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auch gesagt, Herr Kommissar. – Mutter, hat er zu mir gesagt, wenn ich irgendwo auch nur den Schimmer einer Spur sehen würde, die zu dem Mörder hinführen könnte, dann sollte die Welt es erleben, daß der Wunsch nach Vergeltung den Täter in meine Gewalt bringt! Doch – selbst dieser Schimmer einer Spur fehlt! Ich kann doch nicht zwecklos durch die Straßen laufen und auf einen blinden Zufall hoffen, der mich den Anfang einer Fährte entdecken läßt! Solche Zufälle sind doch zu selten.“ –

Frau Auguste drängte den Sohn immer wieder, abzureisen und zunächst nach Italien zu gehen. Inzwischen waren ja seit Margas Tod zwei Wochen verstrichen, ohne daß in Harald Harsts Seelenzustand auch nur die geringste Änderung eingetreten wäre. Vor- und nachmittags wanderte er auf den Kirchhof an das Grab der Geliebten. Nachmittags verbrachte er zumeist noch eine Stunde in ihrem Zimmer, in dem auf seinen Wunsch nicht das geringste geändert worden war. Dort saß er dann in dem Korbsessel am Fenster und grübelte regungslos vor sich hin. – So auch jetzt. Draußen lachte die Sonne. Aber in Harsts Seele war tiefste Nacht eines Schmerzes, den er nie verwinden würde. Er erhob sich schwerfällig, wollte noch für eine halbe Stunde mit seinen Schwiegereltern zusammensein, die seine Gegenwart als Trost empfanden. Beim Aufstehen schob er das nur aufgelegte Sitzkissen des Korbsessels nach vorn. Es fiel herab, und gleichzeitig auch ein zusammengeknülltes Taschentuch, das Harst[1] schon früher bemerkt hatte. Es war halb unter das Kissen von der Seite geklemmt gewesen. Er hatte es bisher nicht beachtet. Jetzt hob er es mit auf. Unwillkürlich führte er es an die Nase. Es mußte ja eines von Margas Tüchern sein, und er wollte den feinen Heliotropduft einatmen, der allen ihren Sachen ganz unaufdringlich anhaftete.

Plötzlich weiteten sich seine Augen. Sein Kopf fuhr hoch, und mit einem Ausdruck ungläubigen Staunens breitete er das Tüchlein nun aus, sah es sich genauer an, stutzte wieder und schaute sinnend über die gegenüberliegenden Dächer hinweg in das endlose Blau des sonnendurchstrahlten Himmels.

Sein Gesicht veränderte sich langsam. Ein belebter Ausdruck

  1. Vorlage: Horst
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Walther Kabel: Zwei Taschentücher. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1920, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Taschent%C3%BCcher.pdf/16&oldid=- (Version vom 1.8.2018)