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Das Haus lag weit von der Straße zurück inmitten eines Gartens mit uralten Linden, der sich nach hinten zu bis an ein Laubengelände ausdehnte. Harald Harst bewohnte im Erdgeschoß die drei Zimmer rechts von dem großen, durchgehenden Flur. Die Räume links standen leer. Er eilte jetzt die breite, gewundene Treppe empor, fand seine Mutter in der Küche am Herde, küßte sie zärtlich und nickte auch der alten Malwine, die bei Harsts nun schon einige zwanzig Jahre diente, einen freundlichen Gruß zu. Dann begann er der kleinen, rundlichen Mutter, der das schwarze Häubchen stets schief auf dem falschen Zopf thronte, sofort von dem vereitelten Stelldichein zu berichten. Frau Auguste tätschelte ihm die Backen. „Harald – man soll nicht gleich das Schlimmste sich ausmalen,“ meinte sie. Und doch fühlte auch sie eine gelinde Angst um die Schwiegertochter, die sie aufrichtig liebte, obwohl ihr Junge seit seiner Verlobung ihr nur noch halb gehörte.

Harst lief jetzt in seine Wohnung hinab. Er, der jede hastige Bewegung vermied, war wie ausgewechselt. Seine drei Zimmer, mit erlesenem Geschmack eingerichtet, verrieten sofort, daß sein Vater ein Millionenvermögen hinterlassen hatte. Jedes Stück der Ausstattung besaß hohen Kunstwert.

Im seinem Arbeitszimmer nahm Harst den Hörer von dem auf dem Schreibtisch stehenden Fernsprecher und ließ sich mit Mildens verbinden. Es war jetzt halb drei. Der Senatspräsident kam selbst an den Apparat. – „Lieber Harald, wir fangen an, uns zu ängstigen,“ sagte er ehrlich.

Harst erwiderte, er würde das Polizeipräsidium Berlin anrufen und bitten, bei den Unfallstationen und in den Krankenhäusern Nachfrage zu halten. Das ginge so am schnellsten. Er wäre auf dem Präsidium gut bekannt, und man täte ihm gern diesen Gefallen.

Nachdem dies erledigt war, ging er wieder zu seiner Mutter nach oben. Das Mittagessen war schon aufgetragen. Er berührte es kaum, und es herrschte ein bedrücktes Schweigen während der Mahlzeit. Frau Auguste wußte nur zu gut, daß ihr Junge sich jetzt nicht mehr durch Redensarten würde beruhigen lassen.

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Walther Kabel: Zwei Taschentücher. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1920, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Taschent%C3%BCcher.pdf/9&oldid=- (Version vom 1.8.2018)