Die Gartenlaube (1876)/Heft 40

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1876
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 40.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Beim Rheinwein.

Vom Flaschenhaupt den Pfropfen fort
Und vom Humor den Zügel!
Frau Musika, sie geb’ dem Wort
Die leichten, flinken Flügel,
Und auf des Liedes Schwingen steig’
Das Herz zu dieser Stunde
Hoch in der Freude Sonnenreich
In lust’ger Zecherrunde.

Und haben wir kein Flügelpaar,
Das trägt bis zu den Sternen –
Vom Schmetterling, nicht nur vom Aar,
Läßt fliegen auch sich lernen.
Der Falter soll uns Lehrer sein,
Der Sorgen gift’ge Nattern,
Des Lebens Staub und Dorn und Stein
Beim Wein zu überflattern. –

Jung Röslein frisch, jung Röslein roth,
Du schönster Maigedanke,
Du bietest uns das Himmelsbrod
Zum duft’gen Himmelstranke.
Du holdes Kind der Frühlingsflur,
Laß scherzen uns und kosen!
Es brechen nicht, es küssen nur
Die Falter sacht die Rosen.

Vom Thaukelch trinkt der Schmetterling;
Die Römer uns gebühren –
Schon ziert des Bechers blanken Ring
Ein Kranz von Perlenschnüren.
Wir schlürfen sie, und jeder Druck
Fällt von der Brust uns leise;
Es zieht der Geist in solchem Schmuck
In sel’ge Götterkreise.

Die Götter trinken Brüderschaft
Mit uns, den Erdensöhnen,
Und hellen Klangs, mit voller Kraft
Soll unser Sang ertönen:
Im gold’nen Wein ist Sonnenschein –
Da ist das rechte Leben;
Gesegnet sei der Vater Rhein,
Gesegnet seine Reben!

Emil Rittershaus.




Kein Herz.
1.

Orte haben, gleich den Menschen, ihre Geschicke. Mitunter zieht sich das Leben vor ihnen zurück, dann überschüttet es sie wieder mit unerwarteten Gaben, zuströmendem Neuen. Sie können sogar sterben. Meist ist es aber nur ein Scheintod, und aus Grabesruhe und Verlassenheit quillt urplötzlich frisches, volleres Dasein hervor. Man könnte ihre Biographie schreiben. Das geschieht auch mitunter, wenn sie der gewaltige Gang der Weltgeschichte im Vorüberstreifen berührt, oder gar einen Augenblick in ihrem Umkreise gerastet hat, aber nur selten finden sie ihren Chronisten. Und doch bergen diese „Stillen im Lande“ mehr eigenthümliches Leben, als manche Orte, deren Namen die Fama mit schallender Trompete in die Welt hinausposaunt.

Eine solche durch Natur und Geschick begrenzte Stätte ist der Schauplatz unserer Erzählung. Inmitten eines der schönsten bairischen Seen liegt eine Insel von so mäßigem Flächenraum, daß sich ihr ganzer Bering im Laufe einer halben Stunde umschreiten läßt. Seit dort vor grauen Zeiten ein Nonnenkloster erbaut worden, dessen erste Aebtissin eine Königstochter war, hat die Fraueninsel manche Wandlung erfahren: Jahrhundertelang war sie der Mittelpunkt geistlichen Besitzthums, das sich unter der Herrschaft kluger Frauen vielfach mehrte, bis die Ungunst der Zeiten das Erworbene wieder losriß, um endlich im Beginn unseres Säculums die Pforten strenger Clausur völlig zu sprengen – dann, unter raschem Zudringen des Weltlichen, fiel die Insel der fröhlichen Zunft der Maler anheim, der sie als Künstlerherberge ungestört verblieb, bis das kleine Eiland mit dem Anlanden des ersten Dampfschiffes in seine letzte Phase trat: ein Ziel für Touristen zu werden.

Seit jenem Tage wird unter den künstlerischen Stammältesten, welche als erste Pioniere moderner Cultur auf Frauenwörth gewirkt, mancher Stoßseufzer vernehmbar. Noch bewahrt der Ort seine reizvolle Eigenart, aber der köstliche Alleinbesitz hat seine Endschaft erreicht, und manches deutliche Zeichen verräth den stillen Protest der Malerzunft. Kein lustiger Mummenschanz, keine funkelnden Tollheiten mehr, wie dereinst, als man „unter sich“ gewesen. Während der erste Band der originellen, von den Stiftern gegründeten Chronik in Lied, Bild und Humor der Ausdruck echten Kunstsinnes ist, füllt sich manches Blatt des zweiten mit höchst fragwürdigem Inhalt, und die Wehklage der Gründer ist dazwischen zu lesen. Allerlei fahrendes Volk landet, streift umher und läßt sich sogar mitunter häuslich dort nieder. – So ist der Lauf der Welt.

Es war an einem Septembermorgen des Jahres 1866, in den ersten Tagen des Monats und zu ziemlich früher Stunde, als eine Dame auf den Balcon hinaustrat, welcher die Fronte des neben dem alten Wirthschaftsgebäude stehenden Gasthauses schmückt. Ein junges, schlicht gekleidetes Mädchen folgte ihr eilig mit Sessel, und Fußbänkchen und kehrte dann in das Zimmer zurück, zu dem sie auf einen Wink der Dame die Flügelthür geöffnet ließ. Die schlanke Gestalt, welche sich, ohne den Sitz zu benutzen, über die Brüstung des Balcons lehnte, war nicht mehr in der ersten Jugend, doch entschädigte Grazie der Erscheinung für die mangelnde Frische. In der Weise, wie sie [660] sich bewegte, den Kopf wandte und die feinen Hände ruhen ließ, lag große Anmuth. Die sinnenden, etwas müden Augen verweilten einen Moment auf der sonnbeglänzten Wasserfläche, und senkten sich dann zu der Lindengruppe, welche den Platz nächst dem Hause beschattete. Leiser Lufthauch bewegte die Zweige und ließ die Blätterschatten auf dem hellen Boden tanzen.

Die Einsame wandte sich mit schwachem Seufzer von der Landschaft ab, ließ sich im Sessel nieder und blickte in das Zimmer, wo das junge Mädchen aufräumte und das Bett ordnete – eine voll erblühte, stattliche Gestalt mit lebensfrischen Zügen, herrlichem Blondhaar und lachenden Augen. Ihrer Geschäftigkeit zuzuschauen, war ein Vergnügen; jede Bewegung gelang der flinken Sicherheit, welche vollkommene Gesundheit des Körpers und Geistes zu begleiten pflegt.

„Monika!“

„Gnädiges Fräulein?“

„Reichen Sie mir den Arbeitskorb heraus – danke! Sagen Sie doch, könnte man nachher ein Schiffchen bekommen, um nach Gstad hinüberzurudern? Der Tag ist so schön!“

„Wenn es dem Fräulein gefällig ist, selbst zu rudern, dann schon. So viel ich weiß, ist das Wirthshausschiff nicht bestellt.“

Sie schüttelte den Kopf. „Heute nicht, Papa wird mitfahren.“

„Ei, dann könnte ja der Herr Wilhelm rudern.“

Das Fräulein lachte. „Nicht sein Fall, Monika. Der ist wohl auf dem festen Lande überall zu Hause, auf das Wasser versteht er sich aber schlecht. Wir müssen uns schon nach einem richtigen Schiffer umsehen.“

„Das wird schwer halten,“ sagte das junge Mädchen kopfschüttelnd. „Es ist Markttag in Prien; da haben die Leute drüben zu thun. Wenn das Fräulein Geduld haben mögen, bis ich mit den Zimmern fertig bin, könnte ich nachher laufen und den Vater fragen, ob er Zeit hat, glaub’ es aber schwerlich. Vielleicht kann der Bub’ fahren.“

„Sind Sie von hier zu Hause?“ fragte das Fräulein überrascht.

„Freilich,“ entgegnete Monika, indem sie, das Staubtuch in der Hand, mit ihrer Beschäftigung fortfuhr; „mein Vater ist ja der Wendelfischer, bei dem der Herr Wilhelm immer das Geräucherte für den Herrn General holt. Dort unten steht unser Haus.“

Des Fräuleins Auge kehrte von der malerischen Häusergruppe des Strandes zur Sprecherin zurück. „Aber Sie waren nicht immer auf der Insel? oder doch? Ich meine, Ihre Sprache klingt anders, als die der hiesigen Leute.“

Monika lachte. „Ja, wissen Sie, Fräulein, das hat seine Ursachen. Als ich zwölf Jahre alt war und meine heilige Communion und die Firmung empfangen hatte, kam ich natürlich aus der Schule und sollte etwas verdienen helfen, denn wir sind eher arm als reich. Da hat es meine Mutter, die damals noch lebte, fertig gebracht, daß ich als Spülmädel im Kloster angenommen worden bin, für das Institut, wissen Sie, denn in das eigentliche Kloster darf keine Seele hinein, und kommt auch Niemand heraus, außer den Nonnen, die im Institute Stunden geben. Die haben auf mich Acht gehabt und mich gefragt, ob ich etwas Ordenliches lernen wollte, und weil mir das recht war und auch meinen Leuten, nahmen sie mich alle Nachmittage in die Classe. Sie haben es gar gut mit mir vorgehabt und gemeint, ich konnte selbst eine Klosterfrau und eine Lehrerin werden, wenn ich groß würde. Das gefiel mir prächtig.“

„Es ist aber Nichts daraus geworden?“ sagte das Fräulein lächelnd.

„Nein!“ entgegnete Monika mit offenem Aufblicke, während ihre herrlichen Zähne zwischen den getrennten Lippen blitzten. „Es ist ja keine Sünde, wenn ich es sage – wissen Sie, Fräulein, ich taugte nicht recht dazu, nicht zum Lernen und auch nicht zur Klosterfrau. Wie ich größer wurde, schauerte mich’s bei dem Gedanken, lebenslang immer in dem alten grauen Gemäuer bleiben zu müssen und nie, aber auch gar nie heraus zu dürfen, und dann hab’ ich für die Bücher und die Schreiberei auch kein rechtes Sitzfleisch gehabt. Wenn ich mich nicht rühren darf und springen und singen, dann plustere ich mich auf wie ein Spatz bei Regenwetter. Trotzdem bin ich aber froh, daß ich dort in die Classen gekommen bin; im Winter, wenn wir hier zwischen Schnee und Eis sitzen, freut’s mich und meine Leute, daß ich ihnen Sonntags schöne Geschichten vorlesen und auch daraus mancherlei expliciren kann, so von fremden Ländern und allerlei Sachen, die man nicht weiß, wenn man sie nicht gelernt hat.“

„Und jetzt sind Sie also Zimmermädchen in der Gastwirthschaft?“

„Nicht für gewöhnlich, Fräulein. Nur zur Aushülfe, weil die Gustel, die sonst da ist, zu ihrer kranken Mutter fortgemußt hat. Sie war noch nicht lange fort, als Sie mit dem Herrn General herkamen, und bleibt länger aus, als der Wirthin lieb ist. Kommt so etwas vor, dann helfe ich immer aus, und die Wirthin säh’ es gern, wenn ich ganz da bliebe. Mein Vater will aber nicht, und es ginge auch schwer, denn seit vor zwei Jahren die Mutter gestorben ist, giebt es daheim vollauf für mich zu thun.“

„Nun, wenn Sie heirathen, Monika – und das bleibt wohl nicht lange aus? – dann muß der Vater doch auch zusehen, wie er fertig wird.“

„Heirathen!“ Sie lachte. „Das hat gute Wege. Wer nimmt ein armes Mädchen? Ich kriege nichts mit, als Leinewand und ein bissel Hausrath. Das langt nicht. Jetzt sind ja von den ledigen Burschen ein ganz Theil im Kriege todtgeschossen worden. Und dann mag ich auch nicht Jeden, der allenfalls anfragt.“

„Angefragt wurde also doch?“

Die blauen Augen drückten sich halb zu. „Kein noch so geringes Häfele, es findet doch sein Deckele,“ sagte das Mädchen schelmisch, während sie bereits die Thürklinke erfaßte; „paßt aber der Deckel nicht, dann giebt es Scherben. – Haben das gnädige Fräulein noch etwas zu befehlen?“

Noch vor der Antwort erklang draußen behutsames Klopfen und auf das Zeichen zum Einlasse schritt ein stattlicher Mann durch die Thür, der, als er sich unerwartet Auge in Auge mit Monika sah, welche an ihm vorüber hinausschlüpfte, vor ihr zurückprallte, während über sein gebräuntes Gesicht jähe Röthe fuhr. Er drückte die Thür hinter sich zu, ohne sich weiter nach dem Mädchen umzusehen, und blieb in strammer, beinahe steifer Haltung im Zimmer stehen. Es bedurfte nicht der Uniformsbeinkleider, die er zu einem schlichten grauen Rocke trug, um ihn als Militär zu kennzeichnen; die Art, wie er den Kopf hielt, seine muskelkräftigen Hände und Arme unbeweglich an die Seiten lehne und den dichten Schnurrbart trug, war militärisch durch und durch. Gut geschnittene, aber gewöhnliche Züge, deren bestimmtester Ausdruck Kraft war, ließen nicht erkennen, ob diese Kraft mehr sei, als das Bewußtsein körperlicher Stärke. Er richtete seine ruhigen grauen Augen auf das Fräulein und sagte mit langsamer, sehr deutlicher Betonung: „Der Herr General lassen anfragen, ob Fräulein Valentine einverstanden ist, den Kaffee im Freien zu trinken?“

„Gern,“ antwortete Valentine und erhob sich, indem sie einen Blick auf den Platz hinab warf. „Lassen Sie uns an dem Tische serviren, wo wir zu Mittag speisen! Im Schatten möchte es für Papa zu kühl sein. Ich komme gleich.“

Sie trat in das Zimmer, ihre Schreib-Schatulle zu schließen und eine leichte Hülle über die Schultern zu werfen; dann ging sie hinab. Da noch etwas Zeit vergehen mußte, bis ihr Vater erschien, schritt sie dem Dampfschiffstege zu, um den erweiterten Ausblick auf die Berge zu genießen. Als sie die schmale Brücke betrat, so leichten Fußes, daß ein scharfes Ohr dazu gehörte, ihren Schritt zu vernehmen, wandte ein hochgewachsener Mann, der am äußersten Ende des Steggeländers lehnte, den Kopf, und kam ihr entgegen.

„Guten Morgen, gnädiges Fräulein!“ sagte er, und lüftete den breitkrämpigen Filz. „Sie kommen zur rechten Zeit, um zu schauen, was unsere jungen Leute ‚Stimmung‘ nennen.“

Sie legte ihre Hand in die breite, schöngeformte Rechte, welche sich mit leichtem Drucke um ihre Finger schloß, und sah zu dem Manne auf. Er war alt; das weiße Haar, die Linien, welche das Leben in manche Gesichter so scharf einzeichnet, daß man sich auf den ersten Blick versucht fühlt, dem Räthsel ihres Entstehens nachzusinnen, wurden zum Zeugniß seiner Jahre. In dem feingeschnittenen Profil, dem feurigen Auge, den beredt geschwungenen Lippen des Mannes lag aber so viel Leben, daß es Keinem zum Bewußtsein kam, einem Sechsziger gegenüber zu stehen.

Mit leiser Bewegung der starken, noch dunklen Brauen lenkte er die Aufmerksamkeit seiner Gefährtin auf das Gebirge. Die mächtigen Bergriesen, über welchen die Sonne stand, ruhten in voller Klarheit; nur gleichsam zu ihrem Schmuck hingen zerflatternde [661] Wölkchen an ihren Kanten; ein schwerer Nebelstreif lagerte zu ihren Füßen auf dem See. Nach Westen zu war aber die Gebirgskette noch von breiten Dunstmassen umwogt; nur hier und dort hob sich eine leuchtende Kuppe befreit empor.

„Wie lockt doch alles Geheimnißvolle!“ sagte Valentine. „So oft ich den Morgennebel schaue und auf das Hervortreten der Berge warte, überkommt mich dieselbe Empfindung, wie als Kind, wo man hinter verschlossener Thür auf den Christbaum harrte. Und so steht man immer im Leben vor irgend einer niedergelassenen Gardine, wartet auf irgend eine Erfüllung.“

„Ja, es gleicht dem Leben,“ stimmte er zu. „Hier ein wenig Glanz, dort ein wenig Glanz, zuweilen alle Höhen verhüllt, dann wieder ein glorreicher Augenblick. Sinken die Nebel – gut. Steigen sie, dann verschwinden Himmel und Höhen ein für allemal.“

„Das Himmelreich aber bleibt, und die Erde,“ sagte Valentine ruhig. „Wer dürfte auf ewigen Sonnenschein rechnen? Auch an sonnenlosen Tagen und Orten blüht und reift, was gepflegt wird. Als Kind verlangt man Weihnachtskerzen, und sammelt Muscheln und Blümchen; später verlangt man gar die Sterne vom Himmel und sammelt Schmerzen – zuletzt hält man gelassen Umschau, und sammelt Menschen.“

„Dazu gehört eine Toleranz der Stimmung, wofür Sie beinahe zu jung sind, Fräulein.“

„Zu jung? Ich? Uebrigens ist das, was Sie Toleranz nennen, wohl mehr eine Frucht der Erfahrung, und mit solcher haben die Jahre nichts zu schaffen. Man kann früh wie spät an eine Grenze gelangen, wo sich von selbst ein Halt gebietet, und ich glaube, Jeder, der dem Leben einmal fest in die Augen geschaut hat, wird Anderen Gerechtigkeit widerfahren lassen.“

„Und Sie sprechen aus Erfahrung?“

„Ja.“ Ein leiser Zug von Strenge legte sich um ihre feinen Lippen dann sah sie mit sympathischem Blicke zu ihm auf. „Sie sind Künstler,“ sagte sie herzlich, „Ihr Theil ist ewige Jugend. Die Welt gehört Ihnen anders, besser als uns Uebrigen. Ich darf nicht sagen, daß ich Sie darum beneide, denn nichts in mir ist großartig genug, um auch nur in Gedanken solche Höhen zu erstreben, aber ich kann Ihre Schöpfungen nachfühlen, und danke Ihnen, daß Sie mir den Blick in eine weite, nie der Klarheit entbehrende Welt aufgethan.“

Er richtete sein tiefes Auge mit eigenthümlichem Ausdrucke auf sie. „Sie gaben mir weit mehr durch Ihr Verständniß, Fräulein Valentine. Kein Mensch hat je Ursache, einen anderen zu beneiden, am wenigsten, wenn dieser Andere ein Künstler ist. Die eigene Kraft zu fühlen, und dabei in der eigenen Schwäche erlahmen, immer nach einem Spiegelbilde der Schönheit ringen, das dem Erfassen entflieht – ist ein Geschick, das vom gegenwärtigen Augenblicke jeden Genuß wegzehrt.“

„Und das dennoch keiner der Begnadigten freiwillig mit einem anderen vertauschen würde,“ entgegnete Valentine, indem sie dem Ufer zuschritt.

„Sie gehen schon hinein?“

„Papa erwartet mich zum Kaffee.“

„Noch nicht gefrühstückt? Und doch sah ich Sie schon vor einer Stunde auf dem Balcon!“

„Papa nimmt seine Mahlzeiten ungern allein. Wollen Sie mich zu ihm begleiten, dann wird er doppelt zufrieden sein.“

Als Beide die Terrasse betraten, erschien der General eben, auf seines Dieners Arm gestützt, an der Ecke des Hauses. Er ging mühsam; eine in der ersten Schlacht des diesjährigen Krieges erhaltene Fußwunde war nun zwar geheilt, hatte aber bedeutende Schwäche zurückgelassen, und es ward ihm schwer, ohne Beistand auch nur wenige Schritte zu machen. Sein Führer stützte die gedrungene, schwerfällige Gestalt mit großer Sorgfalt, und Vater und Tochter langten zu gleicher Zeit an dem unmittelbar vor der Hauswand stehenden, vor Wind geschützten Tische an, auf welchem bereits das Kaffeegeschirr stand.

„Gut geschlafen?“ fragte Valentine freundlich und bot ihrem Vater die Hand.

