RE:Rutilius 34

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Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Rufus, P. cos. 105 v. Chr.
Band I A,1 (1914) S. 12691280
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34) P. Rutilius Rufus ist der bekannteste Träger des Namens R. und verdient das Interesse des Historikers und des Literarhistorikers; leider ist die Überlieferung über die Periode, die sein Leben ausfüllt, besonders trümmerhaft. Er war der Sohn eines Publius (Foedus Astypal. Z. 15), vermutlich des Tribunen von 585 = 169 Nr. 8 und Bruder des C. Rutilius Rufus Nr. 33 und der Rutilia Nr. 38. Daß er gegen 600 = 154 geboren ist, folgt namentlich aus seiner Bewerbung um das Consulat für 639 = 115; die Ansetzung des J. 596 = 158 als des spätesten Termins seiner Geburt (Cichorius Untersuch. zu Lucilius 62, 1) ist jedoch nicht zwingend, weil die Altersgrenzen für die Ämterbekleidung damals noch nicht ganz fest waren (vgl. Mommsen St.-R. I 565f.). Jedenfalls ist es falsch, wenn Cicero Lael. 101 den R. im J. 625 = 129 noch als admodum adulescens betrachtet (besser als adulescens schlechthin rep. I 13. 17; ad Att. IV 16, 2; vgl. seinen ähnlichen Irrtum bei C. Fannius rep. I 18 o. Bd. VI S. 1989, 15ff.) und noch fehlerhafter, wenn Velleius II 9, 6 in einem [1270] literarhistorischen Abschnitt, wo als Epochenjahr für R. das der Belagerung Numantias zugrunde liegt, ihn zum aequalis Sisennae macht, während etwa das Todesjahr des R. mit der Blüte des Sisenna zusammenfiel. Alle gut beglaubigten Daten aus dem Leben des R. vertragen sich auf das beste mit der Ansetzung seiner Geburt gegen 600 = 154, so gleich das früheste, seine von ihm selbst stammende Bezeichnung als adulescentulus im J. 616 = 138 (Cic. Brut. 85–89). Damals bereitete er sich nach Empfang der Männertoga für die öffentliche Laufbahn vor. Zu den hervorragenden Politikern, an die er sich anschloß, gehörte der berühmte Redner Ser. Sulpicius Galba (Cic. a. O.; vgl. de orat. I 227f.) und der berühmte Jurist P. Mucius Scaevola (Cic. off. II 47. Pompon. Dig. I 2, 2, 40). Vielleicht noch älter waren die Beziehungen zu C. Laelius (Cic. Brut. 86; Lael. 101), da sowohl dieser (Cic. rep. I 61), wie R. selbst (Cic. nat. deor. III 86) Besitzungen bei Formiae hatten; in der Nähe waren auch Scipio Aemilianus und C. Lucilius begütert (vgl. o. Bd. IV S. 1461, 42ff. Cichorius a. O. 55f.), und mit ihnen war R. gleichfalls schon früh und nahe befreundet, da der Dichter in einer seiner frühesten Satiren erklärte, daß er für so gebildete Leute wie Scipio und R. nicht schreibe (XXVI 594 Marx aus Cic. de fin. I 7 vgl. Cichorius a. O. 108f.). Seine über den römischen Durchschnitt hinausgehende Bildung erwarb R. namentlich als eifriger Hörer des damals wiederholt in Rom weilenden stoischen Schulhauptes Panaitios (Cic. Brut. 114; de off. III 10); seine Studiengefährten waren jüngere Männer, die wieder mit den eben erwähnten älteren eng zusammenhingen, so Q. Scaevola, der Sohn des P. und dessen späterer Nachfolger im Oberpontifikat, und Q. Aelius Tubero, der Neffe Scipios, wohl auch die beiden Schwiegersöhne des Laelius, der Augur Q. Scaevola und C. Fannius. Nach seiner rednerischen, politischen und wissenschaftlichen Ausbildung vollendete R. seine militärische im J. 620 = 134 unter Scipio im numantinischen Kriege; als Tribunus militum wurde er mit vier Reiterturmen gegen die Pallantier gesandt, geriet dabei in einen Hinterhalt, wußte sich aber zu behaupten, bis der Oberfeldherr ihn befreite (Appian. I b. 88 [daraus Suid. II 2 p. 626, 12 s. v. Ῥουτίλιος Ῥοῦφος], vgl. Cic. rep. I 17). Die Verbindung des R. mit Scipio, Lucilius und anderen Angehörigen dieses Kreises ist im Lager vor Numantia fester begründet worden, so daß Cicero ihn als den Vermittler zwischen den Männern, die sich bis 625 = 129 um Scipio als ihren Führer scharten, und zwischen sich selbst hinzustellen sucht. In den nächsten zwei Jahrzehnten hat R. als Redner, Anwalt und Rechtskonsulent eine lebhafte Tätigkeit entfaltet, obgleich nur überliefert ist, daß er sich um das Volkstribunat ohne Erfolg bewarb (Cic. Planc. 52) und daß er als Praetor (urbanus) das Verfahren bei der Bonorum emptio (Gai. IV 35; vgl. o. Bd. III S. 706, 46ff.) und die Geschäftsverträge zwischen Patronen und Freigelassenen in durchgreifenden Verordnungen regelte (Ulp. Dig. XXXVIII 2, 1, 1, 1). Die vergebliche Bewerbung um das Tribunat fällt [1271] wahrscheinlich in die Jahre, als C. Gracchus auf der Höhe der Macht stand; R. war durch seine Ehe mit einer Livia (Val. Max. VIII 13, 6. Plin. n. h. VII 158) nach der richtigen Vermutung C. Löwes (a. O. 7) der Schwager des M. Livius Drusus, der dem Gracchus als Kollege im Tribunat 632 = 122 entgegentrat, und hatte sich, da er in den Traditionen des Scipionenkreises wurzelte, vermutlich zu demselben Zwecke wie Drusus um das Tribunat beworben. Die Praetur hat er vor 636 = 118 bekleidet, in den Jahren der Reaktion nach dem Sturze des Gracchus, vielleicht 635 = 119, denn damals waren Consuln L. Aurelius Cotta, mit dem er durch den Gatten seiner Schwester M. Aurelius Cotta nahe verwandt war, und L. Metellus Delmaticus, mit dessen Bruder Q. Metellus er ein Jahrzehnt später in enger Verbindung stand; Tribun war damals C. Marius und mit den Consuln in heftigem Streit; dessen gespanntes Verhältnis zu