„Gelehrte Bauern“

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Titel: „Gelehrte Bauern“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 667–668
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[667] „Gelehrte Bauern“. Die Chronik früherer Zeit und der Gegenwart berichtet uns gleichmäßig von gelehrten Bauern. In dem Dorfe Rothenacker bei der freundlichen Kreisstadt Schleiz hat von 1606 bis 1671 jene einzigartige, phänomenale Erscheinung in der Gelehrtengeschichte des 17. Jahrhunderts gelebt, welche kurzweg als „der gelehrte Bauer“ bezeichnet wird. Nikol Schmidt, genannt Künzel, seines Zeichens zeitlebens ein Bauer, war mit 51 meist orientalischen Sprachen mehr oder weniger vertraut; er sprach dieselben entweder oder er besaß in der [668] Mehrzahl derselben schulmäßige Kenntnisse. Zu diesen Sprachen gehörten: lateinisch, griechisch, hebräisch, chaldäisch, syrisch, arabisch, persisch, armenisch, abyssinisch, ägyptisch, äthiopisch, türkisch, samaritanisch etc. Das Neue Testament konnte er in 14, das alte in 6 Sprachen auswendig. Den 16jährigen Analphabeten unterweist der im Dienste des Vaters stehende Kuhjunge, der die Winterschule besucht hat, während der Arbeit in Feld, Wiese und Wald im Buchstabiren, Des Vaters strenges Verbot fährt dazwischen. Aber dann erkrankt Nikol. Mit heißem Eifer studirt nun der zur Arbeit Untaugliche das A-B-C-Buch und buchstabirt den Katechismus durch. Des Sonntags merkt Nikol in der Kirche wohl auf, wie der Prediger die ihm zu schwer gewesenen Worte ausspricht. Dann lehrt ihn der Mutter Bruder schreiben. Und nun bricht sich das seltene Talent des Bauernsohnes energisch Bahn. Einen Katechismus in lateinischer Sprache hält Nikol gegen den deutschen und vergleicht beide mit einander. Dann wandert er zu den Buchhändlern bez. Buchbindern in Schleiz, Jena, Hof und Nürnberg und schafft die Bücher herbei, die ihm für seine in stiller Nacht und oft nur beim bleichen Scheine des Mondes mit heißem Bemühen betriebenen Studien nothwendig sind. Nach vier Jahren versteht er einen leichten lateinischen Schriftsteller. Dann bedeckt er die Wände der Scheune im väterlichen Gehöft mit dem griechischen, hebräischen, chaldäischen, arabischen Alphabet, und während der junge Bauer drischt, studirt er die fremden Schriftzeichen.

Allmählich war „der gelehrte Bauer“ in weiteren Kreisen bekannt geworden. Er wird an die Höfe zu Weimar, Schlackenwerth, Dresden und Gera „begehret“ und überall ist er Gegenstand ungeheuchelter Bewunderung. Nicht ohne Rührung betrachtet man den großen Selbstzögling, der die vollendete Reife eines gründlich gebildeten Gelehrten vor Männern entfaltet, die selbst als ausgezeichnete Gelehrte glänzen. Neben prosodischen Uebungen beginnt „der gelehrte Bauer“ dann physikalische, astronomische, meteorologische, botanische, chemische, optische, mathematische Studien. Auf einem seiner Wohnhäuser legt er sich eine Sternwarte an, und sucht mit Hilfe der auserlesensten mathematischen und astronomischen Instrumente die Geheimnisse der Fernen des Himmels zu erforschen. Bei seinen meteorologischen Beobachtungen nimmt er sorgsam Rücksicht auf die Polhöhe von Rothenacker, die er ziemlich genau mit 50° 30′ bezeichnet. Allein die grimmige Noth seiner Zeit schonte auch seiner nicht. Haus, Hof und Felder wurden in den Stürmen des Krieges verwüstet. Die Geißel der Sorge treibt den materiell zu Grunde Gerichteten auf den Markt. In Folge des reiflich erwogenen Zuredens einflußreicher Freunde wird aus dem gelehrten Sprachenkenner ein deutscher Kalenderschreiber, der den gerade damals brennend gewordenen Kampf zwischen Julianismus und Gregorianismus in die Wege der goldenen Mitte leitet. Die von der Endterischen Buchhandlung in Nürnberg verlegten Schmidt-Künzel’schen Kalender fanden reichen Absatz. Und als am 26. Juni 1671 Nikol Schmidt im Sterben lag, durfte seine das Todtenbett mit Thränen umstehende Familie dankbar anerkennen, daß er auch ein treusorgender Vater gewesen, den die Mit- und Nachwelt mit Recht nicht anders bezeichnete, als mit dem Ehrennamen „der gelehrte Bauer“.

In neuer Zeit kommt uns Kunde von einem schwäbischen Bauernpoeten, der auch über ein reiches Wissen gebietet. Daß man den Pegasus an den Pflug spannen kann, beweist ein so begabter Dichter wie Christian Wagner aus Warmbronn, dessen „Sonntagsgänge“ in zweiter Auflage erschienen sind (Stuttgart, Greiner und Pfeiffer). Er ist ein Landmann, der in einfachsten Verhältnissen lebt und nicht einmal von seiner schlichten Thätigkeit erfreuliche Erfolge sieht; denn es geht oft sehr karg bei ihm zu. Geboren ist Wagner am 5. December 1835 in Warmbronn bei Leonberg als einziges Kind eines Schreinermeisters; er war in frühen Jahren kränklich und schwächlich, erstarkte aber allmählich, und jetzt ist er ganz gesund. Die „Sonntagsgänge“, die der Dichter gemeinsam mit dem Sohn Oswald und einem Brahminen antritt, athmen den Geist einer seltenen Schonung und Verehrung alles Lebendigen, wie er im Lotosblumenlande üblich ist: die Dichtung enthält sinnige Märchen und eine Menge philosophischer Betrachtungen in Versen, die oft recht schwunghaft sind, hier und dort an Rückert und Leopold Schefer erinnern. Ein Bauer als Gedankenpoet: das ist jedenfalls etwas Seltenes.