Der eigensinnige Zug, welcher um die schmalen Lippen des Generals lagerte, verschärfte sich, während er gereizt entgegnete: „Ich schlafe nie gut – das könntest Du wissen. Guten Tag, Herr Bernardin! Sie kommen, wie mir scheint, schon von einer Promenade durch Thau und Nebel zurück – nicht wahr? Was doch manche Leute Alles vertragen! Wird auch nicht ewig dauern.“

Sein mürrischer Blick maß die kraftvolle Gestalt des Künstlers mit einem Ausdruck von Neid, während er sich ächzend niederließ. „Wenn man sich freilich eines so guten Appetits zu erfreuen hat, wie Sie –“

„Nun, Papa,“ sagte Valentine mit heiterem Auge, während sie ihm einschenkte; „was diesen Punkt betrifft, hast Du doch auch nicht zu klagen.“

„Meinst Du? Ich lebe freilich nicht blos von Vergißmeinnichtsalat, wie Du, aber seit ich herumkriechen muß, wie eine Schnecke, kann ich mir nichts Ordentliches mehr zumuthen – ein miserables Leben, das!“

„Auch dies, Herr General, wird nicht ewig dauern,“ tröstete Bernardin lächelnd, während er am Tische Platz nahm und sich eine Cigarre ansteckte. „Ich finde Sie seit Ihrem Hiersein bedeutend gekräftigt; das Bad, die Landluft haben offenbar ihre Schuldigkeit gethan – noch kurze Geduld, und Sie sind wieder fest im Sattel.“

„Haben gut reden,“ sagte der alte Herr ärgerlich. „Mein Lebtag komme ich nicht wieder auf Sattel und Gaul – das weiß ich besser. Ein armseliger Invalide, zu nichts gut, als herumzuhumpeln und dem Herrgott seinen Tag abzustehlen. Sind Morgens meine Stiefeln angezogen, dann bin ich fertig mit allen Geschäften. Da wäre ein ehrlicher Soldatentod tausendmal besser gewesen –“

„Papa!“ unterbrach ihn Valentine sanft.

„Nun ja – Du hättest dabei auch weiter nichts eingebüßt; jetzt wär’s verwunden. Nützen können wir einander doch nicht viel.“

Ihre Lippen zuckten; sie schwieg aber.

Bernardin’s Auge streifte einen Moment über ihr Gesicht hin; es war schon wieder ruhig, doch zitterte ein Tropfen in den gesenkten Wimpern.

Auf der Terrasse wurde es lebendiger. Hier und dort besetzte sich einer der Tische mit frühstückenden Langschläfern; frischgewaschene, glänzende Kindergesichter kamen zum Vorschein und eilten der unter den Bäumen hängenden Schaukel zu. Mit all ihrem Handwerkszeug ausgerüstet, strebten bärtige und unbärtige Künstler ihren auserwählten Standpunkten entgegen. Der Eine trug seine Staffelei auf dem Rücken, wie die Schnecke ihr Haus; der Nächste erschien, zur Kahnfahrt nach der jenseitigen Waldspitze ausgerüstet, Ränzel und Malerstock auf den Schultern, gleich einem fahrenden Schüler. Drunten am Strande tauchte hier und dort zwischen Büschen und Bäumen ein ausgespannter Sonnenschirm auf, wie ein gelber Riesenpilz, unter welchem ein Erdmännlein hockt. Es war ein Morgen, geschaffen für Kinder, für Künstler, für das Genießen. Die Sonne tagte immer flammender. Himmel und See blickten einander mit klarblauen Augen an. Hoch mit dem letzten Heu beladen, schiffte der morsche Einbaum schwerfällig dem Lande zu. Ein Segelschiffchen flog gleich einer Schwalbe über das schimmernde Wasser, vom Ostwinde getrieben. Zwei junge Mädchen in sommerlichen Gewändern huschten aus dem Hause, und streiften dicht am Frühstückstische des Generals Wittstein vorüber. Während sie sich verbeugten, grüßte die Schönste, Lachendste der Beiden Bernardin mit den Wimpern und wandte im Vorübergehen das feine Hälschen nach ihm zurück, indem sie aus dem kleinen Armkorbe eine angebrochene Semmel nahm und zeigte. Er schüttelte lachend den Kopf und klopfte mit dem Finger auf das Skizzenbuch, welches aus der Tasche seiner Joppe hervorragte.

„Haben Sie wirklich den Muth, nicht zu folgen, wenn die schöne Resi lockt?“ scherzte Valentine.

„Wenn die schöne Resi auf dem Wege ist, die Klosterenten zu füttern, sehnt sie sich weniger nach meiner Begleitung, als nach dem Rest meiner Frühstückssemmel,“ entgegnete Bernardin, indem er aufstand, sich zu verabschieden. „Heute habe ich weder Brod noch Zeit auszustreuen; ich will an die Arbeit. – Werden Sie den günstigen Tag zu einem Ausfluge benützen?“

„Papa äußerte gestern Lust, nach dem rothen Kreuze hinüber zu fahren,“ sagte Valentine mit halb fragendem Blick auf ihren Vater. „Bleibt es dabei?“

„Hast Du für einen Fährmann gesorgt?“ fragte der General zurück. „Sonst danke ich. Es bringt mich um den Athem, wenn ich zuschauen muß, wie Du Dich selbst mit dem Rudern abquälst.“

„Ich erwarte Bescheid. Da kommt meine Sendbotin eben [662] vom Fischerhause, und wir werden gleich erfahren, ob wir Aussichten haben.“

Im Begriff, nach dem Wirthshause einzubiegen, hörte Monika den Ruf des Fräuleins und eilte flink herbei. Ihre prächtige Gestalt erschien stets am vortheilhaftesten in der Bewegung; der elastische Schritt, die freie Haltung des Kopfes hoben noch ihre Stattlichkeit. Das reiche Blondhaar schimmerte in der Sonne.

„Der Vater muß nach Prien, Fräulein, und der Bube ist schon mit dem kleinen Boote voraus,“ sagte sie eilig; „aber ich habe zuvor schon mit der Wirthin geredet. Wenn die Herrschaften bis Mittag zurück sein wollen, darf ich Sie fahren.“

Der General blickte wohlgefällig auf die blühende Erscheinung. „Ganz schön, Monika,“ sagte er zustimmend; „wird die Ladung aber nicht zu schwer für zwei Arme? Sie bekommen dreifache Fracht; wenn wir drüben bis zum rothen Kreuze wollen, brauche ich den Wilhelm.“

„Hat keine Gefahr, gnädiger Herr,“ sagte sie munter. „Drei machen mir nicht bange, und wenn der Herr Wilhelm mitfährt, lege ich doppelte Ruder in’s Schiff, oder er soll steuern. Was man nicht kann, lernt man. Um welche Zeit soll ich unten sein?“

Herr von Wittstein sah nach der Uhr. „Wenn es angeht, so fahren wir gleich. Und hören Sie, Monika, da Sie jetzt hineingehen, können Sie dem Wilhelm sagen, was wir ausgemacht haben – vergessen Sie aber nicht, ihm auch zu vermelden, wer die Schifferin ist! Wir kommen bald nach.“

Er lachte. Der mürrische Zug verschwand für einen Moment aus dem bärtigen Gesichte, und aus dessen hundert Falten lachte eine Jovialität, die man vor wenig Augenblicken nicht in ihrem Versteck errathen haben würde. Der Anflug gemüthlicher Heiterkeit warf gleichsam einen Reflex. Valentinens Auge hing freudig und zärtlich an den belebten Zügen des Vaters. So blickt man in eine traulich bekannte, von Nebeln verhüllte Landschaft, wenn ein vorübergehender Sonnenstrahl sie beleuchtet.

Monika begab sich inzwischen nach der Gaststube, wo die Wirthin saß und ihrer Gäste „Beichte hörte“, das heißt mit Jedem, der da kam, reihum die Rechnung des vorigen Tages richtig machte. Dort fand sich sogleich Gelegenheit, ihre Botschaft an den Diener des Generals auszurichten, welcher sich eben im Interesse seiner Herrschaft nach dem heutigen Küchenzettel erkundigte. Nach geschehener Meldung an die Wirthin nahm das Mädchen den Bootschlüssel vom Haken belud sich mit ein paar Rudern und eilte hinter dem Hause hügelabwärts nach der kleinen Bucht, in welcher die Badehütten standen und an deren Eingange die beiden dem Wirthshause zugehörenden Boote angekettet lagen. Sie war noch geschäftig, das kleinere derselben sorgsam auszuschöpfen, als der Bediente, mit Plaids und Fußkissen beladen, gleichfalls hinabkam, ihr, ohne ein Wort zu sprechen, mit freundlichem Gesicht die Schöpfkelle aus der Hand nahm und das Geschäft gewandt vollendete.

„Wie Ihnen das von der Hand geht, Herr Wilhelm!“ sagte Monika neckend. „Ist’s denn wahr, daß Sie nicht rudern können? Ich glaube, Sie stellen sich nur so, um auf dem Wasser Feiertag zu haben.“

„Bin wirklich so ungeschickt, hab’s wenigstens noch nicht probirt,“ erwiderte der junge Mann treuherzig. „Das kommt eben, weil ich nie am Wasser gehaust hab’. Zur Noth, daß ich ein wenig schwimmen kann, und auch das hab’ ich erst als Soldat gelernt, und es geht damit nur so, so.“

„Wie lange sind Sie denn schon beim Militär?“ fragte Monika, während sie den Schiffsboden vollends trocken rieb.

„Just zwei Jahre. In ein paar Wochen ist meine Zeit um, und ich darf wieder heim.“

„Da sind Sie gewiß froh. Nun gar nach der gräulichen Kriegszeit!“

„Na, davon bin ich gerade nicht viel gewahr worden. Der Herr General hat ja den Schuß gleich zu Anfang abbekommen, und weil ich dazumal schon lange als Bursche bei ihm war, bin ich commandirt worden, mit ihm in’s Feldlazareth und dann in sein Haus zu gehen. Dort ist mir’s gut genug ergangen, besser, als ich’s daheim haben kann. Man ist aber doch lieber sein eigener Herr. Ich hab’ zwar kein Vater und Mutter mehr, aber doch ein Häuserl und ein bissel Feld, was mein ist; drum freu’ ich mich heim, wo man doch wieder ordentlich die Arme rühren kann.“

„Wo sind Sie denn zu Haus, Herr Wilhelm? Sie sagen, daß da kein Wasser wäre – das kann ich mir schon gar nicht vorstellen, wie die Welt ohne Wasser ausschauen mag. So schön wie bei uns kann’s da gewiß nicht sein.“

Sie ließ ihr Auge über den See hinschweifen, und der durch täglichen Ausdruck fremder Bewunderung genährte Heimathstolz leuchtete darin auf. Mit ihr zugleich sah Wilhelm auf das Wasser, und Beide machten, ehe er noch ihre Frage beantwortet, eine Bewegung des Erschreckens. Mitten im See schwamm ein mit Heu beladenes Boot, welches von einem etwa vierzehnjährigen Mädchen regiert wurde. Auf dem Heuhaufen saßen ein paar Kinder, im Alter von ungefähr vier bis sechs Jahren, die sich balgten. Das kleinste Mädchen kam in diesem Moment aus dem Gleichgewichte und kugelte kopfüber hinab in das Wasser. Bei diesem Anblicke verlor die Schifferin offenbar den Kopf; das Ruder glitt ihr aus der Hand; hülfloses Geschrei der Kinder schallte kläglich über den See hin.

Monika machte mit rascher Geistesgegenwart ihren noch festgeschlossenen Kahn von der Kette los, ehe sie aber damit zu Stande war, hatte Wilhelm bereits den Rock abgestreift, schritt in dem seichten Wasser auf dem Kiesgrunde weit aus und schwamm, sobald er die nöthige Tiefe erreicht, rüstig in der Richtung des Unfalls vorwärts. Das durch den Ostwind nach dem jenseitigen Ufer zugetriebene Heuschiffchen entfernte sich immer weiter von dem Kinde, welches bis jetzt durch seine Röcke auf der Oberfläche erhalten ward. Trotz Monika’s Anstrengung, die mit eifrigem Ruderschlage vorwärts strebte, machte ihr der ungünstige Wind viel zu schaffen und sie kam ihrem Ziele nur langsam näher. Schon war es aber dem jungen Manne geglückt, das Kind zu fassen und über Wasser zu halten. Nun aber schienen seine Bewegungen unsicher zu werden. Monika besann sich, daß er sich erst vor wenig Minuten als ungeübter Schwimmer bekannt hatte, und ward von Angst erfaßt. Das Kind im Arme, in unbekanntem Gewässer, das gerade an jener Stelle nicht nur besonders tief, sondern auch von Strömungen durchkreuzt wurde; wie leicht konnte der brave Mensch seinen guten Willen mit dem Leben bezahlen!

Sie rief ihm ermuthigende Worte zu und setzte all ihre junge Kraft ein. Mit äußerster Anstrengung strebte sie ihm entgegen. Jetzt glückte es. Sie gelangte in seine Nähe, konnte ihm das Kind aus den Armen nehmen, ihm in ihr Schiff helfen. Als sie Beide geborgen sah, strömten ihr die Augen über. Das kleine Mädchen lebte und bewies dies durch mächtiges Schreien, nachdem Monika es mit einem der warmen Plaids umwickelt hatte, die auf der Schiffsbank lagen. Als sie Wilhelm den zweiten hinreichte, schüttelte er den Kopf und erfaßte statt dessen ihre Hand mit starkem Drucke.

„Ein Glück, daß Sie besser rudern, als ich schwimme,“ sagte er mit tiefem Athemzug.

„Mehr Glück noch für das böse Mädel da, daß Sie sich darauf erst jetzt besinnen,“ rief Monika lebhaft. „Bis ich mit dem Schiffe hingekommen wär’, hätte sie drunten bei den Fischen gelegen. Und jetzt hör’ auf zu heulen, Mädi, und ein andermal sitz’ still, wenn Du auf dem See bist! Sobald wir am Lande sind, Herr Wilhelm, muß ich den Nichtsnutz heim tragen; es ist ein Nachbarskind, und seine Mutter wird einen schönen Schrecken haben. Geschieht ihr aber schon recht; warum giebt sie die wilden Dinger mit, wenn die Zenz Heu fahren soll; die ist ja selber noch nicht lang gefirmelt. Und Sie, Herr Wilhelm, müssen halt geschwind in’s Haus und sich aus dem nassen Zeuge schälen – sagen Sie nur den Herrschaften, ich wär’ gleich wieder da.“

Das Boot landete.

„Der Herr General wird schön wettern, daß ich nicht am Platze bin,“ sagte Wilhelm. „Könnte er allein fortkommen, dann wär’ er längst unten. Grüß Gott, bis nachher, und – vergelt’s Gott!“ Noch einmal umschloß er fest des Mädchens Hand und sah sie an. Beide wurden in demselben Moment dunkelroth bis unter die Haare.

Monika antwortete nichts auf sein Dankeswort. Sie nickte nur flüchtig mit dem Kopfe und eilte, das Kind im Arme, aufwärts. Ohne an seinen triefenden Zustand zu denken, sah ihr der junge Mann nach, so lange eine Spur von ihr zu unterscheiden war, dann athmete er tief auf. Ueber seine einfachen Züge ging ein Glanz.

(Fortsetzung folgt.)
[663]
Ein Auserwählter der Kunst.


Friedrich Haase als König Philipp der Zweite.
Nach einer Photographie auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.


Emil Devrient und Bogumil Dawison sind nicht mehr. Dessoir ist ihnen nachgefolgt. Die glänzenden Berühmtheiten, welche Eduard Devrient als Träger des Virtuosenthums bezeichnet, sind ausgestorben.

Doch nein, noch lebt ja Friedrich Haase, und was auch seine Gegner sagen mögen, die Lorbeern, die er diesseits und jenseits des Oceans geerntet, der große Ruf, den er sich erworben hat, stellen ihn in eine Linie mit seinen gefeiertsten Vorgängern.

„Er ist ein Virtuos!“ so tönt es aus jenen Kreisen, in denen die Echos der Devrient’schen Schrift sich fortpflanzen. [664] Gewiß ist er das, und jeder echte Künstler soll es sein; das heißt, er soll die Technik seines Handwerks mit unerschütterlicher Sicherheit bis in ihre kleinsten und feinsten Züge hinein beherrschen. „Doch er soll sich nicht vordrängen im Ensemble; das Ensemble ist die Hauptsache“, so rufen die Anhänger des ehrwürdigen und hochverdienten Dramaturgen in Karlsruhe. Ein Ensemble vorzüglicher Künstler und Meister ist jedenfalls das Ideal der Kunst, aber wie soll es ein hervorragender Künstler machen, wenn er in das noch so gut geschulte Ensemble mittelmäßiger Kräfte eingereiht wird? Soll er zur Mittelmäßigkeit herabsinken, um sich nicht vorzudrängen? In der Armee giebt es höchstens Flügelmänner, in der Kunst aber giebt es Genies, Talente des verschiedensten Grades; jeder mag an seinem Posten stehen und ihn pflichtgemäß ausfüllen. Bis jetzt ist aber noch kein Mittel dagegen gefunden worden, daß das größere Talent sich vor dem geringeren auszeichnet und daß das Genie ganz besondere Lichtblitze von Offenbarung hat, während die Durchschnittsmenge der Darsteller für ihre Blitze nur das übliche Theaterkolophonium verwendet. Ein größeres Talent wird stets ein mittelmäßiges Ensemble durchbrechen. So wenig Goethe und Schiller mit lyrischen Albumblüthlern in Reih und Glied gestellt werden können, ohne sie zu überragen, wie die olympischen Götter die Pygmäen: so wenig können wahrhaft bedeutende Darsteller mit redlich strebenden Mittelmäßigkeiten in Reih und Glied stehen, ohne einen unharmonischen und unproportionirten Eindruck zu machen.

„Doch das beständige Gastiren,“ sagen die Gegner, „daran erkennt man eben die Virtuosen.“

Gewiß, das Gastspielwesen in seiner Uebertreibung ist bedenklich für das Gedeihen des Theaters. Die Repertoires werden gestört und unterbrochen, und die gastirenden Künstler selbst kommen nicht zu der Ruhe, neue Schöpfungen zu gestalten, aber man muß das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Ein bedeutender Darsteller gehört der Nation an; jeder Einzelne hat den Wunsch und das Recht, ihn kennen zu lernen. Gastreisen, wie sie jetzt durch die neuen Verkehrseinrichtungen so wesentlich erleichtert werden, dienen dazu, die Bekanntschaft der Einzelnen mit den hervorragenden Künstlern in den verschiedensten Städten zu vermitteln. Dichter und Componisten sind in der glücklichen Lage, ihre Werke an allen Bühnen zur Aufführung zu bringen, dem ganzen deutschen Publicum bekannt zu werden, ohne auch nur einen Augenblick ihren Wohnort zu verlassen. Der Schauspieler wirkt nur durch sein persönliches Auftreten; es ist dies eine Schranke seiner Kunst. Tritt er nur in einer Stadt auf, so kennt ihn auch nur das Publicum dieser Stadt. Große Künstler haben daher zu allen Zeiten „gastirt“, es liegt dies in der Natur der Sache. Nur zogen sie in früherer Zeit mit den ganzen Gesellschaften zugleich herum, während sie jetzt einzeln von Stadt zu Stadt wandern. Gastspielreisen sind daher wohl gerechtfertigt, wenn sie nicht ausarten und ausschließlich ein ganzes Künstlerleben ausfüllen.

„Doch Friedrich Haase,“ sagen die Gegner weiter, „ist vielleicht in seinem Genre groß, aber sein Genre ist klein.“

Wir meinen, Jeder ist bedeutend, der in seinem Genre groß ist, und dann reicht das Talent Haase’s weit hinaus über dasjenige, was man gewöhnlich als sein Genre bezeichnet.

So verläuft in der Regel die Debatte über Friedrich Haase zwischen Freund und Feind, unter den Kritikern von Beruf und Neigung; das große Publicum hat nie eine derartige Kritik geübt; es hat sich an den geistreichen Leistungen des Künstlers erfreut und, wenn er auftrat, stets die Häuser gefüllt. Der Name Friedrich Haase’s ist einer der größte Cassenmagnete, von denen die deutsche Theatergeschichte zu erzählen weiß.

Der Künstler ist im Jahre 1824 in Berlin geboren, wo sein Vater Kammerdiener des späteren Königs Friedrich Wilhelm des Vierten war; er ist also aus denselben Kreisen des subalternen preußischen Hofdienstes hervorgegangen, aus denen auch Karl Gutzkow stammt. Der Dichter des „Königslieutenant“ und der erfolgreiche Darsteller des Thorane sind an den Ufern der Spree geboren, und zwar, wie es in den englischen Lustspielen heißt, below stairs, unter den Treppen, die zu den Hofsalons führen. Früh zeigte der Knabe schon Neigung für das Theater, und eine dramaturgische Autorität wie Ludwig Tieck wurde sein Lehrmeister. Tieck war vielfach bestimmend für die Entwickelung des talentvollen Schillers. Der Romantiker war ein fein ironischer Kopf, und auch sein Jünger sollte später ein Meister feiner Ironie werden. Tieck war für Shakespeare begeistert. Er lebte und webte in ihm; er sah das Leben, die Welt, die Kunst mit Shakespeare’s Augen; er war jeder Zoll ein Epigone des großen Briten. Diese Begeisterung für Shakespeare vererbte er auf seinen jungen Schüler. Sowohl als Darsteller wie als Schauspieldirector hat Haase den Shakespeare-Cultus mit Enthusiasmus, ja selbst mit pecuniären Opfern gepflegt.

