der Herr Lieutenant und ich Schinken, der in den Casematten nicht oft zu haben war. Saad saß daneben am Boden mit seiner Halben und dampfte. Den Viertelsseitenblick, welchen er in einem Augenblick, wo er sich unbeachtet wähnte, nach unseren Tellern warf, und das leichte Hinaufziehen der Nasenflügel, um den köstlichen Duft einzuziehen, merkten wir aber doch, und so nahm ich ein saftiges Stück und hielt dasselbe über seinen Kopf; er warf ihn zurück in den Nacken, sperrte den dick umwulsteten Mund weit auf, daß seine Zahnreihen wie in einem Krokodilschlunde aus der dunkeln Höhle starrten; ein Knacken und Knirschen derselben, ein Druck des Halses, und verschwunden war das Stück. Der Ausdruck der Wonne über den gehabten Genuß war im Gesicht des schwarzen Schelmen zu groß, um nicht die Lust in uns rege zu machen, denselben noch ein Mal zu sehen; ich nahm daher das letzte und größte Stück unseres Vorrathes und hielt dasselbe wieder in gleicher Weise über seine eiförmige Stirn. Die Lippen blieben diesmal aber geschlossen; dagegen streckte er seine langen schwarzen Spinnenfinger mit den scharfen braunen Nägeln nach dem Schinken aus, wickelte das Stück sorgfältig in ein neben ihm liegendes Stück Zeitungspapier, schob es in seinen Mantel und krächzte mit freundlichem Grinsen das Wort „Messarud“ hervor. Messarud war aber der ebenfalls schwarzhäutige Corporal seines Zuges, und ihm, dem Stammesgenossen, nicht auch einen so seltenen Genuß verschafft zu haben, hätte der gute Bursche nicht über das Herz bringen können.

Der Dritte im Bilde, Ismail ben Kinana, war ein sanfter, brauner Araber, welcher den kleinen Kopf mit den großen dunkeln Augen meist etwas gesenkt auf dem hagern langen Körper trug. Jedenfalls schien er eher alles Andere zu sein als eine jener Soldatenbestien, als welche man die Turcos ohne Ausnahme zu betrachten gewohnt ist. Als er gegen das Ende der Gefangenschaft noch stiller und zurückgezogener wurde und ein Mal recht [91] traurig dastand, fragte ihn der Lieutenant, ob ihm denn irgend etwas abgehe, was ja nicht wohl sein könne, da er und seine Cameraden in Kleidung, Wohnung, im Essen und Trinken doch gewiß gut versorgt seien. Ismail nickte bejahend, schüttelte aber gleich nachher wieder den Kopf und sagte: „Nix femmes, nix promener, tout nix!“ und schritt still weiter.

Eine der wildesten und verkommensten Erscheinungen der ganzen Truppe war der Vierte im Bilde: Mohamed ben Hannach; maßlos in Allem, in Lust und Unmuth, in Genuß und Gier, mag er sonst im Kampfleben ein wild tapferer Soldat gewesen sein; in der Gefangenschaft war er aber eine Plage für seine Genossen, wie für die Wachen. Dem Kreuze, welches er in der Mitte seiner Stirn tätowirt hatte, war im Kampfe der Hieb eines deutschen Reitersäbels beigefügt worden, so daß die tiefe Narbe dicht an dem Kreuze vorüber über den Schädel unter dem Turban zurücklief. Dagegen war seine femme française, die er auf dem einen Arme tätowirt trug, und seine femme arabe mit untergeschlagenen Beinen, Husarenjäckchen und einem maurischen Fähnlein auf dem Kopfe, welche in die Haut des linken Armes eingeäzt war, noch unversehrt. Wie bald sein heißes Blut – gleich den meisten Anderen kannte natürlich auch er weder Eltern, noch Heimath, noch Lebensalter – in Wallung kommen konnte, zeigte er gelegentlich eines Streites, den er in der letzten Woche der Gefangenschaft aus unbedeutenden Anlaß mit einem Landsmanne, einem olivengrünhäutigen, leibarmen bartlosen Bürschlein, bekam. Er gerieth dabei in namenlose Wuth, riß ein im Gürtel verborgen gehaltenes Messer heraus und wollte nach seinem Gegner stoßen; dieser jedoch riß ihm mit Blitzesschnelle das Messer aus der Hand, schnitt sich hierbei wohl vier Finger halb durch, in der nächsten Secunde stak es aber dem lustigen Hannach so sicher in der Brust, daß, als es herausgezogen ward, der Blutstrahl an der daneben befindlichen Bretterwand bis zur Decke spritzte. Trotzdem wehrte sich die zähe Natur dieses Wilden noch einen ganzen Tag lang gegen den blassen Tod, der aber zuletzt Sieger blieb.

Hannach’s Leib liegt nun im Kirchhofe der schwäbischen Reichsstadt; ob seine Seele die richtige Pforte zum Eingang in das mohamedanische Paradies gefunden hat und nun mit den Houris desselben in schattigen Gängen wandelt, ist uns unbekannt; sicher aber ist, daß wenige Tage nach der Verscharrung seines Leibes die ganze Turcobande unter scharfer deutscher Bewachung die Festung verließ und über die Vogesen und die deutsche Reichsgrenze geführt wurde, um die an der Spitze der Civilisation schreitende Nation von Neuem zu beglücken. Wir aber rufen ihnen mit frohem Herzen nach: „Auf Nimmerwiedersehen!“

R. Heck.




Die Anfänge der Geschwister Rainer.


Von Ludwig Steub.


Es ist etwas mehr als ein Jahr verstrichen, seit diese Blätter (Nr. 48–50, 1870) einen Beitrag unter der Aufschrift: „Eine Zillerthaler Sängerfamilie“ mitgetheilt haben. Dort war auch die Urgeschichte der Rainer besprochen, ihr erster Auszug nämlich und die Art und Weise, wie er zu Stande kam.

Ludwig Rainer, dem wir diese Mittheilung verdankten, schreibt die erste Anregung seinem Oheim Felix zu. Dieser soll als Koppelknecht bei einem reisenden Pferdehändler in der Schweiz mit seiner schönen Stimme manche Abendgesellschaft erheitert, vielen Beifall eingeerntet und dann nach der Rückkehr seinen Geschwistern geweissagt haben, welch große, noch unversuchte Zukunft dem Alpengesang sich öffne. Darauf hätten die Uebungen in ihrem Heimathsdorfe zu Fügen im Zillerthale begonnen, und nach einigen Monaten sei die erste Gesellschaft öffentlich und unter lauter lebendiger Theilnahme der Fügener und ihrer Nachbarn in die Welt gezogen.

Dieser Erzählung steht eine andere gegenüber, welche mir Josef Rainer, einer von der Urgesellschaft, damals Gastgeber im Hackelthurm zu Fügen, schon im Jahre 1842 mittheilte. Darnach wäre zuerst über ihn der Geist gekommen und er selbst der Urheber und erste Führer der Rainer’schen Sängerfahrten gewesen. Er habe nämlich als ein junger, wandernder Viehhändler eines Tags zu Leipzig vier angebliche Tiroler Kinder singen hören, und da dies traurige Häuflein trotz seines schlechten Gesanges vielen Beifall gefunden, so habe er seinen Geschwistern geschrieben, jetzt sei die Zeit gekommen, als echte Tiroler in alle Welt zu gehen und zu jodeln und das Glück zu erjagen. Sie sollten sich aufmachen und ihm entgegenreisen, aber zum Schein etwas Leder und Handschuhe mitnehmen, damit ihre wahre Absicht nicht errathen werde. So seien sie zu Freising an der Isar zusammengekommen und dort zum ersten Male aufgetreten, dann aber weiter gegangen und, wie weltbekannt, überall mit stets wachsendem Beifall aufgenommen worden etc.

Man sieht auf den ersten Blick, daß dieser Bericht mit der Erzählung, welche Ludwig Rainer in seinen handschriftlichen Memoiren als Ueberlieferung seiner Mutter aufstellt, keineswegs zusammenstimmt. Letzten September bin ich nun wieder nach dem schönen Flecken Schwaz im Innthale gekommen und auf der Post bei Herrn Franz Rainer eingekehrt. Herr Franz Rainer ist der Sohn des Herrn Anton Rainer, welcher der ersten Gesellschaft angehört hatte, aber schon vor längerer Zeit gestorben ist. Beim Abendtrunk kam auch seine Schwester Marie heran und begann von der Gartenlaube zu sprechen und von jenem Artikel über die Zillerthaler Sängerfamilie.

Hier ist nun zu bemerken, daß im vorigen Jahre zu Fügen noch zwei alte Herren lebten, Franz Rainer, der Posthalter, und Simon, sein Bruder, ein wohlhabender Bauersmann. Franz Rainer war ein Sänger und auch bei der ersten Gesellschaft gewesen, Simon dagegen hatte immer lieber zugehört, als selbst gesungen, war daher, als die Anderen in die große Welt gezogen, zu Hause geblieben und seinem bürgerlichen Berufe nachgegangen. Seinem Bruder Franz war er aber innigst zugethan, und als dieser im vorigen Jahre gestorben, sagte er offen, jetzt wolle er auch nicht länger leben, legte sich hin und starb auch seinerseits nach wenigen Wochen.

Marie erzählte nun, wie sie diesen ihren Oheim, als er auf seinem letzten Lager lag, noch einmal besucht und ihm die Gartenlaube, vielmehr den besagten Artikel über die Gebrüder Rainer vorgelesen habe. Der Kranke habe darüber noch ein heiteres Stündlein verlebt und sei in der Hauptsache damit zufrieden gewesen. Nur die Geschichte von der ersten Ausfahrt verhalte sich anders, als sie dort vorgetragen sei. Nicht Felix Rainer habe den ersten Anstoß zu ihren Wanderfahrten gegeben, sondern der Kaiser von Rußland.

Eines Tages sei nämlich Kaiser Alexander in’s Zillerthal gekommen und zu Fügen im Schlosse, bei seinem Bekannten, dem Grafen Ludwig von Dönhoff, abgestiegen. Der Graf habe nun seinem hohen Gastfreunde eine kleine Ueberraschung bieten wollen, nach den Rainerkindern geschickt und sie bedeutet, daß sie am treffenden Abend im Schlosse singen sollten. Diese hätten sich dessen nicht geweigert, aber die Bedingung gesetzt, daß sie sich nur hinter einem Vorhange produciren dürften, denn sie fürchteten, der Anblick der kaiserlichen Majestät möchte sie leichtlich außer Fassung bringen und das ganze Unternehmen scheitern lassen. Also hätten sie denn an jenem Abend in ihrem Versteck ein paar Stücklein („Jetzt kommt die schöne Frühlingszeit“ und „Auf d’ Alma gehn mer aufi“) schüchtern, aber lieblich gesungen, und diese hätten dem Selbstherrscher aller Reußen dermaßen gefallen, daß er gegen die Verabredung hinter den Vorhang getreten sei, sie ermunternd hervorgezogen, höchlich belobt und an seinem eigenen Tische zu sitzen eingeladen habe. Sie hätten ihm dann versprechen müssen, ihn in Petersburg zu besuchen, und er habe ihnen zugleich für diesen Fall seine allerhöchste Gnade und Protection in Aussicht gestellt.

So haben wir denn jetzt drei Berichte, sämmtlich aus der Familie, die sie betreffen, über eine Thatsache, die noch keine fünfzig Jahre hinter uns liegt, drei Berichte, von denen keiner zum andern paßt und die sich auch durch keine Exegese vereinbaren lassen. Mir fielen, als mir Fräulein Marie diese dritte Lesart mittheilte, zunächst David Friedrich Strauß und Professor Renan ein und ich fragte mich, wie sie, die berühmten Mythenforscher, [92] wohl diese Geschichte behandeln, wie sie den historischen Kern herausschälen würden.

Ich gestehe, daß ich nach dieser dritten Dosis ernstlich neugierig wurde und sehr gern herausgebracht hätte, welche von den drei Erzählungen die Wahrheit enthalte.

