„Es kann ja nicht immer so bleiben“

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Titel: „Es kann ja nicht immer so bleiben“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 41, S. 648–649
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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„Es kann ja nicht immer so bleiben!“

Es war in dem ersten Jahrzehent dieses Jahrhunderts, als von Königsberg in Preußen her eine Gesellschaft von etwa zehn Personen mit der Post aufbrach, um über Cranz – jetzt ein blühender Seebadeort, damals ein elendes Fischerdorf – die kurische Nehrung entlang nach Memel und von da weiter nach Rußland zu reisen. Die Reise war eine sehr beschwerliche und selbst mit Gefahren mancherlei Art verknüpft. Von Cranz ab führte die alte Poststraße bis nach Memel hin mit wenigen Unterbrechungen die öden Sanddünen entlang, welche oft hundert und mehr Fuß hoch sich steil abdachen, so daß sie aus einiger Entfernung fast die Fahrstraße zu bedrohen scheinen. Und sie thun es in der That. Nicht daß sie wie Lawinen plötzlich hinabstürzen auf den armen Reisenden, nein, allmählich dringen sie bei heftige Stürmen immer weiter vor. Es ist ein eigenthümlicher Anblick, wenn eine solche Sanddüne ihre Wanderschaft beginnt. Der tobende Weststurm bemächtigt sich zuerst der feinsten Partikelchen des schon an sich feinkörnigen Seesandes und wirbelt sie hoch empor, sie oft viele Tausend Fuß weit in das kurische Haff hintragend, bis sie allmählich herabsinken und den Wasserspiegel berühren, um wie einst den Grund der See, so jetzt den des Haffes [649] zu bedecken. Sodann rollt der Sturm auch die schwereren Sandkörnchen von der Seeseite herüber, bis dieselben sich nach dem Haffe hin ablagern und bisweilen die Fahrstraße sperren. Oft macht erst nach langen Jahren ein in anderer Richtung wehender Wind die Straße von Sandmassen wieder frei, welche zu befestigen menschlichen Händen fast unmöglich wäre. In der Regel wurde in solchen Fällen die Poststraße von der Haff- nach der Seeseite verlegt, um dann bald an der einen, bald an der andern Seite der Dünen entlang zu gehen. – Steil abfallenden Hügeln verleiht der herabrollende Sand, welcher – ähnlich wie Getreide über ein Drahtsieb – förmlich herabfließt, ein so eigenthümliches Ansehen, daß man unwillkürlich den Eindruck der Beweglichkeit dieser wanderlustigen Sandriesen empfängt.

Unsere Reisenden verließen bei dem schönsten Spätherbstwetter den Sarkauer Wald, und die Einsamkeit, welche sie nun umgab, wurde nur durch den Flug eines Cormorans (hier Baumgans genannt) oder den klagenden Ruf eines Raubvogels unterbrochen. Die Straße, welche anfangs das Haff entlang führte, war nur durch vereinzelte alte Weidenbäume kenntlich, von denen einige bereits bis zur Krone vom Sande verweht und ausgetrocknet den Erstickungstod gestorben waren. Meilenweit ging nun die langsame Fahrt immer hart am Wasserspiegel. Auf beiden Seiten der Düne, sowohl am See- wie am Haffstrande, finden sich bisweilen, vielleicht in Folge von unterirdischen Wasserströmungen, größere oder kleinere Stellen von sogenanntem Triebsande. Es ist an denselben der Sand so mit Wassertheilen durchzogen und dabei so eigenthümlich lose, daß man beim Betreten desselben sofort einsinkt. Menschen und Thiere, welche beim Betreten einer solchen Stelle nicht mit der größten Schnelligkeit und Kraftanstrengung festen Boden zu gewinnen suchen, gerathen in Gefahr zu versinken, und es sollen in der That einzelne Fälle vorgekommen sein, in welchen Fuhrwerke mit Angespann und Führern im Triebsande versunken sind. Jede vergebliche Anstrengung sich herauszuarbeiten hat nur ein um so tieferes Hinabsinken zur Folge.