Außer von Tieck, der ihn in die ästhetischen Feinheiten einführte, und zwar auf Befehl des Kronprinzen, der sein Pathe war, wurde Haase auch von mehreren anderen Lehrern in der Schauspielkunst und ihren Vorwissenschaften unterrichtet und betrat dann zuerst in Weimar die Bühne. Sein erstes Gastspiel in Berlin hatte Erfolg; man machte ihm einen Engagementsantrag, doch er lehnte ihn ab, weil er befürchtete, neben Döring und Dessoir eine zu untergeordnete Rolle zu spielen. An dem Theater zu Prag, wo er 1850–1852 engagirt war, hatte er zuerst durchgreifende Erfolge. Ein Geheimniß seines später so glänzenden Bühnenglücks beruht auf Haase’s genauer Selbstkenntniß, auf dem richtigen Instinct für dasjenige, was seiner Persönlichkeit, seinen Mitteln zusagt. Es gab und giebt bedeutende Künstler, denen dieser Instinct fehlt, die wie der Weber Zettel im „Sommernachtstraume“ Pyramus, Thisbe und den Löwen zugleich spielen wollen. Erzählt man doch von dem Altmeister deutscher Schauspielkunst, Conrad Eckhof, daß er noch in hohen Jahren jugendliche Liebhaber spielte. Haase wußte sich von Hause aus zu beschränken, und in dieser Beschränkung kündigte sich der Meister an. Er gehört nicht zu den himmelstürmenden Genies, für welche die größten Aufgaben nicht groß genug sind; er weiß, daß seine Stärke nicht im hinreißenden Schwung der Begeisterung liege, der bei der Darstellung nur allzu oft die Coulissen mit fortnimmt, sondern in der feinen Charaktermalerei. Er ist kein dramatischer Frescomaler, sondern ein Aquarell- und Pastellmaler, aber gerade auf diesem mit künstlerischer Einsicht beschränkten Gebiet strebt er nach der Meisterschaft. Freilich wünschte er bei seinen Engagements auch Berücksichtigung seiner Eigenart; wo diese ausblieb oder ihm auszubleiben schien, wie in München, da duldete es ihn nicht lange, und der inneren Nöthigung seines Talentes folgend, zögerte er nicht, auch contractliche Schranken zu durchbrechen, was ihm längere Zeit hindurch aber jedes künstlerische Wirken erschwerte. Seinem Engagement in Frankfurt, das unter der Intendanz von Roderich Benedix (1855–1858) stattfand, folgte ein längeres Engagement in Petersburg, während dessen sein Name durch zahlreiche Gastspielreisen in Deutschland in der Urlaubszeit immer bekannter und gefeierter wurde. Hier in Petersburg verheirathete er sich mit der anmuthigen und begabten Schauspielerin Lina Schönhoff, nachdem seine Ehe mit der Sängerin Anschütz-Kapitain nach einjährigem Bestehen wieder gelöst worden war.

Von dem Herzog von Sachsen-Coburg-Gotha zum Director der Hofbühne berufen, widmete er sich dieser ihm neuen Stellung mit Eifer und machte hier die Vorstudien für seine spätere Bühnenleitung in Leipzig. Nachdem er dieses Verhältniß gelöst hatte, folgte er wieder seinem freien künstlerischen Wandertriebe und zwar bis über den Ocean. Seine Gastspiele in Nordamerika im Jahre 1869 gehörten zu den erfolgreichsten, deren deutsche Schauspieler in der transatlantische Welt sich rühmen dürfen. Von dort zurückgekehrt, gehörte er dem Berliner Hoftheater einen Winter hindurch an; er war der entschiedene Liebling des Berliner Publicums, und die Abende, an denen er auftrat, waren keine verlorenen für die Casse des Hoftheaters. Nach Laube’s Fortgang von Leipzig meldete sich Haase neben zahlreichen anderen Bewerbern zur Uebernahme der Direction in der Pleißestadt. Der Rath entschied sich für ihn, und seine sechsjährige Directionsführung bewahrte dem Leipziger Stadttheater seine hervorragende Stellung unter den deutschen Bühnen. Durch mancherlei Klippen hindurch leitete er das Leipziger Theaterschiff, nicht immer mit gleich günstigem Fahrwind, doch mit unerschrockenem Muthe und mit sicherer Hand, sodaß im letzten Jahre seiner Directionsführung Oper und Schauspiel ein vortreffliches Ensemble aufwiesen, und als er von der Leitung zurücktrat, das Publicum die wärmsten, ja wahrhaft enthusiastische Beweise seiner Theilnahme dem scheidenden Director und seinem von ihm unzertrennlichen Collegen, Herrn von Strantz, gab.

[665] Zunächst wird Haase jetzt wieder für einige Wintermonate der Berliner Hofbühne, an der seine Gattin fest engagirt ist, seine künstlerische Thätigkeit zuwenden.

Wenn es ein berechtigter Ausspruch ist, daß dem Mimen die Nachwelt keine Kränze flicht, ein Ausspruch, der zugleich die oft fieberhafte Hast erklären mag, mit welcher die Schauspieler die Kränze der Mitwelt auf ihr Haupt zu häufen suchen, so ist es um so mehr Pflicht der zeitgenössischen Kritik, mit größter Unbefangenheit und Unparteilichkeit und so anschaulich wie möglich ein Bild der Künstler hinzustellen, da das Urtheil der Zukunft ausschließlich durch das Urtheil der Gegenwart bestimmt wird und sich keine anderen Zeugnisse eines schauspielerischen Wirkens auf spätergeborene Geschlechter forterben. Lebendig und mit frischem Dufte gelangen die Blüthen des dichterischen Talentes auf die Nachwelt, diejenigen des schauspielerischen nur im Herbarium der Presse; mit desto größerer Sorgfalt müssen sie in dasselbe eingelegt werden, damit nicht zerdrückte Blätter und Blumen nur ein unklares Bild geben von ihrer einst lebensfrischen Gestaltung.

Friedrich Haase ist kein Künstler, dessen gelungenste Schöpfungen auf Improvisation beruhen. Er gönnt den Eingebungen des Augenblicks keine Macht über sein darstellendes Talent; er baut seine Gestalten mit peinlicher Gewissenhaftigkeit auf, freilich nicht in einer lockern haltlosen Zusammenreihung, sondern stets als ein mit künstlerischem Tiefblicke erfaßtes Ganze. Die Kunst der Menschendarstellung soll uns den ganzen Menschen geben; dazu gehört vor Allem, daß die äußere Erscheinung mit dem inneren Wesen sich in vollem Einklange befindet. Die Masken Haase’s sind Meisterstücke jener Portraitmalerei, welche ihr Atelier in den Garderobezimmern hat. Sein Cromwell und Alba, sein Shylock, Marinelli und Narciß, sein Thorane und Rocheferrier sind Charakterköpfe, die einem genialen Portraitmaler alle Ehre machen würden. Namentlich die historische Treue ist an diesen Haase’schen Masken bewunderungswürdig. Sein Philipp der Zweite, in welcher Rolle unser heutiges Bild den Künstler darstellt, ist ein redendes Beispiel für diese historische Treue der Haase’schen Portraitmalerei. Und mit der Maske steht bei Haase stets die ganze Haltung und körperliche Erscheinung in Harmonie. Er hat die „Symbolik der Gestalt“ studirt; seine Darstellung verleugnet nie die tieferen Beziehungen zwischen dem Seelischen und Körperlichen, auch weiß er verwandte Gestalten scharf zu sondern; welch ein Unterschied ist zwischen seinem Alba, dem Fanatiker des Despotismus, und seinem Cromwell, dem Fanatiker der biblischen Demokratie! Wer aber die Vielseitigkeit seiner Leistungen würdigen will, der vergleiche diese wie aus Erz gegossenen Gestalten mit seinen quecksilbernen Marquis und Lebemännern.

Haase ist ein moderner Darsteller. Alles Romantische liegt ihm fern; sein Talent geht auf das fein Charakteristische; lyrische Ergüsse, eine machtvolle und pomphafte Rhetorik sind ihm unbequem, auch reichen seine Mittel dazu nicht aus, so vortrefflich er auch sein Organ geschult hat, so sehr er auch mit demselben die düstere Energie eines Alba und Cromwell, und auch den leidenschaftlich aufflackernden Groll eines Shylock zur Geltung zu bringen vermag. Wenn wir durch die Portraitgalerie seiner künstlerischen Schöpfungen wandern, so verweilen wir zunächst bei den mehr genrehaften Cabinetsstücken, die mit bewundernswerther Sauberkeit und künstlerischer Vollendung ausgeführt sind. Die Aristokraten aus der Rococozeit, mit dem Parfum leichtblütiger Frivolität, gelingen ihm am besten. Sein alter „Klingsberg“ ist eine köstliche Gestalt; der Kotzebue’sche Wüstling läßt sich nicht lebenswahrer verkörpern. Ein anerkanntes Cabinetsstück, durch welches er ein kaum lebensfähiges Product, wie „Eine Partie Piquet“, zu einem auf allen Bühnen eingebürgerten Repertoirestücke gemacht hat, ist sein Marquis Rocheferrier; dieser eigensinnige hüstelnde „alte Herr“ mit dem eingeborenen Dünkel ist eine wahrhaft genial gedachte und ausgeführte Gestalt. Sein Marquis in Sandeau’s „Fräulein von Seiglière“ unterscheidet sich von dieser aristokratischen Mumie durch jugendliche Frische und einen echt chevaleresken Zug; er ist eine der liebenswürdigsten Gestalten aus dem Album Haase’scher Charaktere und wird vielleicht von dem Darsteller selbst nicht ganz nach Verdienst geschätzt.

Mit einer eigenthümlichen Nüance tritt Gutzkow’s „Königslieutenant“ in diese Gruppe; dieser schwärmerische, melancholische und doch dabei tapfere und ritterliche Thorane Friedrich Haase’s trifft den Grund- und Leitton des Charakters ausnehmend glücklich. Für alle diese und ähnliche Aufgaben kam die feine und elegante Persönlichkeit dem Künstler besonders zu Statten.

Eine andere Gruppe Haase’scher Charaktere ist diejenige, die sich durch geistige Ueberlegenheit und glänzende Ironie auszeichnet. Der Hauptvertreter dieser Gruppe ist Bolingbroke in Scribe’s „Glas Wasser“, eine Rolle, die zu den besten des Künstlers gehört, wenn sie auch von ihm nicht häufig genug dem Publicum vorgeführt wird.

Auch die feinere Seelenmalerei gehört zu Friedrich Haase’s künstlerischen Vorzügen. Ein Meisterstück hierin ist sein Harleigh in „Sie ist wahnsinnig“, auch sein Arthur von Marsau, in welcher Rolle er die Klippe verliebter Schwärmerei möglichst glücklich umschifft, gehört hierher, ebenso „Narciß“, dessen innere Gebrochenheit und Blasirtheit er trefflich zur Geltung bringt, wenn ihm auch für die Ausbrüche der Verzweiflung am Schlusse Dawison’s niederschmetternde Gewalt fehlt.

Unter den eigentlichen Intriguanten, die auf Haase’s Repertoire stehen, nimmt sein Marinelli wohl den ersten Rang ein. Es ist eine durchaus originelle Schöpfung; nicht die Glätte des Hofmanns, nicht das Lakaienhafte, obschon es durchaus nicht fehlt, tritt in den Vordergrund, sondern das Affenartige und Hämische des Charakters.

Von den historischen Charakterköpfen Haase’s erwähnten wir bereits Cromwell, Alba und Philipp den Zweiten; namentlich ist sein Cromwell eine meisterhaft ausgeführte Gestalt.

Wir sprachen oben schon von der Bewunderung, welche Friedrich Haase für die Dramen des großen britischen Dichters hegt. Nach dem Vorgang der neuen englischen Bühnendirectoren gab Haase den Kaufmann von Venedig und Richard den Dritten mit einer glänzenden theatralischen Ausstattung. Es war das offenbar ein Act der Pietät, aber unser Künstler wurde von Anhängern der keuschen Shakespeare-Observanz dafür zur Ordnung gerufen, als ob er die Muse des großen Poeten dadurch entweiht hätte. Gewiß mit Unrecht! Sobald derartige Ausstattungen den Eindruck der Stimmung erhöhen, welche das ganze dichterische Bild beherrschen soll, sind sie vollkommen berechtigt, und das war bei den meisten Decorationen und Gruppenbildern in beiden Dramen der Fall. Das lustige Maskentreiben von Venedig, die Pracht in den Sälen der reichen Erbin Portia: das alles tritt lebendig vor uns hin. In Richard dem Dritten werden die großen Haupt- und Staatsactionen und die Schlachtscenen mit entsprechendem Pomp inscenirt. Da wir nicht mehr in den Zeiten der Shakespearebühne leben, welche der Phantasie der Zuschauer alles überlassen konnte, sondern in der Zeit der Bayreuther Festvorstellungen, bei denen die Scenerie der offenen Bühne eine ebenso große Rolle spielt, wie die Musik des verdeckten Orchesters, so müssen die scenischen Andeutungen Shakespeare’s, entsprechend den Anforderungen der Gegenwart, an den großen Bühnen illustrirt werden, wenn nicht das Schauspiel, besonders das historische, zum Stiefkind unseres Theaters werden soll. Ein etwas zu prunkhafter Krönungsmantel, der als Bühnenrequisite zu sehr die Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist ein verschwindender Fehler gegenüber den dürftigen Ausstattungen, welche große Ensemblescenen des Geschichtsdramas in eine Bettlerkomödie verwandeln, oder der klaffenden Leere, welche uns auf manchen großen Bühnen bei Massentableaus entgegengähnt.

Haase hat sich um den Shakespeare-Cultus durch diese großartigen Ausstattungen der Shakespeare’schen Dramen ohne Frage verdient gemacht; wir können nicht in den Chorus der Tadler einstimmen. Freilich mußten, um das Gleichgewicht herzustellen, auch die Träger der dramatischen Handlung bedeutsam hervortreten. Haase’s „Shylock“ ist eine markige Leistung voll kräftiger Züge, nirgends in Uebertreibung verfallend; sein Richard der Dritte hat in der Scene mit Anna einen dämonisch berauschenden Zauber.

Möge ein so selten begabter Künstler sein Repertoire noch mit manchen Gestalten der neuen und der classischen Production, ob sie nun der ernsten oder heiteren Gattung angehören, bereichern! Nur aus der schönen Wechselwirkung dichtender und darstellender Kraft geht die Blüthe dramatischer Kunst hervor.
Rudolf Gottschall.

[666]

Im Winter an der Ostsee.


Will der Bewohner großer Städte ohne künstlich fabricirtes Ozon frei aufathmen und alle Schlacken, welche ihm innen und außen durch den langen Aufenthalt im Häusermeere anhaften mögen, von sich abfallen sehen, so ahme er mein Beispiel nach und werde, wenn auch nur auf kurze Zeit, am Strande der ewig beweglichen Thalatta, hier Ostsee genannt, ein neuer gesünderer Adam!

Schreiber dieses verlebte den Sommer 1875, der sich ja durch schönes Wetter besonders auszeichnete, ländlich, schändlich, aber harmlos und gesund in einer reinlichen Fischerhütte, hart am Wogenpralle gelegen, auf der romantisch schönen und sagenhaften Insel Rügen. Ein Kind, unser einziges, vergaß hier sehr bald die Nachwehen einer aufreibenden Krankheit, lernte seine Füße gebrauchen und blühte neu auf wie eine Rosenknospe. Diese wunderbare Wirkung der Luftveränderung auf den Körper des muntern Kleinen wollte ich nur ungern unterbrechen; die Abreise nach der großen Hauptstadt wurde immer weiter hinausgeschoben; der Herbst mit seinen Sommerfäden, seiner Durchsichtigkeit und wechselnden Farbenpracht im welkenden gelb und roth schimmernden Blätterschmucke der hohen Eichen und Buchen schlug tief seine Fesseln in unser empfängliches Gemüth, und als Boreas die ersten Eisnadeln und Schneeflocken uns in das Gesicht jagte, lachten wir ihn aus: „Du wirst uns nicht los.“ Wir winterten ein. –

Der Großstädter ist gewöhnlich der Ansicht, daß ein gebildeter und in seinen eigenen Schuhen stehender Mann ohne die Freuden und das Treiben der Stadt einen langen Winter hindurch auf dem Lande nicht leben könne, ohne zu verkommen und zu verbauern; das ist aber, wie ich aus eigener Erfahrung versichern kann und in nachfolgenden Skizzen beweisen möchte, keineswegs der Fall, man muß nur körperlich und geistig gesund sein und die Lust haben, etwas Neues und Lehrreiches, was im abgelegensten Erdenwinkel möglich ist, aufzufassen und kennen zu lernen, dann wird man nicht seine Zeit verloren haben.

Nun aber will ich, um endlich zur Sache zu kommen, ohne das Stillleben des Winters bei hellbrennender Lampe und wohlgeheiztem Ofen zu berühren, mit einem raschen Sprunge mitten hinein in den Fischfang der Küstenbewohner den Leser fallen lassen, ohne daß sich derselbe den Fuß naß zu machen brauchte.

Wenn der Winter mit alleinherrschender Schroffheit und unwiderstehlich in seine eisigen Rechte tritt, so geschieht solches häufig nach vorhergegangenen heftigen, tagelang andauernden Nordweststürmen, wenn der trotzdem auf der Insel lagernde dichte Nebel, hier „Dack“ genannt, sich nicht heben will, ganz plötzlich und unerwartet. Der Wind springt nach Südost um. Es wird „hohe Luft“, und in gewaltig langen, wallenden Riesenschleiern sehen wir die trägen Dunstmassen nach Norden abziehen. Nun lagert sich mit heiterer Ruhe und siegesgewiß der Eisgott breit und schwer auf Land und Wasser. Der noch eben vom Nebel halbbetäubte Strandmensch wacht ebenso schnell auf, wie die Veränderung des Wetters eintrat; die kleinen Boote werden eilig auf das Trockene gebracht und hier umgekehrt, während die größeren Küstenfahrzeuge, Schooner, Galeassen und Jachten, schleunigst einen sicheren Hafen aufsuchen, um dort, abgetakelt, den langen Winter faullenzend hinzuträumen. Erfahrungsmäßig ist der Einritt großer Kälte stets mit stiller Luft verknüpft, sodaß in wenigen Tagen, soweit das Auge reicht, der starre Frost einen Eispanzer um das bewegte Element gelegt hat, der so glatt und fest auf dem ruhelosen Wasser liegt, daß der Mensch im Stande ist, auf bequemere Weise und gefahrloser seinem Erwerbe nachzugehen als bei offener See.

Allerdings ist seine Arbeit, zumal bei großer Kälte, nicht mühelos und erfordert Kraft und Geschicklichkeit. Die langen Flügelnetze, welche oft gegen neunhundert Reichsmark kosten, werden von den in den Stranddörfern gebildeten „Commünen“, wie sie sich undeutsch nennen, hervorgezogen und auf die Peekschlitten gelegt. Ein Peekschlitten ist bekanntlich ein solcher, welcher mittelst eines langen mit einem Haken versehenen Stabes (Peekstange oder Pike genannt) durch fortwährendes gleichmäßiges Stoßen des darauf Stehenden auf dem Eise fortbewegt wird. Wenn es noch ganz finster ist, treten die Mitglieder einer solchen Gemeinschaft am Strande an, und lustig gleitet die ganze, aus zwanzig bis dreißig Mann bestehende Schaar sausend und klirrend über die glatte Fläche dahin, um mit Tagesanbruch an der Fangstelle zu sein. In einer stillen, tief in das Land hineingehenden Bucht wird Halt gemacht, weil sich dorthin, in das seichte Wasser, gern der Plötz – denn ihm gilt heute die Jagd – begiebt, wahrscheinlich aus dem einfachen Grunde, um sich leichter in großer Menge vom Fischer fangen zu lassen. Eine andere Ursache hat mir wenigstens keiner dieser blonden ungehobelten Enakssöhne von dieser Massenversammlung der Familie „Plötz“, die sonst nur einzeln herumwimmelt, angeben können, also dürfen wir nichts Besseres thun, als glauben und – zusehn: fleißig sind alle Hände in Bewegung. Mit kräftigen Schlägen dringt die Axt in den Eispanzer; wie nach der Schnur werden, vierzig bis fünfzig Fuß von einander entfernt, in gerader Linie Löcher eingehauen, so daß in kurzer Zeit ein Rechteck oder Quadrat durch dieselben, je nach der Enge oder Weite der Bucht, entsteht, damit man regelrecht unter dem Eise fischen kann. Nach dieser rasch vollzogenen Arbeit beginnt in höchst drolliger Weise die Eröffnung dieses uns fremdartigen Schauspiels. Wie auf Commando fallen nämlich alle noch eben so fleißig arbeitenden Männer in den dunkelblauen Friesjacken, Südwester oder Pudelmütze auf dem harten Schädel, jeder vor seinem Loche platt auf den Bauch.

