Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?

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Autor: Friedrich Schiller
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Titel: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?
Untertitel:
aus: Der Teutsche Merkur. 1773-89. 4. Bd. 1789, S. 105-135
Herausgeber: Christoph Martin Wieland
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1789
Verlag: [Hofmann]
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Erscheinungsort: Weimar
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Originalherkunft:
Quelle: UB Bielefeld und Commons
Kurzbeschreibung: Antrittsrede zur Professorenstelle in Jena
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Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?
Eine akademische Antrittsrede.

Erfreuend und ehrenvoll ist mir der Auftrag, meine h. H. H., an Ihrer Seite künftig ein Feld zu durchwandern, das dem denkenden Betrachter so viele Gegenstände des Unterrichts, dem thätigen Weltmann so herrliche Muster zur Nachahmung, dem Philosophen so wichtige Aufschlüsse, und jedem ohne Unterschied so reiche Quellen des edelsten Vergnügens eröfnet. Das große weite Feld der allgemeinen Geschichte, der Anblick so vieler vortrefflichen jungen Männer, die eine edle Wißbegierde um mich her versammelt, und in deren Mitte schon manches wirksame Genie für das kommende Zeitalter aufblüht, macht mir meine Pflicht zum Vergnügen, läßt mich aber auch die Strenge und Wichtigkeit derselben in ihrem ganzen Umfang empfinden. Je größer das Geschenk ist, das ich Ihnen zu übergeben habe – und was hat der Mensch dem Menschen größeres zu geben, als Wahrheit? – destomehr muß ich Sorge tragen, daß sich der Werth desselben unter meiner Hand nicht verringere. Je lebendiger und reiner ihr Geist in dieser glücklichsten Epoche seines Wirkens empfängt, und je rascher sich ihre jugendlichen Gefühle entflammen, desto mehr Aufforderung für mich, zu verhüten, daß sich dieser Enthusiasmus, den die Wahrheit allein das Recht hat zu erwecken, an Betrug und Täuschung nicht unwürdig verschwende.

Fruchtbar und weit umfassend ist das Gebiet der Geschichte; in ihrem Kreise liegt die ganze moralische Welt. Durch alle Zustände, die der Mensch erlebte, durch alle abwechselnde Gestalten der Meinung, durch seine Thorheit und seine Weisheit, seine Verschlimmerung und seine Veredlung, begleitet sie ihn, von allem was er sich nahm und gab, muß sie Rechenschaft ablegen. Es ist keiner unter Ihnen allen, dem Geschichte nicht etwas wichtiges zu sagen hätte; alle noch so verschiedenen Bahnen Ihrer künftigen Bestimmung verknüpfen sich irgendwo mit derselben; aber Eine Bestimmung theilen Sie alle auf gleiche Weise mit einander, diejenige, welche Sie auf die Welt mitbrachten – sich als Menschen auszubilden – und zu dem Menschen eben redet die Geschichte.

Ehe ich es aber unternehmen kann, meine H. H. Ihre Erwartungen von diesem Gegenstande Ihres Fleisses genauer zu bestimmen, und die Verbindung anzugeben, worin derselbe mit dem eigentlichen Zweck Ihrer so verschiedenen Studien steht, wird es nicht überflüßig seyn, mich über diesen Zweck Ihrer Studien selbst vorher mit Ihnen einzuverstehen. Eine vorläufige Berichtigung dieser Frage, welche mir passend und würdig genug scheint, unsre künftige akademische Verbindung zu eröfnen, wird mich in den Stand setzen, Ihre Aufmerksamkeit so gleich auf die würdigste Seite der Weltgeschichte hinzuweisen.

Anders ist der Studierplan, den sich der Brodgelehrte, anders derjenige, den der philosophische Kopf sich vorzeichnet. Jener, dem es bey seinem Fleiß einzig und allein darum zu thun ist, die Bedingungen zu erfüllen, unter denen er zu einem Amte fähig und der Vortheile desselben theilhaftig werden kann, der nur darum die Kräfte seines Geistes in Bewegung setzt, um dadurch seinen sinnlichen Zustand zu verbessern und eine kleinliche Ruhmsucht zu befriedigen, – ein solcher wird beym Eintritt in seine akademische Laufbahn keine wichtigere Angelegenheit haben, als die Wissenschaften, die er Brodstudien nennt, von allen übrigen, die den Geist nur als Geist vergnügen, auf das sorgfältigste abzusondern. Alle Zeit, die er diesen letztern widmete, würde er seinem künftigen Berufe zu entziehen glauben, und sich diesen Raub nie vergeben. Seinen ganzen Fleiß wird er nach den Foderungen einrichten, die von dem künftigen Herrn seines Schicksals an ihn gemacht werden, und alles gethan zu haben glauben, wenn er sich fähig gemacht hat, diese Instanz nicht zu fürchten. Hat er seinen Kursus durchlaufen und das Ziel seiner Wünsche erreicht, so entläßt er seine Führerinnen – denn wozu noch weiter sie bemühen? Seine größte Angelegenheit ist jetzt, die zusammen gehäuften Gedächtnißschätze zur Schau zu tragen, und ja zu verhüten, daß sie in ihrem Werthe nicht sinken. Jede Erweiterung seiner Brodwissenschaft beunruhigt ihn, weil sie ihm neue Arbeit zusendet, oder die vergangene unnütz macht; jede wichtige Neuerung schreckt ihn auf, denn sie zerbricht die alte Schulform, die er sich so mühsam zu eigen machte, sie setzt ihn in Gefahr, die ganze Arbeit seines vorigen Lebens zu verlieren. Wer hat über Reformatoren mehr geschrieen, als der Haufe der Brodgelehrten? Wer hält den Fortgang nützlicher Revolutionen im Reich des Wissens mehr auf, als eben diese? Jedes Licht, das durch ein glückliches Genie, in welcher Wissenschaft es sey, angezündet wird, macht ihre Dürftigkeit sichtbar; sie fechten mit Erbitterung, mit Heimtücke, mit Verzweiflung, weil sie bey dem Schulsystem, das sie vertheidigen, zugleich für ihr ganzes Daseyn fechten. Darum kein unversöhnlicherer Feind, kein neidischerer Amtsgehülfe, kein bereitwilligerer Ketzermacher, als der Brodgelehrte. Je weniger seine Kenntnisse durch sich selbst ihn belohnen, desto größere Vergeltung heischt er von außen; für das Verdienst der Handarbeiter und das Verdienst der Geister hat er nur Einen Maaßstab, die Mühe. Darum hört man niemand über Undank mehr klagen, als den Brodgelehrten; nicht bey seinen Gedankenschätzen sucht er seinen Lohn, seinen Lohn erwartet er von fremder Anerkennung, von Ehrenstellen, von Versorgung. Schlägt ihm dieses fehl, wer ist unglücklicher als der Brodgelehrte? Er hat umsonst gelebt, gewacht, gearbeitet; er hat umsonst nach Wahrheit geforscht, wenn sich Wahrheit, für ihn nicht in Gold, in Zeitungslob, in Fürstengunst verwandelt.