An einem Sonntag des letzten Herbstes war ich nun wieder nach Fügen gekommen und wieder in die Post gegangen. Diese hat jetzt nach des Vaters Tod sein älterer Sohn, Herr Max Rainer, ein freundlicher junger Mann, übernommen. Unter seinem Dache lernte ich auch einen anderen Wallfahrer aus demselben Clan, Herrn Andrä Rainer, kennen; dieser war eben aus dem Oriente, zunächst von Constantinopel, zurückgekommen, wo er mit seiner Gesellschaft vor dem Großvezier, dem Mufti, verschiedenen Paschas und Effendis, vor den europäischen Diplomaten und der ganzen stambulischen Elite die Zillerthaler Alpenlieder gesungen und so vielen Beifall und Gewinn davongetragen hat, daß er nach einiger Rast wieder eine Gesellschaft zusammenzustellen und abermals in die Levante zu gehen gedenkt.

Ich hielt es wohl der Mühe werth, über den Gegenstand meiner Neugier einige Fragen zu stellen, kam aber nicht weit damit. Im Großen ist die Geschichte der Rainer allen Zillerthalern wohlbekannt, allein die kleinern Züge scheinen längst vergessen. Die glücklichen Sänger sind, als sie sich noch in jungen Jahren verheiratheten und am heimischen Herde zur Ruhe setzten, des Erzählens, wie es scheint, bald müde geworden, und als ihre Kinder zu ihren Tagen kamen, hatten sie es wohl schon gänzlich aufgegeben, denn auch ihren nachgelassenen Familien ist fast alle Tradition über die Anfänge erloschen.

An jenem Herbstsonntage zeigte sich übrigens ein sehr munteres Leben auf der Post zu Fügen. Die jungen Leute dieses Ortes haben sich nämlich in letzterer Zeit mit besonderem Fleiße auf die kriegerische Blechmusik verlegt und in derselben eine namhafte Kunstfertigkeit erreicht. Nun wollten sie auch einmal die lieben Nachbarn zu Zell, welches tiefer einwärts im Thale liegt, ihre schönsten Stücklein hören lassen und hatten daher auf diesen Tag eine lustige Spielmannsfahrt angesetzt. Ich schloß mich ihnen an und bin so Zeuge davon gewesen, mit welcher Herzlichkeit sich alle die überraschten Zeller über die trefflichen Leistungen der Fügener Burschen freuten. Als sich die Spielleute später zum Krug zusammengesetzt, dachte ich wieder an meine Forschungen und erinnerte mich, daß hier zu Zell im „Goldnen Stern“ eine Tochter Joseph Rainer’s verehelicht sei, welche vor siebenundzwanzig Jahren als sechsjähriges Mädchen mit ihrem Vater und ihren zwei Geschwistern auch schon Almenlieder sang und eines Abends, als ich zu Fügen im Hackelthurme saß, selbviert ihr jugendliches Stimmchen erschallen ließ. Ihr zu Liebe also ging ich in den „Goldnen Stern“, der ohnedem nicht weit vom Bräuwirth zu finden ist, wurde auch freundlich aufgenommen und legte bald meine Absichten auseinander.

Joseph Rainer’s Seppele, jetzt Frau Sternwirthin Aigner zu Zell, dürfte also ungefähr dreiunddreißig Jahre alt sein und hat sich unbestrittener Maßen sehr kräftig und stattlich ausgewachsen. Aber das ehemalige Seppele schien mir auch nichts mittheilen zu können, was meinen Wissensdurst gelöscht hätte. Keine Spur einer Erinnerung an die Anfänge, die ersten Thaten und Fahrten der Ur-Rainer.

„Also auch Sie wissen nichts,“ sagte ich endlich in einiger Betrübniß; „damit geht meine letzte Hoffnung zu Grabe, denn Fügen und Schwaz habe ich schon ausgeschöpft bis auf den Boden und doch nichts Rechtes gefunden.“

„Na halt,“ sagte Frau Seppele, „da fällt mir g’rad’ noch ein, daß mir die Marie Rainer einmal ihr Tagebuch geschenkt hat.“

„Maria Rainer?“ wiederholte ich gespannt, „Ludwig Rainer’s Mutter, die einst mit nach England gezogen ist?“

„Ja, ja, die Marie, die hat Alles aufgeschrieben, wie sie fort und wo sie hingekommen sind und wo sie überall gesungen und was sie dafür gekriegt haben. Ein schönes Lesen!“

„Endlich,“ rief ich, „endlich ist das Ziel erreicht, endlich können wir die Odyssee der Rainer schreiben oder die Lusiade des Zillerthals! Jetzt her mit dem Tagebuch, Frau Sternwirthin! Seien Sie von der Güte und holen Sie’s auf der Stelle!“

„Ja, das Buch,“ erwiderte sie lächelnd, „das hab’ ich schon lang’ verloren.“

Ich war schmerzlich enttäuscht. „Und solche Handschriften kann man auch verlieren?“ rief ich endlich.

„Ja, wenn man lappet (thöricht) ist,“ sagte Frau Aigner begütigend, „warum denn nicht? Seit ich hier in Zell bin, mein’ ich nicht, daß ich das Büchel gesehen hab’; es liegt vielleicht noch im Hackelthurm, in der Rumpelkammer. Ja, da möcht’s vielleicht noch liegen.“

Ich hatte mich wieder gefaßt, nahm freundlichen Abschied und verlor mich wieder unter den Spielleuten. Mit diesen gelangte ich auch am späten Abend in voller Dunkelheit wieder nach Fügen. Maxl fuhr auf dem Leiterwagen nach Hause und ich hatte keine Gelegenheit mehr, ihm mitzutheilen, wie es mir im „Goldnen Stern“ gegangen.

Am andern Morgen aber kamen wir im Herrenstübel zusammen und ich begann: „Nun, ich habe mich, Herr Postmeister, zum Historiographen der Rainer aufwerfen wollen, aber im Zillerthal ist nichts zu finden. Ich glaube, wenn man Eure Geschichte schreiben will, geht man besser nach London als nach Fügen oder Zell.“

„Da könnten S’ Recht haben,“ sagte der Postmeister, „denn wir wissen Alle nichts. Aber halt! London!! da habe ich noch drei englische Liederbücher oben, die sind in London gedruckt – fällt mir jetzt erst ein – da steht vielleicht mancher Brocken drinn, den ein Geschichtschreiber verwenden könnte.“

Der Postmeister ging nun rasch in den obern Stock und kam bald mit drei gleich gebundenen Büchern in klein Folio zurück. Ich schlug erwartungsvoll das Titelblatt auf und fand da zu angenehmer Ueberraschung folgende Worte: The Tyrolese Melodies etc., zu deutsch: „die Tirolerlieder, arrangirt für eine oder vier Stimmen mit Begleitung für das Pianoforte von I. Moscheles und gesungen mit entzücktem Beifall (with the most rapturous applause) in der ägyptischen Halle, London, von der tirolischen Familie.“ Deren Name ist als selbstverständlich nicht beigesetzt. Auf das Titelblatt folgt eine Einleitung, acht Folioseiten lang, überschrieben: The Tyrolese Minstrels – in welcher ich nach flüchtiger Durchsicht eine Geschichte des Lebens, der Reisen und Erfolge meiner Helden zu finden glaubte.

Endlich war also eine Quelle entdeckt, eine wahrscheinlich sehr reine und verlässige Quelle – denn die literarischen Zuflüsse für sie konnten nur die Geschwister Rainer selbst geliefert haben. Der Enthusiasmus, den sie damals in England erregten, hatte ihnen – das war klar – einen britischen Schöngeist zugeführt, der ihnen ihre Memorabilien abfragte und diese säuberlich zu Papier brachte. Es war wirklich ein Fund!

Wir wollen nun etwas näher auf diese Quelle eingehen.

Auf dem Titelblatte des ersten Bandes findet sich auch eine Vignette, welche die vier Brüder Rainer und ihre Schwester Marie – diese in der Mitte – darstellt. Im Hintergrunde ragt das Hochgebirge auf. Die großen, breitschultrigen Sänger – ihre männliche Schönheit wird im Zillerthal noch jetzt gerühmt – sie tragen alle die einfache Tracht ihrer Heimath. Auch Marie präsentirt sich noch ganz unverfeinert in einem Aufzuge, der uns jetzt etwas schlampig vorkommt. Es ist der lange enge Rock, das weit ausgeschnittene Mieder, das dicke schlappe Halstuch, welches die Brust bedeckt – ganz die Tracht, wie sie jetzt noch die Duxerinnen führen und wie sie damals herausging bis an den Saum des Zillerthals. Später schenkte übrigens der König von England den Geschwistern je einen ganzen Anzug, und von da an traten die Brüder in Jacken mit Hermelin verbrämt, die Schwester in einem seidenen weit ausgeschnittenen Ballkleid auf. Man sieht jetzt noch Lithographien, die sie in diesen Prunkgewändern darstellen. Die schön gestickten Gürtel (Ranzen) mit dem großbritannischen Wappen aus Silber darauf, welche der König damals den Brüdern verehrte, haben sich als theure Angedenken noch in deren Familien erhalten.

Auf dem Titelblatte findet sich ferner eine an Ihre durchlauchtige Hoheit, die Fürstin Esterhazy, gerichtete Widmung und unter dieser eine mit den facsimilirten Unterschriften der fünf Geschwister versehene Erklärung, laut deren nur H. Ignaz Moscheles berechtigt sein soll, die Musik und das Arrangement der Lieder, nur Herr William Ball, deren Uebersetzung zu besorgen und herauszugeben. Diese Erklärung ist datirt: 35 Foley street, London, June 23rd 1827.

Folgt also die Einleitung, welche von Herrn William Ball [93] unterzeichnet ist. Wer diese mit kritischem Auge liest, der möchte aber wirklich die Schriftsteller der großen britischen Nation beneiden. Wie genau und gründlich müssen wir Deutsche sein, und mit welch vornehmer Leichtfertigkeit fahren unsere englischen Brüder über die wuchtigsten Gegenstände hin! – in welch ungewissen Umrissen scheint ihnen schon der Continent und der ehemalige Deutsche Bund zu liegen! Oder klingt es nicht fast komisch, wenn uns Herr Ball belehrt, die fürstliche Grafschaft Tirol liege im österreichischen Kreise und bestehe aus dem eigentlichen Tirol und den Fürstenthümern Trient und Brixen – lauter Behauptungen, welche einst alle sehr richtig gewesen, aber durch den Reichsdeputationsreceß von Anno drei ganz unhaltbar geworden sind? Ferner weiß Herr Ball, daß Tirol durch den Preßburger Frieden an Baiern, aber er weiß auch, daß es 1809 förmlich (formally) an Italien abgetreten worden sei. Dies jedoch nur in der Note, im Texte läßt Herr Ball die Tiroler nach Anno neun wieder französisch werden. Daß auch für die Geschichte des seligen Andreas Hofer (commonly called Sandhofer), dessen Cultus doch in England so enthusiastisch betrieben wurde, daß auch für seine Geschichte aus englischen Büchern nichts zu lernen ist, das möchte beispielsweise aus einer Stelle hervorgehen, welche Herr Ball aus Herrn Hall’s Life of Andrew Hofer citirt und welche behauptet: „Seinem Andenken ward auf dem Brenner ein einfaches Grabmal errichtet, in geringer Entfernung von seinem Wohnsitze (es wären doch leicht zwölf Stunden); es enthält keine andere Inschrift als seinen Namen und die Daten seiner Geburt und seines Todes.“ Wie aber, wenn es auch diese nicht enthielte, vielmehr gar nicht existirte? Meines Wissens wenigstens hat noch kein tirolischer Schriftsteller, auch kein Bädeker und kein Trautwein und Amthor, dieses Grabmal aufgefunden, und es scheint demnach nur englischen Augen sichtbar zu sein.

Nun also die biographische Einleitung.

In dieser nimmt Herr Ball einen ansehnlichen Schwung und sucht die Tiroler mit allen Farben der Poesie auf’s Einnehmendste zu schildern. „Sie ergießen,“ sagt er unter Anderm, „die fröhlichen Gefühle ihrer untadelhaften Gemüther in so wahrhaft hirtenmäßige Gesänge, daß selbst die größten Tonsetzer, wenn sie ländliche Art nachahmen wollten, sich nicht entblödet haben, die Saiten ihrer Harfen von den Tirolern zu entlehnen.“ Deswegen gebühre ihnen die Benennung Natursänger mit vollem Rechte. Am meisten verdiene aber die Familie der Rainer so genannt zu werden, denn diese bringe, selbst ohne die Noten zu kennen, so wirksame und harmonische Leistungen hervor, daß sie jeden Vergleich mit dem Kunstgesange auszuhalten vermöchten.