Die blutrothe Sonne taucht eben groß und majestätisch aus dem kalten Seebade auf; sie muß vor Allem ihr freundliches und mächtiges Licht scheinen lassen, damit das Wasser unter dem Eise klar und durchsichtig werde wie Krystall und damit das Auge des beutelustigen Raubthiers Mensch aus der Anzahl der an den Löchern vorüberhuschenden und blitzenden Fischlein den Schluß ziehen könne, ob es gerathen sei, die schwere Arbeit des Netzlegens vorzunehmen oder nicht. Ist ersteres der Fall, dann geht es mit großer Geschäftigkeit an’s Werk. Die Leinen, welche sich an den Enden der umfangreichen Garne befinden, werden mit kunstgerechtem Knoten an den langen Stangen, welche von einem Eisloche bis zum andern reichen, angeknüpft, und auf diese Art wird, von der Mitte anfangend nach rechts und links und zu gleicher Zeit, das ganze Netzsystem leise in’s Wasser getaucht, mittels der Stangen von einer Oeffnung zur anderen weitergeführt, bis die linke und rechte Flügelstange sich an einer bestimmten Oeffnung treffen, aus welcher der Aufzug geschieht.

So nur ist es möglich, unter dem Eise mit Netzen zu fischen und, wie es hier der Fall war, in einem Zuge mehr als dreißig Centner Plötze aus dem Wasser zu holen. An diesem denkwürdigen Tage wurden in drei Zügen gegen hundert Balgen à fünfzig Kilo geerntet, und wurde nach alter deutscher Sitte in der nächsten Strandkneipe nicht nur die Waare so rasch als möglich für den Marktpreis, der zwischen neun und fünfzehn Reichsmark pro fünfzig Kilo schwankt, verhandelt, sondern noch schneller in flüssiges Feuer, Grog oder Schwedenpunsch, verwandelt. Jedes Communemitglied hatte an genanntem Tage einen Verdienst von sechszig Reichsmark und die gegründete Hoffnung auf mehr. In dem sonst so stillen Häuschen ging es lustig zu. Es duftete nicht nach Patschouli und Rosenpomade, aber nach Thran und Fusel. Die Gesänge, welche den rauhen Kehlen entströmten, waren mehr Schelmen- als Minnelieder; die Geschichten, welche erzählt wurden, gehörten auch nicht alle in den „Kinderfreund“ hinein, und trotz alledem war es doch interessant, diesem Treiben beizuwohnen und sich eine kurze Zeit mit diesem nordischen Gebrüll und Gebahren zu identificiren, dessen schließlich auftretende Bestialität, wenn der Brummschädel mit Gasen erfüllt und die Beine das Bestreben zeigen, stets um die Ecke gehen zu wollen, dem Nüchternen immer lästig fällt. Darum hieß es auch bei mir sehr bald: „genug des grausamen Spiels“, denn ich hatte mäßig mitgehalten, mich erwärmt und konnte mich nach Hause drücken.

Eine zweite Art, dem stummen und wohlschmeckenden Wasserbewohner unter dem Eise zu Leibe zu gehen, besteht in dem erbarmungslosen Stechen des Aals. Um solches zu ermöglichen, wird an dem fünfundzwanzig bis dreißig Fuß langen Schafte von Kiefernholz das aus vier bis sechs sehr scharf angefeilten und [667] mit Widerhaken versehenen Spitzen bestehende Stecheisen befestigt und der Eisschlitten, welcher wie ein Schlittschuh mit zollhohen dünnen und scharfen Schienen besohlt ist, bestiegen. Auf der äußersten hinteren Kante desselben stehend, fährt der kräftige und gewandte Aalpeeker, wie aus der Pistole geschossen, mit wahrhaft rasender Geschwindigkeit, auf der glatten Eisfläche dahin. Mit beiden Armen, unablässig und schnell auf- und niederfahrend, stößt er die bewegende Kraft und das Steuer seines Schlittens, die scharf eingreifende Pike, zwischen seinen Beinen nach hinten und nach der Seite und kann dadurch eine kaum glaubliche Geschwindigkeit erzielen, da er drei- bis viertausend Schritt in acht bis zehn Minuten zu durchmessen im Stande ist.

Unser Aalstecher ist nun in seinem sausenden Tempo auf der Wahlstatt angelangt; die Axt hat ein Loch in das Eis gehauen, und vorsichtig ohne vieles Geräusch wird der Speer in die Tiefe hinabgelassen.


Ausfahrt der Prinzessinnen von Jagdschoß Glienicke (vergl. Seite 669).
Originalzeichnung von Hermann Lüders.


Hier, auf dem körnigen Sande, auf der grünen Decke von Seetang und zwischen den Steinen des Bodens liegen die glatten Aale oft in großer Anzahl dicht beisammen „so wohlig auf dem Grund“ und sind „keines Ueberfalls gewärtig“; da fährt einem die scharfe Spitze in den Leib und er wird emporgehoben, trotz aller schlangenartig sich windenden, heftig schnellenden Bewegungen seines muskulösen Körpers. Ja oftmals winden und wickeln sich zwei und mehr Leidensgenossen um Eisen und Stange des räuberischen Erdensohnes, wenn sie allzudicht bei einander gelegen. Dieses Aufpeeken ist aber nicht immer so leicht und erfolgreich, wie man vielleicht glaubt, da der Aal, obgleich in lethargischen Zustande, doch bei der leisesten Berührung erwacht und mit instinctiver Beweglichkeit, den Feind ahnend, sich seitwärts fortschnellt. Zu meinem Leidwesen habe ich oft, ehe ich Uebung und Kenntnisse hatte, meinen Speer, den ich erfolgreich, wie ich glaubte, in den glatten Körper gestoßen, leer heraufgezogen. Hat man dagegen erst einige Geschicklichkeit erlangt und besitzt man eine gewisse Spürkraft, so fühlt man, wenn die Spitzen den Boden berühren, sofort das weiche Fleisch und stößt dann nicht mehr so leicht in den Sand. Ein fleißiger und geschickter Mann ist im Stande zehn und zwanzig Pfund Aale an einen Tage aufzuheben, wofür er vier bis acht Reichsmark an Ort und Stelle erhält.

Die dritte und Haupterwerbsquelle des nordischen Fischers ist aber unstreitig der Fang des Härings, da dieser dem Menschen fast unentbehrlich gewordene Magentrost stets in größeren Massen auftritt und also auch im Großen gefangen werden kann. Die Frage, ob der Schöpfer das Salz für den Häring oder den Letzteren für Ersteres geschaffen, ist schon oft von naiven Kindsköpfen aufgestellt worden, und neulich hat sogar eine Binnenländer und Beamter in einer kleinen Stadt mich allen Ernstes gefragt, woher es doch komme, daß gerade der Häring schon fertig gesalzen aus dem Meere gezogen würde, während die anderen Seebewohner noch, um genießbar zu werden, einen Zusatz der unentbehrlichen Beize bedürften. Da dem guten Manne so geringe Gaben attischen Salzes in Hirn und Blut übergegangen und ich seinen blöden, bureaukratischen Augen den Ernst und Kinderglauben ansah, so erklärte ich ihm in mildester Form seinen Irrthum und freute mich über sein ungekünsteltes Erstaunen. Der Mann hatte übrigens studirt und Examina gemacht, darf also getrost seine Unkenntniß der Naturgeschichte den krumm- und geradenasigen sogenannten großen Römern und Griechen und deren Interpreten in’s Conto zur Belastung schreiben.

Um aber wieder auf besagten Salzfisch zurückzukommen, den man füglich im Vereine mit der Kartoffel in der Schale den Trost der Armuth, zugleich aber auch den Wiederhersteller des Gleichgewichts nennen muß, das dem Magen des Schlemmers verloren gegangen, so werden wir wieder, wie immer, bekennen müssen, welche große Weisheit und Voraussicht die Schöpfung bei der Massenproduction des Härings entwickelt hat, und wollen wir darum den Wanderburschen vom hohen Norden, der in silberglänzenden mit grünem Rücken versehenem Gewande zu uns herniedersteigt, etwas näher betrachten.

[668] An den norwegischen Küsten wie an denen Großbritanniens, Hollands und Deutschlands erscheint er beinahe zu derselben Zeit in langen Zügen, nimmt jedoch in der Ostsee an Gewicht und innerem Werthe wesentlich ab, sodaß man mit Recht glauben darf, der höhere Salzgehalt und die nährende Kraft des Nordseewassers sage demselben mehr zu, als die geringeren Eigenschaften des von Ebbe und Fluth nicht berührten Wassers des baltischen Beckens.

Bei den Lofoden und in den Meeren des Nordlands wird er von seinen riesigen Treibern und zweifelhaften Schutzmännern, den Walen, in die Buchten gedrängt und festgehalten, während hier in der Ostsee der Seehund die Rolle des Zujägers übernommen. Mit dem eben Gesagten soll aber nicht ausgesprochen werden, daß der Mensch den obengenannten Seethieren die Möglichkeit des Fanges verdanke, denn jedenfalls treibt ein Naturbedürfniß, das mit dem Ablegen des Rogens verknüpft ist, fast alle Fische zu den weitesten Excursionen. Wir wollen dabei an den Salm, Stör und Wels erinnern, die sogar ihr Salzwasser verlassen, um in den Binnengewässern zu laichen. Schon im Monat März, wenn die Strahlen der Sonne die Eisdecke mürbe gemacht, liegt der Häring an unseren Küsten, aber noch weit ab vom Lande; sind aber die Eisgürtel geborsten und mit günstigem Winde abgetrieben, dann beginnt die Zeit des Frühjahrsfanges, der zuerst mit den sogenannten „großen Garnen“ und später mit den „Reusen“ ausgeführt wird. In den ersten Wochen hat ein „Wall“ (vierundachtzig Stück Häringe) noch einen recht ansehnlichen Werth, der sich auf circa drei Mark beziffert; dann geht der „grüne Häring“ auf den schnellen Verkehrsstraßen in die Hände der Kaufleute direct über und paradirt auf den Märkten großer, weit ab vom Wasser gelegener Städte als „Strömling“. Später sinkt der Werth für vierundachtzig Stück oft auf wenige Pfennige herab.

Ist der Tagesbogen, welchen die Sonne beschreibt, höher und länger geworden, dann sieht man den nie ruhenden Erwerbstrieb des Menschen in voller Arbeit. Nach einem von Alters her gebräuchlichen und durch örtliche Verhältnisse bedingten Verfahren werden in bestimmten, ziemlich nahen Entfernungen von einander viele Hunderte von Stangen in den Meeresboden getrieben, die eben erwähnten „Reusen“ (sackförmig zugespitzte Netze) an denselben befestigt, sodaß für den arglosen Schwimmer ein mehrere hundert Fuß breites Hinderniß entsteht, das täglich viele Tausende in sich aufnehmen kann, bis ihm der Mensch seine Last wieder abnimmt. Solch einen Reusenfang sich anzusehen, sollte der Binnenbewohner, wenn er an die Küste gelangt, niemals unterlassen. Hat er Trieb zur Belehrung, so wird er das travestirte Sprüchwort: „Morgenstunde hat Schlaf im Munde“ einmal wenigstens zu überwinden suchen, denn er muß sehr früh aufstehen und sich warm kleiden, wenn er an einem klaren und kalten Morgen seine Kenntnisse bereichern will, um später in der Großstadtkneipe sich damit groß zu thun, daß er oft beim Häringsfange zugegen gewesen, er muß aber auch, nach dem jedenfalls mangelhaften Genusse des Frühtrunks, seetüchtig genug sein, um eine frische Landbrise mit erregtem Wasser aushalten zu können. Hast du, mein Freund, dies überwunden und gelangst du im trefflich geführten Kutter in die Nähe der Reusen, welche schon weithin erkennbar sind, so wird dir zuerst auffallen, daß innerhalb der Pfähle, windabwärts, das Wasser nur eine Kräuselung zeigt, während leichte schaumgekrönte Wellen dein Boot umgeben. Beim Anblicke deiner Begleiter und ihrem Freudenrufe wirst du dann sofort erkennen, daß dieses „krause Wasser“ ein Zeichen von der reichlichen Füllung der Reusen ist.

Alle Hände sind aber auch sofort in voller Thätigkeit, um den von der eben aufgehenden Morgensonne goldig angehauchten Silberschatz zu heben. Von allen Seiten eilen die großen und kleinen Fahrzeuge der Interessenten und Händler herbei, und während die nur wenig zappelnden Häringe, an die Luft gebracht, sofort bewegungslos werden und sterben und sich wie Bäche flüssigen Metalls aus den langen Reusen in den Raum des größten Transportbootes ergießen, wird von den Menschen gefeilscht, gezählt, gejubelt und vor Allem dem „Gotteswort vom Lande“, dem „reinen Korn“, wie hier der vierunddreißig Procent haltende Kartoffelfusel genannt wird, sehr energisch zugesprochen, da ein tüchtiger Fischer nie allein von außen naß werden muß, sondern von Rechtswegen so lange trinken soll, bis er auch von innen nasse Füße bekommt.

Vom Klügsten in der Commune wird endlich der Abschluß mit den Händlern gemacht oder die Bestimmung getroffen, auf welchen Markt des Festlandes dieselbe gebracht werden sollen, um einen höheren als den gebotenen Preis zu erzielen. Unser Nordlandsfischer ist gewöhnlich ein guter Rechner; er traut dem Händler niemals und sagt es diesem mit naivster Offenheit in’s Gesicht. So vergeht eine Stunde nach der anderen. Der Wind springt zu einer frischen Brise um, und schneller, als man gedacht, erreicht man wieder den Strand.

Nun wäre auch ich mit der Darlegung meiner Beobachtungen zu Ende und könnte doch noch so viel von der weiteren Behandlung und Verwerthung des Härings berichten; wenn ich aber das eben Niedergeschriebene übersehe, so bin ich aufgebracht darüber, daß meine Worte so wenig im Stande sein werden, dem Leser die Gefühle zu schildern und den Genuß, der mich immer beseligte, wenn ich am schönen, frischen Morgen mit Peter, Matte, Magnus oder Michel hinaus in die See spritzen konnte; darum möchte ich dir, mein geduldiger Leser, nur zum Schlusse zurufen: Richte mich und dich nicht nach meinen Worten, sondern in diesem besonderen Falle nach meinen Werken, oder, da ich einmal als Bibelhusar herumreite: „Gehe hin und thue desgleichen!
H. N.




Bilder und Skizzen aus Potsdam.
Von Fedor von Köppen.
Mit Originalzeichnungen von Hermann Lüders.


Nie erschöpf’ ich diese Wege;
Nie ergründ’ ich dieses Thal,
Und die altbetretnen Stege
Rühren neu mich jedes Mal;
Oefters, wenn ich selbst mir sage,
Wie der Pfad doch einsam sei,
Streifen hier am lichten Tage
Theure Schatten mir vorbei.

1.

Von jeher ist Potsdam die Lieblingsstadt der preußische Könige und der hohenzollerischen Prinzen gewesen. Der Vorzug, zugleich die zweite Residenzstadt und der Lieblingssitz eines deutschen Kaisers zu sein, ist ihr indessen erst in unserer Zeit geworden, und mit erhöhtem Interesse wenden wir uns jetzt der Stadt und dem freundlichen Sommerschlosse in ihrer Nähe, dem Babelsberge, zu, in welchem der greise Kaiser Wilhelm nach den Anstregungen seines hohen Berufes Erholung und Ruhe findet.

Aehnlich wie das königliche Stadtschloß zu Potsdam uns die Zeit Friedrich Wilhelm’s des Ersten und seiner Wachparade in’s Gedächtniß ruft, Sanssouci durch die Erinnerung an den königlichen Philosophen und seine Tafelrunde verklärt wird, übt in unserer Zeit Schloß Babelsberg als Lieblingsaufenthalt Kaiser Wilhelm’s auf uns seine Anziehungskraft. Schon aus der Ferne winkt über den blauen Wasserspiegel der Havel das im Styl einer normannischen Burg erbaute Schloß mit seinen Erkern, Thürmchen und Zinnen, über denen bei Anwesenheit des Kaisers die Standarte des königlichen Hauses rauscht; weithin sichtbar ist die aus frischem Waldesgrün emporsteigende Warte des „Flatower Thurmes“, der castellartig mitten im künstlichen See gelegen ist, und von nahe und fern strömen die Besucher an den Ruhesitz des deutschen Kaisers. Kein Wachtposten schildert vor dem Eingange; kein Schutzmann wehrt uns die Wanderung und Umschau in den schattigen Gängen des anmuthigen Parkes, welchen der geniale Fürst Pückler-Muskau und der königliche Gartendirector Lenne nach den eigenen Angaben [669] des jetzigen Kaisers (seit 1835) hier auf den sandigen Höhen am linken Ufer der Havel entstehen ließen.

Das ganze Babelsberg, Schloß und Park, zeugt von dem einfachen, edlen Geschmacke, den schlichten Neigungen des kaiserlichen Besitzers. Abgesehen von dem Standbilde des Erzengels Michael mit dem Drachen (nach Kiß von Fischer) und der in neuerer Zeit im Parke aufgestellten Siegessäule mit der Victoria (von Rauch), welche das Antlitz der königlichen Hof- und Garnisonkirche zuwendet, als wollte sie den Lorbeerkranz in der erhobenen Rechten auf dem Sarge Friedrich’s des Großen niederlegen, finden wir keine prachtvollen Monumente, keine kunstvollen Grotten und Bassins, wohl aber manchen Gegenstand von historischem Interesse.

Dahin gehört jener merkwürdige, viereckige Bau aus rothen Backsteinen und Klinkern, in welchem acht Strebepfeiler und eine Mittelsäule das vierfache Kreuzgewölbe der Decke tragen und welchen die Berliner mit Verwunderung als ihre alte Gerichtslaube wiedererkennen, die seit sechs Jahrhunderten unverrückt auf demselben Platze in der Königsstadt gestanden und so manches Capitel aus den Berliner Stadtgeschichten zu erzählen weiß. Bei dem Baue des neuen Rathhauses in Berlin sollte das mittelalterliche Bauwerk den Anforderungen des gesteigerten Verkehrs zum Opfer fallen; da nahm Kaiser Wilhelm die alte städtische Reliquie in seinen Schutz und gab ihr diesen Platz auf der sogenannten Lenné-Höhe in seinem eigenen Schloßparke, indem er sie ganz in der alten Weise und zum Theile aus dem alten Baumateriale hier wieder aufrichten ließ. Nun ist sie das Ziel von vielen Fremden, namentlich von Berlinern, die sich von der Plattform aus der lieblichen Aussicht über die Stadt und den blauen Havelstrom freuen.

Ein anderes, kleineres Denkmal im Parke, das sogenannte „Bildstöckl“ – das ist eine kleine, steinerne Säule, oben mit einem Schreine zur Aufbewahrung eines Heiligenbildes, welche dicht am Ufer der Havel zwischen zwei Ruhebänken steht – erinnert an eine Episode aus dem Leben des jetzigen Kaisers, die im Jahre 1849 spielte. Damals stand dieses Bildstöckl als eine Markscheide zwischen den Dörfern Bischweier und Muggensturm im Großherzogthum Baden, und ganz in seiner Nähe hielt der Prinz von Preußen, Oberbefehlshaber der preußischen Truppen in Baden, mit dem Grafen Pückler, Oberstlieutenant im vierundzwanzigsten Landwehrregimente und Hofmarschall des Prinzen, während um die Dörfer ein hitziges Gefecht zwischen den preußischen Truppen und den badischen Insurgenten entbrannte. Obgleich die Kugeln ganz in der Nähe des Prinzen einschlugen, betrachtete dieser ruhig und aufmerksam die kleine Säule und äußerte dabei zu seinem Begleiter, dem Grafen Pückler: „Ein ähnliches Bildwerk wollte ich am Havelufer meines Parks zu Babelsberg aufstellen; dieses hat ungefähr die Form, welche ich mir dafür dachte.“ Die vorübermarschirenden Truppen wunderten sich über die Kaltblütigkeit, mit welcher der Prinz mitten im feindlichen Feuer vor dem unbedeutenden Gegenstande verweilte. Später kam der Vorgang zu Ohren des damaligen Großherzogs von Baden. Dieser aber ließ die Säule mit einer Platte versehen, auf welcher das eiserne Kreuz und das Datum „29. Juni 1849“ eingegraben waren, und übersandte sie als Erinnerungszeichen dem Prinzen nach Babelsberg. An ihre ursprüngliche Stelle ward ein ähnlicher Markstein gesetzt.

