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Harst aber fuhr fort: „Wenn Sie sich nun auf das besinnen, was ich Ihnen gestern abend über Gertrud Hold erzählte, nämlich, daß sie tatsächlich eine holde Mädchenblüte ist, so werden Sie verstehen, daß ich nicht recht annehmen konnte, daß der Taugenichts, den sie liebte, gerade dieser Pockennarbige mit Affenarmen und so weiter wäre. Immerhin: die Liebe fällt verschieden, mal auf eine Rose, mal auf eine Distel! Jedenfalls unterstellte ich: Bremer ist Gertruds Erkorener! – Ich mußte nun auch meine erste Ansicht über die Heiratsannonce revidieren. Einem Nachrichtenverkehr zwischen den Reuperts diente sie nicht. Das war nun vollkommen klar. Sie wurde vielmehr zur Übermittlung von Briefen des Liebhabers der Hold an diese benutzt. Das war jetzt die zwangloseste Erklärung und stand auch mit dem enttäuschten Gesicht der Hold beim Öffnen der beiden Briefe auf der Expedition in Einklang: sie hatte auf ein Schreiben „von ihm“ gehofft, aber nur richtiggehende Offerten auf das Heiratsgesuch gefunden! – das waren die Erfolge von gestern. Heute früh erteilte ich dann Ihnen und Karl die gleichen Aufträge: Erkundigungen darüber einzuziehen, ob die Reuperts mit einem Pockennarbigen verkehrt hätten. – Und nun – nun ist dieser Bremer in unserem Hotel abgestiegen! Das wirft all meine Kombinationen über den Haufen! – Ich hielt Bremer für einen Komplicen der Mörder, ich wähnte ihn wie diese weit weg von Berlin an irgend einem Orte, von wo aus er dann an die Hold, damit diese den Brief nicht in der Pension erhielt, unter K W 111 hätte schreiben können. Jetzt wohnt er dort, wo er unbedingt eine Menge verkleideter Kriminalbeamter zu fürchten hat, jetzt hat er sich sozusagen in die Höhle des Löwen, an den Tatort selbst gewagt. Würde das wohl einer tun, der die Offiziellen zu fürchten hat, würde das jemand selbst riskieren, wenn er annehmen kann, daß bisher seine Beteiligung an dem Verbrechen nicht entdeckt ist? Niemals! – Und – was brauchten Bremer und die Hold den umständlichen Weg der Heiratsannonce für eine Mitteilung zu wählen, wenn Bremer sich so sicher fühlt, daß er sogar im Hotel Sonnenschein und unter

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Walther Kabel: Zwei Taschentücher. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1920, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Taschent%C3%BCcher.pdf/101&oldid=- (Version vom 1.8.2018)