Beklagenswerther Mensch, der mit dem edelsten aller Werkzeuge, mit Wissenschaft und Kunst, nichts höheres will und ausrichtet, als der Taglöhner mit dem schlechtesten! der im Reiche der vollkommensten Freyheit eine Sclavenseele mit sich herum trägt! – Noch beklagenswerther aber ist der junge Mann von Genie, dessen natürlich schöner Gang durch schädliche Lehren und Muster auf diesen traurigen Abweg verlenkt wird, der sich überreden ließ, für seinen künftigen Beruf mit dieser kümmerlichen Genauigkeit zu sammeln. Bald wird seine Berufswissenschaft als ein Stückwerk ihn anekeln; Wünsche werden in ihm aufwachen, die sie nicht zu befriedigen vermag, sein Genie wird sich gegen seine Bestimmung auflehnen. Als Bruchstück erscheint ihm jetzt alles was er thut, er sieht keinen Zweck seines Wirkens, und doch kann er Zwecklosigkeit nicht ertragen. Das Mühselige, das Geringfügige in seinen Berufsgeschäften drückt ihn zu Boden, weil er ihm den frohen Muth nicht entgegen setzen kann, der nur die helle Einsicht, nur die geahndete Vollendung begleitet. Er fühlt sich abgeschnitten, herausgerissen aus dem Zusammenhang der Dinge, weil er unterlassen hat, seine Thätigkeit an das große Ganze der Welt anzuschließen. Dem Rechtsgelehrten entleidet seine Rechtswissenschaft, sobald der Schimmer besserer Kultur ihre Blößen ihm beleuchtet, anstatt daß er jetzt streben sollte, ein neuer Schöpfer derselben zu seyn, und den entdeckten Mangel aus innerer Fülle zu verbessern. Der Arzt entzweyhet sich mit seinem Beruf, sobald ihm wichtige Fehlschläge die Unzuverläßigkeit seiner Systeme zeigen; der Theolog verliert die Achtung für den Seinigen, sobald sein Glaube an die Unfehlbarkeit seines Lehrgebäudes wankt.

Wie ganz anders verhält sich der philosophische Kopf! – Eben so sorgfältig, als der Brodgelehrte seine Wissenschaft von allen übrigen absondert, bestrebt sich jener, ihr Gebiet zu erweitern, und ihren Bund mit den übrigen wieder herzustellen – herzustellen, sage ich, denn nur der abstrahirende Verstand hat jene Grenzen gemacht, hat jene Wissenschaften von einander geschieden. Wo der Brodgelehrte trennt, vereinigt der philosophische Geist. Frühe hat er sich überzeugt, daß im Gebiete des Verstandes, wie in der Sinnenwelt, alles in einander greife, und sein reger Trieb nach Uebereinstimmung kann sich mit Bruchstücken nicht begnügen. Alle seine Bestrebungen sind auf Vollendung seines Wissens gerichtet; seine edle Ungeduld kann nicht ruhen, bis alle seine Begriffe zu einem harmonischen Ganzen sich geordnet haben, bis er im Mittelpunkt seiner Kunst, seiner Wissenschaft steht, und von hier aus ihr Gebiet mit befriedigtem Blick überschauet. Neue Entdeckungen im Kreise seiner Thätigkeit, die den Brodgelehrten niederschlagen, entzücken den philosophischen Geist. Vielleicht füllen sie eine Lücke, die das werdende Ganze seiner Begriffe noch verunstaltet hatte, oder setzen den lezten noch fehlenden Stein an sein Ideengebäude, der es vollendet. Sollten sie es aber auch zertrümmern, sollte eine neue Gedankenreyhe, eine neue Naturerscheinung, ein neu entdecktes Gesetz in der Körperwelt, den ganzen Bau seiner Wissenschaft umstürzen: so hat er die Wahrheit immer mehr geliebt als sein System, und gerne wird er die alte mangelhafte Form mit einer neuern und schönern vertauschen. Ja, wenn kein Streich von aussen sein Ideengebäude erschüttert, so ist er selbst, von einem ewig wirksamen Trieb nach Verbesserung gezwungen, er selbst ist der Erste, der es unbefriedigt aus einander legt, um es vollkommener wieder herzustellen. Durch immer neue und immer schönere Gedanken-Formen schreitet der philosophische Geist zu höherer Vortreflichkeit fort, wenn der Brodgelehrte, in ewigem Geistesstillstand, das unfruchtbare Einerley seiner Schulbegriffe hütet.