Auch die vier kleinen Kanonen auf blauen Laffeten, welche von einem Rasenplatze auf die Havel herabschauen und wohl nur zu Freudenschüssen abgefeuert werden, gehören zu den charakteristischen Zierden des Parks.

Wenn der Kaiser nicht selbst im Schlosse anwesend, ist der Besuch der inneren Räume für Jedermann erlaubt; ja, es ist gestattet, dieselben Zimmer in Augenschein zu nehmen, die er soeben erst verlassen, und wir können wohl die Feder noch naß finden, mit der er gearbeitet hat. Das Leben des Kaisers liegt hier vor uns, wie ein aufgeschlagenes Buch. Dieselbe Einfachheit, welche uns im Parke anheimelte, herrscht auch hier. Es sind weniger Gegenstände von Kunstwerth, als solche von militärischem Interesse oder liebe Andenken die den Schmuck der bewohnten Zimmer bilden. Hier sehen wir die Marmorbüsten der Eltern des Kaisers, König Friedrich Wilhelm’s des Dritten und der Königin Louise von Rauch, dort ein Sophakissen von der Königin Louise eigenhändig gestickt, und auf dem Kamin eine von der Frau Kronprinzessin modellirte Büste der Kaiserin Augusta. Jenes weiße gehäkelte Deckchen auf dem Sopha ist die erste Handarbeit der Frau Großherzogin Louise von Baden, Tochter des Kaisers, und dieser kunstvoll gedrechselte Gartenstuhl das Meisterstück des Kronprinzen – denn bekanntlich müssen die königlichen Prinzen in der Jugend auch ein Handwerk lernen. Deutet so Alles in diesen Zimmern auf Arbeit und auf die gesegneten Früchte der Thätigkeit hin, so haben edler Frauen Hände durch anmuthige Stickereien dafür Sorge getragen, daß in dem Kranze der goldenen Aehren das holde Blau der Cyanen nicht fehlt, auf dem der Kaiser die angestrengten Augen gern ruhen läßt. Die kleine Bibliothek auf dem Arbeitstische enthält größtentheils Werke militärischen Inhalts, Karten und Manöverpläne.

Von besonderer Einfachheit ist auch hier das Lager des Kaisers, mehr einem Feldbett, als einem Ruhelager ähnlich, – eine Matratze, ein Kopfkissen, mit Leder überzogen, und eine Friesdecke. Wenn der Kaiser zur Ruhe geht, fällt sein Blick auf ein am Fußende des Bettes angebrachtes Kreuz mit dem Heilande, das sich in einem geschnitzten Holzgehäuse befindet; am Kopfende sehen wir ein sinniges Aquarellbild von der Hand der Kaiserin Augusta, die Lebensreise darstellend, mit dem Genius am Steuerruder, ein Geschenk, mit welchem die damalige Prinzessin von Preußen ihren Gemahl bei der silbernen Hochzeitsfeier erfreute (11. Juni 1854).

Nur wenige Stunden überläßt der Kaiser sich der Ruhe. So wie man in Berlin oft noch spät in der Nacht durch das erleuchtete Fenster des Eckzimmers im kaiserlichen Palais seine hohe Gestalt am Arbeitstische erblickt, so sieht man auch hier vom Parke aus noch lange das Licht in seinem Arbeitszimmer. Und schon früh am Morgen beginnen wieder die Vorträge, deren Reihe an bestimmten Tagen der Geheime Hofrath Schneider durch Mittheilungen aus den Zeitungen und der Tagesliteratur eröffnet. Das Hausreglement wird stets mit der größten Pünktlichkeit gehandhabt; die Zeiten der Ausfahrten werden, wenn keine besondere Verhinderung eintritt, auf das Genaueste innegehalten, und es dürfte wohl schwerlich der Fall vorgekommen sein, daß der Kaiser zu einer Parade oder Truppenbesichtigung nur eine Minute nach der angesetzten Zeit auf dem Platze erschienen wäre.

Trotz der militärischen Strenge in der Hausordnung sieht man in der Umgebung des Schlosses überall nur freundliche Gesichter. Es ist, als ob man Jedem – von dem Gärtner, der den Rasen pflegt, bis zu dem Küchenjungen, der sein Eselsgespann durch die Seitenwege des Parkes zur königlichen Küche leitet – im Gesichte läse, wie gern und freudig er seinen Dienst thut, und es fiel uns nicht auf, als wir beim Spaziergange durch den Park aus einem Oekonomiegebäude neben dem Cavalierhause den harmlos frohen Chorgesang der Mägde weithin durch den Garten schallen hörten, obgleich der Kaiser im nahen Schlosse anwesend war. Ich glaube, sie sangen: „Wer will unter die Soldaten, der muß haben ein Gewehr etc.“

Auch Babelsberg hat den Wandel der Zeiten erlebt. Im Jahre 1848 hatte das Schloß soeben einige bauliche Erweiterungen und Verschönerungen erfahren, als die Ereignisse eintraten, welche den Besitzer mehrere Monate hindurch von seinem Lieblingssitze fern hielten. Wie dem Prinzen von Preußen zu Muthe war, als er in jener Zeit der Noth, fern von seinem Vaterlande, die Gastfreundschaft eines fremden Hofes genoß, darauf können wir aus einer kurzen Notiz von seiner Hand in dem Gesangbuche schließen, welches einer der Besuchenden in Babelsberg auf seinem Arbeitstische aufschlug. Es fand sich darin bei dem Liede Nr. 399 (des Hannoverschen Gesangbuches) der dritte Vers angestrichen und von der Hand des Prinzen daneben geschrieben: „Bei meinem ersten Besuche des Gottesdienstes in der Savoykirche zu London am 2. April gesungen.“

Der bezeichnete Vers lautet:

„Da siehst Du, Gottes Herz,
Das kann Dir nichts versagen;
Sein Mund, sein theures Wort
Vertreibt ja alles Zagen.
Was Dir unmöglich dünkt,
Kann seine Vaterhand
Noch geben, die von Dir
Schon vieles Leid gewandt.“

Gegen Ende des Mai verließ der Prinz auf den Ruf des Königs London, um in die Heimath zurückzukehren, und am 7. Juni, dem Todestage Friedrich Wilhelm’s des Dritten, traf

[670]

„Gott erhalte Eure Majestät!“       Kaiser Wilhelm im Park zu Babelsberg.       Prinz Karl im Park zu Glienicke.
Die Jagdmeute in Glienicke.       Herbstjagd in den Potsdamer Forsten.       „Der Wachtmeister von Seiner Majestät Garde du Corps wird wohl nicht zum Publicum gerechnet werden.“

[671] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [672] er auf der Wildparkstation bei Potsdam ein, von dem Könige und der Königin Elisabeth auf dem Bahnhofe empfangen. Sein erster Weg war – mit diesen gemeinsam – in das Mausoleum zu Charlottenburg, um der Gedächtnißfeier für seinen königlichen Vater beizuwohnen.

Das seit den Märztagen völlig veränderte Aussehen der Hauptstadt, die kühle Aufnahme, welche ihm in der Nationalversammlung zu Theil wurde, in die er von dem Kreise Wirsitz im Großherzogthum Posen als Abgeordneter gewählt worden war, mögen unerfreuliche Eindrücke bei dem Prinzen hervorgerufen haben. Um so herzlicher war der Empfang, den ihm die zweite Residenzstadt Potsdam bereitete. Die Illumination der Stadt wurde wegen des Todestages Friedrich Wilhelm’s des Dritten auf den folgenden Abend festgesetzt; nur das Dorf Nowawes, als Nachbarin des Schlosses Babelsberg, wollte seine Freude über die Rückkehr des Prinzen nicht vertagen, und noch an demselben Abend leuchteten alle Fenster der kleinen Webercolonie.

Am Abend des 10. Juni brachten die Officiercorps der Potsdamer Garnison dem Prinzen in Babelsberg eine Huldigung dar. Ueber hundert mit Blumen, Laubgewinden und Flaggen geschmückte offene Gondeln schwammen von Potsdam auf der schönen, breiten Havel heran; zahllose Fackeln und bunte Laternen warfen ihren Schein in den am Fuße des Babelsberges sich ausbreitenden Wasserspiegel, und die Klänge von fünf Musikcorps zogen in der lauen Sommernacht über die Wasserfläche zum Schlosse empor. In den nächsten Tagen empfing der Prinz in Babelsberg Adressen und Deputationen aus den Provinzen. In Berlin aber fing man an zu fürchten, daß die kleine Burg an der Havel ein Herd der Reaction werden könne, und es wurde von den aufgeregten Volkshaufen allen Ernstes ein Ueberfall des ganz unbewachten Schlosses beabsichtigt, so daß der Commandant jetzt eine Bewachung der sämmtlichen Zugänge anordnete. Der Prinz beachtete übrigens die drohenden Gerüchte nicht im Geringsten, sondern ging stets allein im Park und in der Umgegend spazieren.

Auch in den folgenden Jahrzehnten hat er in Babelsberg als Prinzregent, als König und als Kaiser den Wechsel des Schicksals erfahren, was aber unverändert geblieben, das ist seine eigene, tiefinnerste Natur. –

Kurz vor seiner Confirmation durch den königlichen Hofprediger Ehrenberg (8. Juni 1815) hatte der damals achtzehnjährige Prinz Wilhelm sein Glaubensbekenntniß aufgesetzt und demselben eine Reihe von Lebensgrundsätzen beigefügt. Wir finden in dieser Schrift die schönen Sätze:

„Ich weiß, was ich als Mensch und als Fürst der wahren Ehre schuldig bin. Nie will ich in Dingen meine Ehre suchen, in denen nur der Wahn sie finden kann.“

„Meine Kräfte gehören der Welt, dem Vaterlande. Ich will daher unablässig in dem mir angewiesenen Kreise thätig sein, meine Zeit auf das Beste anwenden und so viel Gutes stiften, als in meinem Vermögen steht.“

„Ich will ein aufrichtiges und herzliches Wohlwollen gegen alle Menschen, auch gegen die Geringsten – denn sie sind alle meine Brüder – in mir erhalten und beleben.“

„Ich will mich meiner fürstlichen Würde gegen Niemand überheben, Niemand durch mein fürstliches Ansehen drücken, und wo ich von Anderen etwas fordern muß, mich dabei herablassend und freundlich zeigen und ihnen die Erfüllung ihrer Pflicht, soviel ich kann, zu erleichtern suchen.“

Das ganze Leben des Kaisers, wie es klar und offen vor uns liegt, scheint nur die Erfüllung der Vorsätze zu sein, die er damals, vor nun einundsechszig Jahren, als Jüngling sich gelobt.

Es mögen Empfindungen eigener Art sein, die jetzt die Brust des Kaisers durchziehen, wenn er mit den Erinnerungen an die durchlebte Vergangenheit allein die Gänge seines Parkes zu Babelsberg durchschreitet, jetzt, wo die Liebe und Treue seines Volkes ihn auf allen Wegen und Tritten begleitet, wo er sein Werk im Herzen des Volkes fest begründet sieht und wo er seine Blicke mit freudigem Stolze auf der Schaar seiner Kinder und Enkelkinder ruhen lassen kann, die berufen sind, dieses Werk zu behüten und daran fortzubauen.

Für die Bevölkerung Potsdams hat der nähere Verkehr mit dem Kaiser und dem Hofe noch eine besondere Bedeutung. Unter ihr ist die Erinnerung an die früheren Könige durch die Tradition noch lebendiger geblieben, als irgendwo; sie nimmt gewissermaßen persönlichen Antheil an allen Ereignissen innerhalb der königlichen Familie. Für Jeden knüpfen sich hier besondere Erinnerungen an die Erscheinung des königlichen Herrn. Hier ist noch einer seiner alten Kriegsgefährten aus der eisernen Zeit von 1813 bis 1815, gebeugt am Stabe, „mit weißem Haar und dem verblich’nen Band“, dort Einer, dem er das Düppeler Sturmkreuz auf die Brust geheftet hat, und dort ein Anderer, der auf den Longchamps vor den Thoren von Paris unter den Augen des Kaisers die Revue passirt ist.

Man spricht in Potsdam wenig vom „Könige“ und noch weniger vom „Kaiser“, um so öfter aber von „unserm Herrn“ oder von „dem lieben Herrn auf Babelsberg“. Kein stürmischer Zuruf schallt dem Kaiser entgegen, wenn er sich in den Straßen von Potsdam blicken läßt, aber auch der einfache, ehrerbietige Gruß, das Abziehen der Kopfbedeckung, genügt den Getreuen in Potsdam nicht immer. So sahen wir es an einem Sonntage nach dem Gottesdienste in der Garnisonkirche. Mehrere ältere, würdige Herren bildeten Spalier vor dem Ausgange der Kirche; sie entblößten ehrerbietig die Häupter, als der Kaiser heraustrat, und während er dankend an ihnen vorüberschritt, ging fast feierlich von Mund zu Munde der leise Gruß: „Gott erhalte Eure Majestät!“


2.

König Friedrich Wilhelm der Vierte trug sich bekanntlich mit dem Plane, die ganze von den Wasserarmen und Seen der Havel umschlossene Insel, auf der Potsdam liegt, in einen großen landschaftlichen Garten zu verwandeln. Und in der That, wer heutzutage aus der Luftballon-Perspective auf die Umgebung von Potsdam herabschaute, der würde zugestehen müssen, daß an der Verwirklichung des königlichen Gedankens nicht viel fehlt. Von allen Seiten lehnen sich bereits die Parks und Gärten der königlichen Schlösser an die Stadt, und überall reicht der Anhang des Hofes noch in die Vorstädte von Potsdam hinein. Im Westen treten wir bei dem Obelisk aus der Stadt unmittelbar in den Garten von „Sanssouci“. Im Norden erstreckt sich der „Neue Garten“ am Ufer des Heiligen Sees, in dessen klaren Fluthen sich der üppige „Marmorpalast“ König Friedrich Wilhelm’s des Zweiten spiegelt. An dem linken Ufer der Havel entlang ziehen sich gegen Nordosten und Osten die königlichen Parks von Babelsberg und Glienicke, zwischen denen das bescheidene Dörfchen Klein-Glienicke schamhaft hervorschaut, wie eine schüchterne Maid im diamantenen Gürtel.

Schattige, breite Alleen, in denen die königlichen Equipagen aneinander vorüberrollen und gewandte Cavaliere ihre Rosse courbettiren lassen, führen von einem Parke zum andern, und indem wir ihnen folgen, empfangen wir bei dem Rauschen der Fontainen, den reizenden Durchblicken, die zwischen den Waldpartien hin und wieder auf die blaue Wasserfläche und die Lustschlösser an ihrem Ufer sich öffnen, den Eindruck, als wanderten wir fortwährend in einem heitern Garten.

Beim Verlassen des Dorfes Klein-Glienicke erblicken wir, von Babelsberg kommend, zu unserer Linken das neuerbaute Palais und den Park des Feldmarschalls Prinzen Friedrich Karl von Preußen. Das „Jagdschloß Glienicke“ ist zugleich der Lieblingsaufenthalt der jugendlichen Töchter des Prinzen, deren Neigungen die ländliche Stille und Zurückgezogenheit hier mehr zusagt, als das Leben in der geräuschvollen Hauptstadt und in der hochgelegenen Wohnung des königlichen Schlosses daselbst, von der aus man keinen grünen Zweig erblickt, keine fröhliche Vogelstimme vernimmt – weder im Januar, noch im Mai. Hier strömt die schöne Luft ungehindert durch Fenster und Thüren in die Zimmer; hier fahren die drei Prinzessinnen oder zwei von ihnen (gewöhnlich die beiden jüngeren, Prinzessin Elisabeth und Louise Margarethe) fast täglich in dem einfachen zweispännigen Wagen allein spazieren, wobei die Prinzessinnen selbst abwechselnd die Zügel führen, während der fahrgewandte Groom hinten aufsitzt. Auch Reiten gehört zu den beliebten, wenn auch selteneren Vergnügungen der beiden jüngeren Prinzessinnen, und noch bei einer der letzten Paraden bei Berlin erschien die Prinzessin Elisabeth an der Seite der Frau Kronprinzessin zu Pferde. Alle drei Prinzessinnen sind in Potsdam geboren; sie haben hier ihre glückliche Kindheit verlebt und hängen mit ganzem Herzen an der märkischen Heimath. Weder die Großartigkeit der bairischen [673] Alpen, noch die Orangen- und Myrthenwälder Italiens, die sie durch ihren vorübergehenden Aufenthalt daselbst kennen lernten, konnten das liebe Bild der Heimath mit ihren Kiefernwäldern und blauen Seen in ihren Vorstellungen verdunkeln.

Daß die Töcher des Feldmarschalls Prinzen Friedrich Karl in ihren frühesten Kinderspielen eine gewisse Vorliebe für „des Königs Rock“ zeigten, ist natürlich. Bereits in ihrem vierten Jahre hatte die Prinzessin Elisabeth keinen lebhafteren Wunsch zu Weihnachten, als – eine Uniform. Die Königin Elisabeth erfüllte denselben, und nun war es ihre größte Freude, wenn sie an besonderen Tagen zu Hause dieses Kleidchen tragen durfte. Später schmückte sie sich gerne mit der Mütze der Zieten’schen Husaren, deren Uniform der Prinz, ihr Vater, gern anlegt, und verstand dieselbe mit großem Geschick, etwas seitwärts, die Cocarde genau in der Mitte, aufzusetzen. So erschien die kleine Prinzessin auch einmal in ihrem sechsten Jahre – es war am Doppelgeburtstage ihrer Frau Mutter und ihrer älteren Schwester (14. September) – im Wagen zur Königsparade des brandenburgischen Armeecorps bei Lebus, den muntern Kopf mit der Zieten-Husarenmütze bedeckt, unter welcher die langen, dunkelblonden Locken hervorquollen. Seitdem dem Prinzen Friedrich Karl auch ein Sohn, Prinz Friedrich Leopold, geboren worden (14. November 1865), sind die militärischen Ehren allmählich auf diesen übergegangen, aber das Interesse ist bei den Schwestern deshalb nicht geringer geworden.

Ein überaus zartes Verhältniß besteht zwischen den Prinzessinnen und diesem jüngern Bruder. Seitdem der Letztere eins der Schweizerhäuschen bewohnt, die der Prinz Karl an Stelle der angekauften Dorfhäuser von Glienicke hat erbauen lassen, und seine Zeit hier mit regelmäßen Stunden besetzt ist, beschränkt sich das Zusammensein der Geschwister indessen hauptsächlich auf die gemeinschaftlichen Spaziergänge, an denen auch der Pudel des Prinzen, auf den er große Stücke hält, Theil nimmt.

Auch die Zeit der Prinzessinnen ist sehr regelmäßig eingetheilt und ausgefüllt. Außer den Unterrichtsstunden, welche nicht allein die jüngste Prinzessin Louise Margarethe, sondern auch die beiden älteren Prinzessinnen Marie und Elisabeth noch nehmen, bildet Musik und Zeichnen die Hauptbeschäftigung derselben. Das Talent der Frau Prinzessin Friedrich Karl ist auch auf ihre Töchter übergegangen, und hin und wieder wird den Schulkindern von Glienicke die Auszeichnung zu Theil, die Modelle zu den Zeichnungen der Prinzessinnen liefern zu dürfen, an sich allerdings keine sehr geistanregende Unterhaltung, dennoch den Dorfkindern stets hocherwünscht, zumal sich damit die Aussicht auf ein vortreffliches Frühstück verbindet.

Die einfache Stille in Glienicke wird nur etwa ein bis zwei Mal durch ein ländliches Sommerfest unterbrochen, welches auf der Pfaueninsel oder im Jagdschlosse Stern stattfindet. Hier werden Spiele vorgenommen und zum Schlusse wohl auch auf dem Rasen oder im kleinen Saale des Jagdschlosses getanzt.

Einige hundert Schritte vom Jagdschloß Glienicke, ihm gegenüber, liegt auf der nördlichen Seite der Berliner Chaussee, die Besitzung des Prinzen Karl, früher Eigenthum des Staatskanzlers Fürsten Hardenberg. Zwei wasserspeiende, vergoldete Löwen behüten den Eingang zu dem Vorhofe des Schlosses und dem verschwiegenen Parke, der sich bis zur Bucht Moorlake, Sacrow gegenüber, ausdehnt. Alles in diesem Parke deutet auf den Kunstsinn und die sorgsame Pflege des fürstlichen Besitzers; denn der Prinz Karl ist nicht allein Gartenfreund, sondern auch selbst Gärtner und pflegt selbst, zuweilen auch zu Pferde, die Gartenscheere in der Hand, die Anlagen seines Parkes.

