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Der Untergang

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Textdaten
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Autor: Gustav Meyrink
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Titel: Der Untergang
Untertitel:
aus: Orchideen, S. 109–116
Herausgeber:
Auflage: 8.–10. Tausend
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: o. J. [ca. 1905]
Verlag: Albert Langen
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Erscheinungsort: München
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Originalherkunft:
Quelle: ngiyaw-eBooks, Commons
Kurzbeschreibung:
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[109]
Der Untergang

Chlodwig Dohna, ein nervöser Mensch, der ununterbrochen – jawohl ununterbrochen, – sozusagen mit angehaltenem Atem, achtgeben muß, um nicht jeden Moment sein psychisches Gleichgewicht zu verlieren und eine Beute seiner fremdartigen Gedanken zu werden! – Dohna, der mit der Pünktlichkeit einer Maschine kommt und geht, fast nie spricht und sich mit den Kellnern im Klub, um jedes überflüssige Wort zu meiden, nur durch Zettel verständigt, die seine Anordnungen für die kommende Woche enthalten, der soll krankhaft nervös sein?! –

Das ist ja rein zum Lachen!

„Das muß untersucht werden,“ meinten die Herren und beschlossen, um ihn ein wenig auszuholen, kurzerhand eine Festlichkeit im Klub, der er nicht gut ausweichen konnte.

Sie wußten ganz gut, daß ein besonders höfliches und korrektes Benehmen ihn am leichtesten in eine angeregte Stimmung versetze, und wirklich ging Dohna früher, als man gehofft hatte, aus sich heraus. –

„Ich möchte so gerne wieder einmal ein Seebad [110] aufsuchen,“ meinte er, „wie in früheren Zeiten, wenn ich nur den Anblick der mehr oder weniger nackten Menschen vermeiden könnte.

Sehen Sie, noch vor fünf Jahren konnte mich ein menschlicher Körper unter Umständen sogar begeistern, – griechische Statuen waren mir ein Kunstgenuß. – Und jetzt! – Seit mir die Schuppen von den Augen gefallen sind, quält mich ihr Anblick wie physischer Schmerz. – Bei den modernen Skulpturen mit den wirbelnden oder überschlanken Formen geht es noch halbwegs, aber ein nackter lebender Mensch ist und bleibt mir das Grauenhafteste, das sich denken läßt. – Die klassische Schönheit ist eine Schulsuggestion, die sich vererbt, wie eine ansteckende Krankheit. –

Betrachten Sie doch einmal eine Hand. Ein widerlicher Fleischklumpen mit fünf verschieden langen, scheußlichen Stummeln! Setzen Sie sich ruhig hin, schauen Sie so eine Hand an und werfen Sie alle Erinnerungen fort, die daran hängen, – betrachten Sie sie, kurz gesagt, wie etwas ganz Neues, und Sie werden verstehen, was ich meine.

Und gar wenn Sie das Experiment auf die ganze menschliche Gestalt ausdehnen! Da faßt einen das Grausen; ich möchte sagen, die Verzweiflung, – eine nagende Todespein. Man fühlt den Fluch der Vertreibung aus dem Paradies am eigenen Fleische.

Ja! – Wirklich schön ist eben nur das, was man sich mit Grenzen nicht vorstellen kann, – etwa der Raum; alles andere, begrenzte, selbst der prächtigste Schmetterlingsflügel, ruft den Eindruck der Verkrüppelung wach. –

Die Ränder, die Grenzen der Dinge – werden mich noch zum Selbstmorde treiben; sie machen mich so elend, und es würgt mich, wie sie mir in die Seele schneiden. –

[111] Bei manchen Formen tritt mich dies Leiden weniger quälend an, – wie ich schon sagte: bei den stilisierten Linien der Sezession, aber unerträglich wird es bei den natürlichen, die quasi frei wachsen. –

Der Mensch! – Der Mensch! Was peinigt einen so beim nackten Menschen?! Ich kann es nicht ergründen. – Fehlen ihm Federn oder Schuppen, oder Lichtausstrahlungen?

Ich sehe ihn immer wie ein Gerüst vor mir, um das herum die eigentliche Hülle fehlt – leer wie ein Rahmen ohne Bild. – Doch wohin soll ich die Augen geben, die so gar nicht zu dieser Vorstellung passen und so unbegrenzt scheinen?“ –

Chlodwig Dohna hatte sich ganz in dem Thema verloren, sprang endlich auf und ging erregt im Zimmer auf und ab, indem er nervös an seinen Nägeln biß.

„Sie haben sich wohl viel mit Metaphysik oder Physiognomik befaßt?“ meinte ein junger Russe, Monsieur Petroff.

„Ich? Mit Physiognomik? – Nein. Brauche es auch gar nicht.