Kein gerechterer Beurtheiler fremden Verdiensts, als der philosophische Kopf. Scharfsichtig und erfinderisch genug, um jede Thätigkeit zu nutzen, ist er auch billig genug, den Urheber auch der kleinsten zu ehren. Für ihn arbeiten alle Köpfe – alle Köpfe arbeiten gegen den Brodgelehrten. Jener weiß alles was um ihn geschiehet und gedacht wird, in sein Eigenthum zu verwandeln – zwischen denkenden Köpfen gilt eine innige Gemeinschaft aller Güter des Geistes; was Einer im Reiche der Wahrheit erwirbt, hat er Allen erworben – Der Brodgelehrte verzäunet sich gegen alle seine Nachbarn, denen er neidisch Licht und Sonne mißgönnt, und bewacht mit Sorge die baufällige Schranke, die ihn nur schwach gegen die siegende Vernunft vertheidigt. Zu allem was der Brodgelehrte unternimmt, muß er Reiz und Aufmunterung von aussen her borgen: der philosophische Geist findet in seinem Gegenstand, in seinem Fleiße selbst. Reiz und Belohnung. Wie viel begeisterter kan er sein Werk angreiffen, wieviel lebendiger wird sein Eifer, wieviel ausdaurender sein Muth und seine Thätigkeit seyn, da bey ihm die Arbeit sich durch die Arbeit verjünget. Das Kleine selbst gewinnt Größe unter seiner schöpferischen Hand, da er dabey immer das Große im Auge hat, dem es dienet, wenn der Brodgelehrte in dem Großen selbst nur das Kleine sieht. Nicht was er treibt, sondern wie er das, was er treibt, behandelt, unterscheidet den philosophischen Geist. Wo er auch stehe und wirke, er steht immer im Mittelpunkt des Ganzen; und so weit ihn auch das Objekt seines Wirkens von seinen übrigen Brüdern entferne, er ist ihnen verwandt und nahe durch einen harmonisch wirkenden Verstand, er begegnet ihnen wo alle helle Köpfe einander finden. Soll ich diese Schilderung noch weiter fortführen, meine H. H. oder darf ich hoffen, daß es bereits bey Ihnen entschieden sey, welches von den beyden Gemählden, die ich Ihnen hier vorgehalten habe, Sie Sich zum Muster nehmen wollen? Von der Wahl, die Sie zwischen beyden getroffen haben, hängt es ab, ob Ihnen das Studium der Universalgeschichte empfohlen oder erlaßen werden kann. Mit dem Zweyten allein habe ich es zu thun; denn bey dem Bestreben, sich dem Ersten nützlich zu machen, möchte sich die Wissenschaft selbst allzuweit von ihrem höhern Entzweck entfernen, und einen kleinen Gewinn mit einem zu großen Opfer erkaufen.

Ueber den Gesichtspunkt mit Ihnen einig, aus welchem der Werth einer Wissenschaft zu bestimmen ist, kann ich mich dem Begriff der Universalgeschichte selbst, dem Gegenstand der heutigen Vorlesung, nähern.

Die Entdeckungen, welche unsre europäischen Seefahrer in fernen Meeren und auf entlegenen Küsten gemacht haben, geben uns ein eben so lehrreiches als unterhaltendes Schauspiel. Sie zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannichfaltigsten Stuffen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiednen Alters um einen Erwachsenen herum stehen, und durch ihr Beyspiel ihm in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen, und wovon er ausgegangen ist. Eine weise Hand scheint uns diese rohen Völkerstämme bis auf den Zeitpunkt aufgespart zu haben, wo wir in unsrer eignen Kultur weit genug würden fortgeschritten seyn, um von dieser Entdeckung eine nützliche Anwendung auf uns selbst zu machen, und den verlohrnen Anfang unsers Geschlechts aus diesem Spiegel wieder herzustellen. Wie beschämend und traurig aber ist das Bild, das uns diese Völker von unserer Kindheit geben! und doch ist es nicht einmahl die erste Stuffe mehr, auf der wir sie erblicken. Der Mensch fieng noch verächtlicher an. Wir finden jene doch schon als Völker, als politische Körper: aber der Mensch mußte sich erst durch eine ausserordentliche Anstrengung zur Gesellschaft erheben.

Was erzählen uns die Reisebeschreiber nun von diesen Wilden? Manche fanden sie ohne Bekanntschaft mit den unentbehrlichsten Künsten, ohne das Eisen, ohne den Pflug, einige sogar ohne den Besitz des Feuers. Manche rangen noch mit wilden Thieren um Speise und Wohnung, bey vielen hatte sich die Sprache noch kaum von thierischen Tönen zu verständlichen Zeichen erhoben. Hier war nicht einmal das so einfache Band der Ehe, dort noch keine Kenntniß des Eigenthums; hier konnte die schlaffe Seele noch nicht einmal eine Erfahrung fest halten, die sie doch täglich wiederhohlte; sorglos sah man den Wilden das Lager hingeben, worauf er heute schlief, weil ihm nicht einfiel, daß er morgen wieder schlafen würde. Krieg hingegen war bey allen, und das Fleisch des überwundenen Feindes nicht selten der Preis des Sieges. Bey andern, die mit mehrern Gemächlichkeiten des Lebens vertraut, schon eine höhere Stuffe der Bildung erstiegen hatten, zeigten Knechtschaft und Despotismus ein schauderhaftes Bild. Dort sah man einen Despoten Afrikas seine Unterthanen für einen Schluck Brandwein verhandeln: – hier wurden sie auf seinem Grab abgeschlachtet, ihm in der Unterwelt zu dienen. Dort wirft sich die fromme Einfalt vor einen lächerlichen Fetisch, und hier vor einem grausenvollen Scheusal nieder; in seinen Göttern mahlt sich der Mensch. So tief ihn dort Sclaverey, Dummheit und Aberglauben niederbeugen, so elend ist er hier durch das andre Extrem gesetzloser Freyheit. Immer zum Angriff und zur Vertheidigung gerüstet, von jedem Geräusch aufgescheucht, reckt der Wilde sein scheues Ohr in die Wüste; Feind heißt ihm alles was neu ist, und wehe dem Fremdling den das Ungewitter an seine Küste schleudert! Kein wirthlicher Heerd wird ihm rauchen, kein süßes Gastrecht ihn erfreuen. Aber selbst da, wo sich der Mensch von einer feindseligen Einsamkeit zur Gesellschaft, von der Noth zum Wohlleben, von der Furcht zu der Freude erhebt – wie abenteuerlich und ungeheuer zeigt er sich unsern Augen! Sein roher Geschmack sucht Fröhlichkeit in der Betäubung, Schönheit in der Verzerrung, Ruhm in der Uebertreibung; Entsetzen erweckt uns selbst seine Tugend, und das was er seine Glückseligkeit nennt, kann uns nur Ekel oder Mitleid erregen.

So waren wir. Nicht viel besser fanden uns Cäsar und Tacitus vor achtzehn hundert Jahren.