R. könnte damals entstanden sein, wenn der Stadtpraetor auf Seiten der Consuln stand. Um das Consulat bewarb sich R. 638 = 116 und unterlag dem M. Aemilius Scaurus; er klagte darauf sofort diesen wegen ambitus an und wurde von ihm wiederum deswegen verklagt; beide Prozesse endeten jedenfalls mit Freisprechung (Cic. de orat. II 280; Brut. 113. Tac. ann. III 66; vgl. über das Jahr der Bewerbung Klebs o. Bd. I S. 588. G. Bloch Mélanges de l’hist. ancienne [Paris 1909] 25). In diese Zeit fällt vielleicht ein Angriff gegen Lucilius, der mit Hilfe des R. abgewehrt wurde (vgl. Cichorius a. O. 61 f. mit Verwertung von frg. 9), und vielleicht ein Versuch zur Abschaffung der 593 = 161 erlassenen Lex Fannia sumptuaria (vgl. Cichorius a. O. 265ff.; dazu Neue Jahrb. für das klassische Altertum XXIII 190), bei dessen Bekämpfung R. irgendwie beteiligt war. Sowohl die Konstatierung, daß in Rom nur die drei Anhänger der Stoa, R., Scaevola (der Augur oder der Pontifex Q.) und Tubero dieses Gesetz noch befolgen konnten (Posidon. bei Athen. VI 108 p. 274 c–e; über die Zeit etwas anders Marx, zu Lucil. II p. 82), wie die Bloßstellung eines berüchtigten Schlemmers Sittius durch R. (frg. 6 aus Athen. XII 61 p. 543 a) könnten bei solcher Gelegenheit erfolgt sein. Eine von Augustus der Beachtung empfohlene Rede de modo aedificiorum (Suet. Aug. 89, 2) mag R. ebenfalls bei einem solchen Anlaß gehalten haben oder etwa nach der durch Obseq. 39 bezeugten großen Brandkatastropbe von 643 = 111. Im J. 645 = 109 begleiteten sodann R. und Marius, die beide schon vor einiger Zeit Praetoren gewesen waren, den Consul Q. Metellus als Legaten in den Krieg gegen Iugurtha, mit dem sie einst unter Scipio vor Numantia gedient hatten; wie damals, so war auch jetzt die erste Aufgabe des neuen Oberfeldherrn die Wiederherstellung der Ordnung und Disziplin in dem eigenen Heere, wobei ihn gerade diese Legaten gut unterstützen konnten. Als Metellus darauf gegen den Feind rückte und am Flusse Muthul mit ihm in einer Feldschlacht zusammentraf, übernahm R. die Führung der Leichtbewaffneten und der Reiterei und trug mit ihnen wesentlich zum Siege bei. Auf Grund [1272] des ausgezeichneten Schlachtberichts bei Sall. Iug. 50, 1. 52, 5–53, 8 (s. u.) ist neuerdings der Versuch zur Bestimmung der Örtlichkeit gemacht worden und vielleicht geglückt (vgl. K. Oehler österr. Jahresh. XII 327–340 mit Plan und Abb. XIII Beibl. 257–260); das Jahr ist doch wohl noch 645 = 109 und nicht schon das folgende (vgl. o. Bd. III S. 1218, 15ff. und dazu H. Wirz Die stoffliche und zeitliche Gliederung des Bell. Iug. des Sallust [Progr. Zürich 1887] 13f.). R. blieb als Legat bei Metellus bis gegen Ende des J. 647 = 107, denn er übernahm damals das Heer bis zum Eintreffen des neuen Consuls und Oberkommandanten Marius, mit dem der bisherige Feldherr nicht zusammentreffen wollte (Sall. Iug. 86, 4. Plut. Mar. 10, 1). Dann kehrte auch R. nach Rom zurück, war dort im J. 648 = 106 bei den Verhandlungen über das Geschworenengesetz des Consuls Q. Servilius Caepio (Cic. de orat. I 227) und bewarb sich für das nächste Jahr um das Consulat, ermutigt durch den Erfolg des Marius, gestützt auf seine Verdienste im numidischen Kriege und gefördert durch die Nobilität, die ihn und Q. Lutatius Catulus als Kandidaten aufstellte (vgl. Cic. Mur. 36). R., der bereits etwa fünfzig Jahre alt und Vater eines erwachsenen Sohnes war ((Frontin. strat. IV 1, 12), wurde gewählt, während Catulus einem Emporkömmling Cn. Mallius Maximus erlag (Foedus Astypal. CIG II 2485 = IG XII 3, 173 Z. 5ff. 15ff. Lex Puteol. CIL I 577 = X 1781 = Dessau 5317 Z. 3. Obseq. 42. Cassiod. Chronogr. Idat. Chron. Pasch. [irrig Ῥούφου τὸ β’ wegen 644 Ῥούφου = Minucius Rufus]). Die Gelegenheit, seine kriegerische Tüchtigkeit in einer leitenden Stellung zu erweisen, wurde dem neuen Consul nicht zu teil, da ihm, jedenfalls durchs Los, die Führung der Geschäfte in Rom und Italien zufiel (vgl. Foedus Astypal. Z. 5ff.) und das Kommando in Gallien gegen die Kimbern seinem Kollegen. Nach der furchtbaren Niederlage bei Arausio hatte er in den letzten Monaten des Jahres fast allein die Leitung des Staates und konnte seine Energie bei den umfassenden Rüstungen und Abwehrmaßregeln bewähren. Er verpflichtete eidlich alle Wehrfähigen in ganz Italien, sich für den Krieg bereit zu halten, und verbot ihnen jede Reise außerhalb Italien als strafbare Fahnenflucht (Licinian. p. 21 Bonn. = 14 Flemisch), hob neue Legionen aus und reihte seinen eigenen Sohn in sie ein (Frontin. strat. IV 1, 12). Durch die Einführung eines kunstmäßigen Fechtunterrichts nach dem Muster der Gladiatorenschule (Val. Max. II 3, 2) und durch strenge Manneszucht schuf er ein so tüchtiges neues Heer, daß sein Amtsnachfolger C. Marius Anfang 650= 104 lieber dieses als sein eigenes altes und stärkeres Heer aus Afrika nach Gallien führte (Frontin. strat. IV 2, 2). Die Aushebung neuer Legionen während des Amtsjahres des R. machte auch die Bestellung weiterer Kriegstribunen außer den vom Volke gewählten der ersten vier Legionen notwendig, und R. brachte damals ein Gesetz über deren Bestellung durch die Consuln durch; obgleich die Ableitung des Namens dieser Tribuni militum rufuliÄÄ von dem Beinamen Rufus des Consuls nicht haltbar und der genauere [1273] Inhalt des Gesetzes nicht bekannt ist, so darf die Grundlage der Nachricht des Fest. 261; ep. 260 nicht bezweifelt werden (vgl. Mommsen St.