In Rossitten, einem größeren Dorfe auf der Nehrung, etwa auf dem halben Wege nach Memel, wurde Nachtquartier gehalten. Der Posthalter tischte auf, was er hatte, und sein gastliches Haus machte es den gelangweilten und erschöpften Reisenden erträglich angenehm. Am andern Morgen früh wurde mit frischen Pferden aufgebrochen, allein das herrliche Wetter hatte einem fatalen Nordwestwinde weichen müssen, welcher sich von Stunde zu Stunde steigerte und von der See her immer dichtere Schneeflocken herüberwehte. An den Orten Nidden und Schwarzort wurden Stationen gemacht, und der dunkle Kiefernwald, welcher dem letzteren Orte – jetzt ebenfalls ein freundlicher Badeort – den Namen gegeben hat, gewährte einigermaßen Schutz gegen den immer heftiger tobenden Sturm. Den durchgefrorenen Wanderern war immer mehr die früher heitere Stimmung vergangen, durch welche sich namentlich ein älterer, recht stattlicher Herr von feinen Manieren ausgezeichnet hatte, welcher viel dazu beitrug, den Muth der Gesellschaft aufrecht zu erhalten, und welcher nach Petersburg zu reisen vorgab. Endlich stillte sich das Wetter ab, man nahete sich dem Ende der Strandpartie und neues Leben kam in alle Gesichter, als man endlich der Stadt Memel gegenüber auf dem sogenannten Sandkrug anlangte. Als nun auch noch dazu die Sonne hin und wieder hervorbrach, kehrte die frühere Heiterkeit insbesondere auch bei den wenigen Damen wieder, welche der Gesellschaft angehörten und gegen welche der erwähnte Herr besonders galant und aufmerksam gewesen war. Es rollte sich in der That auch vor den Augen unserer schwer geprüften Freunde ein freundliches Bild auf.

Der Sandkrug ist ein Gasthaus, welches auf einem Spitzkegel von nicht unbedeutender Erhebung hart am Haffstrande, der Stadt Memel gegenüber und von der letzteren nur durch den Hafen getrennt, erbaut ist. Man übersieht, wenn man vom Gasthause aus den Blick über den Hafen nach dem jenseitigen Ufer gleiten läßt, den größten Theil der Stadt, den von der letzteren nach der See sich hinziehenden Wald und die nach Norden und Süden hin sich ausdehnenden Vorstädte Schmelz und Vitte. Im hellen Sonnenschein lag auch an jenem Tage die Stadt mit ihren geraden Straßen, freundlichen Häusern und schlanken Thürmen vor unseren Reisenden ausgebreitet, welche, erheitert durch die hübsche landschaftliche Fernsicht, froh ihre Blicke nach der wenige Hundert Schritte entfernt liegenden See schweifen ließen, auf welcher in nicht großer Entfernung vom Hafen einige größere dreimastige Schiffe kreuzten, ohne, wie es schien, den Hafen gewinnen zu können.

Dem Sandkruge gegenüber mündet der Daugefluß in den Hafen, und eine lange Reihe Masten zeigte, daß die Schiffe vor dem nur wenig abgestillten Sturm im Flusse Schutz gesucht hatten. Wie sehr die Schiffer Recht gehabt hatten, sich ein schützendes Unterkommen zu schaffen, wurden unsere Reisenden zu ihrem Schrecken sehr bald inne. Während der Himmel blau war und die Sonne strahlte, brauste die See noch in den Nachwehen des Orkanes der letzten Nacht, und die nahe Brandung mit ihren weißen Wogen schlug heftig an die Steinmolen, welche den Ausgang aus dem Hafen nach der See umgeben, so daß sich die dahinrollenden Wogen bis weit in den Hafen hinein fortpflanzten. Bei genauerer Betrachtung zeigte sich der ganze Hafen mit Treibeis bedeckt und das Letztere sollte die frohe Hoffnung unsrer Reisenden auf eine baldige Einkehr in die ersehnte Hafenstadt zerstören. Die im Sandkruge stationirten Beamten erklärten den Uebergang für unmöglich, und so blieb nichts übrig als sich in dem schlechten hölzernen Gebäude so wohnlich einzurichten, als dies überhaupt möglich war.