Was sind wir jetzt? – Lassen Sie mich einen Augenblick bey dem Zeitalter stille stehen, worinn wir leben, bey der gegenwärtigen Gestalt der Welt, die wir bewohnen.

Der menschliche Fleiß hat sie angebaut, und den widerstrebenden Boden durch sein Beharren und seine Geschicklichkeit überwunden. Dort hat er dem Meere Land abgewonnen, hier dem dürren Lande Ströme gegeben. Zonen und Jahrszeiten hat der Mensch durch einander gemengt, und die weichlichen Gewächse des Orients zu seinem rauheren Himmel abgehärtet. Wie er Europa nach Westindien und dem Südmeere trug, hat er Asien in Europa auferstehen lassen. Ein heitrer Himmel lacht jetzt über Germaniens Wäldern, welche die starke Menschenhand zerriß und dem Sonnenstral aufthat, und in den Wellen des Rheins spiegeln sich Asiens Reben. An seinen Ufern erheben sich volkreiche Städte, die Genuß und Arbeit in munterm Leben durchschwärmen. Hier finden wir den Menschen, in seines Erwerbes friedlichem Besitz sicher unter einer Million, ihn, dem sonst ein einziger Nachbar den Schlummer raubte. Die Gleichheit, die er durch seinen Eintritt in die Gesellschaft verlohr, hat er wieder gewonnen durch weise Gesetze. Von dem blinden Zwange des Zufalls und der Noth hat er sich unter die sanftere Herrschaft der Verträge geflüchtet, und die Freyheit des Raubthiers hingegeben, um die edlere Freyheit des Menschen zu retten. Wohlthätig haben sich seine Sorgen getrennt, seine Thätigkeiten vertheilt. Jetzt nöthigt ihn das gebieterische Bedürfniß nicht mehr an die Pflugschaar, jetzt fordert ihn kein Feind mehr von dem Pflug auf das Schlachtfeld, Vaterland und Heerd zu vertheidigen. Mit dem Arme des Landmanns füllt er seine Scheunen, mit den Waffen des Kriegers schützt er sein Gebiet. Das Gesetz wacht über sein Eigenthum – und ihm bleibt das unschätzbare Recht, sich selbst seine Pflicht auszulesen.

Wie viele Schöpfungen der Kunst, wie viele Wunder des Fleisses, welches Licht in allen Feldern des Wissens, seit dem der Mensch in der traurigen Selbstvertheidigung seine Kräfte nicht mehr unnütz verzehrt, seitdem es in seine Willkühr gestellt worden, sich mit der Noth abzufinden, der er nie ganz entfliehen soll, seitdem er das kostbare Vorrecht errungen hat, über seine Fähigkeit frey zu gebieten, und dem Ruf seines Genius zu folgen! Welche rege Thätigkeit überall, seitdem die vervielfältigten Begierden dem Erfindungsgeist neue Flügel gaben, und dem Fleiß neue Räume aufthaten! – Die Schranken sind durchbrochen, welche Staaten und Nationen in feindseligem Egoismus absonderten. Alle denkenden Köpfe verknüpft jetzt ein weltbürgerliches Band, und alles Licht seines Jahrhunderts kann nunmehr den Geist eines neuern Galilei und Erasmus bescheinen.

Seitdem die Gesetze zu der Schwäche des Menschen herunterstiegen, kam der Mensch auch den Gesetzen entgegen. Mit ihnen ist er sanfter geworden, wie er mit ihnen verwilderte; ihren barbarischen Strafen folgen die barbarischen Verbrechen allmählig in die Vergessenheit nach. Ein großer Schritt zur Veredlung ist geschehen, daß die Gesetze tugendhaft sind, wenn auch gleich noch nicht die Menschen. Wo die Zwangspflichten von dem Menschen ablassen, übernehmen ihn die Sitten. Den keine Strafe schreckt und kein Gewissen zügelt, halten jetzt die Gesetze des Anstands und der Ehre in Schranken.

Wahr ist es, auch in unser Zeitalter haben sich noch manche barbarische Ueberreste aus den vorigen eingedrungen, Geburten des Zufalls und der Gewalt, die das Zeitalter der Vernunft nicht hätte verewigen sollen. Aber wieviel Gestalt hat der Verstand des Menschen auch diesem barbarischen Nachlaß der ältern und mittlern Jahrhunderte anerschaffen! Wie unschädlich, ja wie nützlich hat er oft gemacht, was er umzustürtzen noch nicht wagen konnte! Auf dem rohen Grunde der Lehen-Anarchie führte Teutschland das System seiner politischen und kirchlichen Freyheit auf. Das Schattenbild des römischen Imperators, das sich diesseits der Apenninen erhalten, leistet der Welt jezt unendlich mehr Gutes, als sein schreckhaftes Urbild im alten Rom – denn es hält ein nützliches Staatssystem durch Eintracht zusammen: jenes drückte die thätigsten Kräfte der Menschheit in einer sclavischen Einförmigkeit darnieder. Selbst unsre Religion – so sehr entstellt durch die untreuen Hände, durch welche sie uns überliefert worden – wer kann in ihr den veredelnden Einfluß der bessern Philosophie verkennen? Unsre Leibnitze und Locke machten sich um das Dogma und um die Moral des Christenthums eben so verdient, als – der Pinsel eines Raphael und Correggio um die heilige Geschichte.

Endlich unsre Staaten – mit welcher Innigkeit, mit welcher Kunst sind sie einander verschlungen! wie viel dauerhafter durch den wohlthätigen Zwang der Noth als vormals durch die feyerlichsten Verträge verbrüdert! Den Frieden hütet jezt ein ewig geharnischter Krieg, und die Selbstliebe eines Staats sezt ihn zum Wächter über den Wohlstand des andern. Die europäische Staatengesellschaft scheint in eine große Familie verwandelt. Die Hausgenossen können einander anfeinden, aber nicht mehr zerfleischen.