Wenn ich bloß die Hosenbeine eines Menschen ansehe, weiß ich alles über ihn und kenne ihn besser, als er sich selbst.

Lachen Sie nicht, mein Herr, es ist mein voller Ernst.“

Die Frage mußte Dohna immerhin in seinen sich fortspinnenden Grübeleien unterbrochen haben, – er setzte sich zerstreut nieder und empfahl sich plötzlich steif und förmlich von den Herren, die einander befremdet ansahen, aber nicht sonderlich befriedigt schienen: – es war ihnen zu wenig gewesen.

Am nächsten Tag fand man Dohna tot vor seinem Schreibtische.

Er hatte sich erschossen.

[112] Vor ihm lag ein fußlanger Bergkristall mit spiegelnden Flächen und scharfen Kanten.

*     *     *

Der Verstorbene war vor fünf Jahren ein fröhlicher Mensch gewesen, der von Vergnügen zu Vergnügen eilte und mehr auf Reisen als zu Hause war.

Zu dieser Zeit lernte er in dem Kurorte Levico einen indischen Brahminen Mr. Lala Bulbir Singh kennen, der in seinen Anschauungen große Umwälzungen hervorbrachte.

An den Ufern des regungslosen Caldonazzo-Sees hatten sie oft geweilt, und Dohna hatte mit tiefer Verwunderung die Reden des Inders angehört, der, in allen europäischen Wissenszweigen auf das Gründlichste geschult, dennoch über sie in einer Weise sprach, die erkennen ließ, daß er sie nicht viel höher als Kinderspielzeug achtete.

Kam er auf sein Lieblingsthema: die direkte Erkenntnis der Wahrheit, so ging von seinen Worten, die er stets in einem eigentümlichen Rhythmus aneinander reihte, eine überwältigende Kraft aus, und dann schien es, als ob das Herz der Natur still stände und das unruhige Schilf gespannt dieser uralten heiligen Weisheit lausche.

Aber auch viele seltsame Berichte erzählte er Dohna, die wie Märchen klangen: von der Unsterblichkeit im Körper und dem geheimen profunden Wissen der Rajahyogis.

Aus dem Munde dieses ernsten, gelehrten Mannes hörten sie sich um so wunderbarer und kontrastreicher an. Geradezu wie eine Offenbarung aber wirkte der unerschütterliche Glauben, mit dem er von einem bevorstehenden Weltuntergange sprach:

Im Jahre 1904 werde sich nach einer Reihe schrecklicher Erdbeben ein großer Teil Asiens, der ungefähr [113] dem Umfange Chinas entspricht, allmählich in einen einzigen gigantischen Krater verwandeln, in dem ein Meer geschmolzener Metallmassen zutage tritt.

Die ungeheure glühende Oberfläche würde naturgemäß in kurzer Zeit durch Oxydation allen Sauerstoff der Erde aufsaugen und die Menschheit dem Erstickungstode preis geben.

Lala Bulbir Singh hatte die Kenntnis dieser Vorhersage aus jenen geheimen Manuskripten geschöpft, die in Indien einzig und allein einem Hochgradbrahminen zugänglich sind und für einen solchen jeden Zweifel an Wahrheit ausschließen.

Was aber Dohna besonders überraschte, war die Erzählung, daß ein neuer europäischer Prophet, namens Jan Doleschal, der sich in Prag aufhalte, erstanden sei und die gleiche Kenntnis lediglich aus sich selbst und durch geistige Offenbarungen erhalten habe. –

Wie der Inder steif und fest behauptete, sei Doleschal nach gewissen geheimen Zeichen auf Brust und Stirne die Wiederverkörperung eines Yogi aus dem Stamme der Sikhs, der zur Zeit des Guru Nanak gelebt und jetzt die Mission habe, einen Teil der Menschheit aus dem allgemeinen Untergange zu erretten. –

Er predige, wie vor 3000 Jahren der große Hindulehrer Patanjali, – die Methode, durch Anhalten des Atems und gleichzeitige Konzentration der Gedanken auf ein gewisses Nervenzentrum die Tätigkeit der Lungen aufzuheben und das Leben unabhängig von atmosphärischer Luft zu gestalten.


Dohna war sodann in Gesellschaft Lala Bulbir Singhs in die Nähe Prags gereist, um den Propheten in eigener Person kennen zu lernen.

Auf dem Landsitze eines Fürsten fand das Zusammentreffen statt. –

Niemand, der nicht bereits zur Sekte gehörte oder [114] von Gläubigen eingeführt wurde, durfte die Besitzung betreten.

Doleschals Eindruck war noch faszinierender als der des Brahminen, mit dem ihn übrigens eine tiefe Freundschaft verband. –

Der heiße konvergierende Blick seiner schwarzen Augen war unerträglich und drang wie ein glühender Draht ins Gehirn.