An das stille Ufer der Havel hat sich der Prinz noch ein besonderes Schlößchen gebaut und mit dem ihm eigenen Geschmack wahrhaft künstlerisch ausgestattet. Eine reiche Sammlung antiker Sculpturen, Gemmen, Büsten und Vasen, welche der Prinz von seinen verschiedenen Reisen mitgebracht hat, bildet den Schmuck der Gemächer, und kein Gegenstand der inneren Einrichtung entbehrt der künstlerischer Zierde. Die sämmtlichen Fußböden sind mit Marmor getäfelt, der zum Theil aus den Ruinen eines venetianischen Palastes der Catterina Cornaro stammt.

Dieses sogenannte „Casino“ bildet den Vereinigungspunkt für die Familie des Prinzen Karl, des ältesten Bruders unseres Kaisers, und wer an einen lauen Sommerabend auf der Havel am Parkufer vorüberfährt, der sieht wohl hier den Lampenschimmer auf der Veranda des Schlößchens um das Elternpaar auch die Familie des Prinzen Friedrich Karl mit den drei Enkelinnen versammelt, deren Anmuth und Munterkeit den Reiz solcher Familienabende noch erhöht.

Wie oben angedeutet, wird die Erlaubniß zur Besichtigung der reizenden Parkanlagen von Glienicke nur mit Beschränkung ertheilt – gewiß mit gutem Grunde. Nicht die Einheimischen sind es, welche diese Beschränkung nothwendig machen, aber es giebt in der Nähe von Potsdam Leute, welche die Gastlichkeit, die ihnen die königlichen Schlösser und Gärten öffnet, wenig zu schätzen wissen und in den Privatgärten der Prinzen sich dieselben Freiheiten nehmen, wie an öffentlichen Vergnügungsorten. Man pflegt in Berlin etwas souverän auf die Bevölkerung der benachbarten zweiten Residenzstadt herabzublicken und den Namen „Potsdamer“ nicht ohne eine ironische Beimischung auszusprechen. Das müssen sich die Potsdamer gefallen lasset, aber sie rächen sich, indem sie in den Begriff „Publicum“ – das ist die große Zahl der Fremden, die Potsdam an Sonn- und Feiertagen überschwemmen – eine nicht schmeichelhafte Nebenbedeutung legen. Man möge daher jenem Wachtmeister vom Regiment Garde du Corps die sittliche Entrüstung nicht verdenken, mit welcher er, aufmerksam gemacht auf die Inschrift einer Tafel über dem Eingange eines der königlichen Gärten: „Der Eintritt ist für das Publicum nicht gestattet“, voll Selbstgefühles an der Seite seiner Ehehälfte mit den stolzen Worten vorüberschritt: „Der Wachtmeister von Seiner Majestät Garde du Corps wird doch wohl nicht zum Publicum gerechnet werden.“

Es ist nicht allein Glienicke mit seinem schönen Schloß und Park, was dem Prinzen Karl den Aufenthalt in Potsdam angenehm macht. Auch seine Neigung zum edlen Waidwerck und seine Eigenschaft als Chef der königlicher Hofjagden führen ihn öfters und um so lieber hierher, da die Jagd in den wildreichen Potsdamer Forsten weniger dem Andrange neugieriger Zuschauer ausgesetzt ist, als die Jagd im Grunewald, welche von den Berlinern zugleich als Volksfest mitgefeiert wird.

Ein frischer, klarer Herbstmorgen liegt über den Potsdamer Forsten. Schon beginnt das Laub an den Bäumen sich röthlich zu färben; nur die Kiefern und Tannen tragen noch ihr altes dunkelgrünes Nadelkleid. Zwischen den Lichtungen hindurch sieht man blaue Seeflächen schimmern, über denen in lichten Wölkchen der Morgennebel dahinzieht. Hier und da schaut der Giebel eines Försterhauses zwischen düsteren Föhren hervor. In dem Winkel zwischen den beiden von Berlin herkommenden Schienenwegen liegt das geschichtlich berühmte Kohlhaasenbrück still im Walde, nicht weit davon an dem Vereinigungspunkte der beiden Bahnen das freundliche Stationshäuschen von Neu-Babelsberg. Von hier führt der Weg durch der Wald an Stein-Stücken vorüber nach dem königlichen Jagdschloß Stern, dem Rendezvous der Parforcereiter, dessen Einrichtung noch von König Friedrich Wilhelm dem Ersten herstammt.

Die Theilnehmer an der Parforcejagd versammeln sich, sämmtlich in rothen Fracks, enganliegenden weißen Beinkleidern, hohen Stiefeln und mit schwarzem Cylinderhut. Auch die Schaar der Piqueurs, das ist: der Läufer und Treiber, erscheint in rothen Röcken. Der königliche Ober-Piqueur führt, zu Pferde sitzend, die jagdlechzende Meute – nahe an hundert schön gefleckte Schweißhunde – herbei. Unter Hörnerklang erfolgt der Aufbruch nach dem Saugehege. Hier ordnet sich der Zug in Linie und erwartet den Ausbruch des Keilers.

Ein Vorsprung von einigen Minuten wird dem Thiere gelassen; vielleicht gelingt es ihm, damit noch eine Lebensfrist von einigen Stunden zu gewinnen, wenn es sich durch geschickte Flucht im Dickicht den Verfolgern zu entziehen weiß. Nun wird die Meute losgelassen und auf die Fährte des Keilers geführt. Der fürstliche Jagdgeber setzt sein edles Roß in „gemäßigten Galopp“, die übrigen Reiter thun das Gleiche, die Richtung der klaffenden Hunde verfolgend. Ein Theil der Reiter, welche dem mittelalterlichen Waidwerksvergnügen keinen Geschmack abgewinnen kann und nur ehrenhalber der Einladung folgte, zerstreut sich flanirend durch den Forst. Die Uebrigen setzen die Verfolgung mit um so größerer Hast fort, je näher sie sich dem Ziele glauben. Für sie liegt doch ein wundervoller Reiz, eine unsagbare Lust in diesem Rennen und Jagen, dem Wetten und Wagen; Hindernisse, vor denen der gewandteste Reiter beim Spazierritte stutzen würde, haben hier ihre Bedeutung vollständig verloren, [674] und wollte man ihnen auch ausweichen – es geht nicht; denn die allgemeine Aufregung hat sich auch der Rosse bemächtigt. So geht es dahin im wilden Laufe über Stock und Stein, über Wurzeln und Gräben, hier einen abschüssigen Hang hinab, dort wieder hinauf. Hussa und Hörnerklang hallt durch den weiten Wald. Durch das Gezweige leuchten überall, gleich fliegenden rothen Streifen, die bunten Jagdkleider.

Nun haben die Hunde den Keiler aufgespürt und erreicht; einige hängen sich an seine Ohren, um seine Flucht zu hemmen. Vergeblich sucht das gehetzte Thier die Meute von sich zu schütteln; – schon sind auch die Reiter auf seinen Fersen. Lautes Hallali wiederhallt im Forste und verkündigt das Ereigniß der Jagdgesellschaft. Während diese sich alsdann rings um den Prinzen versammelt, wird der todte Eber auf den Wagen gehoben und mit Laub und Tannenzweigen bedeckt. Jeder der Jagdgenossen, welcher dem Hallali beiwohnt, empfängt aus den Händen des Prinzen einen grünen Zweig. So geschmückt, treten die Reiter, dem Wagen folgend, unter fröhlichem Hörnerklang den Zug nach dem Jagdschlosse an, wo ein einfaches waidmännisches Mahl eingenommen wird.

(Nr. 3 etc. folgt.)



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Vineta.
Von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Waldemar hatte sich erhoben und das Auge finster auf sie gerichtet. „Als ich Dir vor vier Jahren Wilicza zum Wohnsitze anbot, fühlte ich mich verpflichtet, die Stellung meiner Mutter in einer Weise zu regeln, daß sie hier als Schloßherrin auftreten konnte – die Güter selbst blieben ja wohl mein Eigenthum?“

„Hat Dir das schon Jemand bestritten?“ fragte die Fürstin in dem gleichen Tone. „Ich dächte, Dein Recht auf Deine Güter wäre noch von keiner Seite angezweifelt worden.“

„Nein, aber ich sehe jetzt, was es heißt, sie jahrelang in den Händen der Baratowski und Morynski zu lassen.“

Die Fürstin erhob sich jetzt gleichfalls. Mit ihrem ganzen Stolze stand sie dem Sohne gegenüber.

„Was soll das heißen? Willst Du etwa mich dafür verantwortlich machen, wenn die Verwaltung nicht nach Deinen Wünschen ist? Klage Deinen Vormund an, der hier ein halbes Menschenalter hindurch eine ganz unerhörte Beamtenwirthschaft duldete! Mir ist das nicht verborgen geblieben, aber das hast Du mit Deinen Untergebenen auszumachen, mein Sohn, und nicht mit mir.“

„Mit meinen Beamten?“ rief Waldemar bitter. „Ich glaube, Frank ist der Einzige, der mich noch als Herrn anerkennt; die übrigen stehen sämmtlich in Deinen Diensten, und wenn sie es auch wohl nicht wagen werden, mir offen den Gehorsam zu verweigern, so weiß ich doch, daß jeder meiner Befehle ein Heer von Ausflüchten, Intriguen und Verneinungen hervorruft, sobald Du es für gut hältst, Dein ‚Nein‘ dagegen zu setzen.“

„Du träumst, Waldemar,“ sagte die Fürstin mit spottender Ueberlegenheit. „Ich habe nicht geglaubt, daß Du so vollständig unter dem Einflusse des Administrators stehst, ich bitte Dich aber ernstlich diesem Einflusse Schranken zu setzen, sobald es sich um Deine Mutter handelt.“

„Und ich bitte Dich, gieb die alten Versuche auf, mich zu stacheln!“ unterbrach sie der junge Gutsherr. „Einst vermochtest Du es freilich, mich mit der Furcht vor einem fremden Einflusse, der sich meiner bemächtigen könnte, geradesweges in den Deinigen hineinzutreiben; erst seit ich einen eigenen Willen habe, ist es mir gleichgültig, ob ich den Schein davon bewahre oder nicht. Ich habe wochenlang geschwiegen, eben weil ich den Berichten des Administrators nicht traute; ich wollte mit eigenen Augen sehen, jetzt aber frage ich Dich: Wer hat die Pachtgüter, die vor vier Jahren noch sämmtlich in deutschen Händen waren, an Deine Landsleute ausgeliefert, zu ganz unglaublichen Bedingungen, ohne jede Garantie, ohne jede Sicherstellung gegen den Ruin, dem sie die Pachtungen entgegenführten? Wer hat in die Forstverwaltung ein Personal gebracht, das Euren nationalen Interessen allerdings vorzüglich dienen mag, den Ertrag meiner Waldungen aber um die Hälfte verringert? Wer hat endlich dem Administrator seine Stellung so unerträglich gemacht, daß ihm nichts übrig blieb, als zu gehen? Er besaß zum Glück Energie genug, mich zu Hülfe zu rufen, sonst wäre ich wahrscheinlich noch länger fortgeblieben, und es war die höchste Zeit, daß ich kam. Du hast rücksichtslos Alles den Traditionen Deiner Familie geopfert, meine Beamten, mein Vermögen, meine Stellung sogar, denn man glaubt natürlich, es sei mit meiner Bewilligung geschehen. Die Güter sind zu Zeiten meines Vormundes schlecht verwaltet worden, aber es konnte ihnen nicht viel schaden, denn sie tragen unerschöpfliche Hülfsquellen in sich, erst die letzten vier Jahre unter Deiner Hand haben sie an den Rand des Verderbens gebracht. Dir konnte das nicht verborgen bleiben. Du hast Scharfblick genug, zu sehen, wohin das schließlich führen mußte, und Energie genug, dem Verderben zu steuern, sobald Du nur wolltest, aber freilich, solche Rücksichten konnten und durften nicht gelten. – Du hattest Wilicza ja einzig für die Revolution vorzubereiten.“

Die Fürstin hatte schweigend zugehört, mit einer Art von starrem Erstaunen, das sich mit jeder Minute steigerte und mehr der Haltung als den Worten ihres Sohnes galt. Es war ja nicht das erste Mal, daß in diesen Räumen solche Worte fielen: der verstorbene Nordeck hatte seiner Gemahlin oft genug vorgeworfen, daß sie „rücksichtslos Alles den Traditionen ihrer Familie opfere“, nur daß er im Entstehen zu verhindern wußte, was jetzt nahezu ausgeführt war, aber nie hatte eine solche Scene stattgefunden, ohne daß sich die Natur des Gutsherrn in ihrer ganzen Rohheit zeigte. Mit maßlosem Wüthen und Toben, mit einem Strom von wilden Schmähungen und Drohungen versuchte er sein Gebieterrecht geltend zu machen, ohne daß er der stolzen furchtlosen Frau jemals etwas Anderes entrissen hätte, als ein Lächeln der Verachtung. Sie wußte ja, daß der Emporkömmling weder Meinung noch Charakter besaß, daß sein Haß wie seine Parteinahme nur den niedrigsten Beweggründen entstammten, und wenn irgend etwas ihrer Verachtung gleichkam, so war es die Empörung darüber, daß man ihr einen solchen Mann als Gatten aufgezwungen. Hätte ihr Waldemar eine ähnliche Scene gemacht, es würde sie nicht im Mindesten überrascht haben; daß er es nicht that, das eben machte sie so bestürzt. Er stand ihr in vollkommen ruhiger Haltung gegenüber und warf ihr kalt, aber mit vernichtender Schärfe Wort auf Wort, Beweis auf Beweis entgegen. Sie sah trotzdem, wie es in ihm kochte. Die Ader an seinen Schläfen schwoll drohend auf, und seine Hand vergrub sich krampfhaft in die Polster des Sessels, an dem er stand, aber das waren auch die einzigen Zeichen der inneren Gereiztheit. Blick und Stimme verriethen nichts davon; er beherrschte sie vollständig.

Es vergingen einige Secunden, ehe die Fürstin antwortete. Ein Ableugnen oder Verbergen ließ ihr Stolz nicht zu – es wäre auch nutzlos gewesen. Waldemar wußte offenbar zu viel; auf seine Blindheit konnte sie nicht ferner rechnen; es galt also, eine ganz neue Stellung einzunehmen.

„Du übertreibst,“ entgegnete sie endlich. „Bist Du so furchtsam, Dein ganzes Wilicza bereits in Revolution zu sehen, weil ich bisweilen meinen Einfluß zu Gunsten meiner Schützlinge verwandt habe? Es thut mir leid, wenn einige derselben mein Vertrauen täuschten und Dir Schaden zufügten, wo sie ihre Pflicht hätten thun sollen, aber das kommt überall vor; es steht Dir ja frei, sie zu entlassen. Was ist es denn eigentlich, was Du mir zum Vorwurf machst? Die Güter waren so gut wie herrenlos, als ich hierher kam. Du kümmertest Dich nicht darum, fragtest niemals darnach; da glaubte ich mich als Mutter berechtigt, die Zügel, die Deiner Hand so vollständig entglitten, in die meinige zu nehmen, wo sie wohl immer noch besser aufgehoben waren, als bei Deinen Untergebenen. Ich habe sie allerdings in meiner Weise geführt, aber Du wußtest ja, daß ich von jeher auf Seiten meiner Familie und meines Volkes gestanden habe – ich machte Dir niemals ein Geheimniß daraus; mein ganzes Leben zeugt davon, und Dir gegenüber bedarf das [675] doch hoffentlich keiner Rechtfertigung. Du bist mein Sohn, so gut wie Du der Deines Vaters bist, und das Blut der Morynski fließt auch in Deinen Adern.“

Waldemar fuhr auf, als wolle er mit vollster Heftigkeit gegen diese Behauptung protestiren, aber noch siegte in ihm die Selbstbeherrschung.

„Es ist wohl das erste Mal in Deinem Leben, daß Du mir überhaupt einen Antheil an diesem Blute zugestehst,“ antwortete er schneidend. „Bisher hast Du in mir immer nur den Nordeck gesehen und – verachtet. In Worten freilich zeigtest Du mir das nie, aber denkst Du, ich verstehe es nicht, Blicke zu deuten? Ich habe oft genug gesehen, mit welchem Ausdruck die Deinigen sich von Leo oder Deinem Bruder auf mich wandten. Du hast die Erinnerung an Deine erste Ehe wie an eine Schmach und Erniedrigung von Dir geworfen, hast an der Seite des Fürsten Baratowski, in der Liebe Deines Jüngstgeborenen nicht nach mir gefragt, und als die Verhältnisse Dich zwangen, Dich mir wieder zu nähern, da war ich wohl das Letzte, was Du suchtest. Ich mache Dir keinen Vorwurf daraus, mein Vater mag ja Vieles an Dir gesündigt haben, so viel, daß Du seinen Sohn unmöglich lieben konntest, aber eben deshalb wollen wir uns auch nicht auf Gefühle und Beziehungen berufen, die zwischen uns nun einmal nicht existiren. Ich werde Dir in der nächsten Zeit wohl beweisen müssen, daß ich auch nicht einen Tropfen von dem Blute der Morynski in mir habe. Auf Deinen Leo magst Du es vererbt haben – ich bin aus anderem Stoffe gemacht.“

„Ich sehe es,“ sagte die Fürstin tonlos, „aus anderem, als ich dachte. Ich habe Dich nie gekannt.“

Er schien den Einwurf nicht zu beachten. „Du begreifst es also wohl, daß ich die Verwaltung der Güter jetzt in meine eigene Hand nehme,“ begann er wieder. „Und nun noch eine Frage – was waren das für Conferenzen, die gestern nach dem Souper bei Dir stattfanden und sich bis in den Morgen hinein ausdehnten?“

„Waldemar, das geht mich allein an,“ erklärte die Mutter mit eisiger Abwehr. „In meinen Zimmern werde ich doch wenigstens noch Herrin sein.“

„Unbedingt, sobald es sich um Deine Angelegenheiten handelt; für Parteizwecke gebe ich Wilicza nicht länger her. Ihr haltet hier Eure Zusammenkünfte – von hier aus gehen die Befehle über die Grenze und kommen die Botschaften von dort; die Keller des Schlosses liegen voll Waffen. Ihr habt ein ganzes Arsenal da unten zusammengehäuft.“

Die Fürstin war bei den letzten Worten todtenbleich geworden, aber sie hielt auch diesem Schlage Stand. Nicht eine Muskel ihres Gesichtes zuckte, als sie erwiderte: „Und weshalb sagst Du mir das Alles? Weshalb gehst Du nicht nach L., wo man Deine Entdeckungen sehr bereitwillig aufnehmen wird? Du hast ja ein so ausgezeichnetes Talent zum Spion bewiesen, daß es Dir nicht viel Ueberwindung kosten kann, nun auch noch zum Denuncianten zu werden.“

„Mutter!“ Es war ein Aufschrei der leidenschaftlichsten Wuth, der von den Lippen des jungen Mannes fuhr, und seine geballte Hand fiel mit zerschmetterndem Schlage auf die Lehne des Sessels nieder. Die alte Wildheit brach wieder hervor und drohte all die mühsam errungene Selbstbeherrschung der letzten Jahre mit sich fortzureißen. Er bebte am ganzen Körper, und sein Aussehen war derart, daß die Mutter unwillkürlich die Hand an die Klingel legte, als wollte sie Hülfe herbeirufen, aber gerade diese Bewegung brachte Waldemar wieder zu sich. Er wendete sich stürmisch ab und trat an das Fenster.

Es vergingen einige stumme peinliche Minuten. Die Fürstin empfand bereits, daß sie sich zu weit hatte fortreißen lassen, sie, die Kalte, Besonnene, ihrem Sohne gegenüber. Sie sah, wie furchtbar er mit seinem Jähzorne rang und was dieses Ringen ihm kostete, aber sie sah auch, daß der Mann, der mit so eiserner Energie eine unglückliche Naturanlage, das verhängnißvolle Erbtheil seines Vaters, niederzuzwingen wußte, ein ebenbürtiger Gegner war.

Als Waldemar zu ihr zurückkehrte, war der Anfall vorüber. Er hatte die Arme übereinandergeschlagen, als müsse er sich gewaltsam zur Ruhe zwingen; seine Lippen zuckten noch, aber seine Stimme klang schon wieder beherrscht.