Welche entgegengesezte Gemählde! Wer sollte in dem verfeinerten Europäer des achtzehnten Jahrhunderts nur einen fortgeschrittnen Bruder des neuern Kanadiers, des alten Celten vermuthen? Alle diese Fertigkeiten, Kunsttriebe, Erfahrungen, alle diese Schöpfungen der Vernunft sind im Raume von wenigen Jahrtausenden in dem Menschen angepflanzt und entwickelt worden; alle diese Wunder der Kunst, diese Riesenwerke des Fleisses sind aus ihm heraus gerufen worden. Was weckte jene zum Leben, was lockte diese heraus? Welche Zustände durchwanderte der Mensch, bis er von jenem Aeussersten zu diesem Aeussersten, vom ungeselligen Höhlenbewohner – zum geistreichen Denker, zum gebildeten Weltmann hinaufstieg? – Die allgemeine Weltgeschichte giebt Antwort auf diese Frage.

So unermeßlich ungleich zeigt sich uns das nemliche Volk auf dem nemlichen Landstriche, wenn wir es in verschiedenen Zeiträumen anschauen! Nicht weniger auffallend ist der Unterschied, den uns das gleichzeitige Geschlecht, aber in verschiedenen Ländern, darbietet. Welche Mannigfaltigkeit in Gebräuchen, Verfassungen und Sitten! Welcher rasche Wechsel von Finsterniß und Licht, von Anarchie und Ordnung, von Glückseligkeit und Elend, wenn wir den Menschen auch nur in dem kleinen Welttheil Europa aufsuchen! Frey an der Themse, und für diese Freyheit sein eigener Schuldner; hier unbezwingbar zwischen seinen Alpen, dort zwischen seinen Kunstflüssen und Sümpfen unüberwunden. An der Weichsel kraftlos und elend durch seine Zwietracht; jenseits der Pyrenäen durch seine Ruhe kraftlos und elend. Wohlhabend und gesegnet in Amsterdam ohne Aernte; dürftig und unglücklich an des Ebro unbenutztem Paradiese. Hier zwey entlegene Völker durch ein Weltmeer getrennt, und zu Nachbarn gemacht durch Bedürfniß, Kunstfleiß und politische Bande; dort die Anwohner Eines Stroms durch eine andere Liturgie unermeßlich geschieden! Was führte Spaniens Macht über den atlantischen Ocean in das Herz von Amerika, und nicht einmal über den Tajo und Guadiana hinüber? Was erhielt in Italien und Teutschland so viele Thronen, und ließ in Frankreich alle, bis auf Einen, verschwinden? – Die Universalgeschichte lößt diese Frage.

Selbst daß wir uns in diesem Augenblick hier zusammen fanden, uns mit diesem Grade von Nationalkultur, mit dieser Sprache, diesen Sitten, diesen bürgerlichen Vortheilen, diesem Maaß von Gewissensfreyheit zusammen fanden, ist das Resultat vielleicht aller vorhergegangenen Weltbegebenheiten: die ganze Weltgeschichte würde wenigstens nöthig seyn, dieses einzige Moment zu erklären. Daß wir uns als Christen zusammen fanden, mußte diese Religion, durch unzählige Revolutionen vorbereitet, aus dem Judenthum hervorgehen, mußte sie den römischen Staat genau so finden, als sie ihn fand, um sich mit schnellem siegendem Lauf über die Welt zu verbreiten und den Thron der Cäsarn endlich selbst zu besteigen. Unsre rauhen Vorfahren in den thüringischen Wäldern mußten der Uebermacht der Franken unterliegen, um ihren Glauben anzunehmen. Durch seine wachsenden Reichthümer, durch die Unwissenheit der Völker und durch die Schwäche ihrer Beherrscher mußte der Klerus verführt und begünstigt werden, sein Ansehen zu mißbrauchen, und seine stille Gewissensmacht in ein weltliches Schwerd umzuwandeln. Die Hierarchie mußte in einem Gregor und Innozenz alle ihre Greuel auf das Menschengeschlecht ausleeren, damit das überhandnehmende Sittenverderbniß und des geistlichen Despotismus schreyendes Scandal einen unerschrockenen Augustinermönch auffordern konnte, das Zeichen zum Abfall zu geben, und dem römischen Hierarchen eine Hälfte Europens zu entreissen, – wenn wir uns als protestantische Christen hier versammeln sollten. Wenn dieß geschehen sollte, so mußten die Waffen unsrer Fürsten Karln V. einen Religionsfrieden abnöthigen; ein Gustav Adolf mußte den Bruch dieses Friedens rächen, und ein neuer allgemeiner Friede ihn auf ewig begründen. Städte mußten sich in Italien und Teutschland erheben, dem Fleiß ihre Thore öffnen, die Ketten der Leibeigenschaft zerbrechen, unwissenden Tyrannen den Richterstab aus den Händen ringen, und durch eine kriegerische Hansa sich in Achtung setzen, wenn Gewerbe und Handel blühen, und der Ueberfluß den Künsten der Freude rufen, wenn der Staat den nützlichen Landmann ehren, und in dem wohlthätigen Mittelstande, dem Schöpfer unsrer ganzen Kultur, ein dauerhaftes Glück für die Menschheit heran reifen sollte. Teutschlands Kaiser mußten sich in Jahrhundertlangen Kämpfen mit dem römischen Stuhl, mit ihren Vasallen, und mit eifersüchtigen Nachbarn entkräften – Europa sich seines gefährlichen Ueberflusses in Asiens Gräbern entladen; und der trotzige Lehen-Adel in einem mörderischen Faustrecht, Römerzügen und heiligen Fahrten seinen Empörungsgeist ausbluten: wenn das verworrene Chaos sich sondern, und die streitenden Mächte des Staats in dem gesegneten Gleichgewicht ruhen sollten, wovon unsre jetzige Muße der Preiß ist. Wenn sich unser Geist aus der Unwissenheit herausringen sollte, worin geistlicher und weltlicher Zwang ihn gefesselt hielt: so mußte der lang erstickte Keim der Gelehrsamkeit unter ihren wüthendsten Verfolgern aufs neue hervorbrechen, und ein Al Mamun den Wissenschaften den Raub vergüten, den ein Omar an ihnen verübt hatte. Das unerträgliche Elend der Barbarey mußte unsre Vorfahren von den blutigen Urtheilen Gottes zu menschlichen Richterstühlen treiben, verheerende Seuchen die verirrte Heilkunst zur Betrachtung der Natur zurückrufen, der Müßiggang der Mönche mußte für das Böse, das ihre Werkthätigkeit schuf, von ferne einen Ersatz zubereiten, und der profane Fleiß in den Klöstern die zerrütteten Reste des Augustischen Weltalters bis zu den Zeiten der Buchdruckerkunst hinhalten. An griechischen und römischen Mustern mußte der niedergedrückte Geist nordischer Barbaren sich aufrichten, und die Gelehrsamkeit einen Bund mit den Musen und Grazien schließen, wann sie einen Weg zu dem Herzen finden, und den Nahmen einer Menschenbilderin sich verdienen sollte. – Aber hätte Griechenland wohl einen Thucydides, einen Plato, einen Aristoteles, hätte Rom einen Horaz, einen Cicero, einen Virgil und Livius gebohren, wenn diese beyden Staaten nicht zu derjenigen Höhe des poetischen Wohlstands emporgedrungen wären, welche sie wirklich erstiegen haben? Mit einem Wort – wenn nicht ihre ganze Geschichte vorhergegangen wäre? Wie viele Erfindungen, Entdeckungen, Staats- und Kirchenrevolutionen mußten zusammentreffen, diesen neuen, noch zarten Keimen von Wissenschaft und Kunst, Wachsthum und Ausbreitung zu geben! Wie viele Kriege mußten geführt, wie viele Bündnisse geknüpft, zerrissen und aufs neue geknüpft werden, um endlich Europa zu dem Friedensgrundsatz zu bringen, welcher allein den Staaten wie den Bürgern vergönnt, ihre Aufmerksamkeit auf sich selbst zu richten, und ihre Kräfte zu einem verständigen Zwecke zu versammeln!