-R. I 434, 2. II 576). Auf das Consulat des R. bezieht sich Ennodius paneg. Theoderic. 19, 85 p. 284, 15ff. Hartel = 213, 25ff. Vogel: Rutilium et Manlium comperimus gladiatorium conflictum magistrante populis providentia contulisse, ut inter theatrales caveas plebs diuturna pace possessa quid in acie gereretur agnosceret.. Die Stelle hat zuerst E. Huschke 1870 (Ztschr. f. Rechtsgeschichte IX 330–332) dafür verwendet, daß damals die Gladiatorenspiele unter die staatlich anerkannten Feste aufgenommen worden seien. Dagegen hat sofort Mommsen (ebd. X 47f. = Philol. Schr. 517f.) eingewendet, daß die Angabe des Ennodius auf der des Val. Max. II 3, 3 über die Einführung des Fechtunterrichts im Heere durch R. beruhe, und zwar auf der Fassung, die diese Nachricht in dem Auszug des Ianuarius Nepotianus 10, 22 erhalten hat. Ohne Kenntnis dieser Erörterungen hat F. B(ücheler) 1883 (Rh. Mus. XXXVIII 476–479) die Stelle des Ennodius wiederum als Beweis für die staatliche Anerkennung der Gladiatorenspiele im J. 649 = 105 verwertet, und seine Ansicht ist in die Handbücher übergegangen (vgl. z. B. Friedländer bei Marquardt St.-V.² III 555. Wissowa Religion und Kultus der Römer² 466). Aber Mommsens Darlegung ist durchaus überzeugend, und weder paßt die Einführung einer neuen staatlichen Feier für die politische Gesamtlage des J. 649 = 105, noch die der verrohenden Gladiatorenkämpfe für den von griechischer Bildung besonders stark ergriffenen R. Aus der nächsten Zeit ist nur bekannt, daß R. die Wahl des Marius zum sechsten Consulat für das J. 654 = 100 beobachtete (Plut. Mar. 28, 7 = frg. 4 Peter) und an dem Kampfe gegen Saturninus und Glaucia in diesem Jahre teilnahm (Cic. Rab. perd. 21). Jedenfalls hat sich bei den damaligen inneren Streitigkeiten sein Verhältnis zu Marius beständig verschlechtert (Dio frg. 98, 3). Als dann sein Freund Q. Scaevola im J. 660 = 94 als Proconsul die Provinz Asien übernahm, begleitete ihn R. dorthin als Legat. Richtig heißt er legatus ... proconsulis bei Liv. ep. LXX, ungenau σύμβουλος des στρατηγός bei Diod. XXXVII 5, 1 und noch ungenauer quaestor des praetor bei Ps.-Ascon. p. 122 Or. = 202 Stangl; doch läßt sich das alles auf denselben Tatbestand zurückführen. Dagegen urteilen manche Gelehrte (wie Waddington Fastes des provinces Asiatiques 666), daß die Angabe des Pomponius Dig. I 2, 2, 40 über R., qui Romae consul et Asiae proconsul fuit, damit nicht vereinbar sei und vielmehr eine früher anzusetzende selbstständige Verwaltung Asiens durch R. beweise, – die übrigens auch dann eher nach seinem Consulat als nach seiner Praetur anzusetzen wäre. Wahrscheinlicher bleibt aber doch, daß bei Pomponius hier wie öfter ein Irrtum vorliegt, zumal da Scaevola nur neun Monate in der Provinz verweilte (Cic. ad Att. V 17, 5) und R. nach seiner Abreise als sein Stellvertreter (wie 647 = 107 in Afrika) die Statthalterschaft selbständig führte, über die Zeit des Proconsulats Scaevolas [1274] und des Prozesses des R. hätte man kaum zu streiten brauchen. Denn es ist weder wahrscheinlich, daß R. als Consular unter einem Praetorier gestanden habe, noch daß seine Anklage erst ein halbes Jahrzehnt nach seiner Tätigkeit in Asien erfolgt sein sollte, und beides wäre der Fall, wenn Scaevola schon nach seiner Praetur 656 = 98 und nicht nach seinem Consulate die Statthalterschaft geführt hätte. Die Neueren, die diese Annahme teilen (wie Waddington a. O. 667. Fränkel Inschr. von Pergamon II 200 zu nr. 268. Dittenberger Or. Gr. inscr. sel. 437 Anm. 3), gehen alle nur auf Klebs bei Orelli Onom. Tullianum II 407f. zurück, haben aber zu ihren Gunsten kein Argument von Gewicht beigebracht außer der allgemeinen Erwägung, daß consularische Proconsuln vor Sulla nicht häufig nachweisbar sind. Das Richtige hat Th. Reinach gesehen (Mithradates Eupator. Deutsche Ausg. 101, 1, wo jedoch als Beweisstelle nicht Ps.-Ascon. p. 25 Or., sondern Ascon. p. 15 Or. [= 13 K.-S.] gemeint ist). Der Proconsul Scaevola und sein Legat R. nahmen sich der unter der römischen Herrschaft hart bedrückten Provinzialen eifrig an, und besonders R. kam dadurch in scharfen Gegensatz zu den römischen Steuerpächtern. Infolgedessen wurde er kurz nach seiner Rückkehr im J. 662 = 92 vor Gericht geladen und von den Geschworenen, die dem Ritterstande angehörten und daher mit den Steuerpächtern aufs engste verbunden waren, trotz des Mangels einer Schuld verurteilt. Obgleich der Fall zu den berühmtesten politischen Prozessen gehört, ist er in seinen Einzelheiten nur sehr unvollkommen bekannt. Die Klage war eine Repetundenklage (Liv. ep. LXX. Vell. II 13, 2. Dio frg. 97, 1) und wurde hauptsächlich von einem gewissen Apicius vertreten (Posidon. FHG III 265 frg. 38 = Athen. IV 66 p. 168 d); wenn dieser Ankläger als der ärgste Schlemmer und Prasser geschildert wurde (ebd.), so mußte auch der Angeklagte sich von ihm vieles sagen lassen, quae ad suspicionem stuprorum ac libidinum pertinerent (Cic. Font. 88); gewiß ist ihm nach beliebter Manier (vgl. z. B. Sall. lug. 15, 4 über M. Scaurus) der Vorwurf gemacht worden, daß seine wahre Lebensführung von der zur Schau getragenen stoischen Gesinnung weit entfernt sei. Jedenfalls blieb er äußerlich auch jetzt seinen Grundsätzen treu; er verschmähte es, vor der