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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 6

zur Polizei gelaufen waren, zurückzuführen. Wenn man nun etwas näher auf die ganze Persönlichkeit des Angeklagten eingeht, so muß hervorgehoben werden, daß er, als er nach Berlin kam, vollständig gescheitert war. Trotzdem lebte er als nobler Kavalier, gab im „Moulin rouge“ große Summen aus, verkehrte im Esplanade-Hotel, hielt sich ein Auto, erschien im Tattersall. Dies alles konnte er natürlich sich nur mit Mitteln leisten, die geborgt waren. Der Angeklagte hat gesagt, daß er nach Berlin gekommen sei, um eine Millionärin zu heiraten. Am Sonnabend ist hier schon einmal von der kurzen Dauer der Ära Wertheim gesprochen worden. Ich will zugeben, daß der Angeklagte eine begründete Aussicht vielleicht von Mitte Dezember bis Anfang Januar hatte. Ende Dezember saß ihm aber schon das Messer an der Kehle. Der Angeklagte hat uns hier als echter Kavalier von verschiedenen Intimitäten aus dem Hause Wertheim erzählt. Ist es möglich, daß ein solcher Mann, der, wie wir hören, bis zwei Uhr nachts der Frau Dolly Landsberger auf der Chaiselongue die Haare löst, nicht diese Gelegenheit benutzt haben sollte, um sich durch ein einziges Wort der Werbung aus der Klemme zu befreien, sondern damit wartete, um in mehr romantischer Weise die Werbung in Italien anzubringen? Ich halte dies für sehr unwahrscheinlich. Es wird auch in den Zeitungen gesagt, es sei ganz selbstverständlich, daß ein Graf, der in einer guten Familie eingeführt werde, die Tochter des Hauses heirate. Ich kann sagen, daß dies doch nicht so ganz richtig ist; es wäre sehr traurig, wenn es der Fall wäre. Es betrifft nur eine ganz bestimmte Art von Familien, die emporgekommen sind und sich dann in dem Glanze des gräflichen Schwiegersohnes sonnen wollen. Jede vernünftige Mutter sieht sich ihren Schwiegersohn sehr genau an, auch wenn er Graf ist. Der beste Beweis dafür, daß man nicht so glatt eine Millionärin heiraten kann, ist, daß der Angeklagte schließlich mit ein paar hundert Mark nach London

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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 6. Hermann Barsdorf, Berlin 1912, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_6_(1912).djvu/250&oldid=- (Version vom 29.12.2022)