Selbst in den alltäglichsten Verrichtungen des bürgerlichen Lebens können wir es nicht vermeiden, die Schuldner vergangener Jahrhunderte zu werden; die ungleichartigsten Perioden der Menschheit steuern zu unsrer Kultur, wie die entlegendsten Welttheile zu unserm Luxus. Die Kleider, die wir tragen, die Würze an unsern Speisen und der Preis, um den wir sie kaufen, viele unsrer kräftigsten Heilmittel, und eben so viele neue Werkzeuge unsers Verderbens – setzen sie nicht einen Columbus voraus, der Amerika entdeckte, einen Vasco de Gama, der die Spitze von Afrika umschiffte?

Es zieht sich also eine lange Kette von Begebenheiten von dem gegenwärtigen Augenblicke bis zum Anfange des Menschengeschlechts hinauf, die wie Ursache und Wirkung in einander greifen. Ganz und vollzählich überschauen kann sie nur der unendliche Verstand; dem Menschen sind engere Grenzen gesetzt. I. Unzählig viele dieser Ereignisse haben entweder keinen menschlichen Zeugen und Beobachter gefunden, oder sie sind durch kein Zeichen fest gehalten worden. Dahin gehören alle, die dem Menschengeschlechte selbst und der Erfindung der Zeichen vorhergegangen sind. Die Quelle aller Geschichte ist Tradition, und das Organ der Tradition ist die Sprache. Die ganze Epoche vor der Sprache, so folgenreich sie auch für die Welt gewesen, ist für die Weltgeschichte verloren. II. Nachdem aber auch Sprache erfunden, und durch sie die Möglichkeit vorhanden war, geschehene Dinge auszudrücken und weiter mitzutheilen, so geschah diese Mittheilung anfangs durch den unsichern und wandelbaren Weg der Sagen. Von Munde zu Munde pflanzte sich eine solche Begebenheit durch eine lange Folge von Geschlechtern fort, und da sie durch Media gieng, die verändert werden und verändern, so mußte sie diese Veränderungen mit erleiden. Die lebendige Tradition oder die mündliche Sage ist daher eine sehr unzuverläßige Quelle für die Geschichte, daher sind alle Begebenheiten vor dem Gebrauche der Schrift für die Weltgeschichte so gut als verloren. III. Die Schrift ist aber selbst nicht unvergänglich; unzählich viele Denkmäler des Alterthums haben Zeit und Zufälle zerstört, und nur wenige Trümmer haben sich aus der Vorwelt in die Zeiten der Buchdruckerkunst gerettet. Bey weitem der größte Theil ist mit den Aufschlüssen, die er uns geben sollte, für die Weltgeschichte verloren. IV. Unter den wenigen endlich, welche die Zeit verschonte, ist die größere Anzahl durch die Leidenschaft, durch den Unverstand, und oft selbst durch das Genie ihrer Beschreiber verunstaltet und unkennbar gemacht. Das Mistrauen erwacht bey dem ältesten historischen Denkmal, und es verläßt uns nicht einmal bey einer Chronik des heutigen Tages. Wenn wir über eine Begebenheit, die sich heute erst, und unter Menschen mit denen wir leben, und in der Stadt die wir bewohnen, ereignet, die Zeugen abhören, und aus ihren widersprechenden Berichten Mühe haben die Wahrheit zu enträthseln: welchen Muth können wir zu Nationen und Zeiten mitbringen, die durch Fremdartigkeit der Sitten weiter als durch ihre Jahrtausende von uns entlegen sind? – Die kleine Summe von Begebenheiten, die nach allen bisher geschehenen Abzügen zurückbleibt, ist der Stoff der Geschichte in ihrem weitesten Verstande. Was und wieviel von diesem historischen Stoff gehört nun der Universalgeschichte?