Bald fand man sich nothgedrungen in die Lage, und die gemeinsame Abendmahlzeit versammelte die Reisegefährten um einen Kamin, welcher sofort geheizt wurde und eine willkommene Wärme durch den kalten dem Winde von allen Seiten ausgesetzten Raum verbreitete. Mit der Belebung des Gesprächs machte der Humor sich geltend, und als endlich nach etwa vierundzwanzig Stunden der Uebergang über den immer noch wogenden Wasserspiegel ermöglicht wurde, blieb in jedem der Reisenden eine heitere Erinnerung an das fröhliche Beisammensein auf dem „Sandkruge“ zurück. Bald sollten sich die Wege trennen, da von Memel aus nur ein kleiner Theil der Gesellschaft auf ein und derselben Straße die Reise fortsetzte. Vor dem Scheiden versammelten sich noch einmal die Reisenden in dem großen Gastzimmer und einer derselben, der durch seine anregende und interessante Unterhaltung bereits der Liebling der Gesellschaft geworden, trug ein von ihm soeben „auf dem Sandkruge bei Memel“ verfaßtes Abschiedslied vor. Es war das allbekannte

„Es kann ja nicht immer so bleiben
Hier unter dem wechselnden Mond,
Es blüht eine Zeit und verwelket, –
Was mit uns die Erde bewohnt.“ –

Der Dichter war A. v. Kotzebue, welcher damals nach Rußland reiste, nicht ahnend, daß er etwa fünfzehn Jahre später ein so tragisches Ende in Mannheim finden sollte.

Der Umstand, daß das gemüthliche Lied so in unmittelbarer Nähe von Memel entstanden, hat ihm eine seltene wohlverdiente Popularität in Memel verschafft. Lange schloß man fast jede Gesellschaft mit dem Gesange des Liedes nach der hübschen Himmel’schen Volksmelodie und trennte sich mit den Schlußworten:

„Und kommen wir wieder zusammen
Auf wechselnder Lebensbahn,
So knüpfen an’s fröhliche Ende
Den fröhlichen Anfang wir an.“

Leider ist’s mit der Fahrt nach Memel noch heute im Winter fast ebenso, wie damals, während die große Poststraße nach Rußland nicht mehr den Seestrand entlang über Memel führt, sondern die geflügelten Dampfrosse uns in der Hälfte der Zeit, welche man damals zur Reise von Königsberg nach Memel brauchte, auf anderen Bahnen bis nach Petersburg tragen.

Wer im Spätherbst oder Frühjahr von Königsberg nach Memel reist, hat jetzt, statt am Sandkruge, am Memelstrome bei Tilsit oft Tage lang den Eisgang abzuwarten. Im Brückenkopfe bei Tilsit hat wohl manches Mal auch eine lustige Reisegesellschaft sich die Zeit durch Gesang und Gläserklang vertrieben; viel öfter aber hörten wir, namentlich von Reisenden aus Gegenden, welche Naturhindernisse wie den Memelstrom nicht kennen, Verwünschungen der ärgsten Art. Hoffnungbeseelte Memeler antworten dann in der Regel, allerdings in anderm Sinne als dem des Kotzebue’schen Liedes: „Es kann ja nicht immer so bleiben!“

Und sie hatten Recht. Heute ist die schleunigste Inangriffnahme des Baues einer Brücke über den Memelstrom bei Tilstt und einer Eisenbahn von Tilsit nach Memel auf Staatskosten von der Staatsregierung beschlossen, weil man mit Kotzebue sagt. "Es kann ja nicht immer so bleiben!“