Endlich, nach einem längern Abstecher über Andreas Hofer, kommt die Geschichte, nach der ich so lange gefahndet – die Geschichte der ersten Ausfahrt, und diese erzählt richtig Herr Ball im Jahre 1827 zu London in der Hauptsache wie Fräulein Maria Rainer im Jahre 1871 zu Schwaz. „Im Jahre 1815,“ läßt übrigens Mr. Ball seine Tiroler sprechen, „als der Congreß zu Verona angesagt war“ (welchen aber andere Geschichtschreiber nicht unglaubwürdig in’s Jahr 1822 verlegen), „im Jahre 1815 also, als die Franzosen Tirol wieder verloren und wir unsere alten Freiheiten unter unserer geliebten österreichischen Regierung wieder zurückerhalten hatten, kam Kaiser Alexander von Rußland mit seinem alten Freunde, dem Kaiser Franz von Oesterreich, auf der Reise zur Fürstenversammlung in’s Zillerthal.“

Wir ersehen also daraus, daß jenen Abend nicht allein Kaiser Alexander von Rußland, sondern auch Kaiser Franz von Oesterreich in Fügen zubrachte. Der übrige Theil der Erzählung verläuft aber, wie gesagt, wie der Bericht, den wir schon früher gegeben, und es ist daher überflüssig, die englische Version hier vorzutragen.

Diese neue Bekanntschaft mit dem Selbstherrscher aller Reußen scheint nun wirklich der Anlaß gewesen zu sein, der die Rainer in die weite Welt führte. Im Herbste 1824 griffen sie nämlich zum Wanderstabe, um ihren hohen Gönner in St. Petersburg zu besuchen. Herr Ball, der den Congreß von Verona in’s Jahr 1815 setzt, läßt sie neun Jahre lang über ihr Vorhaben nachdenken, während doch die Deliberationsfrist, wie männiglich sieht, nur eine zweijährige war. Sie wanderten also zu Fuß durch Baierland, Mittags und Abends in den Wirthshäusern singend, bis sie nach Regensburg kamen. Unsere alte Stadt Freising, welche, wie wir gesehen, Josef Rainer als den Hafen bezeichnete, von dem sie ausgelaufen, wird in Herrn Ball’s Berichte nicht erwähnt. In Regensburg nahm sie der Fürst von Thurn und Taxis sehr freundlich auf. Sie fanden daher den Aufenthalt daselbst so annehmlich, daß sie vierzehn Tage blieben. Eigentlich meinten sie selbst noch immer auf der Reise nach Rußland zu sein, allein die Bangigkeit vor dem weiten Wege und dem fremden Volke und die Furcht, der Kaiser möchte sie vergessen haben, drückte so schwer auf ihr Gemüth, daß sie oft ganz traurig und verzweifelnd beisammen saßen. Alle Fünf sehnten sich wieder nach Hause, aber keines wollte mit diesem Geständniß den Anfang machen. Der Fürst Taxis gewahrte ihre Niedergeschlagenheit und sagte ihnen tröstend, aller Anfang sei schwer, und sie würden gewiß noch viel Glück erleben – ein Zuspruch, der sie wieder merklich aufrichtete. Da es ihnen nun in Deutschland heraußen bis dahin recht gut gefallen hatte, so verloren sie allmählich ihr Heimweh, aber die Reise nach Petersburg gaben sie für dieses Mal dennoch auf und gingen dafür über Nürnberg, Würzburg, Frankfurt, überall Beifall erntend, nach Mannheim, wo ihnen die Ehre zu Theil wurde, vor der Großherzogin Stephanie singen zu dürfen. Diese empfahl sie an ihre Schwiegermutter, die alte Markgräfin von Baden, in Karlsruhe, die sie ihrer Tochter, der Königin von Schweden, vorstellte, welche damals eben bei ihr auf Besuch war; die Königin von Schweden aber empfahl sie wieder an den König von Baiern, Maximilian den Ersten. Und in Karlsruhe geschah es, daß sie vom Großherzog zu ihrer großen Ueberraschung aufgefordert wurden, öffentlich im Theater zu singen.

„Wir können,“ läßt sie Herr Ball nun sprechen, „unsere Gefühle, als wir damals im Hoftheater sangen, nicht beschreiben. Es war unser erstes Auftreten auf einer Bühne. Das Haus war überfüllt und alle die vornehmen Personen des Hofes saßen in den Logen dicht vor uns. In unserer Angst setzten wir etwas zu hoch ein, aber doch kamen wir ganz leidlich durch, und am Schlusse wurden wir nicht allein von dem ganzen Hause, dem der Großherzog mit gutem Beispiel voranging, beklatscht, sondern mußten das Stück sogar wiederholen. Unsere Befangenheit war damit überwunden, und wir sangen die folgenden Lieder mit einer Sicherheit, als wenn wir seit Jahren an die Bühne gewöhnt wären.“




(Schluß folgt.)


Ein Besuch beim Könige von Aurora.
Von Theodor Kirchhoff.


An der Oregon- und California-Eisenbahn, achtundzwanzig englische Meilen südlich von der Stadt Portland in Oregon, liegt die deutsche Colonie Aurora, eine communistische Gemeinde unter der Leitung des Dr. Wilhelm Keil.

Im September 1871 machte ich wieder eine Reise von San Francisco nach Oregon, wo ich diesmal Zeit und Gelegenheit fand, einen schon lange von mir gehegten Wunsch verwirklicht zu sehen, – den, jene in ganz Oregon berühmt gewordene Colonie und den noch berühmteren Dr. Keil, den sogenannten König von Aurora, persönlich kennen zu lernen. Schon oft hatte ich in früheren Jahren während meines Aufenthaltes in Oregon und wiederholt auf meiner letzten Reise von dieser Colonie und ihrem Autokraten reden hören und die unglaublichsten Dinge über die Regierungsweise jenes selbstgeschaffenen Potentaten vernommen. Alle Berichte stimmten darin überein, daß Dutchtown (mit diesem Namen pflegen die Amerikaner allgemein jede deutsche Colonie zu bezeichnen) ein Muster von einem Gemeinwesen sei, das sich vor allen anderen in Oregon durch Ordnung und Wohlstand auszeichne. Das Gasthaus von „Dutchtown“, welches früher an der Ueberland-Stagelinie lag und jetzt ein Stationshaus an der Oregon- und California-Eisenbahn ist, hat in Oregon einen beneidenswerthen Ruf erlangt und wird von allen Reisenden als [94] das vorzüglichste in jenem Staate gepriesen, und von der Colonie erzählte man mir nur Rühmendes. Ueber den Dr. Keil dagegen, den sogenannten „König von Aurora“, waren die sonderbarsten Gerüchte im Umlauf. Man hatte mir denselben in der Stadt Portland als einen ganz unnahbaren Charakter bezeichnet, der sich den Fremden gegenüber außerordentlich verschlossen zeige und Niemandem die geringsten Aufschlüsse über die innere Verwaltung seiner blühenden Colonie gebe, in der er wie ein souverainer Fürst das Regiment führe. Eingeweihte behaupteten, daß jener bedeutende Mann in Deutschland ein Schneider gewesen sei. Er wäre zugleich geistliches und weltliches Oberhaupt der Gemeinde, schlösse Ehen (stets mit Widerwillen, weil er nach den Regeln der[WS 1] Gesellschaft den Neuvermählten ein Wohnhaus anweisen müsse), wäre Arzt und Geburtshelfer, Prediger, Richter, Gesetzgeber, General-Oekonom, Verwalter, unumschränkter und unverantwortlicher Finanzminister der Colonie und hielte alle die sehr werthvollen Ländereien der Ansiedelung mit Zustimmung der Colonisten in seinem Namen; seinen freiwillig ihm gehorchenden Unterthanen, die ihn wie ihren Vater verehrten, verschaffe er allerdings einen guten Lebensunterhalt, behalte aber den ganzen Profit der Arbeit Aller und den Werth des gesammten Eigenthums für sich, trotzdem die Colonie als eine communistische Gemeinde auf breitester Grundlage angelegt sei.

Diesen originellen Mann, einen Geistesverwandten des berühmteren Mormonenpascha Brigham Young, wollte ich von Auge zu Auge sehen und den Löwen so zu sagen in seiner Höhle aufsuchen. Von der Stadt Portland aus, wo ich gerade verweilte, war die Colonie Aurora ohne besondere Schwierigkeit mit der Eisenbahn zu erreichen. An jenem Orte machte ich die Bekanntschaft eines deutschen Lebensversicherungs-Agenten einer Gesellschaft in Chicago, Namens Körner, der wie ich einen Besuch in Aurora machen wollte und in dem ich einen angenehmen Reisegesellschafter fand. Derselbe hatte sich in Portland Empfehlungsschreiben an den Dr. Keil verschafft und den kühnen Plan gefaßt, mit demselben ein „Geschäft im Lebensversichern“ zu machen; er wollte den Versuch wagen, ihn zu überreden, das Leben der ganzen Colonie, das heißt aller seiner freiwilligen Unterthanen, bei der Chicagoer Gesellschaft zu versichern, dafür als unverantwortlicher Schatzmeister der Colonie die gesetzmäßigen Prämien zu zahlen und bei Sterbefällen den Gewinn für seinen Nutzen einzucassiren.

Mein Reisegefährte hatte große Hoffnung, dem Doctor seinen Lebensversicherungsplan als eine vortheilhafte Speculation plausibel zu machen, und sich demzufolge mit den nöthigen Sterbetabellen etc. hinreichend versehen. Uns war in Portland eingeschärft worden, den früheren Schneider Keil, jetzigen „König von Aurora“, stets mit „Doctor“ anzureden, auf welchen Titel er sehr stolz sei, und ihm mit aller uns als souverainen Republikanern möglichen Ehrerbietung zu begegnen; sonst werde er uns gleich den Rücken zuwenden.

Am Morgen des 19. September brachte uns eine Dampffähre von Portland über den Willâmette-Fluß nach dem Bahnhofe der Oregon- und California-Eisenbahn, und bald darauf entführte uns der brausende Dampfzug gen Süden, entlang am rechten Ufer jenes Stromes von der Breite des Rheins, eines Nebenflusses des mächtigen Columbia. Nach einer angenehmen und interessanten Fahrt durch riesige Waldungen und über fruchtbare, hier und da mit Farmen und Ansiedelungen, Obstgärten etc. geschmückte größere und kleinere Prairien und Lichtungen erblickten wir das in romantischer Umgebung hart am Willâmette liegende Städtchen Oregon-City. Später verlassen wir den Fluß, donnern einige Meilen weit durch majestätischen Urwald und treten nun in eine weite waldumsäumte Prairie, in der sich hier und da schmucke Farmhäuser und zerstreute Holzungen zeigen; – und siehe! drüben winkt von schwellendem Hügel und inmitten einer von grünen Bäumen umgebenen wohlgehaltenen Ansiedelung der schlanke weiße Kirchthurm von Aurora herüber, und schon sind wir am Ziele unserer Reise.

Unser erster Weg, nachdem wir den Bahnzug verlassen hatten, war zu dem hart an der Eisenbahn auf einem Hügel erbauten Gasthause, wo sich die Passagiere zum „Lunch“ versammelten. Dieses, wie bereits erwähnt wurde, in ganz Oregon rühmlichst bekannte sogenannte Hôtel in „Dutchtown“ möchte ich mit einer Herberge alten Stils vergleichen. Die lange sauber gedeckte Eßtafel war mit schmackhaft zubereiteten, echt deutschen Gerichten übervoll besetzt, und sauber gekleidete schmucke deutsche Mägde warteten bei Tafel auf. Waren die Speisen nun allerdings nicht mit denen bei einer Mahlzeit im Clublocale des deutschen „San-Francisco-Vereins“ in San Francisco zu vergleichen, so muß ich doch gestehen, daß sie unbedingt das Beste boten, was ich noch in Oregon genossen hatte, in welchem Lande die Köche ihre Gerichte sonst nicht nach einem Hamburger Küchenzettel zuzubereiten pflegen.