Aus der ganzen Summe dieser Begebenheiten hebt der Universalhistoriker diejenigen heraus, welche auf die heutige Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation einen wesentlichen, unwidersprechlichen und leicht zu verfolgenden Einfluß gehabt haben. Das Verhältniß eines historischen Datums zu der heutigen Weltverfassung ist es also, worauf gesehen werden muß, um Materialien für die Weltgeschichte zu sammeln. Die Weltgeschichte geht also von einem Princip aus, das dem Anfang der Welt gerade entgegenstehet. Die wirkliche Folge der Begebenheiten steigt von dem Ursprung der Dinge zu ihrer neuesten Ordnung herab, der Universalhistoriker rückt von der neuesten Weltlage aufwärts dem Ursprung der Dinge entgegen. Wenn er von dem laufenden Jahr und Jahrhundert zu dem nächst vorhergegangenen in Gedanken hinaufsteigt, und unter den Begebenheiten, die das Leztere ihm darbietet, diejenigen sich merkt, welche den Aufschluß über die nächstfolgenden enthalten – wenn er diesen Gang schrittweise fortgesetzt hat bis zum Anfang – nicht der Welt, denn dahin führt ihn kein Wegweiser – bis zum Anfang der Denkmäler, dann steht es bey ihm, auf dem gemachten Weg umzukehren, und an dem Leitfaden dieser bezeichneten Fakten, ungehindert und leicht, vom Anfang der Denkmäler bis zu dem neuesten Zeitalter herunter zu steigen. Dies ist die Weltgeschichte, die wir haben, und die Ihnen wird vorgetragen werden.

Weil die Weltgeschichte von dem Reichthum und der Armuth an Quellen abhängig ist, so müssen eben so viele Lücken in der Weltgeschichte entstehen, als es leere Strecken in der Ueberlieferung giebt. So gleichförmig, nothwendig und bestimmt sich die Weltveränderungen auseinander entwickeln, so unterbrochen und zufällig werden sie in der Geschichte in einander gefügt seyn. Es ist daher zwischen dem Gange der Welt und dem Gange der Weltgeschichte ein merkliches Mißverhältniß sichtbar. Jenen möchte man mit einem ununterbrochen fortfließenden Strom vergleichen, wovon aber in der Weltgeschichte nur hie und da eine Welle beleuchtet wird. Da es ferner leicht geschehen kann, daß der Zusammenhang einer entfernten Weltbegebenheit mit dem Zustand des laufenden Jahres früher in die Augen fällt, als die Verbindung, worin sie mit Ereignissen stehet, die ihr vorhergiengen oder gleichzeitig waren: so ist es ebenfalls unvermeidlich, daß Begebenheiten, die sich mit dem neuesten Zeitalter aufs genaueste binden, in dem Zeitalter, dem sie eigentlich angehören nicht selten isolirt erscheinen. Ein Faktum dieser Art wäre z. B. der Ursprung des Christenthums und besonders der christlichen Sittenlehre. Die christliche Religion hat an der gegenwärtigen Gestalt der Welt einen so vielfältigen Antheil, daß ihre Erscheinung das wichtigste Faktum für die Weltgeschichte wird: aber weder in der Zeit, wo sie sich zeigte, noch in dem Volke, bey dem sie aufkam, liegt (aus Mangel der Quellen) ein befriedigender Erklärungsgrund ihrer Erscheinung.

So würde denn unsre Weltgeschichte nie etwas anders als ein Aggregat von Bruchstücken werden, und nie den Nahmen einer Wissenschaft verdienen. Jezt also kommt ihr der philosophische Verstand zu Hülfe, und, indem er diese Bruchstücke durch künstliche Bindungsglieder verkettet, erhebt er das Aggregat zum System, zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden Ganzen. Seine Beglaubigung dazu liegt in der Gleichförmigkeit und unveränderlichen Einheit der Naturgesetze und des menschlichen Gemüths, welche Einheit Ursache ist, daß die Ereigniße des entferntesten Alterthums, unter dem Zusammenfluß ähnlicher Umstände von aussen, in den neuesten Zeitläuften wiederkehren; daß also von den neuesten Erscheinungen, die im Kreis unsrer Beobachtung liegen, auf diejenigen, welche sich in geschichtlosen Zeiten verlieren, rückwärts ein Schluß gezogen und einiges Licht verbreitet werden kann. Die Methode, nach der Analogie zu schließen, ist, wie überall so auch in der Geschichte ein mächtiges Hülfsmittel: aber sie muß durch einen erheblichen Zweck gerechtfertigt, und mit eben soviel Vorsicht als Beurtheilung in Ausübung gebracht werden.

Nicht lange kann sich der philosophische Geist bey dem Stoffe der Weltgeschichte verweilen, so wird ein neuer Trieb in ihm geschäftig werden, der nach Uebereinstimmung strebt – der ihn unwiderstehlich reizt, alles um sich herum seiner eigenen vernünftigen Natur zu assimiliren, und jede ihm vorkommende Erscheinung zu der höchsten Wirkung die er erkannt, zum Gedanken zu erheben. Je öfter also und mit je glücklicherm Erfolge er den Versuch erneuert, das Vergangene mit dem Gegenwärtigen zu verknüpfen: desto mehr wird er geneigt, was er als Ursache und Wirkung in einander greifen sieht, als Mittel und Absicht zu verbinden. Eine Erscheinung nach der andern fängt an, sich dem blinden Ohngefähr, der gesetzlosen Freyheit zu entziehen, und sich einem übereinstimmenden Ganzen (das freylich nur in seiner Vorstellung vorhanden ist) als ein passendes Glied anzureyhen. Bald fällt es ihm schwer, sich zu überreden, daß diese Folge von Erscheinungen, die in seiner Vorstellung soviel Regelmäßigkeit und Absicht annahm, diese Eigenschaften in der Wirklichkeit verläugne; es fällt ihm schwer, wieder unter die blinde Herrschaft der Nothwendigkeit zu geben, was unter dem geliehenen Lichte des Verstandes angefangen hatte eine so heitre Gestalt zu gewinnen. Er nimmt also diese Harmonie aus sich selbst heraus, und verpflanzt sie ausser sich in die Ordnung der Dinge d. i. er bringt einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt, und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte. Mit diesem durchwandert er sie noch einmal, und hält es prüfend gegen jede Erscheinung, welche dieser große Schauplatz ihm darbietet. Er sieht es durch tausend beystimmende Fakta bestätigt, und durch eben soviele andre widerlegt; aber so lange in der Reyhe der Weltveränderungen noch wichtige Bindungsglieder fehlen, so lange das Schicksal über so viele Begebenheiten den letzten Aufschluß noch zurückhält, erklärt er die Frage für unentschieden, und diejenige Meinung siegt, welche dem Verstande die höhere Befriedigung, und dem Herzen die größre Glückseligkeit anzubieten hat.