„Als Du damals in C. die Zukunft meinem Bruders meiner ‚Großmuth‘ übergabst, da dachte ich nicht, daß sie mir das eintragen würde. Spion! Weil ich mich unterfing, die Decke von den Geheimnissen meines Schlosses zu heben! Ich könnte Dir ein anderes Wort entgegensetzen, das noch schlimmer klingt. Wer genießt das Gastrecht in Wilicza, Du oder ich, und wer hat es gebrochen?“

Die Fürstin sah finster vor sich nieder. „Wir wollen nicht darüber streiten. Ich habe gethan, was mir Recht und Pflicht hieß, aber es wäre nutzlos, Dich davon überzeugen zu wollen. Was gedenkst Du zu thun?“

Waldemar schwieg einen Moment lang, dann sagte er mit gesenkter Stimme, aber jedes einzelne Wort betonend: „Ich reise morgen ab. Ich gehe in Geschäften nach P. und kehre erst in acht Tagen zurück. Bis dahin wird Wilicza frei sein von Allem, was es jetzt Ungesetzliches birgt; bis dahin werden all die Verbindungen abgebrochen sein, soweit sie das Schloß berühren. Verlege sie nach Rakowicz oder wohin Du willst, aber mein Gebiet bleibt frei davon. Unmittelbar nach meiner Rückkehr findet hier eine zweite größere Jagd statt, der auch der Präsident und die Officiere der Garnison von L. beiwohnen werden. Du hast wohl die Güte, als Repräsentantin des Hauses Deinen Namen mit unter die Einladungen zu setzen?“

„Nein!“ erklärte die Fürstin energisch.

„So unterzeichne ich die Briefe allein. Geladen werden die Gäste jedenfalls; es ist nothwendig, daß ich endlich einmal Stellung nehme in der Frage, die jetzt die ganze Provinz beschäftigt. Man muß in L. wissen, auf welcher Seite man mich zu suchen hat. Es steht Dir allerdings frei, an dem betreffenden Tage krank zu sein oder zu Deinem Bruder zu fahren, ich gebe Dir aber zu bedenken, ob es gut ist, wenn das Zerwürfniß zwischen uns öffentlich und damit unwideruflich wird. Noch bleibt uns Beiden die Möglichkeit, diese Stunde und dieses Gespräch zu vergessen. Ich werde Dich nicht wieder daran erinnern, sobald ich mich überzeuge, daß meine Forderungen erfüllt sind; es steht also bei Dir, was Du thun willst. Ich habe Leo’s Entfernung abgewartet, weil sein heißes Temperament eine solche Scene nicht ertragen hätte, und weil ich ihm und dem Grafen Morynski die Demüthigung ersparen wollte, das, was doch nun einmal durchaus gesagt werden muß, aus meinem Munde zu vernehmen; von Dir werden sie es eher hören können. Ich bin es nicht, der den Bruch will.“

„Und wenn ich nun den Befehlen, die Du mir so tyrannisch zuschleuderst, nicht nachkäme?“ fragte die Fürstin langsam. „Wenn ich Deinem anerkannten Erbrechte das meinige entgegensetzte, ich, die Wittwe Deines Vaters, die nur ein ungerechtes, unerhörtes Testament von dem Orte vertrieb, der von Rechtswegen ihr Wittwensitz hätte sein sollen? Vor den Gesetzen werde ich allerdings nichts damit ausrichten, aber mir giebt es die Ueberzeugung, daß ich Dir auf diesem Boden nicht zu weichen habe, und ich weiche Dir nicht. Die Fürstin Baratowska müßte nach dem, was Du ihr soeben anzuhören gegeben hast, mit ihrem Sohne gehen, um nicht zurückzukehren – die einstige Herrin von Wilicza behauptet ihr Recht. Sei auf Deiner Hut, Waldemar! Ich könnte Dich eines Tages vor die Nothwendigkeit stellen, entweder Dein Herrscherwort von vorhin zu widerrufen oder Deine Mutter und Deinen Bruder dem Schlimmsten preiszugeben.“

„Versuche es,“ sagte Waldemar kalt, „aber mache mich nicht verantwortlich für das, was dann geschieht!“

Sie standen einander gegenüber, Auge in Auge, und es war seltsam, daß gerade jetzt eine Aehnlichkeit zwischen Beiden hervortrat, die bisher noch Allen entgangen war, eine Einzige ausgenommen. „Die Stirn mit der seltsam gezeichneten blauen Ader hat er von Dir,“ hatte Wanda einst zu ihrer Tante gesagt, und in der That, es war dieselbe hohe machtvolle Wölbung, derselbe eigenthümliche Zug an den Schläfen. Auch bei der Fürstin prägte sich jetzt in der äußersten Erregung die blaue Ader deutlich aus, während sie bei Waldemar so gefahrdrohend anschwoll, als wolle das emporstürmende Blut sich dort einen Ausweg suchen. Und auf Beider Antlitz stand der gleiche Ausdruck, eine unbeugsame Entschlossenheit, ein eiserner Wille, der bereit ist, Alles an seine Ausführung zu setzen. Jetzt, wo sie einander den Kampf auf Leben und Tod ankündigten, zeigte es sich zum ersten Male, daß sie wirklich Mutter und Sohn waren; vielleicht fühlten sie es auch zum ersten Male.

[676] Waldemar trat unmittelbar neben die Fürstin, und seine Hand legte sich schwer auf ihren Arm.

„Meiner Mutter habe ich den Rückzug offen gelassen,“ sagte er bedeutsam. „Der Fürstin Baratowska verbiete ich die Parteiumtriebe auf meinen Gütern. Geschieht es dennoch, treibt Ihr mich zum Aeußersten, nun denn, so schreite ich auch dazu und müßte ich Euch Alle –“

Er hielt plötzlich inne. Die Mutter fühlte, wie er zusammenzuckte, wie seine Hand, die mit so eisernem Drucke die ihrige festhielt, sich auf einmal löste und machtlos niedersank; mit äußerster Befremdung folgte sie der Richtung seines Blickes, der wie gebannt an der Thür des Arbeitscabinetes hing – dort auf der Schwelle stand Wanda. Sie war, unfähig sich länger zurückzuhalten, hervorgetreten, und die heftige Bewegung, mit der dies geschah, hatte ihre Gegenwart verrathen.

Ein Blitz des Triumphes schoß aus den Augen der Fürstin. Endlich war die verwundbare Stelle im Herzen ihres Sohnes gefunden. Wenn er sich auch im nächsten Momente wieder zusammenraffte und starr und unzugänglich dastand wie vorhin, es war zu spät – der eine unbewachte Augenblick hatte ihn verrathen.

„Nun, Waldemar?“ fragte sie, und es vibrirte wie leiser Hohn in ihrer Stimme. „Es verletzt Dich doch nicht, daß Wanda Zeuge unseres Gespräches geworden ist? Es galt ja zum großen Theile auch ihr. Jedenfalls bist Du ihr und mir noch die Fortsetzung schuldig. Du wolltest uns Alle –?“

Waldemar war einen Schritt zurückgetreten. Er stand jetzt im Schatten, sodaß sein Gesicht sich jeder Beobachtung entzog.

„Da Gräfin Morynska Zeuge des Gesprächs war, bedarf es keiner Erklärung; ich habe nichts hinzuzufügen.“ Er wandte sich zu seiner Mutter. „Ich reise morgen in aller Frühe. Du hast acht Tage Zeit, Dich zu entscheiden. Es bleibt dabei.“ Damit verneigte er sich abgemessen wie gewöhnlich vor der jungen Gräfin und ging.

Wanda hatte während der ganzen Zeit auf der Schwelle gestanden, ohne den Salon zu betreten; erst jetzt trat sie vollends ein, und sich ihrer Tante nähernd, fragte sie leise, aber mit eigenthümlich bebendem Tone:

„Glaubst Du mir nun?“

Die Fürstin war in das Sopha zurückgesunken. Ihr Auge haftete noch am der Thür, durch die ihr Sohn sich entfernt hatte, als wolle und könne sie das eben Geschehene nicht fassen.

„Ich habe ihn immer nur nach seinem Vater beurtheilt,“ sagte sie, wie mit sich selber sprechend, „der Irrthum rächt sich schwer an uns Allen. Er hat mir gezeigt daß er – nicht wie sein Vater ist.“

„Er hat Dir wohl noch mehr gezeigt. Du warst stets so stolz darauf, Tante, daß Leo Deine Züge trägt; von Deinem Charakter hat er wenig geerbt – den mußt Du bei seinem Bruder suchen. Das war Deine Energie, die Dir vorhin so drohend gegenüberstand, Dein unbeugsamer Wille; das war sogar Dein Blick und Ton – Waldemar ist Dir ähnlicher, als es Leo je gewesen.“

Es lag etwas in der Stimme der jungen Gräfin, das die Fürstin aufmerksam machte. „Und wer lehrte denn gerade Dich diesen Charakter mit solcher Sicherheit enträthseln?“ fragte sie scharf. „War es Deine Feindseligkeit gegen ihn, die Dich so tief schauen ließ, wo wir Alle getäuscht wurden?“

„Ich weiß es nicht,“ versetzte Wanda, den Blick senkend, „es war wohl mehr Ahnung als Beobachtung, die mich leitete, aber ich wußte es vom ersten Tage an, daß wir in ihm einen Feind hatten.“

„Gleichviel!“ erklärte die Fürstin mit Entschiedenheit. „Er ist und bleibt mein Sohn. Du hast Recht, er hat mir heute zum ersten Male gezeigt, daß er es wirklich ist, aber eben darum wird seine Mutter ihm wohl gewachsen sein.“

„Was willst Du thun?“ fiel Wanda ein.

„Den Kampf aufnehmen, den er mir bietet. Denkst Du, ich werde seinen Drohungen weichen? Wir wollen doch abwarten, ob er wirklich zum Aeußersten schreitet.“

„Er schreitet dazu – verlaß Dich darauf! Rechne nicht auf irgend eine Weichheit oder Nachgiebigkeit bei diesem Manne! Er opfert Dich, Leo, uns Alle schonungslos dem, was ihm Recht heißt.“

Die Fürstin streifte mit einem langen forschenden Blicke das erregte Antlitz ihrer Nichte. „Mich und Leo vielleicht,“ entgegnete sie, „ich kenne aber jetzt die Stelle, wo seine Kraft erlahmt; ich weiß, was er nicht opfert, und es soll meine Sorge sein, ihm das im entscheidenden Augenblicke entgegenzustellen.“

Wanda sah ihre Tante an, ohne sie zu verstehen. Sie hatte nichts weiter bemerkt als Waldemar’s plötzliches Verstummen, das sich natürlich durch ihr unerwartetes Erscheinen genug erklärte, und dann wieder seine starre, abweisende Haltung ihr und der Mutter gegenüber; sie konnte also nicht errathen, wohin diese Worte zielten, und die Fürstin ließ ihr auch keine Zeit, darüber nachzudenken.

„Wir müssen einen Entschluß fassen,“ fuhr sie fort. „Vor allen Dingen muß mein Bruder benachrichtigt werden. Da Waldemar morgen früh abreist, fällt der Grund zu Deiner beschleunigten Rückkehr fort. Du bleibst also und rufst Deinen Vater und Leo unverzüglich nach Wilicza zurück. Was sie auch vorhaben mögen, es handelt sich hier um das Wichtigste. Ich lasse Deinen Brief noch heute durch einen Eilboten abgehen und morgen Abend können sie hier sein.“

Die junge Gräfin gehorchte. Sie kehrte in das Arbeitscabinet zurück und setzte sich wieder an den Schreibtisch, vorläufig noch ohne Ahnung, welche Rolle sie auf einmal in den Plänen ihrer Tante spielte. Die längst abgethane und vergessene „Kinderei“ gewann eine ganz andere Bedeutung, seit man wußte, daß sie eben nicht abgethan und vergessen war, hatte sie doch schon einmal geholfen, die Herrschaft über Wilicza zu erobern. Die Fürstin konnte es ihrem Sohne nicht vergessen, daß er sich so entschieden und beleidigend weigerte, das Blut der Morynski in seinen Adern anzuerkennen. Nun denn, so sollte er dafür an einer Morynska scheitern – wenn es auch nicht seine Mutter war.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


„Das dankbare Vaterland“. Eine Erscheinung, welche ehedem nach großen Kriegen Landstraßen und Marktplätze und die Ecken der Kreuzwege wie eine berechtigte Eigenthümlichkeit besetzt und belagert hielt, die der Kriegs-Krüppel und Invaliden mit der Drehorgel, ist unserem großen „letzten Krieg um den Rhein“ nicht nachgefolgt. Man muß anerkennen, daß im Vergleich mit früheren Zeiten sich auch bei uns in dieser Hinsicht Vieles gebessert hat. Die Mittel dazu waren allerdings vorhanden; der besiegte Gegner hat sie selbst beschaffen müssen, und zwar in noch nie dagewesener Ausgiebigkeit.

Wenn wir den der Zeit nach so kurzen, aber den Kämpfen, Anstrengungen, Opfern an Gesundheit und Leben und weltwichtigen Erfolgen nach so ungeheuren Krieg bedenken, so muß uns der Gedanke wohlthun, daß den unerhörten Leistungen des „Volkes in Waffen“ nun auch die Mittel entsprechen, um den Einzelnen, die Brod oder Gesundheit, und den Familien, die den Ernährer verloren haben, den für das Vaterland erlittenen Verlust nicht zu dauerndem Nachtheil oder gar zum Unglück werden zu lassen.

Im großen Ganzen ist dies gewiß nach Menschenmöglichkeit geschehen. Wenn dennoch Ausnahmen an den Tag treten, deren Klagen bis an die Presse herandringen, so darf man ja wohl wünschen, daß, dem Rechtsgefühle des Volkes zu Liebe, deren Erhörung und Beachtung an rechter Stelle stattfinden möge. Von den der Redaktion der „Gartenlaube“ in den letzten Jahren zugegangenen Hülferufen von Kriegs-Invaliden mögen nur die folgenden drei als Beispiele für alle übrigen Fälle hier dargelegt werden. Namen nennen wir öffentlich nicht, aber befugter Nachfrage stehen sie jeden Augenblick zu Gebote.

Ein Westpreuße war, als Dreijährig-Freiwilliger, 1864 in sein Regiment eingetreten, hatte 1866 als Unterofficier den Feldzug gegen Oesterreich mitgemacht und bei Trautenau, Königsgrätz und Tobitschau mitgekämpft. Er gehörte zu der Schaar, welche bei Trautenau noch am späten Abend, allein den Rückzug des ersten Armeecorps deckend, die wüthenden Bajonnettangriffe der siebenbürgischen Jäger auf die Capellenhöhe zurückschlug, sodaß die tapferen Siebenbürger nicht zu folgen wagten, als der kleine Haufe endlich, die zerschossene Fahne hoch und stolz in der Mitte, langsam den Rückzug über die Aupa antrat. – Unverwundet, nur an Uniform und Ausrüstung die deutlichsten Spuren der feindlichen Geschosse zeigend, war er aus all diesen Kämpfen hervorgegangen, aber im Bivouak vor Olmütz warfen Cholera und später Typhus ihn auf’s Krankenlager, von dem er erst nach Monaten wieder dienstfähig erstand.

Derselbe Mann focht auch 1870 mit, erwarb sich am 14. August vor [677] Metz das Eiserne Kreuz, avancirte in der Schlacht von Noisseville (31. August und 1. September) zum Feldwebel seiner Compagnie und wohnte noch einigen Ausfallsgefechten während der Cernirung von Metz bei. – In den Bivouaken vor Metz zog er sich einen Rheumatismus zu, der ihn in’s Lazareth gezwungen hätte, wenn er nicht der Compagnie zu Liebe, die nur noch einen einzigen Officier und eine unzureichende Anzahl von Unterofficieren hatte, alle Schmerzen überbissen hätte. Dies setzte er auch nach der Heim- und Rückkehr in die Garnison fort, bis er endlich, nach mehrwöchentlicher Behandlung im Lazareth und nach achtjähriger Dienstzeit ohne Invaliden-Beneficien entlassen wurde. Diese Anerkennung als Invalide und die damit verbundene Anstellungsberechtigung für den Subalterndienst hat er auch, trotz aller Schritte und Bitten durch alle Instanzen, bis jetzt noch nicht zu erlangen vermocht. Die jeden Augenblick kündbare und nicht pensionsberechtigte Stellung als Diätarius bei einer städtischen Polizeiverwaltung mit zweieinhalb Mark Tageseinnahme ist Alles, was bis jetzt ein Mann zu erlangen vermochte, der zwei Feldzüge mitgemacht und sich das Eiserne Kreuz, die Stellung als Feldwebel und ehrende Zeugnisse erworben hat. Vielleicht findet unter den Lesern dieses Blattes sich Jemand, der dem um das Vaterland verdienten Manne eine bessere und sicherere Stellung verschaffen oder an maßgebender Stelle ein gutes, wirksames Wort für ihn einlegen kann.

Noch trauriger ist das Loos eines pommerschen Lehrers. Er hat nach dem Zeugnisse seines Garde-Regiments-Commandeurs den ganzen französischen Krieg und in diesem die Schlachten von St. Privat, Beaumont und Sedan und während der Cernirung von Paris die beiden blutigen Gefechte von Le Bourget und die Vorpostengefechte von Pierresitte und Stains und bei Dugny mitgemacht. Nachdem er mit seinem Regimente dem Siegereinzug in Berlin beigewohnt, wurden die Reservisten, zu denen auch er gehörte, entlassen, vorher aber gefragt, ob sie gesund seien. Diejenigen, welche dies bejahten, mußten eine schriftliche Erklärung darüber ausstellen. Unser Mann brachte aus dem Feldzuge den Keim zu einem Brustleiden mit heim, den er wohl fühlte. aber eines Theils für ein vorübergehendes Uebel hielt, das der Ruhe des Friedens bald weichen werde, theils seiner Berufszukunft wegen glaubte verschweigen zu müssen. Nach den allgemeinen Bestimmungen vom 15. October 1842 muß nämlich jeder Lehramts-Examinand einen Nachweis über seinen körperlichen Gesundheitszustand führen; einen Lungenkranken würde jede Schulbehörde zurückgewiesen haben. Er hatte aber schon vor seiner Einberufung als Lehrer gewirkt und trat auch sofort, einstweilen als Adjunct, wieder in Thätigkeit. Die Anstrengungen in der Schule förderten aber die rasche Ausbildung des Leidens, und das Uebel wurde endlich so arg, daß er im September 1874 sein Amt aufgeben mußte. Verwandte nahmen ihn anderthalb Jahre in Pflege, allein ohne Erfolg – und so kam er denn endlich, im December 1875, um die Gewährung der Invalidenwohlthaten ein. Da er nun aber auch noch die für solche Meldungen gestellte letzte Frist – den 20. Mai 1875 – nicht gekannt und versäumt hatte, so sind alle seine Schritte um diese Wohlthat vergeblich gewesen. Er wurde erst nicht erklärter Invalid, um Lehrer bleiben zu können, und nun ist er weder Lehrer noch Invalid, sondern ein armer unglücklicher Mann, ein Opfer des „dankbaren Vaterlandes“. Wer hilft ihm?

Das dritte Beispiel führt uns den möglichen Ausfall der Invaliden-Wohlthaten vor. Ein Reservist aus der Frankfurter Maingegend wurde am 14. August bei Metz durch die linke Kniekehle geschossen. Von der schweren Verwundung in der Heimath geheilt, kehrte er zu seiner Truppe zurück, kam zwar nicht wieder in’s Gefecht, mußte aber, da durch das Exerciren seine Wunde wieder ausbrach, auf sein Gesuch und ärztliche Untersuchung zum Invaliden erklärt werden und wurde endlich als Ganzinvalide mit monatlich fünf Thaler Pension und dem Civilversorgungsschein aus der Armee entlassen. – Auf Grund dieses Scheines reichte der nunmehrige Ganzinvalide mehrere Anstellungsgesuche ein, erhielt aber entweder den Bescheid, daß man ihn eben als Ganzinvaliden nicht brauchen könne, oder im günstigsten Falle den: man habe ihn als Anwärter notirt, aber allerdings hinter einer großen Anzahl Anderer; bis diese angestellt seien, müsse er warten. Warten! Mit fünf Thaler! Darin liegt eine beachtenswerte Härte. Schwere Arbeiten kann der Invalide wegen seiner Verwundung nicht verrichten; von den fünf Thalern kann er nicht leben – was bleibt ihm übrig, als schließlich doch noch der Leierkasten?

„Die Sieger aus den Schlachtentagen,
Die soll das Vaterland zum Dank
Zeitlebens auf den Händen tragen“ –

hieß es in der Begeisterung von 1870. Und jetzt? Mit fünf Thaler warten, – und warten ohne Garantie dafür, daß die anstellenden Behörden vor allen Bewerbern den Militär-Anwärter aus der Kriegszeit gebührend zu bevorzugen haben. So lange nicht diese ehemalige Geltung der Civilversorgungsscheine wieder eingeführt ist, so lange wird das traurige Loos der Invaliden kein besseres, so lange wird aber auch die Armee an erprobten Unterofficieren steigenden Mangel leiden, weil für die Zukunft des Invalidgewordenen nicht genug gesorgt ist. Die Militär-Vacanzen-Listen entsprechen ihrem Zwecke nicht, weil sie in der Regel zu spät in die Hände der Stellensuchenden gelangen. Außerdem kostet das Stellensuchen meistens mehr Geld und Zeit, als die armen Halb- und Ganzinvaliden aufzuwenden haben.

