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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

der muß nach Pest zu Gaste gehen. Das Bild von der öden, traumumfangenen Puszta mit dem Csikos und den himmelaufragenden Cisternenschwengeln, wie es uns Lenau und Karl Beck überlieferten, ist antiquirt; der „arme Bursche“ streift nicht mehr mit dem Rechte der Ernährung auf fremde Kosten und fremde Gefahr die ländlichen Gehöfte ab; die Csarda hat sich civilisirt, und selbst die Zigeuner sehen sich fast wie moderne Menschen an. Das hat der rastlose Nationalsinn bewirkt, der, von der Centralisationsgewalt des Ministeriums Bach befreit, sich wunderbar zusammenraffte und in einem Decennium nachholte, was durch ein halbes Jahrhundert versäumt worden war.

Noch vor nicht allzu langer Zeit geschah es, daß dem Pester Gemeinderathe eine Petition zuging, eine der hauptstädtischen Straßen mit Bäumen zu bepflanzen. „Bäume,“ lautete die Antwort des ehrbaren Stadtkollegiums, „gehören aufs Land, nicht in die Stadt.“ Heute ist Budapest mit seinen reizenden Quais, mit seinem lauschigen Stadtwäldchen, mit der unvergleichlichen Margarethen-Insel, den Villen im Auwinkel und auf dem Schwabenberge, seinem Asphaltpflaster eine durchaus modische Stadt. Ein wenig engherzig ist freilich dieser Nationalsinn der Magyaren; man bekommt dies auf Schritt und Tritt zu spüren. Man ist als Deutscher ohne magyarischen Führer an der Seite in Pest wie verloren; die Schilder an den Straßenecken und über den Kaufläden sind ungarisch, die Droschkenkutscher verstehen kein deutsches Wort.

Sentimentale Staatsmänner mit idealistischen Zielen haben die Magyaren nie hervorgebracht. Die einzige Ausnahme etwa bildet Joseph Eötvös, in den sich der Patriot mit dem Poeten theilte. Er hat den „Dorfnotär“ geschrieben und über die „leitenden Ideen des 19. Jahrhunderts“ reflektirt, daneben aber auch das Unterrichtswesen in seinem Vaterlande mächtig gehoben. Von Julius Andrassy aber, nach dem seit wenigen Tagen die prachtvolle Radialstraße in Pest den officiellen Namen „Andrassy-Straße“ führt, von Franz Deak und Koloman Tisza weiß man, daß in ihnen der praktische Sinn vor allen anderen Anlagen überwiegend zur Geltung kam. Franz Deak war ein schlichter, wortkarger Mann, ohne den leisesten Funken von Himmelsstürmerei, aber er begriff, was seinem Volke noththat. Und Andrassy war unter den europäischen Diplomaten recht eigentlich der Repräsentant des natürlichen Verstandes, den besser als alles Andere das Wort charakterisirt: „Man darf auf Spatzen nicht mit Kanonen schießen.“ Koloman Tisza endlich, der heute Ungarn lenkt, ist klug wie die Schlangen mit einem Instinkt für das Erreichbare begabt, der ihn wie einen Nachtwandler unversehrt über alle Klippen hinwegführt. Hält man aber neben die magyarische Staatskunst die magyarische Dichtung, so empfängt man den Eindruck, als ob auch sie bei allem Temperament, bei aller Gluth und Leidenschaft mit der Klugheit des Lebens geölt wäre. Das ist keine ungarische Musikkapelle, die nicht ihre Produktion mit dem Rakoczy-Marsche beginnt und mit dem Rakoczy-Marsche beschließt. Und das ist auch kein echter Tablabiro, der nicht auf den Grundsatz schwört: „Nullum vinum nisi hungaricum.“ Aber wenn dem nationalen Bedürfnisse die Libation dargebracht ist, mit einem funkelnden Glase Tokaier, mit einem wilden Csardas, mit einem betäubenden Eljen auf den „König“, dann werden Temperament und Melancholie hübsch bedachtsam in das Futteral gesteckt und an ihre Stelle tritt das kluge, nüchterne Raisonnement. Dieses merkwürdige Nebeneinander von Ungestüm und Berechnung, von Naivetät und Zwecksinn findet sich bei Petöfi nicht minder wie bei Moriz Jokai, welcher als Buch-Industrieller mit 300 Bänden seiner Dichtungen in der Originalsprache und in Uebersetzungen die Ausstellung beschickt hat.