Es bedarf wohl keiner Erinnerung, daß eine Weltgeschichte nach lezterm Plane in den spätesten Zeiten erst zu erwarten steht. Eine vorschnelle Anwendung dieses großen Maaßes könnte den Geschichtsforscher leicht in Versuchung führen, den Begebenheiten Gewalt anzuthun, und diese glückliche Epoche für die Weltgeschichte immer weiter zu entfernen, indem er sie beschleunigen will. Aber nicht zu frühe kann die Aufmerksamkeit auf diese lichtvolle und doch so sehr vernachläßigte Seite der Weltgeschichte gezogen werden, wodurch sie sich an den höchsten Gegenstand aller menschlichen Bestrebungen anschließt. Schon der stille Hinblick auf dieses, wenn auch nur mögliche, Ziel muß dem Fleiß des Forschers einen belebenden Sporn und eine süße Erhohlung geben. Wichtig wird ihm auch die kleinste Bemühung seyn, wenn er sich auf dem Wege sieht, oder auch nur einen späten Nachfolger darauf leitet, das Problem der Weltordnung aufzulösen, und dem höchsten Geist in seiner schönsten Wirkung zu begegnen.

Und auf solche Art behandelt, M. H. H. wird Ihnen das Studium der Weltgeschichte eine eben so anziehende als nützliche Beschäftigung gewähren. Licht wird sie in Ihrem Verstande, und eine wohlthätige Begeisterung in ihrem Herzen entzünden. Sie wird Ihren Geist von der gemeinen und kleinlichen Ansicht moralischer Dinge entwöhnen, und, indem sie vor Ihren Augen das große Gemählde der Zeiten und Völker auseinander breitet, wird sie die vorschnellen Entscheidungen des Augenblicks, und die beschränkten Urtheile der Selbstsucht verbessern. Indem sie den Menschen gewöhnt, sich mit der ganzen Vergangenheit zusammen zu faßen, und mit seinen Schlüssen in die ferne Zukunft voraus zu eilen: so verbirgt sie die Grenzen von Geburt und Tod, die das Leben des Menschen so eng und so drückend umschliessen, so breitet sie optisch täuschend sein kurzes Daseyn in einen unendlichen Raum aus, und führt das Individuum unvermerkt in die Gattung hinüber.

Der Mensch verwandelt sich und flieht von der Bühne; seine Meynungen fliehen und verwandeln sich mit ihm: die Geschichte allein bleibt unausgesetzt auf dem Schauplatz, eine unsterbliche Bürgerin aller Nationen und Zeiten. Wie der homerische Zeus sieht sie mit gleich heitern Blicke auf die blutigen Arbeiten des Kriegs, und auf die friedlichen Völker herab, die sich von der Milch ihrer Heerden schuldlos ernähren. Wie regellos auch die Freyheit des Menschen mit dem Weltlauf zu schalten scheine, ruhig sieht sie dem verworrenen Spiele zu: denn ihr weitreichender Blick entdeckt schon von ferne, wo diese regellos schweifende Freyheit am Bande der Nothwendigkeit geleitet wird. Was sie dem strafenden Gewissen eines Gregors und Cromwells geheim hält, eilt sie der Menschheit zu offenbaren: „daß der selbstsüchtige Mensch niedrige Zwecke zwar verfolgen kann, aber unbewußt vortrefliche befördert.“

Kein falscher Schimmer wird sie blenden, kein Vorurtheil der Zeit sie dahinreissen, denn sie erlebt das letzte Schicksal aller Dinge. Alles was aufhört, hat für sie gleich kurz gedauert: sie hält den verdienten Olivenkranz frisch, und zerbricht den Obelisken, den die Eitelkeit thürmte. Indem sie das feine Getriebe auseinander legt, wodurch die stille Hand der Natur schon seit dem Anfang der Welt die Kräfte des Menschen planvoll entwickelt, und mit Genauigkeit andeutet, was in jedem Zeitraume für diesen großen Naturplan gewonnen worden ist: so stellt sie den wahren Maaßstab für Glückseligkeit und Verdienst wieder her, den der herrschende Wahn in jedem Jahrhundert anders verfälschte. Sie heilt uns von der übertriebenen Bewunderung des Alterthums, und von der kindischen Sehnsucht nach vergangenen Zeiten; und indem sie uns auf unsre eigenen Besitzungen aufmerksam macht, läßt sie uns die gepriesenen goldnen Zeiten Alexanders und Augusts nicht zurückwünschen.

Unser menschliches Jahrhundert herbey zu führen haben sich – ohne es zu wissen oder zu erzielen – alle vorhergehenden Zeitalter angestrengt. Unser sind alle Schätze, welche Fleiß und Genie, Vernunft und Erfahrung im langen Alter der Welt endlich heimgebracht haben. Aus der Geschichte erst werden Sie lernen, einen Werth auf die Güter legen, denen Gewohnheit und unangefochtener Besitz so gern unsre Dankbarkeit rauben: kostbare theure Güter, an denen das Blut der Besten und Edelsten klebt, die durch die schwere Arbeit so vieler Generationen haben errungen werden müssen! Und welcher unter Ihnen, bey dem sich ein heller Geist mit einem empfindenden Herzen gattet, könnte diese hohen Verpflichtung eingedenk seyn, ohne daß sich ein stiller Wunsch in ihm regte, an das kommende Geschlecht die Schuld zu entrichten, die er dem vergangenen nicht mehr abtragen kann? Ein edles Verlangen muß in uns entglühen, zu dem reichen Vermächtniß von Wahrheit, Sittlichkeit und Freyheit, das wir von der Vorwelt überkamen und reich vermehrt an die Folgewelt wieder abgeben müssen, auch aus unsern Mitteln einen Beytrag zu legen, und an dieser unvergänglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes Daseyn zu befestigen. Wie verschieden auch die Bestimmung sey, die in der bürgerlichen Gesellschaft Sie erwartet – etwas dazu steuern können Sie alle! Jedem Verdienst ist eine Bahn zur Unsterblichkeit aufgethan, zu der wahren Unsterblichkeit meyne ich, wo die That lebt und weiter eilt, wenn[1] auch der Nahme ihres Urhebers hinter ihr zurückbleiben sollte.

Schiller.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: wennn