Sollte die Beschränkung der ehemaligen Vorzüge der Civilversorgungsscheine im Interesse des Civildienstes geschehen sein, dann hätte jedenfalls der Staat die Pflicht, für die Zukunft von Männern, die im Dienste für das Vaterland die volle Arbeitsfähigkeit verloren haben, in anderer, aber genügender Weise zu sorgen. Das sind Klagen und Wünsche nicht weniger Invaliden aus dem großen Kriege, die doch endlich einmal ausgesprochen werden müssen. Vielleicht findet sich ein Anwalt für sie am rechten Orte. – Wer aber diesem dritten Manne, einem jungen, kräftig und schön gebauten Invaliden, eine Stelle verschaffen will, die ihm nicht starkes Laufen zumuthet, erfährt von uns das Weitere.

Wahrlich nicht, um unser Vaterland gegen das Ausland herabzusetzen, sondern einfach des belehrenden Vergleichs wegen, stellen wir neben unsere drei deutschen ein paar amerikanische Beispiele von der Behandlung der Wittwen und Waisen des dortigen Bürgerkriegs. Es betraf zwei Deutsch-Amerikaner. Eine Frau S. L. verlor ihren Gatten, der unter dem General B. J. Sweet gefochten, im Jahre 1864. Die gesetzliche Pension für sie und ihre zwei Kinder und die Zinsen eines kleinen Capitals mußten ihr genügen, in Zurückgezogenheit und auf bescheidenstem Fuße der Erziehung ihrer Kinder zu leben. Aber schon nach einem Jahre war es dem General gelungen, die Tüchtigkeit und Verdienste, welche er dem gefallenen Manne nachzurühmen hatte, an der Frau und den Kindern zu belohnen. Die schlichte, aber gebildete deutsche Frau wurde vom „Post Office Department“ in Washington zum Postmeister einer kleinen, aber frisch aufblühenden Ortschaft ernannt, dadurch in behagliche Verhältnisse und die Möglichkeit versetzt, die Waisen eines tapfern Kriegers seiner würdig zu erziehen.

Daß auch in Amerika in dieser Unterstützungsverwaltung nicht Alles so glatt abgeht, sondern daß die Wohlthat des Gesetzes vom 25. Juli 1866, welches allen Wittwen und Waisen der gefallenen Helden wenigstens den notwendigsten Lebensunterhalt (der Wittwe jährlich sechsundneunzig Dollars, für jedes Kind bis zu dessen siebzehntem Jahre vierundzwanzig Dollars, zusichert, bisweilen mit aller Energie erst erkämpft werden muß, dafür zeugt ein anderes Beispiel. Im Jahre 1865 fiel ein deutsch-amerikanischer Soldat, welcher eine Wittwe mit vier Kindern hinterließ. Die Pensionsertheilung war jedoch vom Nachweis des Todestags des Gefallenen abhängig, und diesen vermochte die Wittwe nicht zu liefern. Sie kehrte mit den Kindern in die deutsche Heimath (Rheinpfalz) zurück und hatte wohl die Hoffnung auf die amerikanische Hülfe schon aufgegeben als sie, als Gruß zur Weihnacht des vorigen Jahres, vom General-Consul A. Schücking in New-York die Freudenbotschaft erhielt, daß es ihm nach achtjähriger Bemühung gelungen sei, ein Pensionsdecret für sie und ihre Kinder zu erlangen. Da als Todestag des Mannes der 8. März 1865 angenommen worden war, so betrug die rückständige Pension nahe an zweitausend Dollars, die der Familie ausgezahlt wurden, und die Frau genießt ihre Pension in ihrer Heimath, so lange sie lebt.

Wir wiederholen, daß dieser Vergleich nicht mit der Absicht gezogen wurde, das Fremde über das Heimische zu erheben. Wenn derselbe aber dazu beitragen sollte, daß das Loos unserer Invaliden und der Hinterbliebenen unserer gefallenen Helden wieder mit wärmerer Theilnahme betrachtet und künftig kein Sedanfest gefeiert werde, ohne vor Allem ihnen zu Gute zu kommen, so wollen wir dafür die Anzweifelung unseres Patriotismus uns gern gefallen lassen.




Wie Einer dem „Reichscanarienvogel“ nachflog. Bei einer zufälligen Durchsicht des Jahrgangs 1862 der „Gartenlaube“ stieß ich auf die Beschreibung der Flucht des „Reichscanarienvogels“ (Rösler aus Oels) aus der württembergischen Festung Hohenasperg im Jahre 1850. Diese Schilderung erinnert mich an die etwas später aus derselben Festung erfolgte Flucht des Apothekers Frech aus Ingelfingen, deren Einzelheiten damals nicht mitgeteilt werden konnten, weil die Theilnehmer ihrer eigenen Sicherheit wegen schweigen mußten. Als Hauptperson war bei derselben der Redacteur Heerbrandt aus Reutlingen, jetzt längst in Amerika, betheiligt. Derselbe befand sich wegen verschiedener politischer Anklagen in Untersuchungshaft, war nebenbei aber auch wegen Beleidigung des Gemeinderates in Reutlingen zu drei Monaten Festungsarrest verurteilt.

Nach seiner Verhaftung, welche einen Aufstand in Reutlingen zur Folge hatte, dämmerte in ihm die Idee auf, daß er, nachdem seine Untersuchungshaft beendet, noch seine Strafhaft abzusitzen habe, und dem wollte er vorbeugen. Er meldete sich deshalb sofort beim Untersuchungsrichter als Strafarrestant, worüber dieser lachte, da Heerbrandt ja ohnehin Arrestant sei, allein unser Freund bestand darauf, daß die Sache dem betreffenden Gericht vorzulegen sei, und der Gerichtshof entschied gegen ihn. Nun wurde an das Obertribunal appellirt, und dieses fällte ein Urtheil zu Gunsten Heerbrandt’s. So hatte er das doppelte Vergnügen, Straf- und Untersuchungsgefangener zu sein.

Nach etwa zehn Wochen wurde er gegen Caution aus der Untersuchungshaft entlassen und in das Local der Strafgefangenen versetzt, um seine Strafe vollends abzubüßen, wodurch er die Erlaubniß erhielt, sich den ganzen Tag auf der Festung herumzutreiben.

Ueber seinem Zimmer war Frech mit zwei Anderen einlogirt. Eines schönen Tages hob derselbe ein kurzes Brett aus dem Fußboden und bohrte mit einem Messer einen Spalt in die Decke von Heerbrandt’s Zimmer, um durch ihn seine Correspondenz befördern zu lassen. Einige Tage später kam er auf die Idee, den Spalt in ein großes Loch zu verwandeln und durch dasselbe zu entfliehen. Heerbrandt erklärte sich auf eine desfallsige Anfrage zu jeder Hülfeleistung bei der Flucht bereit. Der Spalt wurde vorsichtig so erweitert, daß man Stricke für eine Leiter durch denselben schieben konnte, zu welchem Zwecke sieben nagelneue Stricke hinaufwanderten, ebenso ein Festungsplan und eine Auseinandersetzung über die weiteren Verhaltungsmaßregeln, welche durch Heerbrandt ausgezeichnet vorbereitet und ebenso ausgeführt wurden.

Die südliche Seite der Festung war die längste und bildete beinahe eine gerade Linie. An beiden Enden des Walls, welcher selbstverständlich um die ganze Festung herumführte und mit Ausnahme desjenigen Theiles, welcher zum Spaziergang für die Untersuchungsgefangenen bestimmt war, den Strafgefangenen zur Erholungsstätte in frischer Luft diente, stand eine Schildwache, welche den ganzen Weg leicht übersehen, jedoch in die beiden trockenen Wallgräben von ihrem Standpunkt aus nicht gut hinunter blicken konnte.

[678] In der Mitte dieses Weges führte eine steinerne Treppe in den Festungshof hinab, in welchen der Ausgang von Heerbrandt’s Local mündete. Frech’s Flucht mußte quer über den Hof zu der Treppe, diese hinauf, sodann gerade aus über den Wall und von da hinunter in den ersten ziemlich tiefen Graben bewerkstelligt werden. Zu diesem Zwecke waren zwei Mann erforderlich, welche ihn an der Strickleiter hinunterlassen mußten; von da aus konnte er mit dieser leicht in den zweiten Wallgraben und aus demselben am linken Ende über eine etwa zehn Fuß hohe Mauer in den Weg, der zum Festungsthore hinaufführte, gelangen. Heerbrandt sicherte sich die Hülfe von vier Soldaten. Leider mußten diese aber bereits um acht Uhr in der Kaserne sein. Da nun in Folge dessen bei Tage eine Flucht unmöglich war, so konnte natürlich nur die Zeit der Dämmerung, zwischen ein halb acht und acht Uhr, zur Ausführung des Plans gewählt werden. Tag und Stunde waren festgesetzt; alles war vorbereitet. Frech zeigte um ein halb acht Uhr durch einen Pfiff an, daß er auf dem Wege zur Treppe sei. Hier empfingen ihn die zwei Soldaten, welche ihn an der Strickleiter in den Graben hinabließen; zu gleicher Zeit machten die zwei Anderen die beiden Schildwachen auf der dem Schauplatze entgegengesetzten Seite auf ein Feuer im Thale aufmerksam, das natürlich gar nicht existirte und in demselben Momente von den Soldaten als erloschen erklärt wurde, als ein zweites Signal ihnen anzeigte, daß der Vogel glücklich befördert sei. Heerbrandt, der um acht Uhr ebenfalls zu Hause sein mußte, saß seit sieben Uhr in der Barth’schen Wirthschaft und erheiterte durch seine humoristische Unterhaltungsgabe die anwesenden Gäste, sodaß keiner derselben auch nur die leiseste Idee von dem Streiche hatte, den er eben jetzt ausführte. Kurz nach ein halb acht Uhr kam einer der Soldaten herein, verlangte ein Glas Bier und gab unserm Freund ein Zeichen, daß die Flucht geglückt sei. Wenige Minuten vor acht Uhr verfügte sich Heerbrandt in das Zimmer neben dem seinigen, welches zwei seiner Collegen beherbergte, die von der ganzen Sache jedoch keine Ahnung hatten.

Um acht Uhr kam regelmäßig der Aufseher mit einer Laterne, um sich von der Anwesenheit seiner Gäste zu überzeugen, und mit ihm ging Heerbrandt in sein Zimmer zurück. Beim Oeffnen desselben fiel der Lichtschein auf einen Haufen Schutt mitten im Zimmer und auf ein mächtiges Loch in der Decke. Heerbrandt prallte scheinbar erschrocken zurück, der Aufseher aber hatte sofort erkannt, um was es sich handelte, und machte Lärm. Beim Oeffnen von Frech’s Zimmer fand man seine beiden Zimmergenossen angeblich betrunken und deshalb gänzlich unfähig ein Wort der Auskunft von sich zu geben. Die ganze Oeffnung wurde durchsucht, ja nach zwölf Uhr kamen sogar einige Officiere in das Zimmer Heerbrandt’s und leuchteten unter dessen Bett, um zu erforschen, ob Frech nicht unter demselben versteckt sei. Endlich sandte man Patrouillen nach außerhalb, und da fand man an der Mauer einen in den Weg herabhängenden Strick. An dieses corpus delicti wurde sofort eine Schildwache gestellt, welche am andern Mittag noch dastand. Die Untersuchung ist damals scharf geführt worden, hat aber kein Resultat geliefert. Der ganze Vorfall dürfte übrigens in obigen Zeilen zum ersten Mal öffentlich geschildert werden.

Frech entkam glücklich nach Frankreich, hat jedoch seinem Retter nie eine Zeile des Dankes zukommen lassen. Schneller und leichter wurde wohl Keiner aus einer Festung hinausbefördert.


Die Laube-Feier in Wien hat sich zu einem erhebenden Feste gestaltet, welches dem siebenzigjährigen Jubilar ein Freuden- und Ehrentag zugleich geworden ist.

Nachdem schon am 17. September das Wiener Stadttheater durch eine glanzvolle Aufführung von Laube’s „Monaldeschi“ eine würdige Vorfeier in Scene gesetzt, hieß am folgenden Tage die Parole für jedes Wiener Kind einzig: Heinrich Laube! Die ganze Kaiserstadt an der Donau feierte den Mann voll Muth und Freiheitssin, wie Michael Etienne ihn mit Recht nannte, den Mann, der aus dem Burgtheater ein Theater für Bürger gemacht, der niemals nach Titeln geizte und den Lohn seiner Tugenden nicht im Knopfloch zu tragen strebte. Der Morgen des Festtages gehörte den Deputationen, und das von zarten Frauenhänden in einen prächtigen Blumengarten verwandelte Haus Laube’s glich dem Ehrensitze eines Triumphators, dem Jung und Alt seine Huldigungen darbringt. Den Reigen der officiellen Gratulanten eröffneten die Abgesandten der akademischen Lesehalle und des Lesevereins der akademischen Studenten; dann folgten unter Anderem die Repräsentanten der Literaturfreunde und der Schillerstiftung, die letzteren geführt von dem Dichter Joseph Weilen, sodann der Directionsrath des Wiener Stadttheaters, die Vertreter des Schriftstellervereins „Concordia“ mit ihrem Präsidenten Johannes Nordmann an der Spitze, ferner die Mitglieder des Wiener Stadttheaters, ein großes Damencomité, welches eine mit zehntausend Namen bedeckte Adresse überreichte, und die Deputation der Stadt Wien unter Führung des Bürgermeisters Dr. Felder, der den Jubilar mit dem Ehrenbürgerbrief der Stadt Wien beschenkte – zum erstenmal in der Geschichte des deutschen Theaters, ja des Theaters überhaupt, geschah es, daß eine große Stadtgemeinde einem Theaterdirector die Bürgerkrone reichte. Für jeden der Glückwünschenden hatte der trotz seiner hohen Jahre noch immer bewegliche Laube ein biederes und herzliches, ein witziges oder launiges Wort, und daß er gelegentlich der Antwort auf Nordmann’s Ansprache des frischen Grabes seines soeben heimgegangenen Sangesgenossen Anastasius Grün gedachte, ist ein Zug des Gemüths, der Beide, den Todten wie den Lebenden, ehrt.

In den Abendstunden des Festtages sahen die Räume des glänzend geschmückten Wiener Cursalons eine zahlreiche Festversammlung beim Banket beisammen. Es sei uns erspart, auf die vielen geist- und humorvollen Toaste und Trinksprüche, welche bei Tafel zu Laube’s Ehren ausgebracht wurden, hier noch einmal zurückzukommen, nachdem die Tagesblätter sie in stenographischer und freier Wiedergabe zahlreich reproducirt haben. Nur Eines dürfen wir hier nicht verschweigen: unsere Freude über die Rede, welche der Gefeierte, angesichts der ihm bereiteten Ehren ganz des Dankes und der Rührung voll, an die versammelten Festgenossen richtete. Es waren Worte aus echtem Mannes- und Dichterherzen. Bescheiden wollte er die „übergroßen Ehren“ des Tages nur der Freundlichkeit und dem Wohlwollen der Festgeber verdanken und diese glänzenden Ovationen nicht sowohl aus der Bedeutsamkeit, wie aus der Breite seines Wirkens und der dreifachen Bahn erklären, in der es sich bewege: der politischen, der schriftstellerischen und der dramaturgischen – dieser letzteren besonders schrieb er, die Auszeichnung zu, welche ihm seine Wiener zu Theil werden ließen.

Die Wiener – ja sie haben uns durch diese Laube-Feier gezeigt, daß sie deutsch empfinden – süddeutsch; denn in Mittel- und Norddeutschland – es ist ein Wort der Klage – läßt die oft allzu nüchterne Welt- und Lebensanschauung, die reservirte nordische Natur solche Begeisterungsfeste für die Vertreter der schönen Künste kaum zu Wort kommen. Um so mehr fühlen wir uns gedrungen, uns hier als eine Stimme aus Mitteldeutschland dem Wunsche fröhlich anzuschließen: Lange lebe Heinrich Laube!


Amerikanische Bankberaubung. Im sonntagsheiligen Amerika hat Edmund Burke’s Ausspruch: „Kein Eigenthum ist sicher genug, wenn es groß genug ist, um die Begierde der geldbedürftigen Macht auf sich zu ziehen“ – öffentliche Geltung erlangt. Im Februar 1865 wurde eine Sparbank für freigewordene Neger gegründet und vom Präsidenten Abraham Lincoln die betreffende „Charter“ bestätigt. Fünfzig der angesehensten Bürger New-Yorks traten als Corporation zusammen, beschlossen allfällige Depositen von ehemaligen Sclaven und deren Nachkommen anzunehmen und in Stocks, Bonds, Schatzamts-Noten und andern sicheren Papieren der Vereinigten Staaten anzulegen; die farbige Bevölkerung wurde hierauf durch verlockende Circulare und Pamphlete aufgefordert, ihre Ersparnisse dieser Bank anzuvertrauen, und dies geschah mit solchem Vertrauenseifer, daß in kurzer Zeit eine Summe von sechsundfünfzig Millionen Dollars, meistens von Soldaten, Wittwen und dergleichen, in der „Freedmen’s Bank“, wie sie amerikanisch-englisch heißt, sich angesammelt hatte. Jetzt trat Burk’s geflügeltes Wort in Wirksamkeit.

Es bildete sich eine andere Gesellschaft, genannt „Real-Estate-Ring“, deren Mitglieder mit dem Finanz-Comité der Neger-Sparbank eine Abmachung zur Beraubung der armen allzu vertrauensvollen Sparbankgenossen eingingen. Das Geld wurde gegen ungenügende oder gar keine Sicherheit ausgegeben, und um die bereits begangene Gesetzwidrigkeit, die Vereinigten-Staatenbonds, aus denen allein die Depositen der Bank bestehen sollten, gegen andere Werthpapiere umzutauschen, unschädlich zu machen, wußte der geheime Gaunerverein vom Congreß ein Amendement zum „Bank-Charter“ zu erwirken, welches jene Bestimmung aufhob, und nun erst konnte das Betrugsgeschäft ungescheut im größten Style weiter geführt werden. Umsonst bemühte sich der Bank-Inspector Sherry, der den Unfug durchschaute, eine Congreß-Untersuchung zu veranlassen. Erst als die Casse nahezu leer war, setzte man eine Untersuchungs-Commission ein, deren Thätigkeitserfolg kein anderer war, als daß sie anderthalbhunderttausend Dollars Kosten verursachte. Die Millionen der Ersparnisse der armen farbigen Soldaten, Wittwen und Waisen sind dahin, und die Verbrecher laufen noch ungestraft herum. Wo so viel in der Woche gesündigt wird, da soll’s nun der Sonntag durch Ueberfrömmigkeit wieder gut machen. Man sieht jedoch an den Folgen, wie wenig das Mittel hilft.


Erklärung. Wenn es in dem „Bayreuther Festtagebuch“ (Nr. 37 unseres Blattes, S. 620) heißt, die Verwaltungen des Irren- und des Zuchthauses daselbst haben während der Festspiele Zimmer an Jedermann „vermiethet“, so ist dies dahin zu berichtigen daß es lediglich eine Privatfreundlichkeit eines höheren Beamten der Zuchthausverwaltung war, einige Mitglieder des Wagner-Orchesters in die von ihm bewohnten Räume auf drei Monate aufzunehmen, und zwar unentgeltlich. Ebensowenig hat die Irrenhausverwaltung Zimmer vermiethet.


Berichtigung. Von gut unterrichteter Seite werde ich darauf aufmerksam gemacht, daß der in dem Artikel über Bürgermeister Koch (in Nr. 38) erwähnte Stadtrath Demuth nicht im Jahre 1848, sondern erst im August 1849, und zwar im einundsiebenzigsten Lebensjahre auf sein ausdrückliches Verlangen aus dem Rathe der Stadt Leipzig ausgeschieden ist.
Hans Blum.



Kleiner Briefkasten.

A. M. in Sch. Auf Ihre Anfrage die Mittheilung, daß die Lindau’schen „Nüchternen Briefe aus Bayreuth“ bereits in vierter Auflage erschienen sind und daß wir in unser nächsten Nummer eine Ergänzung derselben in Form eines Briefes post festum aus derselben Feder bringen werden.



Zur Nachricht!


Den neu hinzugetretenen Abonnenten werden die Nummern 27 bis 39, welche den Anfang der Novelle „Vineta“ von E. Werner enthalten, gegen Nachzahlung von 1 Mark 60 Pfennig von jeder Buchhandlung oder Postanstalt nachgeliefert.
Die Verlagshandlung der Gartenlaube.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.