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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

matt und muthlos, weil gerade Die, welche sich über das Gemeine erhoben haben und von der Weisheit des Jahrhunderts durchdrungen sind, sie im Stiche lassen und den Punkt nicht finden können, in welchem sich alle edleren Bestrebungen zur Einheit des religiösen Charakters zusammenschließen.

Soll denn wirklich, wie Schleiermacher sagt, der Knoten der Geschichte so auseinandergehen, daß das Christenthum mit der Barbarei und die Wissenschaft mit dem Unglauben endigt?

Nein, das Volk, das einst die Reformation aus seiner Tiefe herausgeboren, wird auch Kraft genug behalten, der orthodoxen Clerisei zu zeigen, daß es für die Freiheit seines Glaubens und Gewissens noch heute in die Schranken zu treten wagt.

Ein Volk, dessen Sänger einst gesungen haben „von Lenz und Liebe, von seliger goldener Zeit, von Freiheit, Männerwürde, von Treu’ und Heiligkeit“, das kann auf die Dauer sein Ein und Alles nicht finden in den Discussionen über neue Steuern und die Militärbudgets. Es wird neben der Magenfrage und der Existenzfrage sich noch einen Platz offen behalten für die Gewissensfrage.

Und wenn wir selber den Morgen nicht mehr grüßen werden, am dem der große Kampf in der protestantischen Kirche zu Ende geführt, an dem die Sonne ein freies Geschlecht bescheinen wird, das in idealer Begeisterung für alles göttlich Gute erglüht, dann trösten wir uns immerhin mit den Worten Fichte’s:

„Nein, verlaß uns nicht, heiliges Palladium der Menschheit, tröstender Gedanke, daß aus jeder unserer Arbeiten und jedem unserer Leiden unserem Brudergeschlechte eine neue Vollkommenheit und eine neue Wonne entspringt, daß wir für sie arbeiten und nicht vergeblich arbeiten – daß an der Stelle, wo wir uns abmühen und zertreten werden und, was noch schlimmer ist, gröblich irren und fehlen, einst ein Geschlecht blühen wird, welches immer darf, was es will, weil es nichts will als das Gute. Begeistere uns, Aussicht auf diese Zeit, zum Gefühle unserer Würde, und zeige uns dieselbe wenigstens in unseren Anlagen, wenn auch unser gegenwärtiger Zustand ihr widerspricht! Geuß Kühnheit und Enthusiasmus auf unsere Unternehmungen, und würden wir darüber zerknirscht, so erquicke (indeß der erste Gedanke: ich that meine Pflicht, uns erhält) uns der zweite Gedanke. Kein Samenkorn, das ich streute in der sittlichen Welt, geht verloren.“




Ein Besuch auf dem Sonnenstein.

„Du wirst nun schau’n die schmerzensreichen
Schaaren,
Die der Erkenntniß höchstes Gut verloren.“

Diese Worte Dante’s durchschwirrten mein Gemüth, als ich doch etwas bangen Herzens an einem sonst goldhellen Morgen die vielen Stufen zum Sonnenstein, der großen sächsischen Seelenheilanstalt, emporklomm. Das Leben ist schon an sich so aufregend und stellt zuweilen unbillige Anforderungen an die Widerstandskraft der Nerven, und da oben harrten meiner, zusammengedrängt, gleichsam auf einen Haufen gekehrt, alle Ideen, Leidenschaften und Irrthümer dieses Lebens – nur in grelleren Farben und Uebergängen und oft in einer absoluten Nacktheit, die auch den Gesunden mit Bangigkeit und Furcht vor sich selber erfüllen kann.

Und dennoch war der Eindruck im Ganzen ein beruhigender. Die tollsten Dissonanzen, die das Gemüth martern, werden am Ende übertönt durch die volle Harmonie der selbstlosesten Menschenliebe, von welcher die Unglücklichen umgeben sind. Man hat bis zum Ueberdrusse die Anklagen vernommen, daß unsere Zeit in krassen Egoismus versunken sei, und man glaubt schließlich daran, aber gerade unsere modernen Spitäler, Versorg- und Irrenhäuser stehen als redende Zeugen da, um diese Anklagen zu entkräften. Wo findet denn die Menschenliebe ihren reinsten und erhebendsten Ausdruck? Im Samariterthume! Und der stolze Sonnenstein, der mit seinen blanken, freundlichen Fensterreihen und seinen altdeutschen Giebeln weithin den Elbgau beherrscht, ist eine der festesten Burgen des modernen Samariterthums; sein Burgherr wägt einen Namen der an sich schon Vertrauen wachruft; er heißt Lessing, und er ist der Neffe des Pfarrersohnes aus Kamenz, der uns in seinem „Nathan“ ein Evangelium der Humanität geschaffen hat.