Dohna verlor jeden seelischen Halt unter dem überwältigenden Einflusse dieser beiden Männer. –

Er lebte wie im Taumel dahin und hielt mit der kleinen Gemeinde die vorgeschriebenen stundenlangen Gebete. – Halb träumend hörte er die rätselhaften ekstatischen Reden des Propheten, die er nicht verstand, und die dennoch wie Hammerschläge in sein Herz fielen und ein quälendes Dröhnen im ganzen Körper hervorriefen, um ihn bis tief in den Schlaf zu verfolgen. –

Jeden Morgen zog er mit den übrigen auf die Anhöhe des Parkes, wo eine Gruppe Arbeiter unter Leitung des Inders beschäftigt war, ein tempelähnliches achteckiges Gebäude zu vollenden, dessen Seitenteile ganz aus dicken Glastafeln bestanden.

Durch den Boden des Tempels führten mächtige Metallröhren zu einem naheliegenden Maschinenraum. –

*     *     *

Einige Monate später befand sich Dohna schwer nervenleidend in Begleitung eines befreundeten Arztes in einem Fischerdorfe der Normandie als jener sonderbare, sensitive Mensch, dem die Formen der Natur eine ununterbrochene geheimnisvolle Sprache redeten. –

Sein letztes Erlebnis mit dem Propheten hatte ihn fast getötet, und die Erinnerung daran war bis zu seinem Tode nicht mehr von ihm gewichen.

– – – – – – – – – – – –

Er war mit Männern und Weibern der Sekte in dem gläsernen Tempel eingeschlossen. –

[115] In der Mitte der Prophet mit unterschlagenen Beinen auf einem roten Postamente, und sein Bild bricht sich in den achteckigen Glaswänden, daß es scheint, als sei er in hundert Verkörperungen zugegen. –

Scheußlicher, stinkender Rauch von verbranntem Bilsenkraut wirbelt aus einer Pfanne und legt sich schwer wie die Hände der Qual auf die Sinne. –

Ein schluchzendes, schlapfendes Geräusch dringt aus dem Boden herauf: sie pumpen die Luft aus dem Tempel. – –

Erstickende Gase fallen zur Decke herein, in der armdicke Schläuche münden: Stickstoff. –

Wie Schlangen des Todes legt sich die schnürende Angst um Hals und Kopf. –

Der Atem wird röchelnd, das Herz hämmert zum Zerspringen.

Die Gläubigen schlagen an die Brust.

Der Prophet sitzt wie aus Stein gehauen, und alle fühlen sich von seinen starren schwarzen Augen verfolgt, die ihnen aus den Ecken drohend entgegenspiegeln. –

– – – – – – – – – – – –

Halt, halt! – Um Gottes willen Luft, – Luft! – Ich ersticke. –

Alles dreht sich im Wirbel, der Körper verrenkt sich, die Finger krallen sich in die Kehle. –

Heulende Schmerzen wie der Tod das Fleisch von den Knochen saugt.

Weiber werfen sich zu Boden und winden sich im Krampfe des Erstickens. –

Die dort reißt sich mit blutigen Nägeln die Brust auf. –

In den Spiegeln die schwarzen Augen werden immer mehr und bedecken die Wände.


Begrabene Szenen aus dem Leben treten vor die Seele, und wirre Erinnerungen tanzen: Der Caldonazzo-See [116] rauscht wie die Brandung, – Länderstrecken verdunsten, – der See ist ein Meer aus glühendem Kupfer geworden, und grüne Flammen hüpfen über dem Krater.

Aus der erstickenden Brust donnert der Herzschlag, und Lala Bulbir Singh fliegt als Geier über die Glut.

– – – Dann ist alles zerbrochen, erstickt, geborsten.

Noch ein Aufflackern klaren Bewußtseins: Aus den Ecken spiegelt die statuenhafte Gestalt Doleschals, seine Augen sind tot, und ein grauenhaftes Lächeln liegt wie eine Maske auf seinem Gesicht. –

Risus sardonius, – das Leichengrinsen – so nannten es die Alten.

Dann schwarze Nacht, ein kalter Windstoß fährt über den Körper. – Eiswogen dringen in die Lungen, und das Schluchzen der Pumpen ist verstummt.

Aus der Ferne klingt die rhythmische Stimme Lala Bulbir Singhs: Doleschal ist nicht tot, er ist in „Samadhi“ – die Verzückung der Propheten! – –

Das alles hatte Dohnas Innerstes unheilbar erschüttert und die Tore seiner Seele erbrochen. –


Ja, wenn es einen Schwachen trifft, wirft es ihn um. –


Und seine Seele ist wund geblieben.
Die Erde werde ihm leicht.