Nach beendeter Mahlzeit erkundigten wir uns, wo wir den Doctor Keil finden könnten, dem wir unsere Aufwartung machen wollten. Der Wirth zeigte uns des Doctors Wohnhaus, das von fern wie das Gehöft eines wohlhabenden niederdeutschen Landmannes aussah. Ueber einen langen Bretterstieg schreitend, schlugen wir den Weg nach der uns angedeuteten Wohnung ein. Unterwegs begegneten uns mehrere Arbeiter, die soeben von den Feldern kamen und augenscheinlich ein zufriedenes Leben führten: Mägde mit aufgeschürzten Kleidern, den Rechen in der Hand, und Knechte, die ihre Thonpfeifen gemüthlich rauchten, riefen uns einen deutschen Gruß zu. Alles hatte hier einen deutschen Zuschnitt: die von Bäumen beschatteten freundlichen Wohnhäuser, die Scheunen, Stallungen und wohlgepflegten Aecker, die Blumen- und Gemüsegärten, der weiße Kirchthurm von einer auf einem grünen Hügel erbauten Kirche; nur die Fenzen um die Felder erinnerten daran, daß wir uns hier in Amerika befänden.

Des Doctors Wohnung war von einem hohen weißen Staket eingeschlossen; stattliche breitgeästete Lebenseichen beschatteten sein Haus und der geräumige Hof hatte ein sauberes, nettes Aussehen. Die Hähne krähten und die Hennen zogen mit den Küchlein fleißig körnerpickend hin und her, Gänse schnatterten und einige wohlerzogene Hunde begrüßten uns mit freudigem Gebell. Eine freundliche deutsche Matrone wies uns auf die Frage, wo wir den Doctor finden könnten, nach dem Obstgarten, wohin wir sofort unsere Spaziertour fortsetzten. Eine Pracht war dieser, dessen nach Tausenden zählende Bäume mit den herrlichsten Früchten dermaßen beladen waren, daß man die Zweige vielfach mit Stangen hatte stützen müssen, um ihr Niederbrechen unter der Last des Obstes zu verhindern.

Bald fanden wir den berühmten Doctor, den „König von Aurora“, in nichts weniger als fürstlichem Anzuge eifrig beim Aepfelpflücken beschäftigt. Er stand hoch oben auf einer Leiter in Hemdsärmeln, cattunener Schürze und Strohhut und pflückte das rothwangige Obst in einen Handkorb. Mehrere Arbeiter waren unter dem Baume beschäftigt, die gepflückten Aepfel auszulesen und die besten derselben, wahre Prachtexemplare dieses in Oregon zur Vollkommenheit gedeihenden Obstes, in Kisten sorgsam zu verpacken. Als der Doctor uns bemerkte, stieg er von der Leiter herab und fragte uns ziemlich barsch, was unser Geschäft sei. Mein Reisegenosse überreichte ihm die mitgebrachten Empfehlungsbriefe, welche der Doctor aufmerksam durchlas, und stellte ihm dann meine Wenigkeit als „californischen Literaten und Mitarbeiter der Gartenlaube“ vor, der eigens deshalb nach Oregon gekommen sei, um ihn, den Herrn Doctor Keil, zu besuchen und seine Colonie in Augenschein zu nehmen, von der wir Beide so viel Rühmendes gehört hätten. Ohne des Doctors Antwort abzuwarten, fragte ich ihn, ob er, der Doctor, vielleicht ein Verwandter des Herausgebers der „Gartenlaube“ sei. Eine gelegenere Frage hätte ich offenbar nicht stellen können, denn der Doctor schien durch dieselbe augenscheinlich erfreut und wurde gleich außerordentlich liebenswürdig gegen uns. Die Verwandtschaft, auf welche ich angespielt hatte, bedauerte er jedoch nicht beanspruchen zu können; ich erfuhr von ihm, daß er Wilhelm Keil heiße und aus Bleicherode in Westphalen[1] gebürtig sei. Das Aepfelpflücken überließ der Doctor jetzt seinen Arbeitern und erbot sich, uns das Sehenswürdigste in der Colonie zu zeigen; über das Lebensversicherungsproject werde er zu gelegener Zeit mit Herrn Körner Rücksprache nehmen.

Der Doctor, welcher sich von jetzt an sehr redselig zeigte, war eine recht angenehme Erscheinung, ein Mann, der seine Sechszig zählen mochte, mit weißem Haar, breiter hoher Stirn und intelligenten Gesichtszügen. Kerngesund, groß gewachsen, von [95] kräftiger Natur und mit einer dominirenden Haltung machte er den Eindruck eines Mannes, der zum Herrschen geboren sei. Er schien es sich angelegen sein zu lassen, einen guten Eindruck auf uns zu machen; jedoch bemerkte ich öfter an ihm einen lauernden Blick, als gebe er sich Mühe, unsere Gedanken zu lesen. Der Doctor führte die Unterhaltung fast ganz allein, und es hielt schwer, dem Sinne seiner Rede zu folgen. Er sprach in einem salbungsreichen Predigertone mit einer fabelhaften Suade, meistens in ganz allgemeinen Sätzen, und wich allen directen Fragen geschickt aus. Wenn ich ihm zehn Minuten lang zugehört hatte, so war ich am Ende derselben oft nicht viel klüger als vorher. Besonders gewählt war seine Redeweise nicht, und er bediente sich häufig Wörter, halb englisch und halb deutsch, wie ungebildete Deutsch-Amerikaner zu thun pflegen.

Während wir durch den Obstgarten wanderten, über dessen Schönheit und praktische Anlage ich erstaunen mußte, gab uns der Doctor eine Vorlesung über Colonisirung, Ackerbau, Gärtnerei, Obstzucht etc., die er mit frommen Zwischenbemerkungen zu würzen liebte. Mit Stolz wies er darauf hin, daß alles Dieses sein Werk sei, und beschrieb, wie er die Wildniß in einen Garten verwandelt habe. Im Jahre 1856 sei er mit vierzig Nachfolgern als Abgesandter der communistischen Stammgemeinde von Bethel im Staate Missouri nach Oregon gekommen, um hier in dem damals wenig bekannten äußersten Westen eine Zweigcolonie zu gründen. Jetzt sei er Präsident sowohl von der Gemeinde zu Bethel als von der Colonie Aurora. Jene zähle gegenwärtig etwa vierhundert, die hiesige vierhundertzehn Seelen.

Als er zuerst diese Gegend betreten, hätte er das ganze Land, welches die jetzt so blühende Colonie Aurora besitze, von Sumpf und Urwald bedeckt gefunden. Statt sich aber auf den weiter südlich gelegenen Prairien zwischen fremden Ansiedlern niederzulassen, habe er einen Wohnsitz mit seinen deutschen Brüdern allein im Urwald vorgezogen; hier hätte er, der damals wenig bemittelt gewesen sei, genug freie Ländereien von der Regierung der Vereinigten Staaten als Heimstätten für seine Colonisten umsonst erlangen können und habe zugleich in dem Holze der Bäume ein Capital gefunden, das sich gleich verwerthen ließ. Zunächst hätte er ein Blockhaus gebaut zum Schutze gegen die damals in dieser Gegend feindlich gesinnten Indianer; dann habe er eine Sägemühle errichtet, Bauholz schneiden lassen und theils Häuser für seine Colonisten davon erbaut, theils damit einen einträglichen Handel mit seinen amerikanischen Nachbarn eröffnet, die, auf den Prairien wohnend, bald für ihren ganzen Holzbedarf auf ihn angewiesen worden wären. Das von Bäumen gelichtete Land habe er in Obstgärten und Aecker umgewandelt. Die besseren Obstsorten habe er zum Verkauf nach Portland und San Francisco verschifft, aus den sauren Aepfeln dagegen entweder Essig fabricirt, oder dieselben an die älteren Ansiedler verkauft, die sich bald krank daran gegessen hätten. Dann wäre er als Arzt zu ihnen gegangen und hätte sie gegen gute Bezahlung vom Fieber wieder curirt. Diesen Scherz erzählte der berühmte Doctor mit besonderm Wohlbehagen.

Nach und nach, fuhr der Doctor fort, habe sich die Kopfzahl seiner Colonie vergrößert; er hätte dann mit vermehrten Mitteln und Arbeitskräften eine Gerberei, eine Spinnerei, Webstühle, Mehlmühlen etc. eingerichtet, mehr Wohnungen für die Colonisten gebaut, die Waldungen gelichtet und die Sümpfe trocken gelegt, seine Obstgärten vergrößert, neue Farmen angelegt, für Verschönerungen Sorge getragen, eine Kirche und Schulhäuser gebaut, den in der Nähe der Colonie ansässigen Amerikanern ihr bestes Land für Spottpreise abgekauft etc. Alles betreibe er systematisch. Seine Colonisten verwende er stets zu solcher Arbeit, wozu sie ihm am tauglichsten schienen. Jeder finde für seine Fähigkeiten den angemessensten Platz. Wer nicht thue, was er wolle und wie er es anordne, der müsse wieder fort aus der Colonie. Widerspruch dulde er nicht. Er mache das beste Leder, die besten Schinken und ziehe das beste Obst in Oregon. Die Besitzungen der Colonie, welche er nach Kräften vergrößere, erstreckten sich bereits über zwanzig Sectionen (die Section über sechshundertvierzig Acker, gleich einer englischen Quadratmeile), und überall herrsche die schönste Ordnung auf denselben.

Unter derartigen Gesprächen durchwanderten wir den gegen vierzig Acker großen Obstgarten. Von den achttausend darin stehenden Bäumen werden jetzt bereits jährlich an fünftausend Scheffel ausgesuchte Aepfel und achttausend Scheffel der trefflichsten Birnen geerntet, und der Ertrag wächst von Jahr zu Jahr. Der Doctor wies wiederholt auf den Vorzug seiner Anlagen hin, im Gegensatze zu ähnlichen bei den Amerikanern. Diese ließen überall das Unkraut unter den Bäumen wuchern, wie es wolle, und von Ordnung oder gar von gefälligem Schmuck sei bei ihnen nicht die Rede. Er dagegen halte nicht weniger auf Sauberkeit und Ordnung, als auf Schönheit. Und so war es in der That! Reinliche Wege durchschnitten die Anlagen; frische Rasenplätze, Blumenbeete, reizende schattige Lauben begleiteten uns auf Schritt und Tritt. Lange Beete waren mit den prächtigsten Büschen von Johannisbeeren, Stachelbeeren, Himbeeren etc. bepflanzt, große Strecken mit Reihen von Rebstöcken besetzt, an denen einladend die saftigen Trauben hingen. Die Fruchtbäume standen alle nach Arten geordnet; hier viele Acker voll von Aepfelbäumen, dort andere mit Birnbäumen, Aprikosenbäumen etc. bepflanzt, darunter das Unkraut ausgerodet und der Boden rein geharkt, – Alles in schönster Ordnung. Ein Hofgärtner eines deutschen Fürsten hätte seine Freude daran gehabt!

Wir nahmen in einer schattigen Laube Platz, wo uns der Doctor seine Religion zum Besten gab. Bei ihm, sagte er, gelte kein besonderer Bücherglaube; er habe Protestanten, Katholiken, Methodisten, Baptisten, Christen von allen Sorten, auch Juden in der Colonie. Jeder könne glauben, was er Lust habe; Er predige aber nur den reinen Naturglauben, und wer darnach handle, der sei glücklich. Dann sprach er mit großer Breite über den Wohlstand der Colonie, der durch den Glauben an die Natur begründet sei, über Demuth, Nächstenliebe, Gemüth, Religion im Allgemeinen, und wieder über Natur und sich selbst, daß mir der Kopf davon zuletzt ganz wüst ward. Meine Zwischenfragen über die innere Organisation der Colonie hatte ich längst in Verzweiflung ganz fallen lassen, da der Doctor entweder gar keine oder ausweichende Antwort darauf gab. Seine Colonisten, betonte der Doctor, liebten ihn wie einen Vater und er sorge für dieselben. Beides war unzweifelhaft der Fall; die hohe Ehrfurcht, mit der die Colonisten, denen wir gelegentlich begegneten, vor dem „Doctor“ den Hut lüfteten (eine Begrüßungsweise, die in Amerika gar nicht Sitte ist), zeugte von ungemessener Hochachtung – uns grüßten dieselben als vornehme Fremde, die der Doctor mit seiner Gesellschaft auszeichnete, mit großem Respect –; und den außerordentlich blühenden Zustand der Colonie mußte Jeder, der dieselbe sah, zugeben. Daß der Doctor bei Alledem hauptsächlich für sich selbst gesorgt hatte, war dabei ein Hintergedanke, der sich Einem von selbst aufdrängte.