Verhandlung durch Anlegung von Trauer Mitleid zu erregen (Val. Max. VI 4, 4. Oros. V 17, 12f.), verzichtete vor Gericht auf jeden andern Beistand als den Scaevolas und seines jungen Schwestersohnes C. Cotta (Cic. de orat. I 229f.; Brut. 115), unterließ in seiner Verteidigung absichtlich alles, was die Stimmung der Geschworenen zu seinen Gunsten beeinflussen konnte (Cic. Val. Max. Oros. Dio frg. 97, 2), und mochte durch seinen Tugendstolz sogar Anstoß erregen (vgl. Oros. Dio: πολὺ πλεῖον τὰ τῶν κοινῶν ἢ τὰ ἑαυτοῦ ὀδυρόμενος mit Äußerungen wie den bei Val. Max. a. O. und Sen. de benef. VI 37, 2 [vgl. ep. 24, 3. Cic. Pis. 95] von R. berichteten). Das Urteil lautete auf eine so hohe Summe, daß R. sie nicht bezahlen konnte, obgleich er alle seine Habe, darunter sein Gut bei Formiae, zu Gelde machte (Dio; val. Cic. nat. deor. III 80. [1275] 86); er mußte daher ins Exil gehen. Daß sein ganzes Vermögen geringer als die angeblich aus Asien heimgebrachte Summe war und als rechtmäßig erworben nachgewiesen werden konnte, zeigte die Grundlosigkeit der Anklage (Dio). Seine Verurteilung war ein Racheakt der Ritterschaft (Liv. ep. LXX. Val. Max. II 10, 5. VI 4, 4. Flor. II 5, 3. Oros. Diod. XXXVII 5, 1. Dio frg. 97, 1. 2. Ps.-Ascon. p. 122 Or. = 202 Stangl), mit der damals wie stets (vgl. Ed. Meyer Kl. Schr. 433, 1) sein persönlicher Gegner Marius im Bunde stand; sie wurde bei dem Alter, Verdienst und Ansehen des R. von der gesamten Nobilität als ein vernichtender Schlag empfunden, so daß sein Neffe M. Livius Drusus zugleich die Sache des Oheims und die des ganzen Senatorenstandes übernahm, als er in seinem Tribunat 663 = 91 den Angriff gegen die Rittergerichte eröffnete. Das Benehmen des R. nach seiner Verurteilung hat dazu beigetragen, daß er als Märtyrer einer ungerechten Klassenjustiz den höchsten Ruhm erlangte; Redner und Philosophen, Rhetoren und Moralisten haben seine Rechtschaffenheit und Unschuld sprichwörtlich gemacht, ihn als römisches Gegenstück zu Sokrates gefeiert und den Gedanken stets aufs neue variiert, daß die Richter nicht ihm, sondern sich selbst für alle Zeiten das Urteil gesprochen hätten (vgl. Cic. Font. 38; Pis. 95; Rab. Post. 27; Scaur. frg. 4 [aus Ascon. 19, 7]; de orat. I 227–231; Brut. 115; nat. deor. III 80. 86. Ps.-Cic. Prid. quam in exs. iret 28. Liv. ep. LXX. Vell. II 13, 2. Sen. dial. I 3, 4. 7. VI 22, 3; ep. 67, 7. 79, 14. 98, 12. Quintil. V 2 4. XI 1, 12. Flor. Oros. Minuc. Felix 5, 12. Diod. Dio). Immerhin hat z. B. Cicero in seinem ersten großen Repetundenprozesse zwar Scaevolas Unschuld der Schuld des Verres gegenübergestellt (div. in Caec. 57; Verr II 27. 34), aber sich gehütet, R. zum Vergleiche heranzuziehen; auch in späteren Prozessen ähnlicher Art hat er nicht darauf zurückgegriffen. R. begab sich ins Exil nach Asien, begleitet von dem Grammatiker Aurelius Opillus (Suet. gramm. 6. Symmach. ep. I 20, 2 p. 13, 1 Seeck; vgl. Funaioli Gramm. Rom. frg. I 86ff.). der wahrscheinlich als ein Freigelassener des C. Cotta ihm nahestand und infolge der Ausweisung der lateinischen Rhetoren gleichfalls Rom verlassen mußte. Die Städte der Provinz bereiteten dem Verbannten einen sehr ehrenvollen Empfang (Val. Max. II 10, 5) und trugen mit den Clientelfürsten auf Anregung Scaevolas zu seinem Lebensunterhalte bei (Dio frg. 97, 4, vgl. Gelzer Die Nobilität der römischen Republik 82f.). Er nahm seinen Aufenthalt in Mitylene auf Lesbos (Cic. Rab. Post. 27. Dio) und entging 666 = 88 dem großen Blutbade, das Mithradates unter allen Römern und Italikern anrichtete, durch Anlegung griechischer Tracht (Cic. a. O., vgl. Posidon. FHG III 268 frg. 41 bei Athen. V 50 p. 213 b). Seine Feinde behaupteten später, daß er sogar – offenbar aus Rachsucht – den Mithradates zu jenem Blutbefehl ermuntert habe (Theophanes von Mitylene FHG III 314 frg. 1 bei Plut. Pomp. 37, 3). R. siedelte damals nach Smyrna über (Dio) und trat von hier aus 669 = 85 mit dem nach Asien vorrückenden Sulla [1276] Verbindung. Dieser bediente sich seiner zu Verhandlungen mit dem demokratischen Feldherrn C. Flavius Fimbria (Appian. Mithr. 60; vgl. Th. Reinach Mithradates Eupator. Deutsche Ausg. 202, 1) und bot ihm an, in seinem Gefolge nach Rom zurückzukehren; aber R. lehnte das Anerbieten ab (Val. Max. VI 4, 4. Sen. dial. VI 22, 3; ep. 24, 4. Quintil. XI 1, 13, vgl. Ovid. ex Ponto I 3, 63f.) und blieb in Smyrna wohnen, wo er das Bürgerrecht erwarb und seinen literarischen Neigungen lebte (Cic. Balb. 28. Tac. ann. IV 43. Oros. V 17, 13. Suet. gramm. 6. Ovid. a. 65f. Dio). Hier besuchte den Greis 676 = 78 Cicero auf der asiatischen Reise, die er damals (gemeinsam mit seinem Bruder Quintus?) machte; als Schüler Scaevolas fand er bei R. eine freundliche Aufnahme und benutzte dies später zu der Fiktion, von ihm in mündlicher Unterhaltung den Stoff seiner Bücher über den Staat (rep. I 13. 17) und andere Erzählungen (Brut. 85–89) erhalten zu haben. In einem Dialog, der in eines der nächsten Jahre vor 679 = 75, gesetzt wird, ist von R. als noch lebend die Rede (nat. deor. III 80); demnach hat R. ein Alter von etwa achtzig Jahren erreicht. Ihn überlebte seine Gattin Livia, die es auf 97 Jahre brachte (Val. Max. VIII 13, 6. Plin. n. h. VII 158); dagegen scheint der in seinem Consulat erwähnte Sohn jung gestorben zu sein, und von weiteren Nachkommen ist nichts bekannt.

