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„Krank“

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: Gustav Meyrink
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Titel: „Krank“
Untertitel:
aus: Orchideen, S. 117–119
Herausgeber:
Auflage: 8.–10. Tausend
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: o. J. [ca. 1905]
Verlag: Albert Langen
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Erscheinungsort: München
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Quelle: Commons
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[117]
„Krank“

Der Gesellschaftsraum des Sanatoriums war stark besucht, wie immer; – alles saß still und wartete auf die Gesundheit.

Man sprach miteinander nicht, da man vom andern eine Krankheitsgeschichte befürchtete – oder Zweifel an der Behandlungsmethode. –

Es war unsagbar öde und langweilig, und die faden deutschen Sinnsprüche, mit schwarzen Glanzbuchstaben auf weiße Kartons gepappt, wirkten wie ein Brechreiz. – –

An einem Tische, mir gegenüber, saß ein kleiner Junge, den ich beständig ansah, weil ich sonst meinen Kopf in eine noch unbequemere Lage hätte bringen müssen.

Geschmacklos angezogen, sah er unendlich stupid aus mit seiner niedrigen Stirn. – An seinen Sammetärmeln und Hosen hatte die Mutter weiße Spitzenbesätze befestigt. –

– – – – – – – – – – – –

Auf uns allen lastete die Zeit, – sog uns aus, wie ein Polyp.

Ich hätte mich nicht gewundert, wenn plötzlich [118] diese Menschen wie ein Mann, ohne sogenannte Veranlassung, mit einem Wutgeheul aufgesprungen wären und alles – Tische, Fenster, Lampen – in Raserei zertrümmert hätten.

Warum ich nicht selbst so handelte, war mir eigentlich unverständlich; vermutlich unterließ ich es aus Furcht, daß die andern nicht gleichzeitig mitmachen würden, und ich hätte mich dann beschämt wieder niedersetzen müssen.

Dann sah ich wieder die weißen Spitzenbesätze und fühlte, daß die Langeweile noch quälender und drückender geworden war; – – ich hatte das Gefühl, als ob ich eine große graue Kautschuk-Kugel in der Mundhöhle hielte, die immer größer wurde und mir ins Gehirn hinein wuchs. – –

In solchen Momenten der Öde ist einem sonderbarerweise auch der Gedanke an irgend eine Veränderung ein Greuel. – –

Der Junge reihte Dominosteine in ihre Schachtel ein und nahm sie dann in fieberhafter Angst wieder heraus, um sie anders zu legen. – Es war nämlich kein Stein mehr übrig, und doch war die Schachtel nicht ganz voll, wie er gehofft – es fehlte bis zum Rande noch eine ganze Reihe. – – –

Er packte seine Mutter endlich heftig beim Arm, deutete in wilder Verzweiflung auf diese Asymmetrie und brachte nur die Worte heraus: „Mama, Mama!“ – Die Mutter hatte soeben mit einer Nachbarin über Dienstboten und ähnliche ernste Dinge gesprochen, die das Frauenherz bewegen, und blickte nun glanzlos – wie ein Schaukelpferd – auf die Schachtel. –

„Leg’ die Steine quer,“ sagte sie dann.

Im Gesicht des Kindes blitzte ein Hoffnungsstrahl auf, – und von neuem ging es mit lüsterner Langsamkeit an die Arbeit. – –

Wieder verstrich eine Ewigkeit.

Neben mir knisterte ein Zeitungsblatt. – –

[119] Wieder fielen mir die Sinnsprüche in die Augen, – und ich fühlte mich dem Wahnsinn nahe. – –

Jetzt! – – Jetzt – – das Gefühl kam von außen über mich, sprang mir auf den Kopf, wie der Henker.

Ich starrte den Jungen an, – von ihm zog es zu mir herüber. – – Die Schachtel war jetzt voll, aber ein Stein war übrig geblieben!

Der Junge riß die Mutter fast vom Stuhl. – Sie hatte schon wieder von Dienstboten gesprochen und stand auf und sagte: „Wir gehen nun zu Bett, du hast lange genug gespielt.“ –

Der Junge gab keinen Laut von sich, er stierte nur mit irren Augen um sich, – – – die wildeste Verzweiflung, die ich je gesehen. –

Ich wand mich in meinem Fauteuil und krampfte die Hände, – es hatte mich angesteckt.

Die beiden gingen hinaus, und ich sah, daß es draußen regnete. – – Wie lange ich noch saß, weiß ich nicht mehr. – Ich träumte von all den trüben Erlebnissen meines Lebens, – sie sahen mit schwarzen Domino-Augen einander an, als ob sie etwas Unbestimmtes suchten, und ich wollte sie in einen grünen Sarg einreihen, – – aber jedesmal waren ihrer zu viel oder zu wenig. – –