Als wir den Obstgarten verlassen hatten, zeigte uns der Doctor mehrere in der Nähe liegende, mit deutscher Ordnungsliebe bebaute ausgedehnte Kornfelder, welche mit freundlichen Wohnhäusern abgeschlossene Farmen bildeten. Der Durchschnittsertrag des Bodens, bemerkte er, betrage fünfundzwanzig bis vierzig Scheffel Weizen und vierzig bis fünfzig Scheffel Hafer pro Acker. Dann führte er uns in den angrenzenden Wald, nach einem Platze, wo, wie er sagte, die Feste der Colonie abgehalten würden. An einem mit Rasen bedeckten Hügel, der von einer Art Baldachin überdeckt und von einem Graben umschlossen war, machten wir Halt. Dieser sogenannte „Tempelhügel“ bildete den Ausläufer für eine Anzahl sich fächerartig von ihm im Walde verzweigender geradliniger Wege. Nicht weit davon bemerkte ich einen Tanzboden unter einem ringsum offenen Dache, auch eine Tribüne für die Musik. „Bei Volksfesten,“ erklärte der Doctor, „lasse ich Nachts alle jene vom ‚Tempel‘ sich fächerartig verzweigenden Wege mit bunten Laternen erleuchten und illuminire den Tempel, der dann in seiner Flammenpracht einen überaus imposanten Anblick gewährt. Wenn wir hier unser Maifest feiern, so ist das nach Dunkelwerden ein Schauspiel wie aus tausend und einer Nacht, und wenn dabei die Musik spielt und fröhlicher Gesang erschallt und das junge Volk sich beim Tanze vergnügt, so ist das eine wahre Freude! Auf den Tempelberg darf aber Niemand hinaufsteigen und kann es auch so leicht nicht thun. Warum, glauben Sie wohl, meine Herren?“ – fügte er fragend hinzu. Mein Freund Körner meinte, daß der Graben wohl die Ursache sei, über den man nicht leicht hinüberspringen könne, welcher Ansicht ich beipflichtete. – „Geradeso!“ – bemerkte der Doctor. „Dieser Tempelberg hat eine sinnige Bedeutung. Er stellt das souveraine Volkshaupt vor, dem Niemand auf den Kopf treten darf; – deshalb ist der Graben da.“

[96] Nach einem Spaziergang von mehreren Stunden langten wir bei des Doctors Wohnung an, wo er uns zu einem Glase selbstgemachten Weines einlud. Da man uns gesagt hatte, daß der Verkauf und Genuß von Wein und Spirituosen in der Colonie streng verboten sei, so war diese Einladung gewiß ein unerhörter Ausnahmefall. Der Wein, von dem er uns zwei Sorten vorsetzte, einen aus wilden Reben und den andern aus Johannisbeeren gemacht, war recht schmackhaft und wurde uns in der Apotheke credenzt. Hier brachte Herr Körner sein Lebensversicherungsproject nochmals geschickt vor. Der Doctor gab ihm Hoffnung, daß er darauf eingehen würde; doch wollte er sich die Sache gehörig überlegen und die Vortheile und Nachtheile der Speculation einer genauen Prüfung unterwerfen, ehe er eine definitive Antwort darauf ertheile. – Und hiemit endete unser Besuch beim „Könige von Aurora“.

Ehe wir die Colonie verließen, stellten wir noch allerlei Erkundigungen bei Mitgliedern derselben über ihre innere Organisation und Leitung an, deren Resultate und was ich sonst darüber vom Doctor Keil erfuhr, ich dem Leser nicht vorenthalten will.

Wünscht Jemand Mitglied der Colonie zu werden, so muß er zunächst sein ganzes Baarvermögen in die Hände des Doctor Keil niederlegen. Er wird dann vorläufig auf Versuch angenommen. Gefällt der Candidat dem Doctor, so kann er bleiben und wird Theilnehmer der Gemeinde; sollte dies nicht der Fall sein, so erhält derselbe beim Austritt sein eingezahltes Capital ohne Zinsen zurück. Wie lange er „auf Versuch“ in der Colonie arbeiten muß, hängt ganz und gar vom Doctor ab. Wenn ein Mitglied aus eigenem Antriebe wieder austreten will, ein Fall, der jedoch sehr selten vorgekommen ist, so erhält er sein eingelegtes Capital ohne Zinsen zurück und bekommt einen Prorata-Antheil von dem Verdienste, den die Colonie während der Zeit seiner Mitgliedschaft erzielt hat. Diesen schätzt wiederum der Doctor ab.

Alle gewöhnlichen Bedürfnisse des Lebens werden den Theilnehmern der communistischen Gemeinde unentgeltlich verabfolgt. Die gemeinschaftliche Casse hat der Doctor in Händen, der daraus alle Einkäufe bestreitet und auch den Verkauf der Ackerbau- und Industrie-Erzeugnisse der Colonie für dieselbe besorgt. Braucht Jemand einen Rock oder sonstige Kleidungsstücke, Mehl, Zucker, Tabak etc., so holt er sich, was er wünscht, unentgeltlich aus dem „Store“ (Vorrathshaus), das Fleisch ebenso vom Schlachter, Brod vom Bäcker etc.; Spirituosen werden nur bei Krankheitsfällen verabreicht. Dafür bestimmt der Doctor, wie sich jedes Mitglied zum Besten der Colonie beschäftigen soll; ob er sich als Ackerbauer, als Handwerker, gewöhnlicher Arbeiter oder wie sonst nützlich machen muß, und die Zeit und die Arbeitskraft des Colonisten gehört ganz dem Besten der Gemeinde – nach dem Dafürhalten des Doctors. Verheirathet sich ein Mitglied, so erhält dieses eine besondere Wohnung und Ackerland angewiesen, so daß die Familien auf den Farmen in der Ansiedelung zerstreut wohnen. Die Aeltesten der Gemeinde unterstützen den Doctor bei seinen Amtspflichten mit Rath und That.

Die Ländereien der Colonie sind sämmtlich in Doctor Keil’s Namen gerichtlich protocollirt worden, um, wie er sagt, Weitläufigkeiten und verwickelte Schreibereien zu vermeiden. Hierin soll jedoch vielleicht in Bälde eine Aenderung eintreten, damit die Mitglieder der Colonie im Falle von des Doctors Absterben ihren Antheil an den Ländereien etc. ohne Schwierigkeiten erlangen können. Würde der Doctor nächstens mit Tode abgehen, ehe die Landtitel umgeschrieben sind, so könnten dessen natürliche Erben das ganze Besitzthum der Colonie für sich in Beschlag nehmen und die Mitglieder der Gemeinde hätten das Nachsehen. Große Eile scheint der Doctor aber nicht zu haben, die Eigenthumsurkunden ändern zu lassen, obgleich dieses längst hätte geschehen sollen. In der Colonie heißt es natürlich, daß der ganze Grundbesitz etc. den Mitgliedern gemeinschaftlich gehört. Ob aber der Doctor im Stillen dieser Ansicht huldigt, möchte denn doch sehr fraglich sein.

Der Doctor Keil ist zugleich Seelsorger und unbeschränkter weltlicher Verwalter der Colonie Aurora und kann anordnen, mit Zustimmung der Aeltesten (die natürlich stets seiner Ansicht beipflichten), wie und was er will. Das sorgenfreie Leben, welches die meistens den niedrigen Ständen angehörigen und wenig gebildeten Mitglieder der Gemeinde führen, in der Niemand als der Doctor die Mühe nachzudenken nöthig hat, ist der Hauptgrund von dem ungestörten Fortbestehen der Colonie. Das eminente Organisationstalent, verbunden mit unbegrenzter Machtbefugniß, welches der mit Recht den Namen eines „Königs von Aurora“ führende Doctor Keil besitzt, und der allen Deutschen innewohnende Fleiß ist dabei die Ursache von der Blüthe dieses Gemeinwesens, das sich ein communistisches nennt, aber eigentlich nichts weiter als eine große Farm ihres talentvollen Gründers ist. Die Colonie Aurora hat ihre Schulen, ihre Kirche etc., – Zeitungen und Bücher, deren Auswahl und Anschaffen der Doctor besorgt, in beschränkter Zahl –, und an geselligen Vergnügungen, Musik, Gesang etc., fehlt es auch nicht. Neben einem leicht zu erwerbenden Lebensunterhalte genügt dies den Ansprüchen der Colonisten vollständig – und der gute Doctor Keil sorgt für den Rest.

San Francisco, December 1871.




Ein Geheimniß im Bierreiche.
Culturgeschichtliche Skizze von Fr. Hofmann.


Eine Stunde von Leipzig, in nördlicher Richtung, nach dem Schlachtfeld von Breitenfeld hin, liegt Eutritzsch, jetzt eines der Leipziger Vorstadtdörfer mit einigen Tausend Einwohnern, vielen städtischen Gebäuden, Gewerben und großen Fabrikanlagen. Dazumal aber, wo die Zimmerleute die Jahrzahl 1640 in den Tragbalken der Kneipstubendecke eingehauen, der noch jetzt im Erdgeschoß des Hauses steht, das wir uns heute zum Wallfahrtsziel ausersehen, war Eutritzsch ein richtiges Bauerndorf und das genannte Haus lag an der Heerstraße, denn es war ein Wirthshaus, und Dorf und Kneipe sollen sich durchaus nicht durch besondere Reinlichkeit hervorgethan haben. Auch hundert Jahre später scheint der Ort noch nicht viel reputirlicher ausgesehen zu haben, und dennoch fiel auf denselben das Lächeln eines seltenen Glücks. Der alte Dessauer, wie Se. Durchlaucht Fürst Leopold von Anhalt-Dessau bekanntlich kurzweg benannt wurden, kam an einem heißen Augusttage des Wegs daher und steuerte auf unsere Schenke los. Wir wissen zwar nicht, ob der hohe Herr auf der heillosen Straße gefahren oder geritten ist, nur das Eine steht urkundlich fest, daß er einen sehr großen Durst hatte. Diese schöne deutsche Gottesgabe paßte jedoch schlecht zu dem schauderhaften Trank, welchen der Wirth mit unterthänigstem Herzklopfen dem gestrengen fürstlichen Herrn darreichen mußte, denn er hatte nichts Besseres. Der leidige Bierzwang machte damals Wirthen und Trinkern das Leben sauer, und es geschah den Fürsten ganz recht, wenn sie selber einmal darunter zu leiden hatten. Der alte Dessauer besaß jedoch ein gar wackeres Gemüth, ihn dauerte die hiesige Menschheit mit ihrem erbärmlichen Getränk, und so verhieß er dem Wirth, ihm ein besseres Bier zu besorgen und die Erlaubniß dazu, es auch ausschenken zu dürfen. Und der hohe Herr hielt Wort, er ließ ihm „Gose“ senden und ward dadurch der Stammvater der Gosenbrüder, die in Eutritzsch und dem gesammten Leipziger Gosenbezirk ihn noch heute, nach fast anderthalbhundert Jahren, für das ihnen zugeführte Labsal mit ungeschwächter Dankbarkeit verehren.

Was ist nun diese Gose, welche so viele verständige Leute fast bis zur Begeisterung entzücken kann? Ein Weißbier, über dessen Geschichte und sonstige Umstände wir hiermit Alles berichten wollen, was wir darüber zu erforschen vermochten.