P. Rutilii Rufi vita narrata a C. Löwe Progr. Züllichau 1853 und H. Peter Hist. Rom. rel. I p. CCLXI–CCLXIX (dazu die Fragmentsammlungen ebd. 187–190 und Frg. hist. Rom. 120–124; vorher bei Müller FHG III 199f.) geben eigentlich alles über R., was in neueren Handbüchern (z. B. Schanz Gesch. d. röm. Lit. I 1³ 290–293) wiederkehrt.

Die literarische Bedeutung des R. darf auf den Gebieten der Beredsamkeit und der Rechtswissenschaft nicht überschätzt werden. Von seinen Reden ist nichts im Wortlaut erhalten, denn das Zitat, das Diomedes I 376, 4 Keil hinter einem aus P. Rutilius de vita sua (frg. 15 Peter) gibt: idem pro L. Cesutio ad populum (Meyer Or. Rom. frg.² 266), gehört nach der Parallelstelle des Priscian. X 520, 22 vielmehr dem alten Cato (vgl. Fest. 301 a, 25. Cato ed. Jordan p. XCI. Peter a. O. p. CCLXV). Cicero charakterisiert die Beredsamkeit des R. als die eines typischen Stoikers, dem es nur auf Sachlichkeit und Folgerichtigkeit und nicht auf Kunst und Schönheit ankam (Brut. 110. 113–116. 118); er sagt zwar, daß R. in multis causis versatus erat (a. O. 110), scheint aber sein Urteil nur auf die beiden Selbstverteidigungen wegen Ambitus 638 = 116 und wegen Repetunden 662 = 92 zu begründen. Immerhin waren Reden des R. schriftlich überliefert, da Kaiser Augustus eine de modo aedificiorum hervorgezogen hat (Suet. Aug. 89. 2). Einzelne Apophthegmen des R. (z. B. Val. Max. VI 4, 4. Sen. benef. VI 37, 2 vgl. ep. 24, 3) können irgendwoher aus den zur eigenen Rechtfertigung dienenden Reden oder Schriften stammen. Die Form einer Rede hatte nach Theophanes von Mitylene auch die angebliche Aufforderung des R. an Mithradates zur Ermordung der Römer in Asien.

