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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Die Künstlerin ist zu allen Zeiten dem Jünglingsherzen gefährlich gewesen, ihr flog noch immer die Jugend zu und gerade diejenigen, welche sich die Naivetät der Unschuld zu bewahren vermochten, sind für den Schimmer des Ruhms, den Glanz der Erscheinung, den Reiz des Außergewöhnlichen stets am empfänglichsten. Auf der anderen Seite glaubte die Künstlerin der vergangenen Tage, größtentheils von den Freuden des Familienlebens geschieden, oft mit Mangel und Entsagung ringend, zu einem Ersatze der ihr versagten Genüsse in der Ungebundenheit von conventionellen Fesseln und der Freiheit ihrer Neigungen berechtigt zu sein. So gestalteten sich einst die zahlreichen bald flüchtigen, bald leidenschaftlichen, aber immer romantischen Verhältnisse, von denen uns die Blätter und Sagen aus einer erst jüngst entschwundenen Zeit zu erzählen wissen. – Jetzt ist es anders. Sängerin, Schauspielerin und Tänzerin, sie alle wollen heirathen, glänzend heirathen, zum wenigsten glänzende Namen, und die Anforderungen des Herzens müssen vor diesem Streben zurückweichen. Der heirathslustige junge Adel aber sieht in den verschwenderisch bezahlten Damen der Bühne wünschenswerthe Gegenstände einer Finanzspeculation und wirbt nicht mehr um ihre Liebe, sondern um ihre Hand. Es gehört dasselbe bereits zu der Ordnung des Tages, daß unsere Künstlerinnen von Ruf und vor allem von Geld arme Edelleute, zumeist Officiere, heirathen, und sie lassen sich nicht einmal durch den demüthigenden Umstand zurückschrecken, daß eine solche Verbindung den Mann nöthigt, aus dem Officierstande auszuscheiden.

Von diesem Schicksale blieb allein Graf von der Goltz, der Mann unserer Erhardt, verschont, weil der König die treffliche Schauspielerin nicht verlieren wollte, diese aber erklärte, falls ihr Mann den Abschied erhalte, nach Weimar übersiedeln zu wollen. Es war diese Heirath übrigens von beiden Seiten auf herzliche Neigung gegründet, und es knüpfte sich auch ein Stückchen Romantik daran. Um die Vorschrift oder das Herkommen (es weiß Niemand, welches von Beiden hier eigentlich maßgebend ist), wonach der Ehemann einer am Theater fungirenden Künstlerin nicht Officier bleiben darf, zu umgehen, hatten die beiden Liebenden sich heimlich im Auslande trauen lassen, und sie wußten ihre Verbindung so geschickt zu verbergen, daß Niemand auch nur ein Verhältniß zwischen ihnen ahnte. Zwei Jahre deckte dies Geheimniß den zärtlichen Bund – und daß dies in dem neugierigen und klatschsüchtigen Berlin möglich war, zeugt gewiß von der Schlauheit des Pärchens –, als eines Morgens die Zeitungen unter der Ueberschrift „Verspätet" die Heirathsanzeige und wenige Tage darauf die Meldung von der glücklichen Entbindung der schönen jungen Gräfin brachten. Das süße Geheimniß war also so lange bewahrt worden, als es überhaupt angänglich war. An lachenden und boshaften Bemerkungen fehlte es nicht; doch scheint mir die Mutter des Ehemannes das Richtige getroffen zu haben, als sie sich auf den freundlichen Vorwurf beschränkte, daß der Sohn nicht einmal sie zur Vertrauten gemacht habe. – Die ohne Consens geschlossene Ehe war übrigens nichtig, und es mußte auch in dieser Beziehung die Gnade des Königs angerufen werden.

Der angeführte Fall steht indessen ganz vereinzelt da, denn selbst der allbeliebten Pauline Lucca, oder richtiger Frau v. Rhaden, gelang es nicht ihren Mann in seinem Regimente zu halten, trotz der zahlreichen und angesehenen Gönner, die sich in ihrem Interesse verwendeten.

Das hier berührte Thema bietet so reichen Stoff, daß ich, um mich nicht in das Unendliche zu verlieren, abbrechen muß. Lassen Sie mich deshalb für heute mit der Erwähnung zweier Verbindungen aus dem hiesigen high Life schließen, die zwar im Verwandtschaftsgrade sich sehr nahe liegen, deren Entwickelung aber eine sehr verschiedene ist. Vor Kurzem verlobte sich der jüngste Sohn des Fürsten zu Sayn-Wittgenstein auf Wittgenstein mit der Tochter des berühmten Componisten Dreyschock, einer musikalisch hochbegabten Dame, der er freilich nichts als Hand und Herz zu bieten vermag, die aber gewiß ihren Werth haben, da er sie nicht gegen Schätze eintauscht. Den Gegensatz bildet die Heirath eines anderen Fürsten, der, als ihm die Schulden über den Kopf stiegen, sich nicht anders aus seinen Verlegenheiten zu retten wußte als durch die Heirath mit der Tochter seines Hauptgläubigers, des jüdischen Handelsmannes X., der übrigens über eine außergewöhnlich zahlreiche weibliche Nachkommenschaft zu verfügen haben müßte, wenn alle jungen Prinzen und Grafen, deren Wechsel er in der Tasche hat, diese in gleicher Weise einlösen könnten.