Dem Flüßlein Gose, das bei Goslar vorüber in die Ocker fließt, verdankt unser Weißbier Ursprung und Namen. Wie von manchem anderen Biere, zum Beispiel dem weltbekannten gelbgrünlich, wie die zusammengeflossene weimarische Landesfarbe, aussehenden Lichtenhainer (bei Jena), wurde auch von der Gose behauptet, daß sie ihre absonderlichen Eigenschaften nur dem Wasser des Flüßchens verdanke, aus welchem sie gebraut wurde. Trotzalledem gelang es in dem dessauischen Dorfe Glauditz ein Weißbier herzustellen, das als Gludscher Gose um das Jahr 1730 seinen Einzug in und um Leipzig hielt, denn nichts weniger, als diese Gludscher Gose, das Erzeugniß seines eigenen Landes, war es, was der alte Dessauer in der darnach benannten „Gosenschenke“ zu Eutritzsch eingeführt hat.

[97]

In der Gosenstube zu Eutritzsch.
Nach der Natur aufgenommen von G. Sundblad.

[98] In welchem Grade diese Gose die Gemüther der Leipziger für sich einnehmen konnte, dafür zeugt ein im Jahr 1780 geschriebenes Gedicht „Der Gosenbruder etc.“, in welchem unter Anderem

„Auch Frauenzimmer mit bei blanken Gosenflaschen,
Jung, niedlich, schön frisirt, mit seidnen Stricketaschen“

vorkommen. Wenn nun ein Reisender um dieselbe Zeit erzählt: „Seithalb Gohlis liegt ein berufener Luftort, der vorzüglich zum Kirchweihfeste von Tausenden besucht wird, Eutritzsch genannt. Der Weg dahin ist höchst traurig, das Dorf selbst kothig, die Schenke eine wahre Kneipe. Aber der Ruf der guten Gose und Bratwürste lockt dennoch Menschen in Menge in diesen – –“, so kann dies dem Ruhm der Gose durchaus keinen Eintrag thun, sondern beweist nur, daß sie schon damals in allen Ständen Leipzigs ihre Verehrer hatte.

Um so härter war der Schlag, welcher durch die Napoleon’sche Grenzsperre plötzlich die große Gosengemeinde traf. Die gelbe Quelle der Gemüthlichkeit war verstopft, Wirthe und Trinker standen da voll unbeschreiblichen Jammers.

Aber – „Gott verläßt keinen Deutschen!“ – Zur selben Zeit, da Napoleon sich so schwer an Leipzig versündigte, setzte ein Leipziger Kaufmann sich in den Besitz des Ritterguts Döllnitz bei Halle und ward ein neuer „alter Dessauer“ für seine nach Gose lechzenden Mitbürger. Johann Gottlieb Goedecke war sein Name. Zu jenem Besitzthum gehörte eine kleine Weiß- und Braunbierbrauerei und zu dieser ein Mann von Goldeswerth, der Braumeister Ledermann, dem es gelang, hinter das Geheimniß der Herstellung der Gludscher Gose zu kommen. Alle Gosenbrüder lebten wieder auf, Jubel erfüllte Leipzig, Haus um Haus erweiterte sich die Döllnitzer Brauerei, um den riesenhaft ansteigenden Bedarf zu befriedigen, und als Napoleon seine gerechte Strafe für seine Missethat gegen die Gosenbrüder an Ort und Stelle empfangen und seine Schlagbäume niederfielen, hatte die Gludscher Gose alle ihre Getreuen eingebüßt und die Döllnitzer behielt das Feld und behauptet es bis auf den heutigen Tag.

Das ist die Geschichte der Gose. Nun zu ihr selbst. Für das große Publicum ist die Gose ein Doppelweißbier von Weizen, Gerste und Hopfen, dem, nach der Versicherung der Brauherren, keinerlei schädliche Ingredienzen beigemischt sind, und das schon durch seine äußere Erscheinung die staunenden Augen des Fremden auf sich zieht, denn es wird auf eine größere Art Bocksbeutel mit sehr langen Hälsen gefüllt, in welchen es die Hefe nach oben treibt, so daß letztere die Flasche schließt und den Korkstöpsel unnöthig macht, der deshalb bei diesen Gosenflaschen auch gar nicht in Anwendung kommt.

Der Sachkenner dringt in das Wesen des Getränkes ein und unterscheidet es nach dem Alter: Gose von allzugroßer Jugendlichkeit bezeichnet er als Birnbrühe, die gar zu alte als Essig, die aber, die in der rechten Mitte steht, begrüßt sein strahlender Blick als Limonade mit Geist, und zwar mit dem fröhlichen Geist des Weins. In der That ist diese Mittelgose in ihrer allerdings sehr kurzen „besten Zeit“ ein ebenso liebliches als gesundes Getränk, das nicht blos den Sommerdurst auf das Angenehmste löscht, sondern auch im Winter trefflich bekommt. Die liebenswürdigste Wirkung äußert diese Mittelgose auf das Gemüth: es überkommt den frommen Trinker am Stamm- wie am Wandelgasttische das Gefühl einer ungeheuren Heiterkeit und Gutmüthigkeit, nur fröhliche Rede belebt die Tische, das Auge begegnet überall lachenden Augen, das Blut rollt so leicht durch die Adern, kurz, wir empfinden das wohlthuende Gefühl einer Seele, die durch keine körperliche Belästigung gestört wird, sondern vielmehr im Behagen jeder körperlichen Erleichterung schwelgt. Ja, nicht „das Kaiserreich“ – wie nun alle Welt einsieht, – sondern, wie anderthalbhundertjährige Erfahrung bezeugt, „die Gose ist der Friede!

Wenn nun der Spürsinn des Fremden etwa dennoch in einem Winkel der Gosenschenke zerschlagene Stuhlbeine und Aehnliches auffinden sollte, so rührt dergleichen nur von der Birnbrühe und dem Essig her, die allerdings geeigenschaftet sind, die Milch der frömmsten Denkungsart in gährend Drachengift zu verwandeln. Und das Schlimmste ist, daß der einzige Retter in der Noth, welche die Gose in ihrem äußersten Jugend- und Alterszustand dem Trinker bereitet, selbst wieder ein höchst gefährliches Brüderpaar ist: der Kümmel und der Nordhäuser, welch letzterer in der altberühmten „Kümmelapotheke“ zu Eutritzsch noch vor dem jüngsten Zwangsbesuch der Franzosen in Deutschland schon als „Maison du Nord“ credenzt wurde. Der üble Ruf, in welchem bei Unkundigen die Gose im Allgemeinen steht, rührt blos von dem Viergespann von Getränken her, deren Namen wir dem Leser deshalb gesperrt in die Augen fallen lassen, als wie auf einer Warnungstafel. Dagegen lobt selbst die Limonade sich einen feinen Begleiter für den Heimweg, und das ist das Knickebein, ein Liqueurchen mit einem Eidotter, das selbst Frauenlippen wohl ansteht und die Gemüthlichkeit der Gosenbrüder mit einem bis nach Hause ausdauernden Feuer verstärkt.

Angesichts des außerordentlichen Bedarfs der beiden Gosenhauptstädte Leipzig und Halle nebst weiter Umgegend liegt die Frage nahe: Warum läßt die rührige Concurrenz dieses Feld unbetreten? Antwort: Das Gosenbraugeheimniß existirt wirklich, ist keine Fabel der Speculation. In der That wurde auch der Versuch gemacht, durch chemische Forschung hinter das Geheimniß zu kommen, der Leipziger Brauherr Naumann wendete mehrere Tausende von Thalern daran, aber alle Erforschungen und Brauversuche führten nicht zum Ziel. Naumann stellte allerdings ein der Gose ähnliches Weißbier her, aber die Gose selbst war es nicht, die „Limonade mit Geist“ war nicht zu erreichen, und man ließ es bei dem Versuch bewenden. Worin nun aber früher das Glauditzer und jetzt das Döllnitzer Geheimniß besteht, das ist eben das Geheimniß, das Niemand erräth, weil es in der einen Familie ruht, die durch dasselbe steinreich geworden ist. Man sagt: wenn das Bier eine genau bestimmte Zeit lang im Sieden gewesen sei, werde ein Pulver hineingeschüttet, dessen Bestandtheile der Gose ihren absonderlichen Charakter verleihen. Das ist recht schön, reißt jedoch in den Vorhang des Geheimnisses nicht das kleinste Loch.

Dagegen ändert dies natürlich das Verhältniß zwischen der Brauerei und den Schenkwirthen. Wenn bei allen Lager- und Versandbier-Brauereien die Concurrenz die Zügel des Consums führt, ist der einzige Gosenproducent Alleinherrscher in seinem Bereich, und es ist eine Gnadensache, eine ganz besondere Vergünstigung von seiner Seite, wenn er einen neuen Consumenten zum Vertrieb seiner Waare zulassen will. Jeder der jetzt einundzwanzig Gosenwirthe in und um Leipzig bezieht ein bestimmtes Quantum nach der Durchschnittszahl seiner Gäste, und in der Regel nie mehr und nie weniger. Es ist eine sehr anerkannte Gefälligkeit, wenn der Gosenverleger bei schlechtem Wetter, wo der städtische Vertrieb stärker ist, als auf dem Lande, oder bei schönem Wetter, wo der umgekehrte Fall eintritt, dem augenblicklichen Mehrbedürfniß Rechnung trägt. Um auch Zahlen sprechen zu lassen, so berichten wir zum Beispiel aus der Eutritzscher Gosenschenke, daß sie stets 6-7000 Flaschen im Gang hat und durchschnittlich in der Woche 13–1500 und im Jahre nahe an 70,000 Flaschen verschenkt, und dabei ist sie noch nicht die stärkste Vertriebsstelle. In Döllnitz braut man jede Woche vier Mal und stets zwischen 22–25 Viertel, in der Woche also etwa 90 Viertel. Ein Viertel enthält etwa 210 Flaschen. Das Gebräude zu 90 Viertel (à = zwei Tonnen) wöchentlich angenommen, würde dies 982,800 Flaschen geben. Da aber manche Gebräude stärker ausfallen, so ist die Annahme der runden Zahl von einer Million Flaschen jährlichen Gosenconsums gerechtfertigt.

Ebenso schwierig als wichtig ist die Behandlung der Gose von Seiten des Schenkwirths. Er bekommt dieselbe noch warm in Fässern von zwei Tonnen oder zweihundert preußischen Quart, und zwar erfordert der Transport auf dem vier und eine halbe Stunde langen Wege von Döllnitz nach Leipzig namentlich in heißer Sommerszeit außerordentliche Vorsicht. Sobald die Gose im Brauhaus transportfertig ist, wird sie auf die Fässer gefüllt und hier erst wird jedem Fasse die entsprechende Masse Hefe zugesetzt. Diese treibt nun, je nach dem Grade der Luftwärme, mehr oder weniger mächtig und würde das Faß zersprengen, wenn dem nicht durch eine kleine verschließbare Oeffnung neben dem Spundloch vorgebeugt würde. Diese Oeffnung heißt das Zwickloch und es muß während der Fahrt im Sommer mehrmals gelüftet werden, weniger im Frühling und Herbst, und nur an kalten Wintertagen gar nicht; an solchen geschieht’s auch, daß die Gose erkaltet, im Sommer kommt sie in der Regel noch warm in Leipzig an. Ebenso kommt auch das Zersprengen der Fässer in heißer Jahreszeit nicht selten vor.

[99] Ist das Faß glücklich im Keller angelangt, so wird das Zwickloch verstopft und der Spund geöffnet, damit die Hefe austreten kann. Sobald die Hefe abgestoßen hat, d. h. wenn keine mehr austritt, und das geschieht ebenfalls je nach der Temperatur langsamer oder rascher, so läßt man die Gose in Wannen laufen und füllt aus diesen sie in die Flaschen über.