[1277] Als Jurist war R. nach Cicero Brut. 113f. bekannt durch seine Rechtsbescheide und durch die Behandlung der Rechtsfragen in seinen Gerichtsreden; auch als Praetor hat er sich um die Rechtsbildung verdient gemacht. Die wenigen Zitate in der juristischen Literatur (zuletzt gesammelt bei Bremer Jurisprud. Antehadrian. I 43–45; vgl. auch Mommsen Jur. Schr. II 82f.) nötigen nicht zur Annahme einer besondern juristischen Schrift, sondern lassen sich aus den Responsa, Edikten und Reden des R. ableiten. Die Erklärung der Nundinae, die Macrob. Sat. I 16, 34 aus einer Mittelquelle mit dem Zitat: Rutilius scribit gibt, ist von den Neueren für alle möglichen Reden und Schriften des R. in Anspruch genommen worden, weil sie wirklich in der einen so gut gestanden haben kann wie in der andern.

Um von R. als Geschichtschreiber ein vollständigeres Bild zu gewinnen, muß man alle Tatsachen berücksichtigen, für die er als Zeuge angeführt wird.

571 = 183: Scipionem et Polybius et Rutilius hoc anno mortuum scribunt (Liv. XXXIX 52, 1 = frg. 2 Peter).

599 = 155: Die Beredsamkeit der drei Mitglieder der athenischen Philosophengesandtschaft (aiunt Rutilius et Polybius Gell. VI 14, 10 = frg. 3).

605 = 149: Die Verteidigung des Ser. Sulpicius Galba gegen Cato, mit Zustimmung zu dessen Urteil (Cic. de orat. I 227f.).

612 = 142: Bewerbung des Q. Pompeius um das Consulat (P. Rutilius Rufus de vita sua libro I Charis. = frg. 7, vgl. Plut. apohth. Scip. Min. 8; diese Beziehung wahrscheinlicher als die auf Cn. Pompeius Strabo).

616 = 138: C. Laelius und Ser. Galba als Anwälte der Publikanen in einem Sensationsprozeß (Cic. Brut. 85–89 angeblich aus mündlicher Erzählung; für die Annahme einer schriftlichen Quelle vgl. Jahn-Kroll z. d. St. und die Berufung auf die eigenen Worte 88).

620 = 134: Numantinischer Krieg. Appian. Ib. 88 nennt Ῥουτίλιον Ῥοῦφον συγγραφέα τῶνδε τῶν ἔργων, τότε χιλιαρχοῦντα und erzählt die Episode, an der R. beteiligt war, sehr anschaulich und genau. Vgl. auch Cic. rep. I 17 und ferner Rutilius Rufus de vita sua bei Isidor. orig. XX 11, 4 (= frg. 13) mit der Parallelstelle Appian. Ib. 85: πρῶτος ἐπὶ στιβάδων ἀνεπαύετο.