Ehemals diente die stolze Veste als Zwingburg wider die unterjochten Slavenstämme des Elbgaues, und gleichzeitig bildete sie den Grenzwall gegen die gewaltsamen Rückstauungen der slavischen Völkerwogen von Böhmen her. Im späteren Mittelalter sank ihre Bedeutung als Veste, wenngleich die Schweden vergeblich ihre Batterien darauf spielen ließen. Im Anfange dieses Jahrhunderts wurde sie schließlich in eine Seelenheilanstalt umgewandelt. Damals forderten endlich die Wissenschaft und die Menschlichkeit gebieterisch, daß man die Irren nicht mehr wie wilde Thiere in Ketten lege und mit Zuchthäuslern zusammensperre; sie forderten nicht mehr nur Verwahrung, sondern Heilung, soweit sie möglich. Auch die sächsische Regierung folgte der allgemeinen Reformbewegung man sonderte 1811 im Torgauer Zuchthause die Irren von den Züchtlingen, bildete eine eigene Direction dafür, und diese zog mit dreihundert Schutzbefohlenen im Sonnenstein ein. Damit wäre die Geschichte der Burg in Umrissen gegeben. Unter den Episoden ist nur eine wichtig, und zwar die jüngste; sie verdiente, daß man sie in die französische Sprache übersetzte und sie den Anklägern unserer Armee in Frankreich unter Kreuzband zustellte.

Am 12. September 1813 erschien Napoleon der Erste im Sonnenstein; ihm gefiel der Platz am Thore des Meißner Hochlandes; seine Sachen standen schief; er brauchte feste Stützpunkte für seine Armeen nothwendiger denn je und beschloß den Sonnenstein in eine Festung umzuwandeln.

Das Alles kann man an einem Feldherrn nur natürlich finden, aber nun kommt die abscheuliche Barbarei.

„Que l'on chassee ces fous!“, Man jage diese Narren fort!“ Mit diesen Worten ritt er hinweg. Vertragsmäßig hätte der Sonnenstein durch einen sächsischen Regierungscommissär geräumt und übergeben werden müssen, aber das lehnte man einfach ab, und die Creaturen des Corsen jagten buchstäblich nach dem Befehle „die Narren“ fort, und zwar in einer Zeit von drei Stunden, obwohl der Feind nicht im Geringsten diese Truppenabtheilung bedrängte. Man nahm den Wärtern die Schlüssel ab, trieb die Kranken – auch die bettlägerigen – auf den Höfen zusammen, drängte sie zu den Thoren hinaus und warf hinter ihnen die Thür in's Schloß. Die Niederträchtigkeit ging soweit, daß man nicht einmal den weiblichen Kranken Wäsche und Kleider herausgab, die doch für die französischen Soldaten völlig werthlos waren. Mit Thränen in den Augen bat der Director um Rückgabe eines Theils des Brodvorrathes, den man eine Stunde vorher abgeladen hatte – umsonst. Ohne Brod, ohne Viehstand, ohne Betten zogen 275 Seelenkranke in nothdürftiger Kleidung unter Jammern und Wehklagen hinab in die soldatenüberfüllte Stadt Pirna. Der Anblick soll nach den Berichten von Augenzeugen herzzerreißend gewesen sein, und das dürfen wir ihnen auf’s Wort glauben.

Mildherzige Bürger bereiteten den Unglücklichen Lagerstätten auf den Holzbänken der Pirnaer Stadtkirche. Die Tobsüchtigen und die Nervenfieberkranken mußte man in die Sacristei sperren.

So verfuhren die Herren Franzosen, die uns heute als Barbaren verschreien, in Freundesland – die Vorsehung hat sie gestraft; das Geheul der Irren und Elenden im Gotteshause zu Pirna hat seine Stätte gefunden.

Die Schlacht bei Leipzig öffnete auch den Irren wieder ihr freundliches Asyl, und seit dieser Zeit sind der Anstalt schwere Tage erspart geblieben; selbst Epidemien, die nirgends auf die Dauer ausbleiben, wo viele Menschen beisammen wohnen, sind auf dem Sonnenstein unbekannt.

Gewichtige Empfehlungsbriefe öffneten mir sofort die Anstalt, die sonst vor müßiger Neugier streng gehütet wird, und ich hatte die Genugthuung, gleich einer ärztlichen Conferenz beiwohnen zu können. Obenan saß Geheimrath Dr. Lessing, der Chef der Anstalt, mit einem freundlichen, wohlwollenden Lessing - Kopfe und einem Bismarck-Körper von urgermanischen Dimensionen. Unter seinem Präsidium waren die vier Anstaltsärzte und einige Assistenten neben dem üblicher Protokollanten vereinigt.

Der Dienst beginnt an diesem grünen Tisch sehr früh. Von siebeneinhalb Uhr ab treten sämmtliche Aufseher, Aufseherinnen, Wärter und Wärterinnen an und rapportiren vor der Wissenschaft ihre Beobachtungen, die sie während der Nacht in den Schlafsälen

der Irren machen konnten. Hieran schließen sich die ärztlichen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 331. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_331.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)