Liegt endlich die Gose auf Flaschen im Keller, so gilt es für den Gosenwirth, nun die rechte Zeit des Reifwerdens derselben abzuwarten, und reif ist sie, sobald sie die Weinsäure angenommen hat. Dies geschieht natürlich ebenfalls im Sommer rascher, als im Winter, wo oft zehn bis zwölf Wochen dazu gehören, ehe aus der Birnbrühe Limonade geworden ist. Die größte Gefahr für die Gose jeden Grades ist die Gewitterschwüle: ein einziges starkes Gewitter kann alle Gose des Gewitterstrichs in Essig verwandeln, und es kommen auch diese Fälle vor, daß man das so mit einem Schlage verdorbene Getränk massenhaft fortlaufen lassen muß. In dem langhalsigen großen Bocksbeutel steigt nun die Hefe nach oben und verschließt die Flaschen, indem sich ein starker Hefenstöpsel bildet, der auch der ferneren Entweichung der in der Gose reichlich enthaltenen Kohlensäure einen Damm setzt. Wie diese Art Flaschengose in Leipzig, herrscht in Halle die sogenannte Stöpselgose vor. Um nämlich von dem Kohlensäurereichthum der Gose nichts entweichen zu lassen, füllt man dort die Birnbrühe in Champagnerflaschen und bringt sie unter festen Korkverschluß. In diesem Kerker entwickelt sie sich zur feinsten „Limonade mit Geist“, die ebenfalls ihre Anbeter hat und verdient.

Der Leipziger lobt sich die freie Tochter der langhälsigen Flasche und behauptet, daß selbst der Luftzug im Keller von Einfluß auf den Inhalt der Flaschenreihe sei, über die er hinstreiche. Giebt es doch Gosentrinker von so feiner Zunge, daß sie den Platz im Keller angeben, an welchem ihre Gose gestanden, ob im scharfen Zug, ob daneben oder im Winkel.

Mehr als jeder andere Wirth muß der Gosenwirth auf ein bestimmtes Publicum rechnen können, und von großem Werth ist für ihn ein wohlbesetzter Stammtisch. Die Gäste an diesem erhalten die Gose stets nach ihrem Geschmack, und dieser Geschmack ist wieder sehr verschieden: er reicht von der Grenze der Birnbrühe bis zu der des Essigs, hält sich aber vornehmlich an die edle Mitte, die ihm allezeit gesichert bleibt. Der Wandel- und Sonntagsgast wird auch in die beiden ersteren Gebiete verwiesen, und das allein trägt die Schuld daran, wenn an solchem Sonn- und Kirmestage die Gose einmal nicht der Friede ist.

Betreten wir, zu unserer Belohnung nach diesem Gange durch die Geschichte und Charakteristik der Gose, den alten Gosentempel selbst, die Stube im Erdgeschoß der alten Gosenschenke, die den schlimmsten Rest des dreißigjährigen, den siebenjährigen und den Franzosen- und Preußenkrieg überstanden hat. – Wir gelangen in die alte niedrige, aber sehr geräumige Schenkstube durch die Thür, welche sich im Hintergrunde unserer Illustration rechts neben dem großen Wappen öffnet. Gleich zur Rechten, durch einen Bretterverschlag gegen den Luftzug geschützt, thronen um den mächtigen ehrwürdigen Eichentisch und unter dem Uhrschranke die Braven des Stammtisches. In der Ecke links führen einige Treppen auf die Empore des Schankcabinets, welches die Gaststube mit der Küche verbindet. Von dem gediegenen Manne am Tische zur Linken, der soeben seine Stange füllt, kann der Neuling etwas lernen. So hält der Sachverständige seine Flasche, um genau sehen zu können, wann die Hefe auf dem Flaschengrunde sich in Bewegung setzt. Neigte der Einschenkende die Flaschenmündung nur noch ein Weniges tiefer, so würde die Hefe sich auf den Weg machen und mit ihrer Trübe und Dicke Farbe und Geschmack der ganzen Stange verderben. Auf dem Tische zur Linken liegt eine Zeitung, deren Redacteur einen Ehrenplatz am Stammtische behauptet. An eine geschäftliche Sitte des Hauses erinnert uns Bruder Studio neben der Säule des Vordergrundes. Es hilft dem Gedächtnisse nach und erleichtert die Rechnung, daß der Kellner keine unbezahlte Flasche vom Trinkertisch wegnimmt. Wir sehen daher, daß der akademische Zecherkreis vor der Hand „sieben Gosen“ vertilgt hat, falls nicht an der andern Tischseite eine ähnliche Niederlage bestehen sollte. Das schon erwähnte Wappen im Hintergrunde ist ein Carnevalsgeschenk; auch die Gosenbrüder erschienen einmal im großen Leipziger Narrenfestzug, und die Inschrift ihres Wappens, „Gosi fan duttig“, belehrt die Menschheit, daß die Gose den Verstand wackelig mache.

Wer aber ist’s, den die alte Dorfkneipe so hoch verehrt, daß sie sein Bild aufhängt? Da seht ihn, den alten Dessauer, da schaut er herab von der Säule, wie er leibte und lebte, und freut sich der braven Jungen, die zu seinen Füßen so kräftig in seinem Leibtrunke arbeiten, und der lieblichen Schönen, denen derselbe ebenfalls so gut schmeckt, und der Alten am Stammtische und der ganzen gosefröhlichen Welt. Es giebt viele Denkmäler, die mehr kosten als dieses Oelbild; aber nur wenige sind harmloser verdient und werden von fröhlicheren Menschen in Ehren gehalten, als dieses des Stammvaters der Gosenbrüder in ihrem Eutritzscher Paradiese.




Blätter und Blüthen.


Für alle Fabrikanten und Industrielle. Der letzte große und in seinen Folgen so herrliche Krieg, der dem übermüthigen französischen Volk seinen Standpunkt in außerordentlich praktischer Weise klar machte, hätte für dasselbe wohlthätig wirken können, wenn es ein klein wenig Verstand mehr und ein klein wenig Arroganz weniger besessen. Die Maßnahmen aber, die sie ergriffen, um ihrem thörichten Revanche-Geschrei Ausdruck zu geben, zeigen nur, daß sie, da sie im Großen Nichts verrichten konnten, es im Kleinen beginnen wollten. Die perfide Verfolgung der Deutschen in Frankreich, und besonders in Paris, sollte uns strafen, straft die kurzsichtigen Menschen aber nur selber, und wenn es auch den Einzelnen vielleicht hart traf, so kann und wird doch das große Ganze in Deutschland sicherlich Nutzen daraus ziehen.

Es ist eine unleugbare Thatsache, daß die Franzosen in Technik und Industrie außerordentlich weit sind und in vielen Fächern mit der ganzen Welt concurriren können, ja in einzelnen sogar unübertroffen dastehen – ebenso aber auch, daß Tausende von Artikeln ebenso gut in Deutschland angefertigt werden, und nur deshalb in Deutschland bisher noch nicht so gewürdigt wurden, weil die Fabrikanten in Selbstverblendung französische oder englische Etiquetten auf ihre Waaren setzten, und dadurch den französischen Händlern mit in die Hände arbeiteten.

Wir waren eben noch keine Nation, und das wird, seitdem wir eine solche geworden, und zwar eine der mächtigsten in ganz Europa, jetzt sicher anders werden. Nichtsdestoweniger leiden wir augenblicklich noch an den Folgen, und das können am besten unsere im Ausland lebenden und ansässigen deutschen Geschäftsleute bezeugen.

Durch die übermüthige und freche Weigerung verschiedener französischer Fabrikanten, für die Zukunft mit deutschen Häusern ihre alten Verbindungen aufrecht zu erhalten – eine Weigerung, die nur auf der bodenlosen Thorheit und Unwissenheit des Volkes basirt, das sich bis jetzt „das große“ nannte, und unverschämt genug ist, es selbst jetzt noch zu thun, kommen wir doch etwas zur Selbsterkenntniß. Besonders die Deutschen in den überseeischen Ländern suchten sich am schnellsten von Frankreich zu emancipiren. Sie hatten unsere kleinlichen Ansichten von daheim schon lange abgeschüttelt und fühlten am ersten den mächtigen Umschwung, der zu Gunsten Deutschlands draußen im Ausland stattfand, als dieses plötzlich die Mähne schüttelte, und mit der starken Pranke den frechen, ewig hetzenden Feind zu Boden schlug.

So gern sie aber auch jetzt dem Vaterland die Tausende, ja Millionen von Thalern zuwenden möchten, die sonst nach Frankreich hineinflossen, weil ihnen dort der Einkauf so erleichtert wurde, so stellte sich ihnen doch eine unerwartete Schwierigkeit in den Weg.

In Paris fanden sie früher Alles, was sie brauchten, und wenn sie es auch zuweilen etwas theurer bezahlen mußten, wurde ihnen doch das Umhersuchen im Land und damit viel Geld, besonders aber noch kostbarere Zeit erspart. Jetzt möchten sie nicht mehr nach Paris, sehen sich aber trotzdem in vielen Fällen gezwungen, die Hauptstadt Frankreichs wieder aufzusuchen, weil sie die Quellen nicht kennen, an denen sie hier in Deutschland zahllose Artikel genau so gut und viel billiger kaufen könnten.

Dazu fehlt eben ein Adreßbuch, das ihren Bedürfnissen entspricht und ihnen in faßlicher Uebersicht ein Verzeichniß sämmtlicher deutscher industrieller Unternehmungen und Fabriken nicht allein, sondern auch speciell deren Fabrikate und den Wohnort ihrer Agenten in den großen Städten Deutschlands giebt.

Ein großes Adreßbuch des Handels-, Fabrik- und Gewerbestandes existirt allerdings und ist durch die Verlagshandlung der Herren C. Leuchs und Compagnie in Nürnberg herausgegeben worden, aber für diesen speciellen Zweck in einer Hinsicht zu umfangreich, indem es, nach Regierungsbezirken eingetheilt, auch zahlreiche Fächer umfaßt, die den Kaufmann gar nicht interessiren und durch die er sich die Bahn suchen muß, andererseits aber wieder nicht ausführlich genug, da im Register der Waaren die verschiedenen Fabrikate nicht speciell, zum Beispiel Baumwoll- und Halbwollwaaren, angegeben sind und die Namen der Agenten gänzlich fehlen.

Die genannte Verlagsfirma hat sich aber jetzt entschlossen, ein allein für diesen Zweck speciell zusammengestelltes Adreßbuch herauszugeben, das aber in seiner Ausführung nicht möglich ist, wenn unsere deutschen Fabrikanten und Industriellen nicht dadurch selber die Hand mit bieten, daß sie von allen Seiten nicht allein ihre Adresse, sondern unter nachfolgendem Schema auch die Einzelheiten ihrer Artikel, wie den Wohnort ihrer Agenten einschicken.

Die Anordnung des Adreßbuchs wird nach dem Rath eines darin [100] vollkommen befähigten Mannes, der selber ein bedeutendes Geschäft in Porto-Alegre (Prov. Rio-Grande in Brasilien) besitzt und hier dafür die Einkäufe besorgt, Herrn Richard Huch in Braunschweig, getroffen werden, also einfach und praktisch sein. Trotzdem erfordert es eine schwere und umfangreiche Arbeit; aber der Nutzen, den es unserer deutschen Industrie und damit dem ganzen Vaterlande bringen wird, liegt auch auf der Hand, und besonders ist es zu wünschen, daß sich auch Oesterreich, das wir aus vollem Herzen mit zu Deutschland rechnen, daran betheiligen möge.

Die Adresse der Verlagsbuchhandlung, an welche die verschiedenen Herren Fabrikanten und Industrielle die näheren Angaben sobald als möglich einsenden mögen, ist die schon oben angegebene: Herren C. Leuchs u. Co. in Nürnberg – Verlagsbuchhandlung. Die Art, in welcher es zu geschehen hat, wird durch ein paar Beispiele klar.

Name: Adolph Xmann.
Wohnort: Zwickau.
Fabrikat: lederne Handschuhe.
Agent in Hamburg: N. N.
 - in Paris: N. N.
 - in London: N. N.
Stand zur Messe in Leipzig: –

Name: Julius M.
Wohnort: Dresden.
Fabrikat: künstliche Blumen.
Agent in Hamburg: N. N.
 etc.
Stand zur Messe in Leipzig: –

Name: Karl Z.
Wohnort: Mühlhausen.
Fabrikat: gedruckte Baumwollenwaaren,
 als Calicots, Jacconas.
Agent in Hamburg: N. N.
 - in London: N. N.
 etc.
Stand zur Messe in Leipzig: –

Nur durch eine allgemeine und rasche Betheiligung der verschiedenen Industriellen, die ja auch in ihrem eigenen Interesse liegt, kann etwas wirklich Tüchtiges rasch geschaffen werden. Dann erreichen wir aber auch den Zweck, dem Vaterlande jene enormen Summen zum großen Theile zuzuwenden, die bis dahin in’s Ausland strömten, und nur von solchem rein nationalen Gefühle ausgehend, hat sich auch Ernst Keil freundlich erboten, dieser Aufforderung die Spalten seiner Gartenlaube zu öffnen.