645 = 109: Iugurthinischer Krieg. Die Anschaulichkeit der Darstellung der Schlacht am Flusse Muthul, an der R. hervorragenden Anteil hatte, geht ohne Zweifel auf seine eigene Erzählung zurück, vgl. Jacobs-Wirz zu Sall. Iug. 50, 1.

648 = 106: Urteil über die Art des Eintretens für die Lex Servilia iudiciaria bei L. Crassus (Cic. de orat. I 227).

649 = 105: Zahl der Gefallenen bei Arausio; existimat Rutilius Rufus ergänzt sehr kühn Flemisch bei Licinian. p. 12, 12 seiner Ausgabe = 18 Bonn.

653 = 101: Bewerbung des Marius um das sechste Consulat (Ῥουτίλιος ἱστορεῖ Plut. Mar. 28, 7 = frg. 4, vgl. Liv. ep. LXIX).

662 = 92: Ungünstige Charakteristik des [1278] Cn. Pompeius Strabo, der vielleicht damals Praetor und bei dem Prozeß des R. beteiligt war (Ῥουτίλιος ἐν ταῖς ἱστορίαις Plut. Pomp. 37, 3 = frg. 5).

669 = 85: Verhandlung mit Fimbria. Die Genauigkeit in der Wiedergabe des Gesprächs führt auf R. als den Gewährsmann Appians Mithr. 60, vgl. Ed. Meyer Kl. Schr. 384, 3.

Nicht in einen bestimmten Zusammenhang läßt sich das Zitat bei Athen. XII 61 p. 543 a = frg. 6 über den liederlichen Sittius einreihen (eine Vermutung s. o.); es wird zwar nur mit:ὥς φησι Ῥουτίλιος eingeführt, geht aber ohne Zweifel auf das Geschichtswerk, da R. bei Athen, zweimal als Autor eines solchen genannt wird: IV 66 p. 168 d: Ῥουτιλίῳ τῷ τὴν Ῥωμαϊκὴν ἱστορίαν ἐκδεδωκότι τῇ Ἑλλήνων φωνῇ; VI 108 p. 274 c: Ῥουτίλιος Ῥοῦφος ὁ τὴν πάτριον ἱστορίαν γεγραφώς; daß alle diese Stellen direkt aus Poseidonios stammen, ist leicht zu sehen. Den von Peter gesammelten Fragmenten ist Licinian. p. 1, 1 Flemisch (vgl. praef. p. XIII) hinzuzufügen; die Ergänzung der Stelle (= 3, 23 Bonn.) ist möglich, aber auch hier bleibt es fraglich, in welchem geschichtlichen Zusammenhang R. die Notiz gab. Dasselbe gilt von den kleinen Bruchstücken aus Rutilius de vita sua, die Charisius mit den Buchzahlen II–V (frg. 8–12) und Diomedes ohne solche (14f.) erhalten haben. Eine mündliche Äußerung, die R. wiederholt über Panaitios getan habe, führt Cicero off. III 10 nicht aus unmittelbarer Kenntnis, sondern aus einer Schrift des Poseidonios an, so daß sie möglicherweise wirklich aus dem Munde und nicht aus einem Buche des R. stammt. Zu den Zeugnissen über seine literarische Tätigkeit tritt noch der berühmte Hinweis auf die Autobiographien des R. und des Scaurus im Vorwort des Tacitus Agr. 1.

Fast alles, wofür R. als Zeuge angerufen wird, steht in offener oder versteckter Beziehung zu seinen eigenen Erlebnissen. Daß er als Redner alle Effekthascherei vermied und deswegen das Verhalten des Galba 605 und das des Crassus 648 tadelte, hat schon Cicero (de orat. I 227ff.) zueinander in Beziehung gebracht. Weil R. nach der mißglückten Bewerbung ums Consulat 638 wegen Ämbitus belangt worden war, stellte er fest, das Q. Pompeius und C. Marius sich dieses Verbrechens schuldig gemacht hatten und dennoch zu Consuln gewählt worden waren. Weil ihm 661 Feindseligkeit gegen die Steuerpächter vorgeworfen wurde, zeigte er, daß er schon 616 für sie eingetreten sei (Cic. Brut. 87; auch frg. 10 handelt von dergleichen). Weil er nach der Weise der Ahnen und der Stoiker ganz einfach lebte, tadelte er die Schwelgerei und Sittenlosigkeit bei anderen, so bei jenem unbekannten Sittius und gewiß auch bei seinem Ankläger Apicius. Wie er als Consul 649 nullius ante se imperatoris exemplum secutus Neuerungen im Heere einführte (Val. Max. II 3, 2), so berichtete er, was der Consul Scipio 620 primum contra consuetudinem imperatorum getan hatte (frg. 13). Die Vergleichung der Fragmente und der Lebensnachrichten ergibt noch mehr solche Berührungen. Der Bericht über die Unternehmung gegen die Pallantier 620 [1279] bei Appian und der über die Schlacht am Muthulflusse 645 bei Sallust heben sich in gleicher Weise durch Klarheit der Ortsbeschreibung und der militärischen Situation von ihrer Umgebung ab; der Anteil des R. tritt in beiden neben dem der Oberfeldherren allein und deutlich hervor. Bei den Verhandlungen der Publikanen mit Galba 616 und Sullas mit Fimbria 669 steht es ähnlich, obgleich R. beidemale nur der Vermittler war; wie dort ein Augenzeuge, so berichtet hier ein Ohrenzeuge. Auf das Verhältnis zu seinen Freunden bezieht sich sowohl die erste Anekdote über R. bei Val. Max. VI 4, 4 wie das kleine frg. 9 (s. o.). Charakteristik fremder Beredsamkeit geben die Äußerungen über Laelius, Galba, Crassus bei Cicero und das Zitat über die athenische Philosophengesandtschaft, auch freilich das mündliche Urteil über Panaitios. Ungünstige Beurteilung politischer Gegner und persönlicher Feinde ist mehrfach zu bemerken, und hatte die Folge, daß deren literarische Verteidiger wieder den R. als Historiker angriffen; das zeigt namentlich Plut. Mar. 28, 7 und Pomp. 37, 3, dessen unmittelbare Vorlage ihn wiederum gegen solche Kritik in Schutz nahm, ebenso wie Tac. Agr. 1 Anf. es tat.