Es war am 2. November 1825, als Graf Stephan Szechenyi die Gründung der ungarischen Akademie der Wissenschaften anregte und zu diesem Zwecke einen Theil des Jahresertrages seiner Güter spendete. Man kann von diesem Tage den Beginn der neuen Entwickelung Ungarns datiren, aber Halbasiaten zu sein haben trotz Petöfi und Kossuth und Klapka die Magyaren doch erst seit dem Jahre 1867 aufgehört. Die Geburtsstunde des Dualismus war zugleich die Geburtsstunde des modernen Ungarn. Die Exilirten von 1848, die Andrassy, Pulszky und ihres Gleichen, waren aus der Fremde ins Land zurückgeströmt, an Kenntnissen und Erfahrungen bereichert, die tönende avitische Beredsamkeit der Paul Nyari, Balthasar Horvath wurde von umfassender Sachkenntniß abgelöst, der Sinn für wirthschaftliche Segnungen kam zur Geltung. Man schlug einander auch später noch bei den Wahlen todt und Rosza Szandor’s Schatten schlich schreckhaft durch die Komitate, aber Koloman Tisza, der heutige Ministerpräsident und „steifnackige Calvinist“, legte seinen Schlapphut ab und bereitete sich zur Regierungsfähigkeit vor; es entstanden Assekuranz-Gesellschaften und Sparkassen, kurzum, der Uebergang vom Asiaten zum Europäer war vollzogen. Am deutlichsten prägte sich dies in der Physiognomie der Hauptstadt aus. Die Bauten welche vom Jahre 1868 bis zum Jahre 1882 sich erhoben, repräsentirten ein Baukapital von 68 Millionen Gulden. Im Jahre 1871 dekretirte allem Widerspruche zum Trotz der damalige Ministerpräsident Andrassy eine Straßenlinie mitten durch die jüdische Theresienstadt, zu deren Bebauung er von Staatswegen eine Anleihe von 25 Millionen aufnahm, und heute bildet diese Straße – ehedem die Radialstraße, jetzt die Andrassy-Straße genannt – das Juwel von Pest. Ich weiß in keiner europäischen Hauptstadt eine schönere Avenue.

Daß der Magyar angesichts solcher Riesenfortschritte in der Selbstverherrlichung nicht blöde ist, wird man ihm gerechtermaßen nicht verargen dürfen. Umgekehrt kann er es einem Deutschen nicht verübeln, wenn dieser findet, daß der magyarischen Physiognomie etwas mehr Toleranz gegen Nichtmagyaren vortheilhaft anstände. Denn wie Vieles auch Ungarn als selbsterzeugte Herrlichkeit zu präsentiren hat, es ist doch noch lange nicht in der Lage, des befruchtenden Kultureinflusses, der von Westen kommt, entrathen zu können. Es hat seinen eigenen Wein, seinen Betyar und seinen Fokos, seine geborenen Redner und Politiker, seinen Franz Liszt und Munkacsy, aber sein Baustil, seine Industrie, seine Landkultur, ja sogar sein Antisemitismus sind importirt. Und zwar weniger aus Paris, obzwar der Ungar ein leidenschaftlicher Franzosenfreund ist, als aus Wien und Berlin, obwohl er für den Deutschen nur mäßige Sympathie hegt. Die Andrassy-Straße ist, architektonisch betrachtet, ein Stück Wiener Ringstraße und ein Stück Berliner Thiergarten. Der Nachahmungstrieb zeigt sich an dem Operngebäude, an den vier Kasernen des Waizner Boulevards, und kommt man in die Ausstellung, so glaubt man auf den ersten Blick eine Miniaturkopie der Wiener Weltausstellung vom Jahre 1873 vor sich zu haben. Erst allmählich gewinnt man den Eindruck, daß in diesen 105 prächtigen Pavillons auch Manches geborgen ist, was sich als ungarische Specialität bezeichnen darf.

Moriz Jokai, den ein überschwänglicher Festredner den magyarischen Victor Hugo nannte, hat dies selbst in einem Trinkspruche, den ich von ihm hörte, zugestanden und die lauten „Haljuks (Hört!)“, die dabei von seinem ungarischen Auditorium ertönten, schienen zu beweisen, daß auch weitere Kreise in Pest sich bisweilen von der landesüblichen Selbstvergötterung zu emancipiren vermögen. Völker, die im Begriffe sind, aus dem Rohen heraus sich zur Civilisation emporzuarbeiten, haben immer die Neigung, ihre hervorragenden Männer an den bedeutenden Männern fortgeschrittener Nationen zu messen, ihre Leistungen mit denjenigen der anderen nationalen Gemeinschaften zu vergleichen. So haben die Russen ihren „russischen Lessing“ (Belinski) und ihren „russischen Byron“ (Puschkin), die Magyaren ihren „ungarischen Victor Hugo“. Man braucht sie darob nicht zu belächeln. Moriz Jokai ist nach Art und Bedeutung so verschieden von dem großen französischen Dichter, wie etwa Budapast von Paris verschieden ist; aber ein liebenswürdiger, phantasievoller Dichter ist er sicherlich und in seiner schlanken Gestalt, mit seiner milden Physiognomie, seiner fast schüchternen Haltung macht er den Eindruck eines Mannes, der, mehr noch innen als mit der Außenwelt lebend, gar nicht hineingehört in diesen resoluten, daseinsfrohen magyarischen Wirbel, der ihn umbrandet. Er steht wie eine übrig gebliebene Säule aus den Tagen vor der Revolution, in denen er mit Petöfi das ärmliche Zimmer theilte, begeistert an Ludwig Kossuth’s beredtem Munde hing und zum Stuhlrichter wie zu einem höheren Wesen emporblickte. Der Athem der Gegenwart hat freilich auch ihn – und ihn mehr als die Andern – gestreift, denn wofür wäre er ein Poet, wenn nicht sein Herz empfänglicher, sein Sinn offener wäre für die Wendungen der Geschichte, als dies bei anderen Menschenkindern der Fall zu sein pflegt? Aber wenn er so die Andrassy-Straße daherwandelt, wenn er in der Ausstellung feinste Majolika ungarischer Herkunft, bewunderungswürdiges Produkt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 431. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_431.jpg&oldid=- (Version vom 28.3.2024)