Braunschweig, im Januar 1872.

Friedrich Gerstäcker.




Aber was bewegt denn uns? Sowie der Aufsatz: „Wer bewegt die Uhren?“ in Nr. 36, 1871, durch den früheren Artikel über „das Wunder in der Westentasche“ angeregt wurde, so wurde ich durch ersteren veranlaßt, obige Frage aufzuwerfen, und werde versuchen sie zu beantworten.

Was ermöglicht uns, uns zu bewegen? – Unter den Lesern der Gartenlaube wird wohl kaum Jemand sein, der nicht schon eine Dampfmaschine arbeiten sah: der Kessel wird mit Kohlen geheizt, der erzeugte Dampf in die Maschine geleitet, die dann die gewünschte Arbeit verrichtet. Kessel und Maschine dienen also nur dazu, die durch die Kohlen erzeugte Wärme in productive Arbeit zu verwandeln. Je mehr die Maschine leisten soll, desto mehr Kohlen müssen verbrannt werden, um unter dem Kessel größere Hitze und in Folge dessen mehr Dampf zu schaffen. Es besteht also ein Verhältniß zwischen der durch die Verbrennung der Kohlen hervorgebrachten Wärme und der durch die Maschine verrichteten Arbeit. – Die Wissenschaft weist nach, daß dies Verhältniß constant ist und nur variirt durch die Unvollkommenheit der Apparate, die wir anwenden, um Wärme in Arbeit zu verwandeln. Man kann oft sagen, daß so und so viel Wärme eine bestimmte Quantität Arbeit repräsentire, resp. durch geeignete Apparate in dieselbe umgesetzt werden könne. Umgekehrt kann aber auch die Arbeit in Wärme umgesetzt werden, wie heißgelaufene Radachsen, Sägeblätter etc. zur Genüge beweisen.

Was die Verrichtung von Arbeit anbetrifft, so gleicht unser Körper nun der Dampfmaschine. Er kann nur arbeiten, wenn er geheizt wird, nicht mit Spirituosen, sondern mit sogenannten combustibeln Nahrungsmitteln. Diese, in den gesunden Organismus eingeführt, machen im Blute einen vollständigen Verbrennungsproceß durch, der mehr oder weniger lebhaft ist, je nachdem der Körper mehr oder weniger angestrengt wird. Sie vermitteln dadurch den zur Erhaltung des Lebens nöthigen Stoffwechsel und erzeugen im Körper die sogenannte thierische Wärme. Die Verbrennung, der Stoffwechsel und in Folge dessen die Erwärmung des Körpers richten sich, wie bei der Maschine, nach der Arbeit, die der Körper leistet. Bei großen Anstrengungen wird auch diese Erwärmung außergewöhnlich groß. Der Körper wird erhitzt und gebraucht zum Ersatz wieder mehr Nahrungsmittel als ohne die Arbeit. Daher steht das Bedürfniß nach Nahrungsmitteln, vulgo Appetit, im Verhältniß mit der körperlichen Arbeit. Werden dem Körper keine neuen Nahrungsmittel zugeführt, so nimmt seine Arbeitsfähigkeit immer mehr ab, bis sie schließlich mit der Wärme zugleich aufhört. Also die Wärme ermöglicht uns unsere Bewegungen.

Welcher Art sind nun die Nahrungsmittel, die, wie wir eben gesehen, in uns die thierische Wärme hervorbringen? – Sie rühren von Pflanzen oder Thieren her. Da Letztere sich aber auch wieder von Pflanzen nährten, so ist das Pflanzenreich ausschließlich der eigentliche Urquell unserer Nahrungsstoffe. Die Erfahrung lehrt uns nun, daß keine Pflanze ohne Sonnenlicht und Sonnenwärme gedeihen kann. Unter dem Einfluß der Sonne vollzieht die Pflanze den Proceß der Reduction der in der Luft enthaltenen Kohlensäure, das heißt sie zersetzt einen durch Verbrennung entstandenen Körper in seine Urstoffe und macht diese dadurch fähig, nochmals zu brennen, um Wärme hervorzubringen. Wir können also jede Pflanze als ein Magazin ansehen, in dem die Sonne Theilchen von ihrer Wärme in greifbarer Form aufgespeichert hat, die durch Verbrennung jederzeit wieder entfesselt und als Wärme von unseren Sinnen wahrgenommen werden können. So läßt sich jede Wärme-Erzeugung, auch die unseres Körpers, mittelbar auf die Sonne zurückführen.

Also was bewegt uns? – Antwort: Der Sonne Alles belebender Strahl.

Fr. G. in Hamm.




„Die deutschen Vermißten jenseits des Oceans“ betreffend, müssen wir die Bitte aussprechen, uns mit neuen Anfragebriefen nicht weiter zu bedrängen. Seitdem wir durch den Ausbruch unseres Kriegs gegen Frankreich in die Nothwendigkeit versetzt wurden, unseren Kämpfern im Feld und später den Kriegs-Vermißten alle Aufmerksamkeit und Theilnahme zuzuwenden, und von den überseeischen Verschollenen nur wenige ganz besondere Fälle zu berücksichtigen, hat sich bei uns ein Stoß von nahe an sechshundert Anfragebriefen aufgethürmt. Der Abdruck aller dieser Briefe ist selbst im gedrängtesten Auszuge eine Unmöglichkeit, auch wenn der Herausgeber der Gartenlaube ein Opfer von mindestens sechstausend Thalern daran wenden wollte, um durch Halbbogenbeilagen die Veröffentlichung derselben zu beschleunigen, ohne durch Benutzung des Blätter- und Blüthenraums dazu die Abonnenten in ihren gerechten Ansprüchen an unser Blatt zu verkürzen. Bei näherer Prüfung dieser Briefmasse stellt es sich aber auch heraus, daß wohl einige Hunderte derselben die Hülfe der Gartenlaube entbehren können. Das sind vor Allem Diejenigen, welchen die Mittel zu Gebote stehen, mit Hülfe der Gesandtschaften und Consulate des deutschen Reichs der Spur ihrer Verschollenen selbst nachzuforschen, dann Diejenigen, eine nicht geringe Zahl, deren Briefe es zwischen den Zeilen verrathen, daß nur die Bequemlichkeit, welche die Gartenlaube bietet, sie bewogen hat, jetzt einmal sich nach Verwandten[WS 2] umzusehen, nach denen sie seit Jahren nicht gefragt haben.

Anfragebriefe dieser Art legen wir bei Seite. Dagegen wird die Gartenlaube ganz besonders Diejenigen berücksichtigen, die sich nicht selbst helfen können, und dann Diejenigen, für welche sie, nachdem alle Versuche mißlungen, als letzter Weg zum Ziel übrig bleibt. Mit der Fortsetzung dieser Liste wird begonnen, sobald die Todeserklärung unserer vermißten Soldaten uns von unserer Pflicht für sie befreit.




Kleiner Briefkasten.

R. Fr. in Leipzig. Wir haben von den geradezu genialen Zeichnungen des Frankfurter Malers Herrn Hendschel bereits Kenntniß genommen, noch bevor sie hier ausgestellt waren, und freuen uns, schon demnächst einige Proben derselben unseren Lesern im Holzschnitt mittheilen zu können.

K. Gl. in Wien. Ueber Grillparzer haben wir schon im Jahrgang 1860 eingehend geschrieben und müssen deshalb Ihr freundliches Anerbieten ablehnen. Ueberdies aber werden wir in einer der nächsten Nummern einen zweiten Artikel über den genialen Dichter bringen, auf welchen wir Ihre Aufmerksamkeit heute schon lenken wollen.

M. in Geldern. Dank für Ihre Freundlichkeit! Aber lassen wir den Menschen schimpfen, so viel er will. Wer bereits wegen Stempeldefraudation dem Gericht verfallen war, soll doch nicht namentlich noch als „Feind der Gartenlaube“ durch uns weltbekannt werden?

S. in Reichenberg. Ihr Couvert vom 24. Nov. v. J., welches zwei Gulden für Chicago enthalten sollte, kam hier leer an.

H. L. in Stettin. Nehmen wir sehr gern auf, wenn Sie zugleich den Beweis der Authencität liefern.

O. G. in Breslau. Das schöne Gedicht „O Gott, wie blaß sind deine Wangen!“ ist von Moritz Hartmann und in Nr. 10 des Jahrgangs 1863 abgedruckt.

C. S. in Asch. Werden sehr gern weiter befördern.




Für unsere abgebrannten Landsleute in Chicago


gingen ferner ein: Gewerbeverein in Oschatz 10 Thlr.; von vier Betheiligten durch Herm. Behncke in Goldberg 9 Thlr.; Amtsmaurermeister Jost und Papierf.-Director Rutha in Königstein 2 Thlr.; Diemer in Mainz 20 Ngr.; Sammlung des Gemeindevorstandes E. Seeliger in Ober-Cunnersdorf 2 Thlr. 9 Ngr. 1 Pf.; C. K. Ottomanische Bahnen-Inspection 20 Franken; Stadtrath in Pegau 9 Thlr. 10 Ngr.; Wittwe Metsch in Torgau 1 Thlr.; Gewerbeverein in Ilmenau 5 Thlr.; Sammlung des Brauereibesitzers M. Grünewald in Meißen 26 Thlr.; S. in Spremberg 1 Thlr.; Gemeinde Hellingen bei Coburg 2 Thlr. 10½ Ngr.; Stammtisch Mohren Untermhaus Gera 5 Thlr.; Th. in Leipzig 3 Thlr.; Gemeinde Schleffin (Pommern) 2 Thlr.; F. B. in Mölln 1 Thlr.; von der Christbescheerung des Turnvereins in Gohlis 5 Thlr.; bei Gelegenheit eines Tanzstundenballes, gesammelt von J. Straub in Hildesheim 9 Thlr. 10 Ngr.; Frau Mertens in Mallwischken 1 Thlr.; mit dem Feuerbach’schen Ausspruch: „Es giebt nur Ein Gutes – das ist die Liebe“ 5 Thlr.; aus Colberg 22 Ngr.; Turngesangverein in Collar 14 Thlr.; Leseverein in Dresden 25 Thlr.; aus der Gesellschaft „Tula“ in Steele 6 Thlr.; O. O. in Braunschweig 1 Thlr.; Ertrag eines Concerts in Jena, durch Stud. jur. v. Liliencron 67 Thlr. 4 Ngr.; gesammelt von der Redaction der Kisling‘schen „Osnabrücker Anzeigen“ 118 Thlr.; Ismr. in Erlangen 2 fl.; Reinertrag eines Concerts des Männergesangvereins in Brieg 50 Thlr.; Reinertrag eines Concerts des Cäcilienvereins und Liederkranzes in Frankenthal 57 Thlr. 4½ Ngr.; Sammlung des Turnvereins für Neu- und Antonstadt in Dresden 50 Thlr. (speciell für den Turnverein in Chicago bestimmt). – Wiederholt versichern wir, daß die Resultate unserer Sammlung nur unsern deutschen Landsleuten in Chicago zukommen.

Redaction der Gartenlaube.




Der Schluß der Auskunft über unsere vermißten Soldaten folgt in nächster Nummer.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Hier scheint ein Irrthum vorzuliegen, da es unseres Wissens nur ein Bleicherode ist der Nähe von Nordhausen giebt. Auf diese Weise wäre dann auch für den Herausgeber der Gartenlaube, dessen Familie in ganz Thüringen verbreitet ist, die Ehre einer Verwandtschaft, mit dem „Könige von Aurora“ nicht völlig ausgeschlossen.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: d r
  2. Vorlage: Verwanden