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der männertollen alten Jungfer, dann gleichfalls eine schön ausgeklügelte Geschichte vortrug, daß ich einen Herrn suche, der mir als Zeuge in einem Beleidigungsprozeß wertvoll wäre, den ich aber kaum von Ansehen kenne, gelang es mir binnen zehn Minuten festzustellen, daß ein Wiener Ingenieur namens Josef Bremer bei ihr das Vorderzimmer mit eigenem Eingang bis zum 15. Mai gemietet gehabt hätte, jedoch seit dem 3. Mai mittags verreist wäre – zu einer Geschäftstour. – Merken Sie auf, Schraut: am 3. Mai verreist, und zwar – mittags! – Hätten Sie da nicht auch in Gedanken vor Freude einen Luftsprung gemacht? Sicherlich! – Das weitere war eine Kleinigkeit. Ich ließ mir Herrn Bremer beschreiben. Ich brauche das Signalement nicht zu wiederholen. Es ist eben der Pockennarbige. Dann erfuhr ich weiter, nachdem ich Fräulein Klementine Müller – sie ist nebenbei Friseuse – verschiedentlich schmachtende Blicke zugeworfen hatte, daß Bremer seit dem 20. April bei ihr gewohnt hätte – und einen Tag vorher sind die Reuperts im Sonnenschein abgestiegen! – daß er sehr häufig Wertbriefe und Geld mit der Post erhielt und im übrigen wenig zu Hause war. Besuch hätte er nie empfangen, auch nie erwähnt, daß er in Berlin nähere Bekannte hätte. – Auf diese Weise kam ich dem Pockennarbigen auf die Spur. Wenn Sie nun –“

Jetzt glaubte ich einen kleinen Fehler in Harsts Schlußfolgerungen entdeckt zu haben und beeilte mich meine Weisheit an den Mann zu bringen. – „Einen Augenblick, Herr Harst,“ unterbrach ich ihn. „Ihren Ausführungen nach wäre also Schmiedicke direkt von Bremer zu Reuperts gegangen, nicht wahr? – Das trifft doch aber nicht zu, denn er hat ja nach den Ermittlungen der Offiziellen in Nr. 5 einer Frau Regierungsrat Walter das letzte Geld ausgezahlt und nicht dem Pockennarbigen.“ – „Sehr gut, lieber Schraut, sehr gut,“ lobte Harst. „Sie machen sich. Diese Einwendung ist berechtigt aber nicht stichhaltig. Schmiedicke wird eben noch schnell Nr. 5 ganz erledigt haben, damit er nicht nachher abermals all die Treppen emporklettern mußte.“ – Ich war geschlagen, nickte etwas gedemütigt und nahm mir vor, beim Entdecken kleiner Fehler in Zukunft vorsichtiger zu sein.

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Zwei Taschentücher. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1920, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Taschent%C3%BCcher.pdf/100&oldid=- (Version vom 1.8.2018)