Ein Shakespeare-Apostel.

Seit L. Tieck’s Vorgange ist das Vorlesen Shakespeare’scher Dramen ein besonderer Kunstzweig geworden. Warum gerade der Shakespeare’schen Dramen? Sollte nicht die Kunst des Vorlesens, des schönen, reinen und ausdrucksvollen Sprechens sich ebenso gut, ja noch viel mehr an unseren deutschen Dichtern üben lassen? Unter den neueren Shakespeare-Vorlesern ist ganz besonders Rudolph Genée zu schnellem und großem Ruhme gelangt. Er erzielt ganz neue Wirkungen, nicht allein durch die ungewöhnliche Begabung für den lebendigen, dramatisch gefärbten Vortrag, sondern auch durch seine ganz eigenthümliche Methode, die er selbstständig sich dafür geschaffen hat. Er ist dramatischer Künstler und gleichzeitig Aesthetiker. Als Letzterer will er die Shakespeare’sche Poesie nicht unter dem Wuste eitler Auslegungen erdrücken, sondern den Dichter auf die Einfachheit seiner Riesengröße zurückführen und dadurch eben ihn verständlich und lebendig machen.

Gegen das Vorlesen von Dramen ist eingewendet, daß ja doch das Drama vor Allem für die plastische Darstellung bestimmt sei. Genée wendet dagegen ein: Aber Shakespeare’s Dramen sind von unserer Zeit durch einen Zeitraum von nahezu drei Jahrhunderten getrennt; Shakespeare schrieb für eine scenische Einrichtung der Bühne, die zu unserer modernen und überaus complicirten Bühne im stärksten Widerspruche steht. Von diesem Gesichtspunkte ausgehend, hat sich Genée eben eine besondere Form für den Vortrag dieser Dramen gebildet, eine Form, welche ihn befähigt, den vollen geistigen Gehalt jener merkwürdigen Schöpfungen wiederzugeben, ohne daß dadurch der bestehende Conflict mit unsrer modernen Scenerie fühlbar wird. Und eben deshalb, wegen dieser vermittelnden Form seines Vortrags liest Genée vor Allem Shakespeare.

Die Geschichte dieser Dramen in Deutschland ist eine höchst lehrreiche Geschichte des literarischen und theatralischen Geschmacks. Schon um 1600 brachten die „Englischen Komödianten“ Shakespeare’sche Stücke in Deutschland zur Aufführung. Aber unsere staatliche Zerrissenheit, deren Unheil durch den dreißigjährigen Krieg und den schmählichen westphälischen Frieden erst recht besiegelt werden sollte, ließ jene frühen Keime zu keiner weiteren Entwicklung kommen. Erst im Jahre 1741 wurde das erste Shakespeare’sche Stück (Julius Cäsar) in deutscher Uebersetzung dem Publicum bekannt gemacht.

Zwanzig Jahre später begann Wieland seine Shakespeare-Uebersetzung, und unser großer Lessing wies mit aller Energie seines hellen Geistes auf denjenigen Punkt hin, von welchem aus sich unsere von den französischen Classikern beeinflußte dramatische Literatur zu einer deutsch-nationalen entwickeln könne. Wie sich daran unsere Sturm- und Drangperiode schloß, wie die Dichter derselben brannten und versanken in der feurigen Gluth des über Deutschland wogenden Shakespeare-Genius, der zuerst in unserm nun wiedergewonnenen Straßburg den jugendlichen Goethe entzündete – dies Alles, und die fortwährenden Wandelungen, welche Shakespeare’s Dramen auf der deutschen Bühne durchzumachen hatten – findet man ausführlich und klar dargelegt in der unlängst bei W. Engelmann in Leipzig erschienenen „Geschichte der Shakespeare-Dramen in Deutschland“ von Rudolph Genée. Wahrlich ein reicher, neuer Schatz für unsere Literatur überhaupt, besonders für die Erkenntniß des befruchtenden Einflusses Shakespeare’s auf unsere Dichter, der schon lange vor dem dreißigjährigen Kriege durch englische Komödianten in Deutschland begann. Dies Buch allein würde Genée zum ersten unserer zahlreichen Shakespeare-Apostel erheben. Wie kam er dazu, es zu schreiben? Das nöthigt uns, das Leben Genée’s und dessen Entwickelung wenigstens kurz anzusehen.

Am 12. December 1824 in Berlin geboren, wo sein Vater

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 835. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_835.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2020)