In allen Äußerungen des R., gleichviel ob sie aus Reden oder Schriften abgeleitet werden, ist also sein bestimmtes Urteil, ja sogar vielfach seine apologetische Tendenz unverkennbar; von den Selbstverteidigungen vor Gericht zu der Selbstbiographie und zu der Geschichte seiner Zeit ist der Schritt nicht sehr groß. Besonders sind die Unterschiede zwischen den beiden letzteren gering. So wird eine scheinbar objektive historische Notiz über Q. Pompeius aus dem ersten Buche der Selbstbiographie, das die Jugendzeit des R. enthielt, angeführt, und so zitiert der Römer Livius, bei dem man doch Benutzung dieser lateinischen Schrift annehmen sollte, den R. für den lange vor seiner Geburt erfolgten Tod des älteren Africanus; dagegen fand der Grieche Theophanes die scharfe Beurteilung des Cn. Pompeius Strabo, die wohl auf persönlicher Feindschaft beruhte, in den griechischen ἱστορίαι. Unter diesen Umständen hat doch wohl Nissen (Krit. Untersuch. 41–43) hinsichtlich des Verhältnisses zwischen beiden Werken das Richtige getroffen und ist von Peter (a. O. CCLXVIII), Mommsen (R. Forsch. II 487) u. a. nicht widerlegt worden: Dem Inhalt nach werden sich die beiden Werke, die R. in den Jahren seines Aufenthalts in Smyrna verfaßte, im ganzen gedeckt haben; nur die Rücksicht auf das römische und auf das griechische Publikum wird für die Verschiedenheit der Ausführung im einzelnen bestimmend gewesen sein, da manches bei dem einen als bekannt vorausgesetzt werden konnte, was dem andern ausführlicher dargelegt werden mußte. Sogar ein bloßer Übersetzer wie der des Monumentum Ancyranum hat solche Rücksicht genommen, noch mehr jedenfalls Cicero in den verschiedenen Darstellungen seines Consulats. Die aus R. angeführten Begebenheiten, die vor seiner eigenen Zeit lagen, der Tod des Africanus, der Prozeß des Galba und die athenische Philosophengesandtschaft können sehr wohl in einleitenden Partien oder [1280] gelegentlich seiner eigenen Beziehungen zu Galba, zu den Scipionen und zu anderen Philosophen erwähnt worden sein; daß in allen drei Fällen neben ihm noch ein anderer älterer Gewährsmann zitiert wird, zweimal Polybios und einmal Cato, spricht sehr dafür, daß er sich für diese vor seiner eigenen Erinnerung liegenden Dinge auf Polybios und Cato berufen habe, zumal da Anknüpfung an die von ihnen vertretenen Traditionen auch sonst in seiner politischen und literarischen Tätigkeit zutage tritt. Eine direkte Benutzung des lateinischen Werkes liegt bei Cicero, Sallust und Livius vor, des griechischen bei Poseidonios. Weder das eine Zitat in den erhaltenen Büchern des Livius noch die Benutzung in den bei Athenaios erhaltenen Bruchstücken des Poseidonios ist das Wesentliche, sondern der starke Einfluß auf die ganze Darstellung der Zeitgeschichte, der sich noch bei den von Livius abhängigen Autoren bis zu Cassius Dio und den Epitomatoren und bei den von Poseidonios abhängigen Griechen Diodor, Plutarch und Appian spüren läßt; nur Untersuchungen, die die gesamte Überlieferung der von R. dargestellten Zeit in Betracht ziehen, können diesen seinen Einfluß nachweisen, zumal unter der Voraussetzung, daß der sie vornehmlich beherrschende Poseidonios in Darstellung und Beurteilung römischer Dinge vielfach von R. abhängig war (vgl. Busolt Jahrb. f. Philol. 1890. CXLI 329. 332f. 344f. 406. 437f.). Manches, was auf R. zurückgeht, steht auch bei Sammlern wie Valerius Maximus und Frontin (z. B. strat. IV 1, 12. 2, 2), ohne daß die Mittelquellen festzustellen sind. Im ganzen hat R. wohl sein Ziel erreicht, indem er das Urteil der Folgezeit über sich selbst, seine Freunde und Feinde nachhaltig beeinflußte; darum ist er für uns weniger schattenhaft als die meisten anderen Historiker derselben Zeit.